71. Der Güß bei Herzberg.

1.

An der Stelle dieses großen Teiches, welcher östlich von Herzberg liegt, hat früher ein schönes Schloß gestanden, welches aber mit Mann und Maus versunken ist. Dieses Versinken war die Strafe für einen großen Frevel. Einst kam nemlich ein Fremder hungerig und ganz ermüdet ins Schloß und bat um Aufnahme und Speise, doch er ward mit Hohn abgewiesen. Die Besitzerin des Schlosses, eine Gräfin, ging sogar soweit, daß sie ihm Brot mit Koth bestrichen reichen ließ. Da fluchte der Fremde dem Schlosse und rief des Himmels Zorn auf dasselbe herab. Der Fluch ging in Erfüllung und das Schloß versank. Zu bestimmten Zeiten können noch die Sonntagskinder in der Tiefe die Zinnen des Schlosses sehen. Ein Wassertaucher (wâterdüker) ist zweimal hinabgestiegen und hat jedesmal Sachen aus dem Schlosse mit heraufgebracht. Doch als er zum dritten Male unter Verheißung eines großen Lohnes hinabsteigen sollte, um eine bestimmte Sache heraufzuholen, erklärte er sich zwar endlich dazu bereit, fügte aber hinzu, wenn es mislänge, so würde ihm der Hals umgedreht werden und dann ein blutiger Streif auf der Oberfläche des Wassers sicht bar werden. Er kam nicht zurück, und es zeigte sich, wie er es vorhergesagt hatte, ein Blutstreif wie ein Reif auf dem Wasser.

2.

An der Stelle des Teiches war vor Zeiten nur ein kleiner Sumpf. Die Bewohner von Herzberg forderten einst einen Wassertaucher auf in den Sumpf hinabzusteigen und zuzusehn, ob es wahr sei, daß ganz Herzberg auf einem Pfale stehe. Der Wassertaucher verstand sich gegen das Versprechen einer ansehnlichen Belohnung dazu, sagte ihnen aber, wenn er hinabgestiegen sei und es kämen drei Blutstropfen auf der Oberfläche des Wassers zum Vorschein, dann werde er nicht wieder zurück kehren, und alle sollten machen, daß sie davon kämen. Als er in die [51] Tiefe gegangen war, wartete die versammelte Menge lange auf seine Wiederkunft, bis endlich nach einer Stunde die drei Blutstropfen auf dem Wasser sichtbar wurden. Da gingen die alten Leute nach dem Rathe des Tauchers schnell davon; die jungen lachten aber über ihre Thorheit und wollten abwarten, was weiter geschähe. Plötzlich entstand ein großes Geräusch und rings um den Sumpf sank die Erde ein mit allen, die dort stehn geblieben waren. Die Tiefe aber füllte sich mit Wasser und so entstand der Güß. – Man glaubt, unten im Teiche sei eine Drache gewesen, welcher den Taucher getödtet habe.


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 71. Der Güß bei Herzberg. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BD7F-2