Sechster Teil

[187]

[187] [7]Die Familie Worel

1.

[7] [11]I.

In der Landeshauptstadt waren Arbeiterunruhen entstanden, die sich mehr und mehr steigerten und auch auf die benachbarten Fürstlich Roggendorffschen Eisenwerke überzugreifen drohten. Es galt also dort, einen voraussichtlichen Streik hintanzuhalten. Man erwartete das Eintreffen des Fürsten, der sich mit seiner Mutter und seiner jungen Gemahlin in Florenz befand, während die Leiter der Betriebe Tag und Nacht auf ihren Posten blieben, eingehende Verhandlungen in Aussicht stellend. Inzwischen aber war es in der Stadt zum Äußersten gekommen. Man hatte Militär aufbieten müssen; die bei solchen Anlässen unvermeidlichen Opfer hatten geblutet, worauf eine dumpfe, unentschiedene Ruhe eingetreten war.

In dieser bang erwartungsvollen Zeit saß ich eines Abends mit dem Grafen Erwin in dem kleinen Salon des Schlosses. Es war ein traulicher Raum, nach einer Seite hin durch einen prachtvollen alten Gobelin abgegrenzt. An der Wand gegenüber hingen einige intimere Familienporträts, unter denen eines ganz besonders hervorleuchtete. Von Lampi gemalt, stellte es den Urgroßvater des Fürsten dar in der grünen Uniform eines Landsturmmajors aus den Befreiungskriegen. Hohe Intelligenz sprach aus den edlen, aber keineswegs scharfen Zügen des noch im kräftigsten Alter stehenden Mannes, der das Haar, der Tracht seiner Zeit gemäß, leicht gepudert und nach rückwärts in einen Beutel zusammengefaßt trug. Die Fabeln des meisterlichen Bildes waren noch so frisch, als stammte dieses [11] von heute, und die ungemein lebensvolle Wiedergabe der bedeutenden und doch anmutigen Persönlichkeit reizte immer wieder zu längerer Betrachtung. So blickten wir beide auch jetzt schweigend darauf hin.

Endlich sagte der Graf: »Ja, der Mann dort ahnte nicht, wie sehr sich die Verhältnisse, unter denen er seine – wenigstens für damals – großartige Schöpfung unternahm, im Laufe der Zeit ändern würden. Als er hier Erzlager erschloß, Hochöfen baute und so mit den Hüttenwerken die erste große Eisenindustrie des Landes ins Leben rief, schuf er auch den vergleichsweise nicht unbeträchtlichen Wohlstand der ganzen Gegend. Denn der Syenitboden hier herum ist nicht ergiebig; die Landwirtschaft hat niemals etwas Rechtes abgeworfen. So lebte, mit Ausnahme einiger größerer Besitzer, die Bevölkerung in Not. Nun waren mit einemmal unvermutete Erwerbsquellen erschlossen. Von meilenweit kamen die Leute herbeigeströmt, um Arbeit zu suchen und zu finden. Waren die Löhne auch gering, mußte auch bei Errichtung so manchen Objektes noch die Robot mithelfen: man segnete den unternehmenden Gutsherrn und nannte ihn den Wohltäter der Gegend. Heute nennt man uns die Ausbeuter. Vielleicht sind wir es auch, obgleich ich Ihnen ganz bestimmt versichern kann, daß mein Neffe, wenn er die Löhne nur einigermaßen nennenswert erhöhen wollte, aus den Werken nicht den geringsten Nutzen zöge. Aber vielleicht braucht er auch keinen zu ziehen. Denn es sind ja nur die Arbeiter, die das Unternehmen im Gang halten – und warum sollten sie den Roggendorffern durch ihre Mühen Gewinn schaffen müssen? Sie könnten doch den Betrieb selbst in die Hand nehmen und weiterführen. Dahin zielt ja, wie ich glaube, die sozialistische Bewegung überhaupt. Ich sage: ich glaube. Denn bestimmt weiß ich es nicht. Man kann, wie ich schon einmal, vielleicht zur Unzeit, ausgesprochen habe, diese Doktrin in gewissen Jahren sich ebensowenig zu eigen machen, wie das Seiltanzen. Aber immerhin. Daß die [12] alte Gesellschaftsordnung im Absterben begriffen ist, erkenne ich sehr wohl, und es fällt mir nicht ein, für sie eine Lanze brechen zu wollen. Aber Institutionen, die durch das Leben selbst geworden sind und sich im Laufe von Jahrhunderten gewissermaßen eingefleischt haben, besitzen denn doch ein zähes Leben, so daß sich manches bereits Totgesagte plötzlich wieder zu ganz unerwarteter Daseinsfrische erhebt. Zum Beispiel die Macht der Kirche, die man nach dem Fall des Konkordats schon für immer gebrochen glaubte. Dagegen hat der Liberalismus, der sich damals so siegreich gebärdete, ein ziemlich rasches Ende gefunden. Ob der sozialdemokratischen Idee eine weitaus längere Dauer beschert sein kann, darüber erlaube ich mir keine Meinung. Jedenfalls wird sie das Schibboleth der nächsten Epoche sein, und den Tatsachen, wenn sie sich vollziehen, wird man sich beugen müssen. Das ist seit jeher meine Maxime gewesen, und so hab' ich mich den Ereignissen gegenüber stets objektiv verhalten, wenn mir auch begreiflicherweise der Feudalismus, in dessen Zeichen ich geboren bin, hin und wieder in den Nacken schlägt.«

Ein bejahrter Kammerdiener war leise eingetreten und brachte den Tee.

»Hört man Neues aus der Stadt?« fragte der Graf.

»Nichts Gutes. Die Arbeiter bestehen noch immer auf ihren Forderungen. Wer weiß, ob es morgen nicht wieder losgeht. Und es hat doch genug Tote und Verwundete gegeben. Auch Weiber sind erschossen worden. Und wissen Erlaucht, wer darunter war?«

»Na, wer denn?«

»Die Tochter des Worel.«

»Des Worel? Die Olga?«

»Jawohl«, fuhr der Alte fort, während er den Tisch besorgte. »Seit sie ihren zweiten Mann geheiratet hat, ist sie die reinste Anarchistin geworden. Sie soll den ersten Stein nach den Soldaten geschleudert haben.«

Der Graf erwiderte nichts.

[13] »Mein Gott, wer hätte das von dem schönen Mädel gedacht, das sozusagen im Durchlauchtigsten Hause aufgewachsen war! Aber ihr Vater, dieser eingebildete Narr, trug an allem die Schuld. Er hat seine Familie ins Unglück gebracht.« Damit entfernte sich der Mann.

Der Graf schwieg noch immer. Nach dem Tee zündete er eine Zigarre an und sagte: »Sie haben gehört, was unser Mischko da berichtet hat, und werden erstaunt sein, wenn ich hinzufüge, daß ich einst diesesMädel heiraten wollte.«

Ich blickte ihn wirklich höchst überrascht an.

»Staunen Sie übrigens nicht allzu sehr. Es war eben eine Stimmung – eine Laune, wenn Sie wollen. Aber die Absicht hatt' ich. Da wir just so hübsch allein beisammen sitzen, will ich Sie einmal etwas tiefer in mein Leben blicken lassen, indem ich Ihnen die Geschichte der Familie Worel erzähle. Angesichts der jüngsten Vorgänge ist sie in gewissem Sinne lehrhaft. Sie können daraus entnehmen, wie die Schicksale der einzelnen mit dem Zuge der Zeit im Zusammenhang stehen – wie die Menschen von ihm ergriffen und je nach Umständen emporgetragen oder dem Untergange zugetrieben werden.«

2.

II.

»In unserem kleinen Schlosse Blansek, das nun ganz leer steht, waren seinerzeit die herrschaftlichen Verwaltungen untergebracht: das Forstamt, das Rentamt, die Buchhaltung der Eisenwerke – und was eben sonst noch Bureaus benötigte. Auch wohnten dort einige Beamte. Dabei war ein der Tischlerei kundiger Mann angestellt, der die Dienste eines Hausbesorgers und Kanzleidieners zu verrichten hatte. Zu tun gab es für ihn genug, denn er wurde, da es damals keine Telegraphen, noch weniger aber Telephone gab, auch als Botengänger verwendet. Dafür bezog er keinen allzu hohen Gehalt. Aber er hatte ein kleines Nebengebäude mit vielfachen Räumlichkeiten [14] zur Verfügung; dahinter einen Obst- und Gemüsegarten. Außerdem ein schönes Stück Feld, auf dem man abwechselnd Korn und Kartoffeln bauen konnte. So führte er mit seiner Familie eine den damaligen Verhältnissen entsprechende und zufriedenstellende Existenz. Er hieß Worel. Hoch und kräftig gewachsen, blond und blauäugig, wie er war, machte er beim ersten Anblick den Eindruck einer deutschen Reckengestalt. Sah man aber näher zu, so erkannte man an der runden, vorspringenden Stirn, an den stark entwickelten Backenknochen und der etwas verkümmerten Nase den Slawen. Seine Frau, eine zierliche, lebhafte Brünette, deren Augen wie zwei große schwarze Kirschen glänzten, gab ein ganz hübsches Gegenbild ab. Es war eine Freude zu sehen, wie sie in der kleinen Wirtschaft waltete und mit Hilfe ihrer Mutter, die im Hause lebte, die Feld- und Gartenarbeit verrichtete. Kinder hatten die Leute damals zwei, Mädchen. Das erste, der Großmutter ähnlich, ein unschönes, verwachsenes Geschöpf, das zweite hingegen, erst ein paar Jahre alt, ein höchst lieblicher Anblick – ein wahres Christkindl. So also nahm sich die Familie Worel aus, die wir jüngeren Geschwister nicht ungern aufsuchten, wenn wir zuweilen nach Blansek fuhren. Denn der Mann hatte immer etwas Besonderes vorzuweisen. Entweder einen ausgestopften schönen Vogel, oder den Wurf einer seltenen Kaninchenart, die er züchtete – und ähnliches. Und die Frau pflegte uns mit gewissen Kuchen zu regalieren, die sie sehr schmackhaft zu bereiten verstand.

Da geschah es, daß mein erstgeborener Bruder, der um zwölf Jahre älter war als ich, heiratete, und ihm unser Vater Blansek als Ehesitz übergab. Die Bureaus wurden an den Ort der Betriebe verlegt und alle Räumlichkeiten des Schlosses durch eine Schar von Handwerkern in den notwendigen Stand versetzt. Auch Worel half treulich mit und zeigte dabei eine Anstelligkeit, die Erstaunen erregte. Mein Bruder gewann ihn daher sehr lieb, ernannte ihn zum Zimmerwärter und ließ [15] ihm im Laufe der Jahre alle möglichen Vergünstigungen zuteil werden. Sie waren auch wohl verdient. Denn er waltete nicht bloß sehr eifrig seines Amtes, sondern legte überall Hand an, wo es etwas zu besorgen gab. So wurde er im Schlosse gewissermaßen das Faktotum. Wenn Ereignisse eintraten, die besondere Veranstaltungen notwendig erscheinen ließen, da hieß es gleich: ›Ach, das wird der Worel schon machen!‹ Und er machte es auch. Sogar ein ganz stattliches Haustheater stellte er einmal her, wobei er sich auch als Dekorationsmaler versuchte. Durch seine Verwendbarkeit kam die ganze Familie in Gunst. Man beschenkte die hübsche Frau Aninka, die inzwischen einen Knaben zur Welt gebracht, und die Kinder mit gefallsamen Kleidern, und als meinem Bruder ein Töchterchen geboren wurde, nahm man gleich die kleine Olga als künftige Gespielin in Aussicht.

Ich selbst war zu jener Zeit als Zögling ins Theresianum getreten. Von dort kam ich nur in den Ferialzeiten nach Hause, dann aber natürlich auch oft genug nach Blansek Dabei konnte ich wahrnehmen, wie die Olga, die nun wirklich die Gespielin meiner kleinen Nichte geworden war, von Jahr zu Jahr schöner aufblühte. Sie geriet mehr dem Vater nach, hatte aber die großen schwarzen Augen der Mutter und eigentümlich blondes Haar, das wie blasses Kupfer schimmerte. Es war von solcher Fülle, daß es in seiner Schwere den Kopf des Mädchens nach rückwärts zog, wodurch dieses unwillkürlich eine stolze und hoheitsvolle Haltung annahm. Sie entwickelte sich auch sehr rasch, so daß sie mit neun oder zehn Jahren schon wie zwölfjährig aussah. Etwa fünfzehn mochte sie gewesen sein, als ich, des Studierens satt, gleich als Offizier – das ging ja damals – in die Armee trat. Bei kürzeren Sommer- oder Herbsturlauben – der Winter wurde ja meistens in der Stadt zugebracht – traf ich mit ihr oft im Blanseker Park zusammen. Sie war dort immer um meine Nichte beschäftigt, die sie sehr liebte. So entwickelte sich zwischen uns auch eine Art vertraulichen [16] Verkehrs, der meinerseits freilich immer von oben herab blieb. Hauptsächlich vielleicht deshalb, weil ich fühlte, daß ich nahe daran war, Feuer zu fangen. Sie selbst hielt sich, wie auch der jungen Komtesse gegenüber, in den Schranken jener stillen Unterwürfigkeit, die ihre Stellung mit sich brachte; nicht eine Spur von Koketterie war an ihr wahrzunehmen. Als ich aber knapp vor dem Kriege mit Italien für ein paar Tage nach Hause kam, um von den meinen vielleicht auf Nimmerwiedersehen Abschied zu nehmen, traf ich sie zufällig allein. Sie saß in einer blühenden Geißblattlaube und blätterte in einem Bilderbuche, das meiner Nichte gehörte. Ich hätte sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, denn die Laube war sehr tief. Aber ein brauner Dackel, der immer um die Mädchen war, kam herausgesprungen. Ich blieb am Eingang stehen. Olga erhob sich und legte das Buch weg. Ich trat hinein und reichte ihr die Hand hin. ›Adieu, Olga!‹ sagte ich. ›Heute abend reise ich wieder ab – und dann geht's ins Feld.‹ Sie blieb regungslos und sprach kein Wort. Aber sie war ganz blaß geworden, und ein Beben ging durch ihren schlanken Leib. Ich sah, wie sie gewaltsam an sich hielt. Plötzlich in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend, warf sie sich mir an die Brust. Einen Augenblick war ich ganz fassungslos. Dann aber, das warme Leben an mir fühlend, umschloß ich sie mit beiden Armen. ›Liebe, liebe Olga,‹ flüsterte ich, während ich ihr Haar, ihre Stirn, ihren Mund küßte. Jetzt riß sie sich los, und das Gesicht mit den Händen verhüllend, entfloh sie.«

3.

III.

»Sie begreifen,« fuhr der Graf fort, »daß mir dieses Erlebnis einen großen Eindruck machte. Ich konnte den ganzen Tag über an nichts anderes denken und war beim Abschied von meinen Angehörigen sehr zerstreut. Auch während der Fahrt zum Regiment befand ich mich in jenem süßen Taumel, [17] den man sehr bezeichnend einen Seelenrausch nennt. Aber wie andere Räusche hielt er nicht vor. Schon als ich wieder den Dienst antreten mußte, begann er zu verfliegen. Dann kam der unglückliche Feldzug. Nach diesem verlor ich die Lust, das Soldatenspiel weiter zu spielen. Ich wollte ein größeres Stück Welt, wollte bedeutenderes Leben kennen lernen und beschloß, mich der Diplomatie zu widmen. Es war leicht durchzusetzen, daß ich einer Gesandtschaft attachiert wurde. So kam ich nach Madrid. Dort geschah, was so ziemlich jedem jungen Manne geschieht: ich verliebte mich in eine verheiratete Frau. Sie kennen sie nach dem Bilde, das über meinem Schreibtische hängt. Keine Spanierin, wie Sie vielleicht glauben könnten, sondern eine Italienerin. Ihr Gemahl, der in Madrid einen deutschen Mittelstaat vertrat, hatte die Komtessa als Legationsrat in Rom, seinem früheren Dienstposten, erehlicht. Er war ein hagerer, fadblonder und, wie es schien, auch blutloser Geselle, denn er benahm sich ungemein artig gegen die Liebhaber seiner Frau. Sie hatte deren, um es gleich zu sagen, sehr viele. Damals nahm ich ihr das höchst übel, heute ist es ihr längst verziehen. Denn sie war eine Frau, deren eigentümlich zarter Reiz alle Männer gleichmäßig anzog. Sie brauchte sich nur zu zeigen, mit ihren durchsichtig dunklen Augen zu lächeln und ein paar Worte zu sagen, so war jeder hingerissen. Konnte es da wundernehmen, daß sie, temperamentvoll wie sie war, von der Macht des männlichen Od, das ihr von allen Seiten so heiß entgegenströmte, leichter überwältigt wurde, als andere schöne Frauen, die man vielleicht bewundert, aber nicht sofort begehrt? Und sie verstand die große Kunst, sich mehrseitig hinzugeben, ohne dabei im Schlamm zu versinken. Sie tat es mit einer fast kindlichen Unbefangenheit und mit vollendeter Grazie. So mußte Josefine Beauharnais gewesen sein, die den großen Napoleon fesselte, obgleich er von ihrer Untreue überzeugt war. Nun, ich war kein Napoleon und verzieh ihr die Untreue nicht – mit Ausnahme der gegen ihren Gatten. [18] Ich wollte der einzige sein, und da mir das nicht gelang, quälte ich sie mit rasender Eifersucht. Mehr als einmal hatte ich unsere Beziehungen abgebrochen, um doch immer wieder zu ihr zurückzukehren. Aber es kam auch immer wieder zu den unerquicklichsten Szenen. Ich bedrohte – ja, ich beschimpfte sie sogar. Mit einer wahren Engelsgeduld ließ sie alles über sich ergehen, was mir doch hätte zeigen können, daß ich ihr mehr war, als meine gutmütigeren Nebenbuhler. Als ich mich jedoch eines deutschen Malers wegen, der nach Spanien gekommen war, um Velasquez zu studieren, zu einer Mißhandlung hinreißen ließ, da wies sie mir mit einem kalten Blick die Tür. Natürlich war jetzt ich der Beleidigte und schnaubte Rache. Ich dachte daran, den Maler zu fordern – und was derlei Ausgeburten einer verstörten Gemütslage mehr waren. Zum Glück war aber meine Vernunft schon damals stark genug, solch wahnwitzige Regungen zu besiegen. Aber ich litt unsäglich. Von Tag zu Tag wuchs meine Sehnsucht nach dem geliebten Weibe, aber auch die Erkenntnis, daß jetzt alles zu Ende sei. Ihren Anblick jedoch, dem ich täglich ausgesetzt war, ertrug ich nicht. Ich nahm, da ohnehin die Zeit der politischen Windstille herannahte, sofort Urlaub. Mein Vater und mein zweitältester Bruder, der nun auch schon tot ist, befanden sich noch in Wien, mein anderer Bruder jedoch war schon in den ersten Frühlingstagen nach Blansek gezogen. Dorthin wollte ich, denn große Städte mit ihrem Highlife waren mir jetzt gründlich verhaßt. Dabei kam mir mit einem Mal Olga in den Sinn, die ich im Laufe der Ereignisse gänzlich vergessen hatte. Wie greifbar trat mir die Gestalt des schönen Mädchens vor die Seele – und sehen Sie: in diesem Augenblick faßte ich den Entschluß, es zu heiraten. Ich war immer etwas romantisch angehaucht gewesen. Und trotz aller weltmännischen Genußfähigkeit – und wenn Sie wollen, Genußsucht, auch immer mit einem unbestimmten Hange nach stiller, beschaulicher Zurückgezogenheit in irgendeinem Erdenwinkel behaftet. Das konnte ich jetzt [19] haben, wenn ich mir auf unserem Grund und Boden – etwa zwischen Roggendorf und Blansek – ein komfortables Blockhaus mit waldigem Hintergrund und weiter Fernsicht erbauen ließ, um dort an der Seite eines schlichten, mir ganz ergebenen Weibes ein unabhängiges, wenn auch keineswegs müßiges Dasein zu führen. Denn ich hatte – auch das will ich Ihnen anvertrauen – zu jener Zeit schriftstellerische Neigungen. Montaigne und Larochefoucauld reizten mich zur Nachahmung. Auch als Familienvater dachte ich mich bereits und entwarf nach Rousseaus Emile weitgehende Erziehungspläne für meine präsumtiven Kinder. Daß man mir Schwierigkeiten machen könnte, sah ich wohl ein, ich achtete sie aber gering. Meine Brüder kannte ich als ziemlich vorurteilslos – und mein Vater, der allerdings zu fürchten war, mußte schließlich nachgeben. Es war ja damals nichts geradezu Horrendes, daß ein Fürst oder Graf eine Försters- oder Schafferstochter heiratete. Auch Wäschermädchen kamen vor. Heutzutage werfen sich meine Standesgenossen mehr auf Sängerinnen und Tänzerinnen, was wohl ein Zeichen höheren Geschmacks sein soll. Nun, ich erkor die Tochter des Worel. Papa und Mama waren nun freilich nicht besonders erwünscht, aber es waren brave Leute – und man konnte mit ihnen einen modus vivendi vereinbaren. Also mein Entschluß stand fest. Daß das Mädchen selbst einen Strich durch die Rechnung machen könnte, fiel mir nicht ein. Daß sie mich damals geliebt, darüber konnte kein Zweifel sein. Warum sollte sie es nicht auch jetzt – und mir etwa einen Korb geben, wenn ich ihr meine Hand antrug? Daß sie vielleicht inzwischen schon geheiratet haben könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. So sicher war ich der ganzen Sache.

Mit diesem Gefühle fuhr ich durch das Schloßportal in Blansek ein. Da fiel mir gleich als sehr seltsam auf, daß Vater Worel in einer Art von Schlafrock, den Kopf mit einem türkischen Fez bedeckt, auf der Bank vor seiner Wohnung saß und eine lange Pfeife rauchte, die er jetzt, indem er gravitätisch aufstand [20] und mit einer Verbeugung die rote Mütze lüftete, bei Fuß nahm. Von der übrigen Familie, die doch sonst bei ähnlichen Anlässen immer Spalier bildete, war niemand zu sehen. Als ich später meinem Bruder mein Befremden über dieses Verhalten äußerte, sagte er mißmutig: ›Ach ja, der Worel! Der hat mir den Dienst gekündigt.‹ Ich war sehr überrascht. ›Ja,‹ fuhr mein Bruder fort, ›in den Mann ist der Hochmutsteufel gefahren. Und eigentlich bin ich selbst schuld daran.‹ ›Wieso?‹ fragte ich. ›Wirst es gleich hören. Du kennst meine Lust an alten Sachen und weißt, daß ich ab und zu nach solchen alle Rumpelkammern durchstöbere. Das tat ich nun wieder einmal und fand dabei unter wertlosem Zeug ein ganz hübsches Treppengeländer aus Eichenholz mit geschnitztem Laubwerk. Ich freute mich sehr darüber und wollte es gleich an einer Mansardenstiege anbringen lassen.‹ Da zeigte sich aber, daß es nicht langte und überdies eines kurzen Kniestückes bedurfte. ›Na‹ sagte ich zu Worel, der mich bei meinen Forschungen immer begleitete, ›du bist ja ein Tausendkünstler!‹ – Ich erwähne hier, daß wir damals zu allen unseren Bediensteten noch Du sagten. – Also: ›Du bist ja ein Tausendkünstler – wie war' es, wenn du das Ding da vollständig machen und dich dabei auch einmal als Holzschnitzer versuchen würdest?‹ Der Mensch, der immer ziemlich eitel gewesen ist, wurde ganz rot vor Stolz. ›Das werd' ich schon machen, Erlaucht,‹ erwiderte er, ›wenn ich das richtige Holz bekomme.‹ Er bekam es und brachte wirklich nach einer gewissen Zeit das Geländer derart ergänzt, daß man, nachdem es gleichmäßig gestrichen und gefirnißt war, kaum einen Unterschied zwischen dem alten und neuen Teil wahrnehmen konnte. Ich belobte und entlohnte ihn für diese Arbeit, die ihm doch genug Mühe und Schweiß gekostet haben mochte. Seit diesem Tage dachte er nur mehr an derlei Leistungen. Er kramte nach Bruchstücken von Rokokomöbeln und vermorschten Wandtäfelungen, die er nachmachen wollte. Ich hatte ihm einmal zwei alte Quartbände geschenkt, [21] die kunstgewerbliche Kupfer enthielten. Er hatte sie früher kaum angesehen, jetzt vertiefte er sich in ihr Studium. Darüber vernachlässigte er seine eigentlichen Arbeiten. Ich ließ es ihm hingehen, da ich wußte, daß er sehr empfindlich war; auch stand ja der Winter vor der Tür, den wir in Wien zubrachten. Zurückgekehrt, trafen wir im Schlosse auf ungenügende Vorkehrungen. Als ich Worel zur Rede stellte, warf er sich in die Brust und erklärte, daß er es an nichts habe fehlen lassen. Da ich mit meinen Leuten nicht gern hadere, schwieg ich und beschloß, sein weiteres Verhalten abzuwarten. Da zeigte sich sehr bald, daß aus einem ergebenen und beflissenen Diener ein starrköpfiges, von Größenwahn erfülltes Individuum geworden war, das die ihm zukommenden Verrichtungen unser seiner Würde hielt. Er hatte den Winter benützt, um in der Bibliothek, zu der er die Schlüssel hatte, allerlei Bücher zu lesen, und sich derart gebildet, daß er in einem geselligen Verein, der im Orte entstanden war, Vorträge hielt. Dieser Verein verfolgte tschechische Parteizwecke. Es war mir also höchst unangenehm, daß einer unserer Bediensteten daran teilnahm. Und mit dem Oberhaupt hat sich auch die ganze Familie verändert. Die Frau, deren Mutter inzwischen gestorben ist, scheint keine Lust mehr am Hauswesen zu haben. Sie überläßt alles der buckligen Maruschka und legt die Hände in den Schoß. Die Olga geht als junge Dame einher. Sie liest auch alle möglichen Bücher und bezeigt sich sehr hochnasig gegen unsere Minka. Meine Frau wollte sie als Kammerjungfer zu sich nehmen; daran war nicht mehr zu denken. Und der jüngste Sproß, der eben die Volksschule hinter sich hat, lümmelt den ganzen Tag müßig herum oder kratzt jämmerlich auf einer Geige. Dabei verlottert die ganze Wirtschaft. Der Garten ist verwildert, und das Stück Feld liegt brach da, von Unkraut überwuchert. So entgeht den Leuten ein gut Teil ihres Einkommens, und ich weiß nicht, wie sie ihr Auskommen finden. Alle diese Wahrnehmungen verstimmten mich, und ich sann hin und her, was ich nun mit dem Worel [22] anfangen sollte. Ihn Knall und Fall zu entlassen, ging doch nicht an. Denn er hatte uns ja zwanzig Jahre hindurch treue und ersprießliche Dienste geleistet. Und eigentlich Übles konnte ich ihm nicht vorwerfen. Da brach er selbst das Eis, indem er bei mir – wie er sich jetzt ausdrückte – um eine Audienz nachsuchte. ›Ich komme,‹ sagte er, ›um Eurer Erlaucht eine Bitte vorzutragen. Mein Franz hat eine sehr gute Klassifizierung erhalten, und ich habe die Absicht, ihn das Gymasium machen zu lassen. Auch Olga will sich zu irgendeinem Berufe vorbereiten. Ich möchte also beide Kinder bei Bekannten in der Stadt unterbringen. Dazu fehlen mir aber die Mittel. Ich bitte daher, Erlaucht möchten die Gnade haben, für den Franz einen Erziehungsbeitrag zu bewilligen.‹ ›So?‹ sagte ich, ›du willst also – ich sah, wie sehr ihn das du verschnupfte – deinen Sohn studieren lassen? Ich hatte gedacht, du würdest ihn in dein Handwerk einführen, und er würde einst dein Nachfolger werden. Und die Olga wollte meine Frau als Kammerjungfer nehmen.‹ ›Das geht nicht, Erlaucht‹, versetzte er. ›Es sind geistig sehr begabte Kinder.‹ ›Das will ich nicht bestreiten‹, sagte ich. ›Aber einen Erziehungsbeitrag bewillige ich entschieden nicht.‹ Er wurde puterrot vor Zorn. ›Dann muß ich Euer Erlaucht bitten, mich meines Dienstes zu entheben. Ich habe schon vor einiger Zeit von einer großen Kunsttischlerei in der Stadt einen sehr vorteilhaften Antrag erhalten. Den würde ich jetzt annehmen und dort eintreten.‹ ›Das ist deine Sache‹, erwiderte ich. ›Und da du solange bei uns in Dienst gestanden, erhältst du eine Pension von jährlich vierhundert Gulden. Du kannst also in der Stadt deine Kinder ausbilden lassen.‹ Damit war die Sache im reinen. Zu Neujahr ziehen die Leute ab.

Ich war natürlich über all das sehr erstaunt, aber doch begierig, die Olga zu sehen. Daß sie sich auf die junge Dame hinausspielte, konnte mir ja nicht wider den Strich gehen – und daß sie Bücher las, auch nicht. Es traf sich, daß sie, als wir nach Tisch auf der Terrasse den Kaffee nahmen, in einiger Entfernung [23] an uns vorüberschritt. Es kam ihr zu, uns zu grüßen. Sie tat es auch. Aber so, daß sie ganz komtessenhaft nur das Kinn anzog. Sie hatte sich in den letzten Jahren voll entwickelt und war sehr groß geworden. Ihre Züge kamen mir härter und schärfer vor; auch hatten ihre Haare eine dunklere Kupferfarbe angenommen. Aber sie war jetzt ein wahres Prachtgeschöpf, dessen Erscheinung meine Absichten keineswegs erschütterte.

Da geschah es, daß ich mich erkältete und ein paar Tage die Zimmer hüten mußte. Eines Nachmittags – es war Sonntag und mein Bruder mit den Seinen nach Roggendorf hinübergefahren – stand ich an einem Fenster, das auf einen Seitenpfad des Parkes hinausging. Ein mächtiger alter Ahornbaum stand davor und verdeckte es. Wie ich nun so durchs Gezweig hinuntersah, gewahrte ich Olga, die mit einem anderen, wahrscheinlich ihr befreundeten Mädchen vorüberkam. ›Na, du hast ja jetzt wieder deinen Grafen da‹, hörte ich das andere Mädchen sagen. ›Ach was, der!‹ erwiderte Olga wegwerfend. ›Heiraten würde er mich doch nicht, und nur so‹ – sie machte eine verächtliche Handbewegung.

Noch niemals war es mir so deutlich geworden, daß, wie man zu sagen pflegt, der Ton die Musik mache. Gegen ihre Äußerung war ja nicht das geringste einzuwenden. Sie war vielmehr sehr löblich und hätte mich überzeugen können, wie ehrenwert ihre Gesinnung war. Aber die Art und Weise, wie sie ihre, noch dazu tschechisch gesprochenen Worte vorbrachte, wirkte auf mich erkältend wie Eis. Denn sie zeigte mir, daß meine Erkorene nicht die geringste Empfindung für mich hege. Es war bei ihr damals eben nichts anderes gewesen als eine vorübergehende Emotion der Pubertät, wie sie jeder Backfisch durchzumachen hat. Diese Erkenntnis stimmte mich plötzlich ganz froh, und von diesem Augenblick an war auch Olga für mich Luft. Ich machte noch die Jagden mit und kehrte dann auf meinen Posten nach Madrid zurück.«

4.

[24] IV.

»Was ich dabei gefürchtet hatte, war das Wiederzusammentreffen mit jener Dame. Aber der Herr Gesandte war allein gekommen. Seine Gemahlin hatte in einem nordischen Seebade einen russischen Fürsten kennen gelernt und sich scheiden lassen. An der Seite des Russen soll sie in Petersburg noch eine sehr hervorragende Rolle gespielt haben – und tugendhaft geworden sein. Das kommt manchmal bei solchen Frauen vor, wenn sie zufällig auf den Richtigen treffen – und nebenbei ein wenig zu altern anfangen. Sie aber stand eigentlich noch immer in der Blüte ihrer Jahre, als sie plötzlich starb. Ich hatte es erst einige Zeit nach ihrem Tod erfahren. Aber die Kunde traf mich wie ein heftiger Schlag ins Innerste, der mich fühlen ließ, wie sehr ich dieses Weib geliebt hatte.«

Er schwieg, in Gedanken versinkend. Dann fuhr er fort: »Das Leben in Spanien war mir inzwischen immer öder geworden. Die Liebschaften der dicken Königin Isabella und die beständigen Pronunziamentos langweilten mich mehr als sie mich aufregten. So griff ich endlich wieder zum Schwert und machte das Mexikanische Abenteuer mit. Nach dem unglücklichen Ausgang unternahm ich noch eine Reise nach Paris und London und kehrte in unsere mährische Heimat zurück. Mein Bruder residierte, da unser Vater gestorben war, schon als Fürst in Roggendorf, wo jetzt auch ich meine Tage beschließen will.

An die Worels dachte man schon längst nicht mehr. Einmal aber kam doch die Rede auf sie, und mein Bruder sagte: ›Wie ich höre, ist es ihnen eine Zeitlang ganz gut gegangen. Er ist ja wirklich ein geschickter Mensch, und die ersteren Arbeiter in jener Kunsttischlerei sollen sehr gut bezahlt werden. Aber in seiner Familie hatte er Unglück. Die Olga, die in Blansek die Bewerbungen eines unserer Forstleute schnöd zurückgewiesen, hat sich in der Stadt mit dem Sohn eines reichen Fabrikanten [25] eingelassen. Er soll ihr die Ehe versprochen haben. Als sie aber durch ihn in andere Umstände gekommen war, verließ er sie. Man sagt, es sei eine böse Geschichte gewesen, denn Papa Worel wollte es mit Gewalt durchsetzen, daß sie der junge Herr zu seiner Frau mache. Aber es nützte nichts; sie mußten sich mit einer nicht unansehnlichen Abfindungssumme zufrieden geben. Aber da war auch gleich ein Schwindler da, der die Vaterschaft und auch das Kapital auf sich nahm, indem er Olga heiratete. Er hatte die Absicht, eine Fabrik Zu errichten, in der alte Tuchreste zu frischen Stoffen verarbeitet werden sollten. Nach ein paar Jahren war das Geld zum Teufel gegangen, und da auch Wechselfälschungen mitspielten, kam der Herr Gemahl ins Zuchthaus. So mußte die Olga mit zwei Kindern zu ihrem Vater flüchten. Und der Schlingel von Sohn ist natürlich nicht einmal durch die zweite Gymnasialklasse gekommen. Er hat sich dem Violinspielen gewidmet, um es darin, wie der Alte versichern soll, zur Meisterschaft zu bringen. Nun, wir werden ja sehen.‹

Nicht lange nach diesem Gespräch wies mir mein Bruder ein Schreiben vor, das er eben von Worel erhalten hatte. Dieser teilte darin mit, daß er unverschuldet in eine große Notlage geraten sei, die jetzt um so drückender geworden, als ihn seine Frau wieder mit einem Kinde – einem Knaben, beschenkt habe. Er bitte daher, ihm einen Vorschuß von dreihundert Gulden zu gewähren, welche Summe er in kleinen Monatsraten dankbarst von seiner Pension zurückerstatten werde.

›Was wirst du tun?‹ fragte ich.

›Auf Ratengeschäfte lasse ich mich nicht ein‹, erwiderte mein Bruder. ›Aber ich werde ihm das Geld schicken, damit er sieht, daß man ihm nichts nachträgt.‹

›Weißt du was?‹ sagte ich. ›Ich muß dieser Tage ohnehin nach der Stadt fahren, und werde ihm das Geld überbringen.‹

Mein Bruder sah mich etwas erstaunt an. Da ich aber [26] erklärte, es interessiere mich, die Verhältnisse kennen zu lernen, in denen die Leute jetzt lebten, so stimmte er zu.

Ich begab mich also schon am nächsten Tage nach der Stadt. Es war Sonntag und ich hoffte, da Worel in seiner Wohnung anzutreffen. Diese befand sich in einer breiten, entlegenen Straße, in der noch sehr viele alte und niedere Häuser standen. Dazwischen waren mehrstöckige neue Bauten aufgeführt worden. Echte Proletarierhäuser. In einer dieser Zinskasernen hauste er jetzt, hoch oben in der letzten Etage. Schon im Torweg schlug mir ein beklemmender Geruch entgegen, der sich in jedem Stockwerk in einen andern Mißduft auflöste. Endlich war ich vor der gesuchten Tür angelangt, die halb offen stand. Drinnen im Dunst des Herdes kochte die bucklige Maruschka das Mittagessen. Als sie mich erblickte und erkannte, ließ sie den Löffel fallen, stürzte nach der Zimmertür, riß sie auf und schrie hinein: ›Graf Erwin ist da!‹ Ich vernahm, wie die Leute überrascht und bestürzt durcheinander fuhren; sie wußten offenbar nicht, wie sie mich empfangen sollten. Ich aber war schon eingetreten. In der Mitte eines kleinen, mit allerlei brüchigem Hausrat vollgepfropften Zimmers war Worel zu sehen, seinen jüngsten Sprößling auf dem Arm. In einiger Entfernung von ihm, an allen Gliedern zitternd, sein gealtertes, abgehärmtes Weib. Links stand eine schmale Kammer offen, in welche zwei notdürftig bekleidete und widerstrebende Kinder hineinzuziehen Olga bemüht war. Ein Blick auf sie genügte mir, um zu erkennen, daß sie noch immer schön – aber ihr Antlitz auch schon von scharfen Furchen durchzogen war. In der Kammer saß, mager und dünnbärtig, ein junger Mann mit fahlem Gesicht und finster blickenden Augen. Als es gelungen war, die Kinder hineinzubringen, zog Olga die Tür hinter sich zu.

›Herr Worel,‹ sagte ich jetzt, während mir die Frau einen abgenützten Stuhl zurechtschob, ›ich überbringe Ihnen hier im Auftrag meines Bruders die erbetene Summe. An Rückzahlung [27] brauchen Sie nicht zu denken, und wir wünschen nur, daß Ihnen damit geholfen sei.‹

Der Mann hatte sich inzwischen gefaßt. ›Ich danke sehr‹, erwiderte er gemessen, während er den Säugling in den Arm der Mutter legte, deren Augen bei meiner Rede feucht geworden waren. Es wird sich schon alles wieder machen. Ich hoffe auf einige größere Arbeiten außer Akkord. Es ist, wie ich mir mitzuteilen erlaubte, nur eine momentane Notlage. Der da' – er wies auf das Kleine – ›hat sie auf dem Gewissen. Im übrigen verspricht er, ein prächtiger Bursch zu werden. Sehen ihn Erlaucht nur an. Nicht wahr? Eine ganz tüchtige Leistung von Eltern in so späten Jahren.‹

Während ich nach dem Kinde blickte, das keinen Tropfen Blut in den Adern zu haben schien, aber jetzt heftig zu schreien anfing, ging die Zimmertür auf und der Sohn Worel trat mit einer kurzen Verbeugung herein. Breitspurig, aufgedunsen, das vulgäre Gesicht von langen Haaren umwallt.

›Das ist mein Franz‹, sagte Worel. ›Erkennen ihn Erlaucht noch? Er hat sich ganz auf die Musik geworfen. Er hofft auch bald im Orchester des Stadttheaters einen Platz zu finden.‹

›Ich gratuliere‹, sagte ich, während der Virtuose mit einem blöden Lächeln vor sich hinstierte. ›Und nun leben Sie alle wohl‹, fügte ich mit einem letzten Blick auf die geschlossene Kammertür hinzu und ging, von Worel durch die Küche geleitet.

Als ich langsam und vorsichtig die schmutzige Treppe hinunterschritt, vernahm ich, wie mir jemand nachgehuscht kam. Es war die Frau. ›Verzeihung, Erlaucht‹, flüsterte sie. ›Haben die Gnade, nur auf ein Wort –‹

›Was wünschen Sie, liebe Frau Worel?‹ fragte ich, auf einem Absatz der Treppe stehen bleibend.

›Ach, mein Gott‹, erwiderte sie, und brach in Tränen aus. ›Wir sind so unglücklich!‹

[28] ›Unglücklich? Ihr Mann sprach doch nur –‹

›Ach der!‹ unterbrach sie mich. ›Der sieht immer alles ganz anders an. Wie er es eben haben möchte. Und dann schämt er sich auch. Und unsere jetzige Notlage wäre auch das geringste. Worel ist ja fleißig und verdient viel. Aber die Kinder!‹ Sie hielt sich schluchzend die Hände vor die Augen.

›Was ist es mit den Kindern?‹

›Ach der Franz! Der ist ein Lump geworden. Mit dem Geigenspielen ist es nichts, rein nichts. Der Meister, zu dem er ging, hat ihn aufgegeben. Er soll gar kein Talent haben. Und nun lungert er den ganzen Tag herum, trinkt und macht Schulden. Das mit dem Theaterorchester hat er dem Vater vorgelogen.‹

Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte, und zuckte daher bloß die Achseln.

›Und dann die Olga! Ihre traurigen Schicksale werden in Roggendorff wohl bekannt geworden sein. Nun aber hat sie einen Menschen kennen gelernt, der in einer Spinnfabrik arbeitet. Die Leute sagen, daß er ein Sozialist ist und schlechte Gedanken im Kopf hat. In den hat sie sich verliebt. Zum erstenmal in ihrem Leben! Denn alles andere war doch nur so. Und nun, da ihr Mann im Gefängnis gestorben ist, will sie ihn heiraten – und selbst Arbeiterin in der Spinnfabrik werden. Denken Sie nur, Erlaucht, unsere Olga in einer Spinnfabrik!‹

Mir schien das nicht gerade das allergrößte Unglück zu sein. Aber ich dachte daran, daß ich sie einst selbst hatte heiraten wollen. ›Nun, wenn sie durchaus will,‹ sagte ich, ›so läßt sich nichts dagegen tun. Sie ist großjährig.‹

›Ja, ja,‹ entgegnete die Frau, ›es läßt sich nichts machen! Sie hat einen harten Kopf, gerade wie mein Mann. Aber es wird kein gutes Ende nehmen.‹

›Nun, wer weiß‹, sagte ich. ›Sie kennen ja den alten Spruch: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.‹

[29] ›Ach Gott!‹ sagte sie, trostlos aufblickend. ›Und jetzt auch noch das Kind. Daß uns das hat geschehen müssen!‹

›Sie müssen es jetzt eben hinnehmen. Aber verzweifeln Sie nicht. Wir werden Sie nicht verlassen.‹

›O tausend Dank!‹ rief die Frau, wieder in Tränen ausbrechend. ›Auch Seiner Durchlaucht für die gütige Gabe!‹ Sie wollte meine Hand erfassen und küssen.

›Ist gern geschehen‹, sagte ich, mich losmachend. ›Und schreiben Sie nur, wenn Hilfe nottut.‹

Während ich jetzt die Treppe vollends hinabstieg und dem Innern der Stadt zuschritt, gedachte ich der Zeiten, da diese Menschen in einem behaglichen Heim, von frischer, gesunder Luft umweht, ein kräftig blühendes Dasein führten. Und jetzt atmeten sie dort oben in dem verpesteten Hause, in enge Räume Zusammengepfercht, dem Elend preisgegeben! Dieser Wandel der Dinge durchschauerte mich, als hätte ich ihn am eigenen Leibe erfahren, und unwillkürlich sprach ich wieder die banale Phrase vor mich hin: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.«


* Fag*

*


»Alles Weitere ist bald erzählt«, fuhr der Graf nach einer Pause fort. »Welchen Ausgang Olga genommen, wissen Sie. Ihr älterer Bruder blieb ein Taugenichts, der in schlechten Wirtshäusern aufspielte. Schließlich wurde er zum Landstreicher und soll in einer offenen Scheune, darin er einmal bei starkem Winterfrost genächtigt, erfroren sein. Ein bezeichnendes Ende hat der Vater genommen. Er hatte sich durch sein selbstbewußtes, hochfahrendes Wesen schon lange bei seinen Mitarbeitern verhaßt gemacht. Als man einmal eine Lohnerhöhung durchsetzen wollte, arbeitete er während des Streiks im geheimen für den Besitzer der Tischlerei fort. Wohl durch Not dazu bewogen, aber noch mehr durch seine Eitelkeit. Denn es wurde ihm gesagt, daß nur er imstande sei, einen kleinen, besonders komplizierten Schrank anzufertigen, der von einer vornehmen [30] Persönlichkeit dringend bestellt worden war. Die Sache wurde entdeckt und von den Ausständigen sehr übel aufgenommen. Sie überfielen ihn bei günstiger Gelegenheit und prügelten ihn weidlich durch. Das schien weiter keine Folgen gehabt zu haben. Nach und nach aber begann er zu kränkeln, und eines Tages starb er ohne bestimmt nachweisbare Todesursache. So sind jetzt nur mehr drei Familienglieder am Leben. Die Mutter, die älteste Schwester, welche beide sich mit ihrer Hände Arbeit durchbringen – und der Jüngste, der den romantischen Namen Jaroslav führt. Wie es heißt, ein hübscher, anstelliger Knabe. Er soll auch ein sehr fleißiger Schüler sein und genießt von uns einen Erziehungsbeitrag. Vielleicht ist er schon der Mensch der Zukunft.«

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 6. Teil. Die Familie Worel. Die Familie Worel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AFAE-7