Ninon

1.

[59] [63]I.

Die Maskenbälle, welche im Karneval des Jahres 186* im Theater an der Wien stattfanden, gehörten zu den glänzendsten und besuchtesten der Saison. Ein unternehmender Direktor, der die Leitung der Bühne erst vor kurzem übernommen, hatte sie nach Art der Pariser Opernbälle ins Werk gesetzt und damit den Wienern, welche zu derlei Vergnügungen bis jetzt nur die Redoutensäle und einzelne größere öffentliche Lokale gekannt, etwas ganz neues geboten. Mehr als einmal war ich, in jener Gegend wohnend, des nachts an dem strahlend erleuchteten Portal vorübergeschritten, hatte rasche Wagen anfahren und halbverhüllte Frauengestalten in reizenden Kostümen oder Balltoiletten aussteigen sehen, ohne daß mich die Lust angewandelt hätte, das bunte Treiben, von dem man sich Wunderdinge erzählte, näher in Augenschein zu nehmen. Endlich jedoch, als ich gerade in vorgerückter Nachtstunde aus einer Gesellschaft nach Hause ging und also schon im Frack steckte, faßte ich plötzlich den Entschluß, eine Karte zu lösen.

Den hellen, reich ausgeschmückten Raum betretend, fand ich, daß derselbe keineswegs überfüllt, sondern weit weniger belebt war, als ich erwartet hatte. Die Logenreihen wiesen viele Lücken auf, und die nicht sehr zahlreichen Insassen blickten, wie es schien, etwas gelangweilt auf die Maskenschwärme hinab, die sich unten ziemlich durchsichtig hin und her bewegten. Indessen erkannte ich bald, daß ich während einer längeren Ruhepause gekommen war; ein großer Teil des Publikums mochte den Saal verlassen und die angrenzenden Speise- und Erfrischungsräume [63] aufgesucht haben. Als jetzt das Orchester plötzlich eine rasche Tanzweise erklingen ließ, strömte es auch wirklich von allen Seiten zu, so daß endlich eine dichte Menge in lustigem Walzer durcheinander wogte. Nun zeigten sich auch mehr oder minder interessante Erscheinungen. Stadtbekannte Persönlichkeiten der Aristokratie und der Finanzwelt, hervorragende Mitglieder des Parlaments, Schriftsteller und Künstler. Unter den letzteren ein damals vielgenannter polnischer Maler in Nationaltracht, der seine bezaubernd schöne Schwester in gleicher Kleidung am Arm führte. Sehr zahlreich war die Schauspielkunst vertreten. Neben einer ebenso berühmten wie berüchtigten Lokalsängerin fiel ein neugewonnenes weibliches Mitglied des Burgtheaters durch vornehme Haltung und klassischen Adel des Profils ganz besonders auf. Die Dame ließ sich von einem zur Zeit bühnenbeherrschenden Autor begleiten und zog einen langen Schweif neugieriger Bewunderer nach sich. Dennoch fühlte ich mich gewissermaßen enttäuscht; ich hatte mehr Fülle und Triebkraft im ganzen, mehr lebensfreudige Hingabe im einzelnen erwartet. Es war doch eigentlich nur eine Zurschaustellung, welche trotz allen äußeren Glanzes etwas innerlich Beengtes und Frostiges hatte.

So schritt denn auch ich ohne rechten Anteil in dem Gewoge einher, das sich jetzt, da wieder eine Tanzpause eingetreten war, in weitem Rundgang durch den Saal bewegte. Mit einemmale fühlte ich, wie sich von rückwärts ein Arm unter den meinen schob, und hörte eine künstlich fistelnde Stimme fragen: »Bist du auch da?«

Ich blickte erstaunt und forschend auf die weibliche Maske, die jetzt an meine Seite getreten war und sich sehr zutraulich an mich schmiegte. Eine nicht allzu große, volle Gestalt in einem blaßblauen, mit schwarzen Spitzen verbrämten Domino.

»Wie du siehst, bin ich da,« erwiderte ich endlich. »Ich kann dir jedoch deine geistreiche Frage nicht zurückgeben; denn ich vermag schlechterdings nicht zu erraten – –«

[64] »Das glaub' ich,« versetzte sie. »Aber betrachte meine Hand; vielleicht bringt sie dich auf die Spur.«

Ich blickte auf die entblößte Hand nieder, die auf meinem Arm ruhte. Es war eine sehr schöne Hand; etwas fleischig zwar, aber doch lang und edel gestreckt, die Fingerspitzen leicht nach aufwärts gebogen. Keine Überladung mit Ringen; ein einziger flacher Goldreif, an welchem eine feine, nicht allzu kostbare Perle schimmerte, hob sich geschmackvoll von der elfenbeinartigen Blässe der Haut ab.

»Nun?« fuhr die Maske fort. »Kannst du nichts herausbringen? Du rühmtest dich doch stets, einen sehr scharfen Blick für Hände zu haben, und auch nur einmal gesehene nie wieder zu vergessen. Und die meine hast du sehr oft gesehen – ja du hast sie sogar besungen.«

»Besungen? Das muß eine Zeit her sein. Denn mit derlei geb' ich mich schon lange nicht mehr ab.«

»Es ist auch schon lange – so an die zehn Jahre. Meine Augen hatten dich übrigens gleichfalls poetisch begeistert, und du glaubtest damals etwas ganz neues zu sagen, indem du sie Veilchenaugen nanntest.«

»Noch immer besser, als wenn ich sie mit Vergißmeinnichten verglichen hätte,« erwiderte ich, indem ich mich umsonst bemühte, aus den ziemlich farblosen Augenflächen, die durch die Schlitze der schwarzen Samtlarve blinkten, eine Vorstellung zu gewinnen; »ich wäre nun erst recht Lügen gestraft.«

»Na, ich will nicht schuld sein, daß du dir dein bißchen Gehirn überanstrengst. Ich werde mich demaskieren; mir ist ohnehin schon fürchterlich heiß unter diesem Schwitzvisir.« Dabei machte sie die Larve los und wandte mir ein breites, weißes Antlitz zu, in dessen schlaffen, gleichsam plattgequetschten Zügen ich mich nicht sofort zurechtfinden konnte.

Endlich hatte ich ein volles Bild gewonnen. »Nina!« rief ich aus.

»Ja, Nina«, entgegnete sie, plötzlich in den niedrigsten Wiener [65] Dialekt verfallend und mit einer Stimme, deren Klang ein Heer von Erinnerungen in mir wach rief. »Nina – oder besser g'sagt: Krawall-Ninerl! Das hätt'st dir net verhofft, mich wieder z'finden – und gar auf an Elitball. Net wahr? Hast g'wiß g'laubt, i wär' schon längst in an Spital' z' Grund gangen – oder gar wo anders, wo's no schlimmer is. – Es war auch nicht weit davon«, fuhr sie, da ich nichts erwiderte, im früheren Hochdeutsch fort; »aber da siehst du, daß nicht bloß die Tugend besteht. Mach' doch nicht ein gar so dummes Gesicht! Schauen wir lieber, daß wir aus dieser Tretmühle hinauskommen; die Tanzerei wird ohnehin gleich wieder losgehen – und darüber sind wir beide erhaben. Wir wollen irgend einen stillen Winkel aufsuchen, wo wir eine Zigarette rauchen und von alten Zeiten plaudern können. Auch ist mir, offen gestanden, einigermaßen flau im Magen und ich möchte etwas zu mir nehmen. Erschrick nicht! Ich denke an kein Souper mit obligatem Champagner. Das Saufen hab' ich mir abgewöhnt; – bin überhaupt solid geworden. Eine Tasse Tee mit einigem kalten Aufschnitt genügt vollkommen.«

Sie hatte mich bei diesen Worten nach dem Seitengange gezogen, der in ein geräumiges Büffetzimmer führte. In der Mitte dieses schmalen Korridors war ein großer, von zwei Gasflammen beleuchteter Spiegel angebracht. Davor hielt sie mich zurück, so daß wir nun beide unser Bild vor Augen hatten.

»Nun, wir nehmen uns noch ganz erträglich aus«, sagte sie. »Könnten Mann und Frau sein. Bedankst dich – was? Du hast übrigens im Laufe der Jahre gewonnen. Siehst ganz stattlich aus. Ich aber bin leider sehr stark geworden und muß mich abscheulich schnüren. Und was sagst du zu meinem Gesicht?« Sie ließ die Kapuze des Dominos ganz in den Nacken fallen, so daß ihr Haupt mit dem dichten, trockenen, fahlroten Haar frei zum Vorschein kam. Es war in der Tat ein merkwürdiger Kopf, der trotz der verquollenen Gesichtszüge einen fesselnden Eindruck machte. Infolge eines eigentümlich schmerzhaften [66] Zuges, der sonderbarerweise seit jeher um diese blaugrauen Augen, um diesen herben, fast leblos blassen Mund gelegen hatte, mahnte er an die berühmte tête de cire im Museum zu Lille.

»Du sagst ja gar nichts. Schön bin ich freilich nie gewesen –«

»Aber bezaubernd. Jeder, der etwas tiefer in dein weißes Gesicht geblickt hatte, war auch in dich verliebt.«

»Mit Ausnahme deiner Wenigkeit«, sagte sie wegwerfend.

»Ich war eben vorsichtig.«

»Ja, du gingst mir aus dem Wege – und machtest nur hinterrücks schlechte Verse auf mich. Konnte mir auch ganz recht fein; denn du warst damals – offen gestanden – ein ausnehmend fader Jüngling. Übrigens«, fuhr sie fort, indem sie ganz dicht an den Spiegel trat und sich wohlgefällig betrachtete, »hast du nur die Wahrheit gesagt. Es waren alle wie toll in mich verliebt. Ich weiß eigentlich selbst nicht warum –«

»Weil du stets im Innersten kalt bliebst.«

»Kalt? Nun ja. Wenn ich da überall hätte glühen sollen, wäre gar bald nur mehr ein Häuflein Asche von mir geblieben. Wenn ich so zurückdenke in die Zeit, wo du noch ein junger Leutnant warst, ist mir's, als wär' ich schon hundert Jahre alt. Mein Gott, der arme Rudi!«

»Ja, der arme Rudi,« wiederholte ich still. Der Schatten des einstigen Kameraden war schon längst vor mir aufgestiegen.

»Und weißt du, daß ich damals, als er sich erschoß, auch nicht so viel –« sie schnippte mit den Fingern – »dabei empfunden hatte! Eigentlich hat er's ja auch nur seiner Schulden wegen getan.«

»Die er für dich gemacht.«

»Ah pah! Für mich – oder für eine andere, das blieb sich gleich. Es lag ihm so im Blute.«

»Mag sein. Aber er war auch eifersüchtig –«

»Dumm genug. Es war ihm doch bekannt, daß ich von einer Hand in die andere ging. Das wußte jeder und mußte sich's [67] gefallen lassen – er aber wollte der einzig Geliebte sein. Gerade so wie auch damals der junge Maler, dem ich Modell stand zu einer Laïs oder Phryne. Ein letzter hoffnungsvoller Rahlschüler, der sich mittlerweile aufs Porträt geworfen hat, weil es mit den griechischen Schwarten nicht mehr ging. Er wollte mich um jeden Preis heiraten, und bald wär's zum Duell gekommen zwischen ihm und einem seiner Kollegen, der dasselbe wollte. Das war nun wieder ein Nazarener aus der Schule Führichs, malte mich als Madonna – und hat mich bei den Sitzungen mit verdrehten Augen angebetet wie eine wirkliche. Lächerlich!«

»Nun, es hat mancherlei in dir gesteckt«, sagte ich nachdenklich. »Es quirlte nur alles so durcheinander.«

Sie blickte schweigend vor sich hin. »Ja, ich war eine Canaille«, sagte sie dann mit einer Art von teuflischer Genugtuung. »Aber komm, gehen wir zum Tee.«

Wir begaben uns also in das Büffetzimmer, wo es in diesem Augenblick ganz still und menschenleer war, und ließen uns an einem Ecktischchen nieder. Während der Aufwärter den gewünschten Imbiß brachte, und Nina behaglich träg zulangte, dachte ich an Vergangenes .....

Ja, das Weib, das jetzt, in zunehmender Fülle verblühend, vor mir saß – ich hatte es schon in seiner ersten Jugend gekannt. Als ein ganz verlorenes, verkommenes Ding, mit einem zerschlissenen Fähnchen auf dem Leibe, mit defektem Schuhwerk und zerknittertem Hütlein. Aber sie hatte den Wuchs einer Hebe, und ihr lichtes, von zerzausten rötlichen Haaren umschimmertes Gesicht übte eine wundersame Anziehungskraft aus. Die Züge waren schon damals so, als hätten sie in ihrer ursprünglich reinen Bildung einen leichten, entstellenden Druck erhalten. Und doch – welch ein Reiz lag in dem etwas schief stehenden Näschen, in dem weichen und doch energischen Kinn – in dem eigentümlichen Schnitt und Blick der Augen. Es waren wirklich Veilchenaugen, wenn sie freundlich oder zärtlich blickten, aber stahlgrau [68] und stahlhart in Stunden oder Tagen des Schmollens und Grollens. Und solche Stunden und Tage waren bei Nina nichts seltenes. Wie ein Aal wußte sich dann das schlanke Geschöpf jeder verlangenden Umarmung zu entwinden und die rosigen Nägel der zarten Finger zur Abwehr zu gebrauchen. Dafür aber gab sie sich, wenn man es am wenigsten erwartete, ganz plötzlich, wie dem Antrieb einer Laune folgend, hin, und oft erschien sie ganz unvermutet in irgend einer Offizierswohnung, um dort die Nacht zuzubringen. Manchmal kam sie recht ungelegen; sie kümmerte sich aber nicht darum, sondern warf sich, müd und abgehetzt, wie sie war, aufs Sofa oder ins Bett und schlief sofort ein. Denn sie hatte, wie man wußte, keinen eigentlichen »Unterstand« und verbrachte die Tage in den Straßen der Stadt und der Vorstädte, in Ateliers von Malern und Bildhauern, denen sie als Modell diente – oder sonst wo. Bei aller Unbildung – sie konnte kaum lesen und schreiben – besaß sie Geist, Urteilskraft und stets schlagfertigen, sarkastischen Witz; sie konnte oft Aussprüche tun, über die man erstaunte. Habgierig und eigennützig war sie in der Regel nicht, vielmehr mit allem zufrieden, was man ihr anbot; sie wurde selten unwillig, wenn man ihr nicht einmal ein bescheidenes Souper vorsetzen konnte. Sie aß überhaupt fast nichts, mochte nicht einmal Süßigkeiten; aber für Alkohol zeigte sie eine entschiedene Vorliebe. Sie trank alles Trinkbare – sogar Rum, davon sie einmal bei einer Orgie soviel auf einen Zug zu sich nahm, daß sie zum allgemeinen Entsetzen wie tot hinfiel. Sich zu berauschen, gewährte ihr offenbar das höchste Vergnügen, obgleich sie dabei in eine finstere, zornige Stimmung verfiel. Sie begann dann mit heiserer Stimme vom Jahre 1848 zu sprechen und er zählte, wie sie als halbwüchsiges Mädchen zuerst mit den Studenten, später mit den Brüdern »Arbeitern« ausgezogen war und sich, an Straßentumulten teilnehmend, zum ersten Male auf der Höhe einer Barrikade preisgegeben habe. Dabei wurde sie ganz wild, schalt uns Offiziere feile Knechte der Tyrannei, und begann derart zu toben, daß [69] sie Gläser und Teller nach unseren Köpfen warf und mit Gewalt zur Ruhe gebracht werden mußte. Infolgedessen wurde sie auch »Krawall-Ninerl« genannt. Zuweilen aber konnte sie ganz weichmütig und sentimental werden, erzählte von ihrem armen Vater, der ein zugrunde gegangener Tischlermeister gewesen – und von ihrer unglücklichen Neigung zu dem schönen Peppi. Dieser schöne Peppi war damals Heldenspieler an einem Vorstadttheater, ein arger Schreier und Kulissenreißer; aber er entzückte sein Publikum als Karl Moor, als Graf Wetter von Strahl und in ähnlichen Rollen; die Frauen vom »Grund« waren alle vernarrt in ihn. Aber der stolze Histrione fand das verwahrloste Mädchen unter seiner Würde und ließ es unerhört vor seiner Türe schmachten und winseln. So wenigstens berichtete Nina mit stammelnden Lippen und schluchzte und heulte dabei wie ein Kind. Wir anderen lachten darüber; aber dem armen Rudi, der sie leidenschaftlich liebte und sie durch allerlei Opfer eine Zeitlang an sich gefesselt hatte, zerfleischten solche Erzählungen das Herz, in welches er sich zuletzt die todbringende Kugel gejagt hatte .....

»Aber jetzt sag' mir doch«, begann nunmehr Nina, die ihren Appetit mittlerweile gestillt hatte, »sag' mir doch, lieber Alter, wie kommst du denn eigentlich zu dem schwarzen Frack? Ich hatte einige Mühe, dich darin wieder zu erkennen, und auf der Straße wären wir wohl beide fremd aneinander vorübergegangen. Hast du etwa eine Unannehmlichkeit gehabt? Oder warst du vielleicht töricht genug, in Zivildienste zu treten, um irgend ein edles Mädchen, das die Kaution nicht auftreiben konnte, unter die Haube zu bringen?«

»Keines von beiden. Du weißt doch –«

»Nu ja, ich weiß, daß du dich schon damals mit der Idee trugst, Schriftsteller zu werden. Aber Mensch, du wirst doch nicht von der Feder leben? Oder hast du vielleicht eine Erbschaft gemacht?«

»Das letztere keineswegs.«

[70] Sie sah mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Verachtung und Mitleid an. »Also wirklich! – Aber weißt du was?« setzte sie plötzlich hinzu, »du hattest ja nicht bloß lyrische Gedichte, sondern auch Trauerspiele im Sinn. Schreib' mal 'ne Rolle für mich.«

»Für dich?«

»Nun ja. Auch ich habe mich, wie du mich hier siehst, der Kunst gewidmet und werde demnächst als Schauspielerin auftreten.«

»Du?«

»Was ist dabei zu staunen? Mit dem früheren Leben hält's eben nicht mehr. Du darfst übrigens nicht glauben«, fuhr sie, den Kopf zurückwerfend, fort, »daß es mir späterhin so elend ergangen ist, wie in meiner schönen Jugend. O nein! Auch ich hatte, nachdem ich noch manches Arge und Ärgste überstanden, meinen Grafen, meinen Baron – und schließlich einen Bankier. Aber so alt dieser dicke Jude selbst war, ich erschien ihm im Laufe der Zeit nicht mehr jung genug, und da er überdies fallierte, so stand ich schließlich allein da. Das aber brachte mich zur Erkenntnis, daß ich mir einen neuen Nimbus anschaffen müsse. Und so gehe ich denn zum Theater.«

»Ja – aber wie –?«

»Ja aber wie?« wiederholte sie höhnisch. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, davon sich euere Weisheit nichts träumen läßt – obgleich sie sehr leicht auf die Spur geraten könnte. Erinnert man sich denn gar nicht mehr an meine unglückliche Jugendleidenschaft? An den schönen Peppi?«

»O ja; ich erinnere mich schon. Der Bühnenlöwe aus der Vorstadt –«

»Dieser Löwe hat ausgebrüllt. Das heißt, er ist alt und zahnlos geworden; auch die Mähne hat er verloren. Und da er selbst nicht mehr tragieren kann, so hat er eine Art Schauspielschule errichtet, von der er lebt. Merkst du nun? Und hast du vielleicht eine Ahnung davon, daß sich derzeit der Spieß umgekehrt [71] hat? Der ergraute Löwe – oder eigentlich Esel, der mich einst mit Füßen von sich gestoßen, ist jetzt bis über die Ohren in mich verliebt. Dabei aber hat er herausgefunden, daß das Zeug zu einer großen Tragödin in mir steckt.«

Ich sah sie an. Während der letzten Worte hatte ihr Gesicht einen ganz besonderen Ausdruck angenommen. Es streckte sich gewissermaßen in die Länge, die Augen öffneten sich weit, und der kräftige blasse Mund verzerrte sich zu einer schmerzvollen Grimasse. Der ganze Kopf hatte jetzt wirklich etwas von einer antiken tragischen Maske.

»Vielleicht hat der Löwe von ehedem recht«, sagte ich nachdenklich. »Allerdings ist es ein wenig spät –«

»Spät? Wie alt bin ich denn? Fünfundzwanzig Jahre – du kannst ja nachrechnen. Der neue Stern des Burgtheaters, den ganz in der Nähe leuchten zu sehen, ich eigentlich hierher gekommen, ist keineswegs jünger – und gleichfalls aus dem Nichts aufgegangen. Wir können noch Rivalinnen werden. Schon am nächsten Sonntage trete ich im Pasqualatti-Theater auf.«

»Dort?«

»Du weißt, eine Versuchsbühne. Und als erstes Debut werde ich die Maria Stuart spielen.«

»Die Maria Stuart –«

»Eigentlich lächerlich, was? Denke dir nur: wenn die einstige Krawall-Ninerl so heraustritt« – sie beugte sich vor und breitete die Arme aus –: ›Eilende Wolken, Segler der Lüfte!‹ Und daß ich besser sei, als mein Ruf, könnte ich auch nicht behaupten. Aber was willst du? Meinem alten Löwen steckt nun einmal der Jambus im Leibe – und er will mir ihn mit Gewalt einimpfen. Da er mir nun auch ein Engagement zu verschaffen gedenkt, muß ich mich fürs erste fügen. Später werde ich schon mit anderem hervortreten – etwa mit der Cameliendame. Das ist zwar auch eine abgespielte, weinerliche Komödie. Ich würde etwas ganz Neues brauchen, etwas [72] Unerhörtes – noch nie Dagewesenes. Aber der Mann, der das schriebe, müßte erst geboren werden. Ihr deutschen Dichter habt schon gar nicht das Zeug dazu und kommt aus euerer langweiligen Rührseligkeit nicht heraus. – »Aber«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, indem sie mit weit aufgerissenem Munde laut gähnte, »ich bin nachgerade müde und schläfrig geworden und möchte nach Hause. Geh', hol' einen Wagen.«

Sie hatte mich bei dieser Aufforderung leicht mit der Fußspitze angestoßen, und da mir selbst eine Verlängerung dieses Beisammenseins keineswegs erwünscht war, so beglich ich die Rechnung und zögerte nicht, dem Wunsche nachzukommen.

Ein Fiaker war bald zur Stelle. Ich öffnete den Wagenschlag und ließ Nina, die bereits, in einen grell karrierten Mantel gehüllt, unter dem Portal stand, einsteigen. »Wohin soll dich der Kutscher bringen?« fragte ich.

»Du wirst mich doch nicht allein fahren lassen?« rief sie mit einem bösen Blicke. »Das muß ich mir ausbitten!«

Ich stieg also zu ihr ins Coupé. Sie wohnte irgendwo »Unter den Weißgerbern«, und der Wagen rollte rasch über das feuchte, leicht beschneite Pflaster dahin.

»Schau«, begann Nina nach einer Weile schweigenden Nebeneinandersitzens, »schau, da wären wir wieder einmal ganz traulich beisammen. Wir könnten uns sogar küssen. Aber ich bin ja jetzt solid«, fügte sie wie abwehrend bei, da sie meinerseits keinerlei Anstalten zu näherer Anschmiegung wahrnahm. »Wo wohnst du denn?« Und da ich keine zureichende Antwort gab, drückte sie sich in die Ecke und sagte mit unverhehltem Ärger: »Du brauchst nicht so geheimnisvoll zu tun, ich werde dich nicht überfallen; davor bist du sicher. Aber mein Debut mußt du mit ansehen. Darauf besteh' ich. Ich werde dir gleich eine Karte geben, die dir den Eintritt verschafft; denn die Vorstellung ist sozusagen eine geschlossene.« Sie kramte in ihrem Geldtäschchen und zog aus mehreren Visitenkarten eine hervor, die ich zu mir steckte.

[73] Nun war auch der Wagen bald vor dem Hause angelangt, das Nina beherbergte. Ich half ihr beim Aussteigen und zog rasch die Torklingel; denn ein kalter Schneeregen schlug uns ins Gesicht. Zum Glück ließ der Hausmeister nicht lange auf sich warten. Nina reichte mir rasch die Hand. »Also nächsten Sonntag. Vergiß nicht!« Sie verschwand unter dem Tor, das dröhnend ins Schloß fiel.

Ich schickte jetzt den Wagen fort; denn trotz des bösen Wetters fühlte ich das Bedürfnis, zu Fuß nach Hause zu gehen. Die reine Luft tat mir wohl, wie ich so durch die stillen dunklen Gassen schritt. Schon ließ sich der anbrechende Morgen spüren; hinter manchem Fenster und in früh geöffneten Läden schimmerte Licht. Die Begegnung hatte niederdrückend auf mich gewirkt. Mahnte sie doch eindringlich an eine Vergangenheit, welche völlig zu überwinden und abzutun ich damals bestrebt war.

2.

II.

Auch am nächsten Tage hielt diese Verstimmung an, und wurde zu einer recht ärgerlichen Empfindung, als mir die Karte, die ich von Nina erhalten hatte, wieder in die Hand und deutlich vor Augen kam. »Fräulein Ninon Ninoni.« Und unten in der Ecke: »für den Abend des 20. Februar im Pasqualatti-Theater.« Ich brach in ein bitteres Lachen aus. Zwar hatte ich schon damals den Bühnen und ihren Leitern gegenüber herbe Erfahrungen gemacht, hatte tiefer, als mir lieb sein konnte, in diese Welt des doppelten Scheines hineingeblickt; aber noch waren die Ideale meiner Jugend: die großen Dramen unserer großen Dichter, die großen Leistungen unserer großen, nach und nach dahingehenden Schauspieler in mir lebendig geblieben. Und nun sollte ich mit ansehen, wie dieses herzlose, frivole, freche Geschöpf, die Nina-Ninon, als Maria Stuart auftrat! Wie drastisch hatte sie selbst den Widerspruch, der darin lag, hervorgehoben! Nein, nie und nimmer!

[74] Und doch! War nicht die Mehrzahl der Bühnenkünstlerinnen ähnlich geartet? Konnte sie nicht wirklich begabt sein? Schauspielerisches Wesen ist ja dem Geschlechte mehr oder minder angeboren, und diesem weiblichen Proteus konnte man schon eine gehörige Dosis davon zutrauen. Auch waren ja ihre geistigen Anlagen keine gewöhnlichen, und im Verlauf der Jahre schien sie sogar für einige Bildung gesorgt zu haben. Wer weiß also? Außerdem: der gänzlichen Talentlosigkeit, dem bloßen Dilettantismus erschloß sich auch dieses Versuchstheater nicht, das ja bekanntermaßen als Vorhalle größerer Bühnen galt. Es wäre immerhin interessant – und man sollte doch sehen. Wohlan, ich werde mich einfinden! –

Der Sonntag war da – und mit ihm ein wahres Frühlingswetter, wie es oft im Februar einzutreten pflegt, um bald wieder einem harten Nachwinter Platz zu machen. Ich ging schon früh am Nachmittage fort; denn ich wollte die Zeit bis zur Theaterstunde im sonnigen Freien zubringen. Langsam schritt ich die Favoritenstraße hinauf, die feiertäglich menschenleer war; nur selten rollte ein Wagen an mir vorüber. Alle Kaufläden waren geschlossen, die Häuser wie ausgestorben; unter den Toren standen müßige Dienstmägde, die gelangweilt in den hellen Tag hinausblickten. Auch draußen vor der Linie alles still und öde. Wo mochten die Menschen sich aufhalten, von denen es hier im Laufe der Woche wimmelte? Einzelne Fußgänger, meist Arbeiter im Sonntagsstaat, schlichen über die leere Fläche vor dem Südbahnhofe, der sich auch ausnahm, als wäre heute jeder Verkehr eingestellt; das Pfeifen und Brausen eines eben näherkommenden Zuges ließ freilich diese Täuschung nicht aufkommen. Ich durchschritt nun den Viadukt und betrat den Vorort Favoriten, welcher damals in seiner ersten weiteren Ausbreitung begriffen war. Dort herrschte schon regeres Leben. In der Hauptstraße schritten unternehmend herausgeputzte Mädchen, barhäuptig und mit rauschenden, gesteiften Röcken, an der Seite von jungen Burschen [75] und Soldaten auf und nieder; aus mancher der zahlreichen Gastwirtschaften klang fröhliche Musik, wie es schien, schon jetzt zum Tanze einladend. Auf einem wüsten Baugrunde, wo bereits einzelne Anfänge stattlicher Gebäude zu sehen waren, hatte sich ein »Ringelspiel« angesiedelt, und eine Schar lärmender Rangen trieb dort beim Klange einer Drehorgel ihr Wesen. Bald war das freie Feld mit seinen öden Sandstätten erreicht, darauf noch stellenweise angehäufter, schmutziger Schnee lag; doch wehte es wie ein Hauch des Lenzes darüber hin; es war, als sollte jetzt und jetzt eine Lerche schmetternd in die Luft emporsteigen. Aber es blieb alles still, und die Steinumrisse der »Spinnerin am Kreuz« blickten ernst durch die beginnende Dämmerung zu mir herüber. Ich kehrte jetzt im Rundgange, an dem schweigenden Friedhof vorbei, durch die Matzleinsdorfer Linie zurück und trat, da es noch immer nicht Theaterzeit war, in ein nahes Kaffeehaus, wo eine Gesellschaft von Pfahlbürgern beim gemütlichen Tarock saß, während eine Anzahl jüngerer Leute am Billard sich vergnügte. Ich blieb bei meiner Tasse und den Zeitungen bis gegen sieben Uhr sitzen; dann begab ich mich in den kleinen, versteckten Musentempel.

Die Räume waren noch sehr dürftig erhellt, und eine moderige Kühle schlug mir samt dem eigentümlichen Mißduft eines wenig besuchten Theaters entgegen. Die Karte, die ich vorwies, eröffnete mir einen Sitz in der letzten Reihe; er war so eng und unbequem, daß ich kaum Platz finden konnte. Nach und nach durchdrang mein Auge die herrschende Dunkelheit und nahm den abgeschabten Bühnenvorhang wahr, auf dem eine Lyra samt anderen Attributen der dramatischen Kunst zu sehen war. Endlich wurde der Kronleuchter angezündet und verbreitete einiges Licht, so daß ich doch auch die übrigen Besucher unterscheiden konnte, die sich nunmehr rasch nacheinander, einzeln und in Gruppen, eingefunden hatten. Die meisten waren auf den ersten Blick als Bühnenangehörige und solche, die es werden wollten, zu erkennen. Man sah untergeordnete Mitglieder, [76] männliche und weibliche, der Vorstadttheater; aber auch an ›Hofschauspielern‹ fehlte es nicht, welche in der Regel Aufwärter und Bediente darstellten, oder auch bloß bei der Komparserie beschäftigt waren. Sie saßen ganz vorne in den ersten Reihen und strichen sich, genial die Häupter zurückbiegend, das Haar zu recht, während die betreffenden Damen riesige Fächer aufklappten. In den wenigen Logen befand sich ein höchst seltsames Publikum. Man wußte nicht, was man aus den Leuten machen sollte, die sich, teils wunderlich herausgeputzt, teils in vernachlässigten Hausanzügen an den Brüstungen zeigten. In der Loge, welche sich der Bühne zunächst befand, hatte eine ganze Familie Platz genommen; der jüngste Sprößling, etwa sechs Jahre alt, kramte begehrlich in einer großen Zuckerdüte, die man ihm beim Eintritt gereicht haben mochte; es waren gewiß alle nähere Bekannte der Debütantin.

Nun begann auch schon das lückenhafte Orchester eine schwindsüchtige Ouvertüre; die Bühnenklingel ertönte, die Lyra rollte sich mit dem Vorhang in sich selbst zusammen – und Hanna Kennedy, eine kleine dicke Person, begann den armen Ritter Paulet kreischend herunterzukanzeln. Aber da kam auch sie – Maria Stuart, im Schleier, ein Kruzifix in der Hand. Ich gestehe, daß ich überrascht war, so schön, so ganz ihrer Rolle angemessen sah Nina aus. Sie hatte sich möglichst schlank gemacht; die Sammethaube, der historische Kragen hoben ihr schimmerndes Antlitz hervor, welches sie so trefflich herzurichten gewußt, daß es fast dem ihrer Jugend gleich kam. Und sie sprach auch, abgesehen von der gewiß angelernten Unart, die Konsonanten zu brechen, und die Vokale zu dehnen, ganz gut, wußte sich in den vorgeschriebenen Resignationston mit entsprechendem Augenaufschlag vollständig hineinzufinden. Dabei keine Spur von Befangenheit; vielmehr, wenn auch noch keine Routine, so doch eine gewisse familiäre Vertrautheit mit den Bühnenbrettern, als habe sie sich Zeit ihres Lebens darauf bewegt. Nur darin zeigte sie sich noch als Neuling, daß sie ihrem Mortimer [77] gegenüber nur mühsam das Lachen verbeißen konnte. Dieser unglückliche Schwärmer wurde gleichfalls von einem Anfänger, einem hageren Jüngling mit auffallend kurzem Oberleib und dementsprechend langen, nach auswärts gedrehten Beinen dargestellt, welcher mit jedem Worte, jeder Geberde den damals so gefeierten Joseph Wagner kopierte, und schließlich mit aller Gewalt durch eine bloß gemalte Dekorationstür abgehen wollte. Als der Vorhang fiel, wurde Fräulein Ninoni stürmisch gerufen; nicht mit Unrecht, denn für ein erstes Auftreten hatte sie wirklich ganz ausgezeichnet gespielt. Sie erschien dreimal an der Rampe, von dem alten Löwen, der nicht wieder zu erkennen war, im Triumphe hinausgeführt.

Der zweite Akt, in welchem sie nicht auftrat, verlief sehr eintönig. Denn die übrigen Rollen waren mit Schauspielern vom Handwerk besetzt, die hier gegen ein »Weniges« aushalfen und ihre Aufgaben mehr oder minder erträglich durchführten.

Nun kam der dritte Akt und mit ihm der Höhepunkt des Stückes. Ich war neugierig, wie sich Nina bei der leidenschaftlichen Begegnung der beiden Königinnen bewähren würde. Wenn ich an ihre einstigen Zornausbrüche (allerdings im berauschten Zustande) dachte, an das maßlos heftige Wesen, das sie dabei hervorkehrte: so ließ sich jetzt eine packende und überzeugende Darstellung erwarten. Aber seltsam: gerade dieser affektvollen Szene schien sie nicht gewachsen zu sein. Sie tobte zwar, überschrie sich zum Schlusse: dennoch hatte ihr Spiel etwas Falsches, Dünnes, Eingelerntes. Sie konnte sich offenbar in die Empfindung des ins Innerste getroffenen Weibes nicht finden und tastete mit Worten und Geberden unsicher vor sich hin. Jetzt erkannte man, daß ihr die Rolle wirklich nicht lag; den ruhigen, kalten, giftigen Haß der Elisabeth hätte sie gewiß besser zum Ausdruck gebracht. Dennoch erhielt sie ungeheuren Beifall, in welchen sogar ein junger, über Nacht berühmt gewordener Charakterdarsteller des Burgtheaters mit einstimmte. Er war plötzlich in einer bis jetzt leeren Loge aufgetaucht, und [78] indem er den interessanten Kopf mit dem schlichten, straffen Haar wohlwollend vorstreckte, bewegte er leicht die Fingerspitzen gegeneinander. Doch ebenso plötzlich verschwand er wieder. Er hatte sich offenbar auf dringende und demütige Bitte des alten Löwen für eine Viertelstunde in das entlegene Theater begeben, um sich die »große Streitszene« anzusehen und sein Urteil abzugeben.

Auch ich hatte nunmehr genug und verließ den engen Raum, wo es nachgerade schon unerträglich heiß geworden war. Wozu hätte ich mir auch noch die berufene »Abschiedsszene« auferlegen sollen? Hatte ich doch bereits die Überzeugung gewonnen, daß die Debütantin nicht ohne Talent war. Ganz gewiß: sie besaß genau so viel Talent, wie Hunderte neben ihr; sie konnte getrost alles spielen, was man ihr zu spielen gab: Maria Stuart und Deborah, Iphigenie und die Waise von Lowood, Adelheid im Götz und die Kameliendame – ja selbst, wenn es gerade not tat, auch die »Nandl« im »Versprechen hinter'm Herd«. Es handelte sich also nur mehr um ein Engagement – und das würde sie schon finden; sie hatte ja einen Gönner und Förderer. Wie es mit dem »Nimbus« aussehen werde, den sie sich zulegen wollte, mochte freilich dahingestellt bleiben. Indes, auch der konnte sich ja noch einstellen .....

So dachte ich, während ich jetzt durch die abendlich belebten Gassen schritt, um mein gewohntes schlichtes Gasthaus aufzusuchen, wo ich dann, einsam wie immer, bei einem Glase Bier weiter über Kunst und Künstler nachsann.


* * *


Schon in den nächsten Tagen meldeten einige Zeitungen, daß Fräulein Ninon Ninoni infolge ihres glänzenden Debüts als Maria Stuart einen sehr vorteilhaften Antrag von seiten des Stadttheaters zu O ... erhalten und angenommen habe. Die Laufbahn war also eröffnet – und schien schon ein Jahr darauf [79] mit einem Engagement an einer kleinsten deutschen Hofbühne – ich hatte von dieser Tatsache durch ein obskures Theaterblättchen, das mir ganz zufällig in die Hände kam, Kunde erhalten – auch abgeschlossen zu sein. Denn seither war und blieb Nina – für mich wenigstens – verschollen.

3.

III.

Die Bahnstation P ... in Steiermark ist ein Kreuzungspunkt vieler nach allen Richtungen verkehrender Züge, und die meisten Reisenden sind gehalten, dort umzusteigen, oder auf spätere Weiterbeförderung zu warten. Daher bietet auch der Bahnhof stets ein sehr belebtes und bewegtes Bild dar, so daß die Bewohner des angrenzenden Städtchens kein besseres Vergnügen kennen, als das ab- und zuströmende Gewimmel in Augenschein zu nehmen und sich an den verschiedenartigen Erscheinungen und Trachten zu ergötzen, wobei ihnen während der schönen Jahreszeit der weitläufige Restaurationsgarten, der einen bequemen Ausblick auf den Perron gewährt, sehr zustatten kommt.

An einem heißen Augustabend des Jahres 187* war auch ich mit dem Wiener Zuge in dieser Station eingetroffen und ausgestiegen. Zwei Stunden Wartezeit standen mir jetzt bevor, und leiblicher Erquickung bedürftig, trat ich in den Garten, den ich aber so dicht besetzt fand, daß ich mich umsonst nach einem Plätzchen umsah, wo ich mich hätte niederlassen können. Endlich, ganz im Hintergrund, gewahrte ich einen einigermaßen freien Tisch; das heißt, ein Mann, der mir den Rücken zukehrte, saß daran; die übrigen Stühle waren, sowie ein Teil der Tischplatte, bedeckt und beladen mit allerlei Plaids, Überwürfen und Handgepäck. Immerhin konnte ich zur Not noch unterkommen. Ich näherte mich daher und fragte sehr höflich, ob es erlaubt wäre? Der Mann hob den Kopf, sah mich an – ich ihn, und nachdem wir uns eine Weile gegenseitig angestarrt, riefen wir beide wie aus einem Munde: »Sie sind es – Sie

[80] Ja, er war es, mein berühmter – oder eigentlich berühmt gewesener Kollege Z., den ich nun schon seit einer Reihe von Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber mein Gott, wie hatte er sich inzwischen verändert! Wie verfallen, wie hohlwangig sah er aus! Wie hatte sich sein einst so reiches, jetzt schon ergrauendes Haar gelichtet! Und der einst so blühende, ausdrucksvolle Mund war unedel ins Breite gezogen und fast zahnlos! Nur die großen, eigentümlich blickenden Augen waren dieselben geblieben. Doch nein. Sie waren von schweren, faltigen Tränensäcken umgeben, und wo früher das helle, reine Feuer der Begeisterung geleuchtet hatte, brannte jetzt eine düstere, unheimliche Glut – die Glut der Erschöpfung.

Er hatte, um mir Platz zu machen, einige geleerte Teller und zwei halbvolle Gläser, die auf dem Tische standen, näher aneinander geschoben und merkte jetzt, daß ich ihn forschend betrachtete. »Sie sehen mich an?« sagte er, indem er mit der hageren Hand über die Stirn fuhr. »Ja, ich bin gealtert – vorschnell gealtert. Das literarische Schaffen reibt den Menschen auf, wie kein anderes. Sie zwar sehen vortrefflich aus und haben zugenommen. Freilich sind Sie auch niemals ein rechter Arbeiter gewesen.«

Ich gestehe, daß ich mich einigermaßen beschämt fühlte. Ja, ich mußte es zugeben: ich war niemals ein rechter Arbeiter gewesen. Das heißt, ich war von der Stimmung abhängig und konnte das Meine nur langsam zutage fördern. Er aber vermochte jeden Augenblick zu schaffen; Entwurf und Ausführung fielen ihm in eins zusammen. Was hatte er nicht schon alles veröffentlicht! Gewiß an die fünfzig Bände. Seinen Ruf verdankte er den ersten Novellen, die er geschrieben. Welch eigentümliche Kraft und Frische lag darin! Es war, als sei ein neues Morgenrot in der deutschen Literatur angebrochen – als sollte es endlich wieder Tag werden. Ja, die hellen, farbigen Schöpfungen waren mit nichts bisher Dagewesenem zu vergleichen. Man wollte zwar den Einfluß ausländischer Schriftsteller[81] darin erkennen. Das mochte sein. Aber es ging doch alles aus dem eigensten Geiste, dem eigensten Herzen des Autors hervor. Vor allem ein starker und doch keuscher Zug von Sinnlichkeit, der entzückte, ohne zu reizen; der die Nerven nicht aufregte, sondern erquickte und erfrischte. So wurde denn der junge Dichter der Held des Tages. Verleger und Zeitungen rissen sich um ihn; man konnte kein Blatt, kein Blättchen zur Hand nehmen, ohne wenigstens den Nachdruck eines seiner neuesten Erzeugnisse zu finden. Auch ins Französische wurden sie übersetzt und fanden sogar ihren Weg in die rötlich gelben Hefte der Revue de deux Mondes. Das dauerte nun so eine Zeit. Der Gefeierte hatte sich in eine anmutig gelegene Provinzstadt zurückgezogen, um ungestört arbeiten zu können; es schien fast unmöglich, den Anforderungen zu genügen. Aber er wollte ihnen genügen, und so kam es endlich, daß seine Leistungen der Welt nicht mehr genügten. Was früher entzückte, mutete jetzt, so wurde behauptet, wie Manier an. Das war ja immer dieselbe Liebesgeschichte: derselbe schwache, willenlose, sich im Staube windende Mann – und dasselbe rücksichtslose, grausame, brutale Weib. Und die »gesunde« Sinnlichkeit bekam bereits, wie es hieß, den Beigeschmack krankhafter Zersetzung. Inzwischen hatte er, zum ersten Male, einen umfangreichen Roman geschrieben, den ein großes Blatt mit Hinblick auf seinen Namen sofort unbesehen erwarb. Als man aber das Manuskript durchging, sprach aus dem Werke eine solche seelische Verwilderung, daß man es sofort zurücksendete, wobei man sogar, um weitere unliebsame Verhandlungen zu vermeiden, das bereits ausgezahlte, sehr beträchtliche Honorar im Stiche ließ. Aufs Äußerste erbittert, suchte der gekränkte Dichter eine Polemik zu eröffnen; aber man erwiderte nicht, und als er sich hierauf in den ungemessensten Ausdrücken erging, schüttelte man allseits die Köpfe und begann achselzuckend von Selbstvergötterung und Größenwahn zu sprechen. Um diese Zeit wollte er es auch bei den Bühnen versuchen, und versendete ein soziales Drama [82] um das andere. Man hatte jedoch damals noch keine Ahnung von dem später hereinbrechenden Naturalismus: die Direktoren fanden die Stücke roh und gewaltsam, und gaben zwar achtungsvolle, aber ablehnende Bescheide. Nur einige wenige Theater, welche in Deutschland nach dem Rufe geistiger Führerschaft strebten, griffen darnach, wie nach allem Neuen und Seltsamen, indem sie hofften, daß von ihren kleinen Kunststätten sensationelle Welterfolge ausgehen würden. Man zog den Autor in Person an den Ort der Aufführungen, wo sein Erscheinen jedesmal einem Triumphzuge glich. Aber die Erfolge blieben aus, oder schlugen in das Gegenteil um, und alle wohlwollenden oder bezahlten Zeitungsberichte konnten diese Tatsache nicht beschönigen oder gar vertuschen. So geriet der viel und rasch schreibende Mann zuletzt auch in Geldverlegenheiten und mußte sich im Kampfe ums Dasein dadurch aufrechterhalten, daß er für obskure Blätter und zweideutige Verleger schrieb, die mit pikanter Ware spekulierten. Aber obgleich nun seine Bücher unter vielverheißenden Titeln und lockenden Umschlagbildern in die Welt gesetzt wurden: sie zogen doch nicht so recht und wanderten stoßweise in die Magazine der Antiquare, von welchen sie zu Spottpreisen angekündigt wurden, während der Autor, der nunmehr ein unstätes Wanderleben führte, mehr und mehr in Vergessenheit geriet ....

»Ja,« sagte er jetzt, »das Leben hat mir arg mitgespielt; aber gebrochen hat es mich noch lange nicht. Ich werde vielmehr« – er fuhr wieder mit der Hand über die Stirn – »meinen Feinden zu Trotz, einen ungeahnten, großartigen Aufschwung nehmen. Sie haben doch wohl schon von Zola gehört?«

Ich bejahte.

»Dann werden Sie auch wissen, daß dieser Franzose – an der Seine ist man eben, ungeachtet aller Niederlagen, noch stets und immer weit voran – eine Serie von Romanen plant, die er experimentale nennt, und worin er, gewissermaßen naturgeschichtlich, die Lebensläufe einer Familie in allen ihren Verzweigungen [83] auf dem Boden des zweiten Kaiserreichs darstellen will. Eine geniale Idee! Aber ich werde sie überbieten, indem ich in einer Folge von Romanen die Entwickelungsgeschichte der Menschheit darstelle. Jeder dieser Romane soll zu einer anderen Zeit, in einem anderen Lande spielen. Eine Riesenarbeit! Aber ich werde sie bewältigen. Freilich sind dazu umfassende Studien und vielfache Autopsie notwendig; vor allem aber vollständigste Muße und Unabhängigkeit. Daher denke ich auch vorerst an ein anderes großes literarisches Unternehmen, das mich zum reichen Manne machen wird.«

Ich sah ihn fragend an.

»Ich werde nämlich,« fuhr er nach einem langen Atemzuge fort, »ich werde nämlich eine periodische Zeitschrift gründen, welche den Titel: Internationale Revue führen soll. Dieser Titel sagt alles. Ich will einen Sammel- und Kampfplatz für die hervorragendsten Autoren aller Nationen schaffen und der deutschen Lesewelt ihre neuesten Arbeiten in mustergiltigen Übersetzungen bieten. Sie müssen gestehen, daß ich damit einem längst gefühlten Bedürfnisse entgegenkomme und etwas in seiner Art Einziges ins Leben rufe: ein großartiges Spiegelbild der gesamten Literatur der Gegenwart.«

Er hielt wie erschöpft inne; ich aber erwiderte fürs erste nichts. Denn ich konnte seiner Ansicht nicht beipflichten. Eine solche Nebeneinanderstellung der verschiedenartigsten Geistesprodukte schien mir sehr geeignet, das mangelhafte Urteil des Publikums vollends zu verwirren, und überdies die ohnehin stets bereite Nachahmungssucht der deutschen Schriftsteller nur noch mehr anzuspornen. Aber meine Meinung brauchte ja nicht gerade die richtigste, jedenfalls aber keine maßgebende zu sein. Nach einer Pause erwiderte ich daher bloß: »Und wo werden Sie diese Revue erscheinen lassen?«

»Wo? In Wien, wohin ich eben jetzt reise.«

Ich konnte wieder nicht zustimmen. Denn Wien erschien mir durchaus nicht der geeignete Ort, und trotz meiner [84] Gepflogenheit, nur dann Rat zu erteilen, wenn ich darum angegangen werde, konnte ich mich in diesem Falle doch nicht enthalten, zu fragen: »Warum nicht lieber in Berlin?«

Er erhob hastig abwehrend die Hand. »Verschonen Sie mich mit Berlin! Dort herrscht jetzt die trunkene Nüchternheit. Überdies hat der deutsche Arm den deutschen Geist erschlagen. Und dann: das Verhältnis zu Frankreich! Ich bin doch fürs erste hauptsächlich auf die Schriftsteller jenseits des Rheins angewiesen; keiner von ihnen würde mir etwas zur Verfügung stellen wollen, wenn ich meinen Sitz in Berlin aufschlüge. Anfänglich dachte ich an Leipzig oder Stuttgart, an eine oder die andere der dortigen großen Verlagsfirmen. Aber man schüttelte die Köpfe. Es sind doch nur Kleinkrämer den Hachette, Michel Lévy – und anderen französischen Editeuren gegenüber. So habe ich denn Wien gewählt, wo man noch einigen Schwung des Geistes und des Herzens besitzt. Auch ist mir von dort aus ein Verleger auf halbem Wege entgegengekommen.« Er nannte den Namen. »Sie kennen ihn doch?«

Ich kannte den Mann. Derselbe hatte allerdings in seinem nicht großen Geschäfte bisher eine Rührigkeit gezeigt, die sich vorteilhaft von der starren Trägheit des älteren Wiener Buchhandels unterschied. Ob er aber einem solchen Unternehmen, das ein bedeutendes Anlage- und Betriebskapital erforderte, gewachsen war, konnte zweifelhaft erscheinen. Da aber meine Bedenken auf Z. gewiß keinen Eindruck gemacht haben würden, und es doch immerhin im Bereiche der Möglichkeit lag, daß sich seine Hoffnungen in dieser Hinsicht erfüllten, so sagte ich ganz aufrichtig: »Nun, ich wünsche Ihnen vom Herzen den besten Erfolg.«

»Ich danke Ihnen!« erwiderte er lebhaft. »Freilich«, fuhr er, den Kopf senkend, nachdenklich fort, »freilich wird das alles ungeheuere Anstrengungen erfordern. Welch ein Aufwand an Zeit, Mühe und Sorge jeglicher Art! Aber zum Glück steht mir eine sehr energische, unternehmende und widerstandsfähige Kraft zur Seite. Meine Frau.«

[85] »Ihre Frau? Sind Sie denn verheiratet?«

»Das wissen Sie nicht? Nun ja, ich bin in meinem Vaterlande so gut wie verschollen – und niemand kümmert sich mehr um mich. In Frankreich ist die Nachricht durch alle Blätter gegangen. Sie werden übrigens meine Frau gleich sehen. Sie hat sich nur entfernt, um einige Weisungen unseres Gepäckes wegen zu erteilen, das begreiflicherweise etwas umfangreich ist. – Aber da kommt sie ja schon!«

Ich blickte nach der angezeigten Richtung und gewahrte eine stattliche Dame, die sich in höchst auffallender Tracht zwischen den Reihen der dichtbesetzten Tische, und von allen Seiten mit Blicken verfolgt, auf uns zubewegte. Wie? Oder trügte mich mein Auge? Das war ja – – beim Himmel, es war Nina!

Nun stand sie vor uns in einem breiten, mit Federn geschmückten Rembrandthute, in einem rotgemusterten, fast ärmellosen Seidenkleide, um die entblößten vollen Schultern ein leichtes weißes Mäntelchen geworfen.

Sie hatte mich schon aus der Entfernung forschend angesehen, und ich konnte bemerken, daß sie mich nicht gleich erkannte. Als dies aber jetzt geschah, malte sich in ihren Zügen keineswegs freudige Überraschung.

Ihr Gatte mußte unser beiderseitiges Befremden wahrnehmen, und er rief auch sofort: »Sieh' da! Ich glaube, ihr kennt, euch –«

»Ja, wir kennen uns«, antwortete Nina, die sich rasch gefaßt hatte, mit kalter Unbefangenheit. »Wir sind sogar sehr alte Bekannte, die aber im Leben äußerst selten zusammengetroffen sind. Wann war es doch zum letztenmal? Ich glaube, gerade, in der Zeit, da ich zum Theater ging.«

»Ja, es war damals«, erwiderte ich. »Und Sie sind also –?«

»Nein«, fiel Z. rasch, wie triumphierend ein, »nein, meine Niniche ist Gott sei Dank nicht mehr beim Theater. Ich habe sie von der Bühne weggeheiratet. Nicht wahr, Engel? Was [86] hättest du auch mit deinem so einzigen Talente, ungenügend und unpassend beschäftigt, dort anfangen sollen? Die dramatische Kunst hättest du doch vom Untergange nicht retten können.« Er hatte bei diesen Worten liebkosend ihren weißen, runden Arm ergriffen, an welchem ein breites Armband von zweifelhafter Echtheit schimmerte.

Sie entzog sich ihm mit einem unwilligen Rucke, ließ sich halb am Tische nieder und leerte die Neige eines Glases. »Nun ja; aber es tauchen doch jetzt wieder ganz interessante Stücke auf. Arria und Messalina – und dann die Nora von diesem Schweden oder Norweger –«

»Ah pah!« erwiderte er geringschätzig. »Nachzüglerarbeit – vorübergehende Erscheinungen. Glaube mir, die Literatur ist dem Drama entwachsen, und nur im Roman, im großen naturgeschichtlichen Roman –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn Nina ungeduldig. »Aber es ist Zeit, daß wir uns fertig machen. Der Zug wird gleich da sein.« Und sie rief, ein abgegriffenes Portemonnaie aus der Tasche ziehend, den eben vorüberhastenden Kellner an, um die Rechnung zu begleichen.

In der Tat vernahm man schon fernes Brausen, und ein Schaffner schrie in den Garten hinein: »Zug nach Wien!«

»Also jetzt rasch, rasch,« rief sie, eine Hutschachtel ergreifend, während ihr Mann sich anschickte, alles übrige aufzuraffen und sich damit zu beladen.

»Kann ich ihnen nicht behilflich sein?« fragte ich den Keuchenden und nahm ihm ab, was ich neben meiner eigenen schweren Handtasche zu tragen vermochte.

Nina, mit ihrer Hutschachtel, hatte sich bereits voraus durch das entstandene Gewühl gedrängt. Während wir nun folgten, sagte er: »Da sehen Sie sie! Immer voran! O, dieses Weib ist der Halt, die Stütze meines Lebens. Sie wird die Revue durchsetzen und auch ihre erste Mitarbeiterin sein. Sie wissen vielleicht gar nicht, daß sie ein fabelhaftes Sprachentalent [87] besitzt. Im Französischen ist sie bereits Meisterin und hat unlängst eine Causerie von Cherbuliez ins Deutsche übersetzt, die durch viele Blätter die Runde machte und ihr ein höchst schmeichelhaftes Schreiben des Autors eintrug.«

Wir waren nunmehr in der Halle angelangt, wo sich ein Träger anbot; Z. aber wies ihn zurück. »Das erlaubt Ninoche nicht«, sagte er stolz lächelnd. »Auch habe ich ja noch Kraft; geben Sie mir jetzt nur die Sachen.« Ein Glockensignal ertönte. »Also leben Sie wohl! Aber wohin reisen denn Sie?«

»Ich zweige nach Tirol ab.«

»Aha! Sommerfrische. Grüßen Sie mir die Dolomiten. Und lassen Sie etwas von sich hören. Adressieren Sie nur nach Wien, der Brief wird mich schon finden. Vielleicht geben Sie der Revue auch einen Beitrag.« Damit enteilte er, seiner Frau nach, die schon draußen auf dem Perron, ohne sich mehr um mich zu kümmern, mit lauter, scharfer Stimme nach ihm rief.

Das Zeichen zur Abfahrt wurde gegeben, und der Zug setzte sich pfeifend und schnaubend in Bewegung. Ich aber kehrte in den Garten zurück, der mittlerweile ziemlich leer geworden war und wo ich endlich zu einem Essen gelangte. Während die Dämmerung jetzt völlig hereinbrach – und auch später bei einer langen nächtlichen Fahrt hatte ich wieder einmal Zeit und Anlaß, einsam wie immer, über Kunst und Künstler nachzusinnen.

4.

IV.

Seitdem war ein Jahr verflossen und ich selbst noch immer nicht nach Wien zurückgekehrt. Allerlei hatte mich fern gehalten, und als mich jetzt doch sine wichtige Angelegenheit zwang, die Stadt an der Donau aufzusuchen, geschah dies mit dem festen Vorsatze, sie so bald wie nur irgend möglich wieder zu verlassen.

Inzwischen war aber die Internationale Revue wirklich [88] erschienen, und zwar unter der Ägide jenes Verlegers, den mir Z. damals namhaft gemacht hatte. An pomphaften Ankündigungen, Prospekten und sonstigen Reklamen war nichts gespart worden; auch eine lange Liste von Mitarbeitern hatte man veröffentlicht: aber schon die ersten Hefte ließen vermuten, daß sich das Unternehmen nicht würde halten können. Sie brachten – allerdings von namhaften Autoren – unbedeutende Sächelchen: Novelletten, Skizzen und flüchtige literarische Essays, wie sie jetzt, sich vorwiegend an rein Persönliches haltend, anfingen Mode zu werden. Den größten Raum nahmen sogenannte »Korrespondenzen« aus allen Hauptstädten ein, hastig hingeworfene Theater- und Kunstberichte. Kurz: ein Sammelsurium, aus welchem man nichts nur einigermaßen Wertvolles hätte herausgreifen können. Das wurde mir nun gleich bei meinem Eintreffen von allen Seiten bestätigt. Die Zeitschrift werde bald eingehen, hieß es; der Verleger stehe bereits vor dem Konkurse; der Herausgeber befinde sich in Nöten aller Art. Zudem sei er eigentlich nur dem Namen nach der Leiter, denn nicht bloß seine geistige, sondern auch seine physische Kraft sei gebrochen; nur seine Frau, eine begabte Person, ehemalige Schauspielerin, halte das Ganze noch mühsam aufrecht. Dies alles ließ mir ein Zusammentreffen mit dem armen Z. nicht wünschenswert erscheinen, und mir bangte vor dem Augenblick, der ein solches unvermeidlich machen könnte.

Aber es dauerte nicht acht Tage, als ich schon eines Morgens durch die Post einen Brief empfing, der in zwar festen und weitläufigen, aber doch krausen und verworrenen Schriftzügen folgendes enthielt:

»Lieber alter Freund! Von fremden Leuten mußte ich erfahren, daß Du in Wien bist. Du findest es also nicht der Mühe wert, Deine ältesten Bekannten aufzusuchen. Nun, so richte ich die Bitte an Dich, so bald wie möglich bei uns – oder besser gesagt, bei mir vorzusprechen. Am besten zwischen 11 und 1 Uhr, um welche Zeit Z. sich im Redaktionsbureau befindet.[89] Wir sind also ungestört und können eingehend über eine Angelegenheit verhandeln, welche Dir vertrauensvoll vortragen wird Deine alte Nina.« Die Adresse war beigefügt; dann der Nachsatz: »Komm' aber gewiß!«

Was war da zu tun? Ich machte mich also schon am nächsten Vormittage auf den Weg. Die Adresse leitete nach einer neuen Gasse des dritten Bezirkes. Ich stieg vier Treppen hoch und drückte an dem Klingelknopfe der durch den Namen kenntlich gemachten Tür. Eine schlumpige Magd, die mich erst forschend durch ein Lugfensterchen betrachtet hatte, öffnete und sagte, da ich meine Karte übergeben wollte: »Nicht notwendig; die Gnädige ist zu Hause.« Und schon kam mir aus der nächsten Tür Nina halb entgegen und ließ mich in ein geräumiges, aber kahles und unwohnliches Zimmer treten.

»Ich danke dir, daß du gekommen bist«, sagte sie, mir die Hand entgegenstreckend, welche, wie sie selbst, auffallend schlanker geworden war. »Nimm Platz.« Sie wies nach einer blauen Ripsgarnitur, welche ziemlich neu, aber auch schon schadhaft aussah, denn von den weißen Porzellanknöpfen der Einfassung waren schon mehrere abgesprungen.

Sie setzte sich nun an meine Seite, und ich wunderte mich, wie vorteilhaft sie aussah. Keine Spur mehr von jenem frivol- und komödiantenhaft vernachlässigten Äußeren, das sie damals an der Bahn zur Schau getragen hatte; vielmehr war jetzt ihre ganze Erscheinung von einer gewissen Vornehmheit. Ein einfaches, knappanliegendes dunkles Kleid hob ihren immer noch vollen, aber geschmeidigen Wuchs anmutig hervor. Das Haar trug sie schlicht gescheitelt und rückwärts in einen dichten Knoten zusammengewunden. Nicht das geringste Anzeichen des Alterns war in ihrem glatten Gesichte wahrzunehmen; sie konnte freilich auch erst fünf- oder sechsunddreißig Jahre zählen.

»Also noch einmal meinen Dank«, begann sie jetzt rasch, wie geschäftsmäßig. »Fürs erste habe ich dir folgendes zu sagen. Es wird außer dir nur noch sehr wenige Menschen in Wien geben, [90] welche meine Vergangenheit kennen. Ich erwarte von dir, daß du mich in dieser Hinsicht nicht bloßstellen wirst.«

»Diese Bemerkung ist ganz überflüssig«, erwiderte ich. »Du kannst dir wohl denken –«

»Gewiß, gewiß; ich kenne dich. Es mußte aber dennoch ausdrücklich betont werden. Nun darfst du nicht etwa glauben, daß ich mich auf die Heilige hinausspielen und meine Vergangenheit verleugnen will. Das habe ich als gewesene Schauspielerin auch gar nicht notwendig. Ich möchte nur nicht, weißt du, daß man das Ärgste –«

»Du kannst vollständig beruhigt sein.«

»Der Welt wegen, auch mein Mann darf nicht mehr erfahren, als ihm bereits bekannt ist; denn das würde seine Liebe zu mir nur noch steigern.«

»Wie? – Aber dagegen hättest du doch nichts?«

»O ja! Seine Zärtlichkeiten grenzen ohnehin schon an Wahnsinn. Er ist eine durchaus krankhafte Natur, die mir Ekel einflößt – seit jeher Ekel eingeflößt hat.«

»Aber wie konntest du ihn dann –«

»Heiraten meinst du? Nun, ich wollte 'mal auch das probieren. Es war ein dummer Streich; hoffentlich mein erster und letzter. Und dann: ich hatte das Komödiespielen schon satt. An größeren Bühnen könnt' ich kein Engagement finden – und sich beständig auf kleinen Bühnen herumzuschlagen, ist ein trostloses Vergnügen. Und nun gar da draußen im Reich, wo die Leute unglaublich geschmacklos sind. Ein Publikum aus Pappendeckel, sage ich dir, innen dick mit Sittlichkeit ausgefüttert, und außen mit einem gleichmäßigen Bildungslack überzogen. Man kann nach keiner Seite hin Eindruck machen. Dazu das Repertoire! Goethe und Schiller, Schiller und Goethe; dazwischen Roderich Benedix und Charlotte Birch-Pfeiffer, hin und wieder auch ein unglücklicher neuer Klassiker wie Paul Heyse – es war zum Auswachsen. Da kamer nach D ..., wo ich eben engagiert war. Er hatte nach langem Hin- und Herschreiben endlich unseren[91] ledernen Intendanten bewogen, eines seiner Stücke zu bringen, mit welchen er das deutsche Drama regenerieren wollte. Tolles Zeug; aber es imponierte uns allen – am meisten mir; denn es war doch wenigstens nichts alltägliches. Zudem war er ein berühmter Mann – oder schien es wenigstens zu sein. Die kleine Stadt war bei seinem Erscheinen in Aufruhr; die Aufführung war ein bevorstehendes Ereignis; man sprach von nichts anderem. Mir war die weibliche Hauptrolle zugedacht – und während er sie mir einstudierte, verliebte er sich in mich. Wir setzten beide große Erwartungen in den Erfolg – der aber nur in eine allgemeine Entrüstung ausschlug. Am meisten entrüstet aber waren wir – und in dieser Stimmung war es ihm um so leichter, mich zum Austritt zu bestimmen, da mein Kontrakt ohnehin zu Ende ging. Aber wir sollten als Mann und Frau auf seine Stücke reisen, die er immer noch durchzusetzen hoffte; er wollte nebenbei öffentliche Vorlesungen halten. Auf große Theater war nicht zu rechnen; sie sollten aber von den kleinen, bei denen wir jetzt die Runde machten, nachgezogen werden. So gelangten wir sogar bis nach Temesvar – wo wir glücklich ausgepfiffen wurden. Nun gab er es auf, der Messias des Dramas zu werden, was zu glauben – ich will es gestehen – ich anfangs selbst dumm genug gewesen. Nun aber redete er sich ein, er müsse den Roman der Zukunft schreiben, entwarf die ungeheuerlichsten Pläne – aber du hast es ja damals selbst gehört.«

Wie wahr, wie zutreffend war das alles! Und doch, wie tief verletzte es mich, daß gerade sie es aussprach. Sie hätte trotzdem noch immer einige Achtung für seine geistigen Anstrengungen – zum mindesten Mitleid mit ihm fühlen sollen.

»Du bist grausam«, sagte ich. »Diese Art von deinem Manne zu sprechen hat etwas Empörendes. Mag er nun sein, wie er wolle: er war ein großes, ein einziges Talent, ein bedeutend angelegter Mensch – und der Himmel weiß, auf welche Art –«

[92] »Auf welche Art?« unterbrach sie mich. »Durch ausschweifendes Leben und Überarbeitung. Bedeutend angelegt, sagst du? Nein, mein Lieber, er ist ein durch und durch verlogener Kerl, der sich nicht eingestehen will, daß er fertig ist – ganz fertig.«

Ich wollte erwidern, aber ich vermochte es nicht; ich war wie erstarrt. Dieses Weib warf dem Ärmsten ausschweifendes Leben und Verlogenheit vor!

»Darum hat er auch die Revue gegründet, wo er andere für sich arbeiten lassen kann. Es war der Instinkt der Selbsterhaltung, der ihn dazu trieb. Somit lag einige Vernunft in der Sache, und wenn ich mich ihrer annahm, konnte sie vielleicht soweit rentieren, daß sie uns das Leben sicherte. Wir standen ja bereits vor dem Nichts. Und da wäre ich nun eigentlich bei dem Hauptpunkte unserer Unterredung angelangt.«

Sie lehnte sich einen Augenblick schweigend zurück, dann fuhr sie fort: »Du wirst wohl schon vernommen haben, daß das Unternehmen, eigentlich erst im Entstehen begriffen, auch schon dem Zusammenbruche nahe ist. Ganz so schlimm aber, wie es den Anschein hat, stehen die Dinge doch nicht. Die Idee halte ich noch immer für eine glückliche. Sie lag gewissermaßen in der Luft, und wenn wir sie, kaum erfaßt, wieder fallen lassen müssen, dann wird sie von stärkerer Hand neuerdings aufgegriffen werden. Und darum handelt es sich. Wir haben ohne alle Geldmittel begonnen, bloß auf einen windigen Schlucker von Verleger gestützt. Wir konnten keinen rechten Vertrieb zustande bringen, konnten keine verlockenden Honorare bieten und mußten uns sozusagen mit Abfällen begnügen. Das könnte ganz anders werden, wenn uns eine beträchtliche Geldsumme – etwa dreißig bis vierzig Tausend zur Verfügung gestellt würden. Diese Summe aber sollst du uns schaffen.«

»Ich!?«

»Ja, du. Denn du besitzest, wie ich erfahren habe, ausgebreitete Bekanntschaften, vornehme Gönner und Freunde; darunter auch einige aus den hohen Finanzkreisen. Es müßte dir also [93] bei einigem guten Willen gar nicht schwer werden, die Leute zu bestimmen, uns ein Betriebskapital vorzuschießen, das ihnen ja verzinst werden kann; auch du hättest dann einen Anteil an dem voraussichtlichen Gewinn zu erwarten.«

Ich hatte mich inzwischen von meinem unangenehmen Erstaunen einigermaßen erholt und nunmehr auch ganz gefaßt.

»Nein,« sagte ich entschieden, »das geht durchaus nicht an. Erstens bist du über die Stellung, die ich in der Gesellschaft einnehme – oder einzunehmen scheine, übel berichtet. Vor allem aber überschätzest du weit den Einfluß, den ich auf gewisse Persönlichkeiten nehmen könnte. Und selbst wenn ich –«

»Ich verstehe«, unterbrach sie mich, die Brauen in böse Falten ziehend. »Du traust uns nicht zu, daß wir trotzdem die Sache in Schwung bringen könnten. Und was Z. betrifft, so hast du ja vollkommen recht. Auch ich will dir zugestehen, daß ich selbst, obgleich ich im Laufe der Zeit mehr Einblick in solche Dinge gewonnen habe, als du dir vorstellst – daß ich selbst, sage ich, der Leitung nicht gewachsen wäre. Aber wir haben einen jungen Mann kennen gelernt, einen Russen – oder eigentlich Polen, der als Korrespondent mehrerer ausländischer Blätter seit kurzem hier lebt. Ein höchst begabter Mensch, der alle Sprachen spricht und schreibt und bei seinen fast über die ganze Welt verbreiteten Beziehungen wie geschaffen erscheint, an die Spitze der Revue zu treten. Jedenfalls bitte ich dich, eh' du entschieden ablehnst, die Angelegenheit mit ihm durchzusprechen. Es wundert mich, daß er noch nicht hier ist; denn ich habe ihn, auf dein Erscheinen rechnend, gebeten, heute und auch an den nächsten Vormittagen nachzusehen.«

In diesem Augenblicke ertönte draußen leicht und sanft die Klingel.

»Da ist er«, rief sie, nach der Tür blickend, und ihr Alabastergesicht wurde plötzlich von einem rosigen Schein durchleuchtet. Sie war errötet.

Und nun erschien auch schon der Erwartete, beim Eintreten [94] aus kleinen schwarzen Augen einen lauernden Blick durch die Türspalte werfend. Als er mich gewahrte, nahmen seine Züge den Ausdruck würdevollen Ernstes an, der sofort in ein überfreundliches Grinsen überging, als uns Nina jetzt gegenseitig vorstellte. Er war von schlankem, sehr zierlichem Wuchse, und seine zarten Füße standen etwas nach einwärts gerichtet. Mit sorgfältiger, aber fadenscheiniger Eleganz gekleidet, trug er die Rosette irgend eines Ordens im Knopfloch.

»Da haben Sie nun unsern alten Freund, lieber Glensky«, sagte Nina. »Setzen Sie ihm den Kopf zurecht, denn er will von unserem Vorschlage nichts wissen.«

Glensky, der sich sachte niedergelassen hatte, rückte an seinem Kneifer und sah mich mit wohlwollendem Lächeln an.

»Nun, ich begreife recht wohl, verehrter Herr,« begann er mit weicher, süßlicher Stimme, »daß Sie uns nicht so ohne weiters Ihre Unterstützung –«

»Die durchaus nicht in meiner Macht steht«, unterbrach ich ihn. »Das muß ich auch Ihnen wiederholen. Sie sind noch nicht lange in Wien, kennen also die hiesigen Verhältnisse nicht so genau, wie ich. Meiner Überzeugung nach werden Sie hier von keiner Seite Unterstützung finden.«

»Sie mögen recht haben,« erwiderte er, indem er seinen hübschen Kopf traurig beipflichtend senkte; »es ist noch sehr viel Phäakentum im Lande. Ich gestehe, daß mir selbst Zweifel gekommen waren. Ich betrachte daher Ihre Ablehnung als einen Wink des Schicksals. Überdies habe ich heute Morgen eine Nachricht erhalten, welche mich hoffen läßt, das Unternehmen auf einen anderen Boden verpflanzen zu können.«

Nina sah ihn überrascht an.

»Ja, meine Gnädige,« fuhr er ehrfurchtsvoll gegen sie gewendet fort, »ich habe eine ganz außerordentliche Nachricht erhalten, die ich Ihnen später mitteilen werde. Ich war schon seit längerem darauf vorbereitet und habe ihr mit Spannung entgegengesehen. Da aber die Sache denn doch noch im Ungewissen [95] schwebte, so habe ich selbst Ihnen gegenüber nichts davon erwähnt.«

Ich sah nach meiner Uhr. »Die Zeit drängt mich«, sagte ich, mich erhebend. »Und da ich nunmehr ohnehin überflüssig geworden bin, so werde ich mich empfehlen.«

»Du bleibst doch jetzt in Wien?« fragte Nina, die in sichtlicher Aufregung und offenbar froh war, daß ich aufbrach.

»Nein, im Gegenteil. Ich reise schon in den nächsten Tagen wieder ab.«

»Da sieht man dich wohl kaum mehr?«

»Die Zeit dürfte es nicht gestatten. Am besten also, ich nehme gleich Abschied, und bitte auch, deinem Gemahl –«

»Werd' es bestellen. Und was wir da verhandelt haben –«

»Bleibt selbstverständlich Geheimnis.«

»Nun, so leb' wohl«, sagte sie kurz und reichte mir die Hand hin, die ich, wie die Glenskys, der sie mir angelegentlich entgegenstreckte, drücken mußte.

Ich atmete auf, als sich die Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, und wie beflügelt eilte ich die Treppe hinunter, im Innersten froh, daß mir der Anblick des armen Z. erspart geblieben. Aber es sollte nicht sein. Denn schon im nächsten Augenblick kam er das erste Stockwerk heraufgekeucht, ein dickes Seidentuch als Schutz gegen die herbstliche Kühle um den Hals gewunden, den Hut tief in die Stirn gedrückt. Er stutzte, als er mich wahrnahm, blieb stehen und blickte mich mit blöden, verglasten Augen an.

»Sie – ah, Sie –« rief er endlich, leicht mit der Zunge anstoßend. »Sie waren bei mir? Haben mich nicht getroffen? Aber doch mit meiner Frau gesprochen?«

Ich bejahte.

»Schön. Komm Sie doch wieder mit mir hinauf. Bin etwas früher als sonst frei geworden und bleibe jetzt zu Hause. Sie können mit uns speisen.«

»Bedaure sehr, aber – – ich werde ein andermal –«

[96] »Schön. Aber kommen Sie bald! Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen. Über meine Revue. Es gibt einige Schwierigkeiten. Aber ich werde sie überwinden! Werde sie überwinden!« Er hatte offenbar keine Ahnung von dem Vorschlag, den mir Nina gemacht.

»Ich gratuliere.«

»Danke. Aber wie es hier zieht auf der Treppe! Vergessen Sie nicht. Kommen Sie bald! Auf Wiedersehen!« Und damit stürmte er, sein Halstuch fester zusammenziehend, die Treppe hinauf – wie seinem Schicksal entgegen.


* * *


Und sein Schicksal vollzog sich auch wenige Wochen nach meiner Abreise. Der Verleger meldete den Konkurs an; die Revue hörte zu erscheinen auf. Nina aber verschwand mit Herrn Glensky; niemand wußte, wohin. Sie hatte ihren Gatten krank, hilflos wie ein Kind, nur mit einer notdürftigen Geldsumme versehen, zurückgelassen. Anfangs versuchte der Unglückselige, sich und anderen einzureden, die beiden hätten im Interesse der Revue eine gemeinschaftliche Geschäftsreise gemacht. Aber die entsetzliche Gewißheit, daß ihn seine geliebte Ninoche treulos – und für immer verlassen hatte, drängte sich ihm stets überzeugender auf und brachte endlich das Gehirnleiden, dessen deutliche Anzeichen man schon lange an ihm bemerkt haben wollte, zum Ausbruch. Zur Nachtzeit in Tobsucht verfallend, unternahm er einen Selbstmordversuch, der nicht vollständig gelang. Man brachte ihn in eine Privatheilanstalt, wo er, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, am nächsten Tage verschied. Die Schriftsteller Wiens beteiligten sich sehr zahlreich an seinem Leichenbegängnisse, und ein prachtvoller Lorbeerkranz lag auf dem Sarge. Man ehrte den Tod.

5.

[97] V.

Zu den eigentümlichsten Künstlernaturen, die mir in meinem Leben begegnet waren, gehörte ein Maler, dessen Name eigentlich erst mit seinem Tode allgemein bekannt geworden ist, obgleich sein Ruhm schon lange vorher im Verborgenen geblüht hatte. Mit seinen Anfängen noch in die ältere Wiener Schule zurückreichend, war dieser »große Kleinmaler«, wie man ihn zuletzt nannte, als junger Mann durch widrige Lebensumstände aus seiner Laufbahn gedrängt worden, und als er sie später wieder ergriff, hatte er mit großen Schwierigkeiten, inneren sowohl wie äußeren, zu kämpfen: man wollte ihn eben längere Zeit hindurch nicht mehr für voll anerkennen. Während des raschen wirtschaftlichen Aufschwunges jedoch, welcher in dem sogenannten »Krach« endigte, wurden auch seine Bilder in Betracht gezogen, und wenn sie auch damals nicht gerade in die »Mode« kamen, so trachtete doch jeder feinere, oder für sein gelten wollende Kenner und Kunstfreund ein solches Kabinettsstück zu erwerben, infolgedessen sich der in stiller Zurückgezogenheit lebende Künstler plötzlich mit Aufträgen überschüttet fand. Da er aber gewohnt war, bedächtig aus seinem Inneren heraus zu schaffen, so konnte oder wollte er nur den wenigsten dieser Anforderungen gerecht werden, und sah sich bald wieder beiseite liegen gelassen und allmählich in seine frühere Verborgenheit zurücksinken.

Er bewohnte in einer entlegenen Vorstadt ein kleines Haus, das gegenwärtig verschwunden ist; ein wenig gepflegtes Gärtchen stieß daran, und das schmucklose, um nicht zu sagen dürftige Atelier bildete einen schroffen Gegensatz zu den stilvollen, mit Kunstschätzen aller Art ausgestatteten Prachträumen, in welchen gleichzeitige Meister ihre sensationellen Bilder zutage förderten. Und doch gingen aus dieser schlichten Behausung jene echten Perlen der Malerkunst hervor, die jetzt von ihren Besitzern als intimste Schätze gehütet werden und an welchen reiche Sammler jeden Pinselstrich mit Gold aufwiegen.

[98] Mit zunehmenden Jahren hatte er zu kränkeln angefangen und verbrachte daher den Winter meistens im Süden; auch Paris besuchte er hin und wieder, wo er dann stets eine Zeitlang verweilte. Den Sommer aber pflegte er regelmäßig in Wien zuzubringen, das er mit der treuen Anhänglichkeit eines alten Eingeborenen liebte und wo er, vom frühen Morgen bis zur einbrechenden Dunkelheit tätig, die in der Ferne gewonnenen Studien und Entwürfe ausführte. Dann besuchte ich ihn zuweilen; denn obgleich ich mit ihm nicht eigentlich befreundet war, so gehörte ich doch zu den wenigen, mit welchen er nicht ungern verkehrte.

Eines Tages – es war im Juni und die Rosen seines Gartens standen schon in der Blüte – hatte ich mich wieder zu ihm begeben. Er war gerade aus Paris eingetroffen und hatte mir nun vieles von der Weltstadt an der Seine zu erzählen. Vor allem besprach er die dortigen neuen Kunstströmungen, die ihn begreiflicherweise sehr interessierten; nebenbei aber auch das gesellschaftliche Leben, die Umtriebe der politischen Parteien und das Gehaben der Anarchisten. Schließlich reichte er mir einen großen Pack Photographien, die er mitgebracht hatte, zur Durchsicht hin. Es war ein buntes, reichhaltiges Durcheinander: Ansichten öffentlicher Gebäude und Plätze, Porträts berühmter oder berüchtigter Persönlichkeiten; darunter auch die beiden jüngsten Toten: Prinz Lou-Lou und der Ex-Diktator Gambetta. Aufnahmen von modernsten Bildern waren gleichfalls zu sehen. Eines davon stellte ein kostbares, äußerst raffiniert zusammengestelltes Interieur dar, in dessen Hintergrunde eine ganz weiß gekleidete Dame gleichsam an die Wand gedrückt stand, während sich die endlose Schleppe ihres Kleides, nach vorwärts gewendet, über den ganzen Boden hinweg dem Beschauer entgegenstreckte. Die weibliche Gestalt frappierte mich, und nachdem ich sie durch eine bereitgelegte große Lupe aufmerksam betrachtet hatte, rief ich aus: »Seh' ich recht? Das ist ja –«

[99] »Kennen Sie die auch?« fragte der Maler lächelnd.

»Das heißt, ich glaube sie zu kennen. Ist es nicht die ehemalige Frau des armen Z.?«

»Wer ist Z.?«

Er hatte den Schriften des Verstorbenen wohl niemals Aufmerksamkeit geschenkt, und ich suchte ihn jetzt aufzuklären.

»Ach ja,« sagte er, »nun entsinne ich mich. Ob sie aber seine Frau war, könnte ich trotzdem nicht sagen. Jetzt ist sie – oder gilt sie wenigstens für die Frau eines gewissen Glensky, der in Paris ein großes Zeitungsunternehmen betreibt; eine Art Weltkorrespondenz und Übersetzungsbureau.«

»Also doch!«

»Sie leben auf sehr großem Fuße und halten offenes Haus. In ihrem Salon wimmelt eine foule von Menschen durcheinander. Streber von allen Farben und Abzeichen: Künstler und Schriftsteller, Deputierte und finanzielle Roturiers, wie sie der Tag hebt und stürzt. Mich hat einmal ein junger Maler dorthin mitgenommen; man kann kommen und gehen nach Belieben – und bei den Diners und Soupers soll der Champagner in Strömen fließen. Übrigens glaube ich nicht, daß das literarische Unternehmen, so weitläufig es angelegt sein mag, die Kosten deckt. Ich halte vielmehr diesen Herrn Glensky für einen Agenten Rußlands – oder gerade herausgesagt, für einen politischen Spion.«

»Das wäre wohl möglich«, sagte ich. »Nun, undsie

»Ist ganz dazu angetan, um ihn als Weib zu unterstützen. Im übrigen ist sie eine ›lionne‹, der von allen Seiten gehuldigt wird. Es ist auch schon, wie das in Frankreich nicht anders geht, ihretwegen zu einem Duell gekommen – zwischen zwei Anbetern natürlich. Sie hat den Leuten seit jeher die Köpfe verrückt.«

»Kannten Sie sie denn schon früher?«

»Freilich. Sie war ja in ihrer ersten, ganz verwahrlosten Jugend die Geliebte eines meiner Kollegen, der unlängst in [100] sehr dürftigen Verhältnissen gestorben ist. Das war ein äußerst sentimentaler Mensch, der in ihr ein Opfer der menschlichen Gesellschaft sah und die arme Gefallene zu erheben trachtete, indem er sie heiraten wollte. Aber sie trieb nur ihr Unwesen mit ihm, quälte ihn bei Tag – und lief nachts in die Kasernen.«

»Dort habe ich sie kennen gelernt.«

»Wie? Sie kannten sie auch schon damals?«

»Gewiß; wir kannten sie alle.«

»Mir wollte sie gleichfalls auf die Bude rücken: Aber Sie wissen, daß ich zu meinen Bildern keine weiblichen Modelle brauche, wenigstens keine solchen. Ich ließ sie ablaufen, indem ich mich auf den Blöden hinausspielte; denn das Ding war mir in tiefster Seele zuwider. Sie mußte das auch gleich weg gehabt haben, denn sie kam nicht wieder. Inzwischen aber hatte sie mich ganz und gar vergessen, denn ich konnte deutlich merken, daß sie mich nicht mehr erkannte, als ich ihr in ihrem Salon, freilich flüchtig genug, vorgestellt wurde. Mir aber gelang es kaum, meine Überraschung zu verbergen, so wenig hat sie sich eigentlich seit jener Zeit verändert. Stärker ist sie freilich geworden; aber sie hat noch fast ganz das eigentümlich verzeichnete Gesicht von früher.«

»Sie muß doch schon über die Vierzig sein.«

»Nun, das ist ja gerade das rechte Alter für Paris, wo man den Hautgout und die Erfahrung der Überreife zu schätzen weiß. Und außerdem: sie betrinkt sich.«

»Was?«

»Ja, elle se grise, wie man dort sagt. Mit Champagner natürlich. Und das versetzt nun die Leute in das höchste Entzücken. Denn da treten auch ihre besondersten Reize hervor. Sie fängt zu deklamieren an; erst französisch, dann deutsch – um endlich zu den gemeinsten Wiener Liedern herabzusinken, weshalb man sie auch la belle Viennoise nennt. Den Text versteht natürlich niemand, die Gebärden jeder. Dann aber [101] wird sie plötzlich wild, fängt zu fluchen und drohen an – schleudert die Champagnerkelche an die Wand, daß die Splitter umherfliegen, und schwört, daß sie sich, falls die Kommune wieder erstehe, den Pertoleusen anschließen werde. Geben Sie acht«, fuhr er mit humoristischen Behagem fort, »die spielt noch einmal eine Rolle. Vielleicht als Maitresse irgend eines zweiten Gambetta, oder Rochefort – oder eines anderen Bontoux. Kann auch sein, daß sie wirklich einmal mithilft, Paris in Brand zu stecken.«

»Nun, wer weiß«, sagte ich, unwillkürlich seinen spielenden Gedanken folgend. »Gottes Wege sind wunderbar – noch wunderbarer jedoch die der Frauen.«

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 4. Teil. Ninon. Ninon. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AF4F-C