221. Der graue Mann.

1.

In früherer Zeit, wo Sülbeck noch kein eigenes Backhaus hatte, pflegten die Leute von da nach Stöckheim zu gehn, um dort zu backen. Einst ging wieder am frühen Morgen, als es noch dämmerig war, eine Frau mit ihrem Knechte von Sülbeck nach Stöckheim, um daselbst zu backen. Als sie nun nicht mehr weit von der Leine waren, sahen sie einen grauen Mann (grîsen kërel) gerade auf sich zukommen. Derselbe hatte graue Haare, war weiß angezogen und dem Aussehen nach sehr alt. Da sprach der Knecht zu der Frau, wenn jener zu ihnen komme und nicht guten Morgen sage, dann wolle er ihn necken und ihn – es war gerade sehr kalt – fragen, ob ihm der Mund zugefroren wäre, und dergleichen mehr. Mittlerweile kam ihnen der graue Mann näher und war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Da hörten sie mit einem Male ein gewaltiges Sausen und Brausen, und im Nu war die Gestalt an ihnen vorüber und in dem Winkel, welchen die Leine da bildet, spurlos verschwunden. In dem Augenblick aber, wo sie an den beiden vorüberging, vermochten diese kein Wort hervorzubringen, so groß war ihre Angst.

2.

Etwa drei Viertelstunden von Sievershausen im Sollinge, an dem Wege, der nach Neuhaus führt, liegt der sog. grîse born. Dieser hat seinen Namen davon erhalten, daß der grîse kërel an ihm sitzt und fortwährend Kartoffeln schält; so wie er eine geschält hat, wirft er sie ins Wasser.

3.

Zwischen dem Wolfesberge und dem Grubenhagen geht [203] ein grauer Mann mit einem weißen Packen unter dem Arme. Einige sagen er habe keinen Kopf. Ein Oekonom aus Dassensen war mit seinen Knechten nach dem Walde gefahren um Holz daher zu holen. Als sie auf dem Rückwege an den Graben zwischen dem Grubenhagen und dem Wolfesberge gekommen waren, hielt der vorderste Wagen plötzlich still. Von seinem Herrn aufgefordert weiter zu fahren, erklärte der Knecht zornig, er könne nicht, denn der graue Mann halte ihm die Pferde fest. Da sprangen mehrere Knechte von den Pferden und verjagten ihn, worauf die Wagen weiter fuhren. Der Oekonom hatte nichts wahrgenommen, aber von den Knechten hatten mehrere den grauen Mann gesehen.

4.

In der Sellengrund bei Ahlshausen geht der grîse kërel. Einst fährt ein Bauer aus Ahlshausen mit leerem Wagen nach Rittierode. In der Sellengrund begegnet ihm der grîse kërel und geht dicht vor den Pferden hin, so daß diese nicht mehr von der Stelle gehn. Als nun der Bauer zu schelten anfängt, geht der graue Mann vor den Pferden weg, setzt sich aber hinten auf den Wagen. Die Pferde sind unvermögend den Wagen fortzuziehen und dieser muß still halten. Zwar peitscht der Bauer auf die Pferde, aber sie können den Wagen nicht fortziehen, so schwer ist er. Nun fängt der Bauer wieder an zu schimpfen und zu toben, worauf er von dem grauen Manne eine Ohrfeige erhält, daß er vom Pferde fällt. Dieser aber thut einen so gewaltigen Schritt, daß er dann über den Hainberg hinweg und verschwunden ist.

5.

Auf der Weper bei Uessinghausen geht der graue Amtmann umher; bisweilen kommt er auch herüber in das Junkernholz, wo ihn eine Frau aus Uessinghausen sogar um Mittag gesehen hat. Er hat einen Hut auf dem Kopfe und ist mit einem grauen Mantel angethan. Er geht darauf aus die Leute zu verführen (d.h. auf falsche Wege zu bringen). Einmal hat man ihn auf der Weper eine Bewegung machen sehen, als wenn er schriebe. – Auch auf dem Herrenhofe zwischen dem Wohnhause und Backhause geht er hin und her.

6.

Auf der Domäne Staufenburg wurde im Jahre 1852 ein Pfeiler, der von Alters her in der Küche stand, weil er nichts zu tragen hatte und nur im Wege war, abgebrochen. Allein es muste mit diesem Pfeiler eine eigene Bewandtnis haben; wahrscheinlich [204] war vor Alters ein Geist in ihn hineingebannt. Denn von der Zeit an ließ sich Morgens zwischen 6 und 7, Mittags zwischen 11 und 12, und Abends von 6 Uhr an ein grauer Mann (grîse kërel) ohne Kopf sehen. Zugleich hörte man ein Geschrei, wie Stimmen von Katzen, welches erst leise anhub und dann immer stärker und stärker wurde. Das Küchenmädchen und der Bediente haben es deshalb im Hause nicht mehr aushalten können und den Dienst gekündigt. Nachher hat der Spuk angeblich von selbst wieder aufgehört, aber man glaubt, daß die Herrschaft heimlich einen Pater habe kommen lassen, der den Geist wieder gebannt hat.

7.

Ein Schneider aus Wulften kam eines Abends von Schwiegershausen zurück. Bei der Drillingsgrund fand er einen Mann in einem weißen Kittel und einem dreieckigen Hute stehen. Er rief ihm zu: »wenn Du mit willst, so komm.« Alsbald sprang das Gespenst ihm auf den Rücken und er muste es eine gute Stunde mit tragen. Ganz erschöpft kam er zu Hause an und fiel in eine Krankheit, von welcher er erst nach sechs Wochen wieder genas.

8.

Bei dem Dorfe Edemissen befindet sich ein Anger, der Osterbeek (Asterbêk) genannt. Früher gehörte derselbe der Gemeinde Edemissen, durch einen langwierigen Prozeß aber, in welchem drei falsche Eide geschworen wurden, ist er an Rotenkirchen gekommen. Von jener Zeit an läßt sich alle Jahre an dem Tage, wo falsch geschworen wurde – es ist im Juni –, auf dem Anger ein grauer Mann sehen. Ja nicht einmal auf den Aeckern, die darauf stoßen, ist es ganz geheuer. Sobald es nemlich Mittags elf Uhr schlägt, werden den Pflügern, welche daselbst pflügen, die Pferde wild und sind nicht mehr zu halten. Deshalb ziehen auch die Leute, welche gerade dort arbeiten, um diese Zeit mit ihrem Gespann nach Hause.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 221. Der graue Mann. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BCE4-8