Ferdinand von Saar
Tragik des Lebens

[9] Die Familie Worel.

[9][11]

1.

I.

In der Landeshauptstadt waren Arbeiterunruhen entstanden, die sich mehr und mehr steigerten und auch auf die benachbarten Fürstlich Roggendorffschen Eisenwerke überzugreifen drohten. Es galt also dort, einen voraussichtlichen Streik hintanzuhalten. Man erwartete das Eintreffen des Fürsten, der sich mit seiner Mutter und seiner jungen Gemahlin in Florenz befand, während die Leiter der Betriebe Tag und Nacht auf ihren Posten blieben, eingehende Verhandlungen in Aussicht stellend. Inzwischen aber war es in der Stadt zum Äußersten gekommen. Man hatte Militär aufbieten müssen; die bei solchen Anlässen unvermeidlichen Opfer hatten geblutet, worauf eine dumpfe, unentschiedene Ruhe eingetreten war.

In dieser bang erwartungsvollen Zeit saß ich eines Abends mit dem Grafen Erwin in dem kleinen Salon des Schlosses. Es war ein traulicher Raum, nach einer Seite hin durch einen prachtvollen alten Gobelin abgegrenzt. An der Wand gegenüber hingen einige intimere Familienporträts, unter denen eines ganz besonders hervorleuchtete. Von Lampi gemalt, stellte es den Urgroßvater des Fürsten dar in der grünen Uniform eines Landsturmmajors aus den Befreiungskriegen. Hohe Intelligenz sprach aus den edlen, aber keineswegs scharfen Zügen des noch im kräftigsten Alter stehenden Mannes, der das Haar, der Tracht seiner Zeit gemäß, leicht gepudert und nach rückwärts in einen Beutel zusammengefaßt trug. Die Farben des meisterlichen Bildes waren noch so frisch, als stammte dieses [11] von heute, und die ungemein lebensvolle Wiedergabe der bedeutenden und doch anmutigen Persönlichkeit reizte immer wieder zu längerer Betrachtung. So blickten wir beide auch jetzt schweigend darauf hin.

Endlich sagte der Graf: »Ja, der Mann dort ahnte nicht, wie sehr sich die Verhältnisse, unter denen er seine – wenigstens für damals – großartige Schöpfung unternahm, im Laufe der Zeit ändern würden. Als er hier Erzlager erschloß, Hochöfen baute und so mit den Hüttenwerken die erste große Eisenindustrie des Landes ins Leben rief, schuf er auch den vergleichsweise nicht unbeträchtlichen Wohlstand der ganzen Gegend. Denn der Syenitboden hier herum ist nicht ergiebig; die Landwirtschaft hat niemals etwas Rechtes abgeworfen. So lebte, mit Ausnahme einiger größerer Besitzer, die Bevölkerung in Not. Nun waren mit einemmal unvermutete Erwerbsquellen erschlossen. Von meilenweit kamen die Leute herbeigeströmt, um Arbeit zu suchen und zu finden. Waren die Löhne auch gering, mußte auch bei Errichtung so manchen Objektes noch die Robot mithelfen: man segnete den unternehmenden Gutsherrn und nannte ihn den Wohltäter der Gegend. Heute nennt man uns die Ausbeuter. Vielleicht sind wir es auch, obgleich ich Ihnen ganz bestimmt versichern kann, daß mein Neffe, wenn er die Löhne nur einigermaßen nennenswert erhöhen wollte, aus den Werken nicht den geringsten Nutzen zöge. Aber vielleicht braucht er auch keinen zu ziehen. Denn es sind ja nur die Arbeiter, die das Unternehmen im Gang halten – und warum sollten sie den Roggendorffern durch ihre Mühen Gewinn schaffen müssen? Sie könnten doch den Betrieb selbst in die Hand nehmen und weiterführen. Dahin zielt ja, wie ich glaube, die sozialistische Bewegung überhaupt. Ich sage: ich glaube. Denn bestimmt weiß ich es nicht. Man kann, wie ich schon einmal, vielleicht zur Unzeit, ausgesprochen habe, diese Doktrin in gewissen Jahren sich ebensowenig zu eigen machen, wie das Seiltanzen. Aber immerhin. Daß die [12] alte Gesellschaftsordnung im Absterben begriffen ist, erkenne ich sehr wohl, und es fällt mir nicht ein, für sie eine Lanze brechen zu wollen. Aber Institutionen, die durch das Leben selbst geworden sind und sich im Laufe von Jahrhunderten gewissermaßen eingefleischt haben, besitzen denn doch ein zähes Leben, so daß sich manches bereits Totgesagte plötzlich wieder zu ganz unerwarteter Daseinsfrische erhebt. Zum Beispiel die Macht der Kirche, die man nach dem Fall des Konkordats schon für immer gebrochen glaubte. Dagegen hat der Liberalismus, der sich damals so siegreich gebärdete, ein ziemlich rasches Ende gefunden. Ob der sozialdemokratischen Idee eine weitaus längere Dauer beschert sein kann, darüber erlaube ich mir keine Meinung. Jedenfalls wird sie das Schibboleth der nächsten Epoche sein, und den Tatsachen, wenn sie sich vollziehen, wird man sich beugen müssen. Das ist seit jeher meine Maxime gewesen, und so hab' ich mich den Ereignissen gegenüber stets objektiv verhalten, wenn mir auch begreiflicherweise der Feudalismus, in dessen Zeichen ich geboren bin, hin und wieder in den Nacken schlägt.«

Ein bejahrter Kammerdiener war leise eingetreten und brachte den Tee.

»Hört man Neues aus der Stadt?« fragte der Graf.

»Nichts Gutes. Die Arbeiter bestehen noch immer auf ihren Forderungen. Wer weiß, ob es morgen nicht wieder losgeht. Und es hat doch genug Tote und Verwundete gegeben. Auch Weiber sind erschossen worden. Und wissen Erlaucht, wer darunter war?«

»Na, wer denn?«

»Die Tochter des Worel.«

»Des Worel? Die Olga?«

»Jawohl«, fuhr der Alte fort, während er den Tisch besorgte. »Seit sie ihren zweiten Mann geheiratet hat, ist sie die reinste Anarchistin geworden. Sie soll den ersten Stein nach den Soldaten geschleudert haben.«

Der Graf erwiderte nichts.

[13] »Mein Gott, wer hätte das von dem schönen Mädel gedacht, das sozusagen im Durchlauchtigsten Hause aufgewachsen war! Aber ihr Vater, dieser eingebildete Narr, trug an allem die Schuld. Er hat seine Familie ins Unglück gebracht.« Damit, entfernte sich der Mann.

Der Graf schwieg noch immer. Nach dem Tee zündete er eine Zigarre an und sagte: »Sie haben gehört, was unser Mischko da berichtet hat, und werden erstaunt sein, wenn ich hinzufüge, daß ich einst diesesMädel heiraten wollte.«

Ich blickte ihn wirklich höchst überrascht an.

»Staunen Sie übrigens nicht allzu sehr. Es war eben eine Stimmung – eine Laune, wenn Sie wollen. Aber die Absicht hatt' ich. Da wir just so hübsch allein beisammen sitzen, will ich Sie einmal etwas tiefer in mein Leben blicken lassen, indem ich Ihnen die Geschichte der Familie Worel erzähle. Angesichts der jüngsten Vorgänge ist sie in gewissem Sinne lehrhaft. Sie können daraus entnehmen, wie die Schicksale der einzelnen mit dem Zuge der Zeit im Zusammenhang stehen – wie die Menschen von ihm ergriffen und je nach Umständen emporgetragen oder dem Untergange zugetrieben werden.«

2.

II.

»In unserem kleinen Schlosse Blansek, das nun ganz leer steht, waren seinerzeit die herrschaftlichen Verwaltungen untergebracht: das Forstamt, das Rentamt, die Buchhaltung der Eisenwerke – und was eben sonst noch Bureaus benötigte. Auch wohnten dort einige Beamte. Dabei war ein der Tischlerei kundiger Mann angestellt, der die Dienste eines Hausbesorgers und Kanzleidieners zu verrichten hatte. Zu tun gab es für ihn genug, denn er wurde, da es damals keine Telegraphen, noch weniger aber Telephone gab, auch als Botengänger verwendet. Dafür bezog er keinen allzu hohen Gehalt. Aber er hatte ein kleines Nebengebäude mit vielfachen Räumlichkeiten [14] zur Verfügung; dahinter einen Obst- und Gemüsegarten. Außerdem ein schönes Stück Feld, auf dem man abwechselnd Korn und Kartoffeln bauen konnte. So führte er mit seiner Familie eine den damaligen Verhältnissen entsprechende und zufriedenstellende Existenz. Er hieß Worel. Hoch und kräftig gewachsen, blond und blauäugig, wie er war, machte er beim ersten Anblick den Eindruck einer deutschen Reckengestalt. Sah man aber näher zu, so erkannte man an der runden, vorspringenden Stirn, an den stark entwickelten Backenknochen und der etwas verkümmerten Nase den Slawen. Seine Frau, eine zierliche, lebhafte Brünette, deren Augen wie zwei große schwarze Kirschen glänzten, gab ein ganz hübsches Gegenbild ab. Es war eine Freude zu sehen, wie sie in der kleinen Wirtschaft waltete und mit Hilfe ihrer Mutter, die im Hause lebte, die Feld- und Gartenarbeit verrichtete. Kinder hatten die Leute damals zwei, Mädchen. Das erste, der Großmutter ähnlich, ein unschönes, verwachsenes Geschöpf, das zweite hingegen, erst ein paar Jahre alt, ein höchst lieblicher Anblick – ein wahres Christkindl. So also nahm sich die Familie Worel aus, die wir jüngeren Geschwister nicht ungern aufsuchten, wenn wir zuweilen nach Blansek fuhren. Denn der Mann hatte immer etwas Besonderes vorzuweisen. Entweder einen ausgestopften schönen Vogel, oder den Wurf einer seltenen Kaninchenart, die er züchtete – und ähnliches. Und die Frau pflegte uns mit gewissen Kuchen zu regalieren, die sie sehr schmackhaft zu bereiten verstand.

Da geschah es, daß mein erstgeborener Bruder, der um zwölf Jahre älter war als ich, heiratete, und ihm unser Vater Blansek als Ehesitz übergab. Die Bureaus wurden an den Ort der Betriebe verlegt und alle Räumlichkeiten des Schlosses durch eine Schar von Handwerkern in den notwendigen Stand versetzt. Auch Worel half treulich mit und zeigte dabei eine Anstelligkeit, die Erstaunen erregte. Mein Bruder gewann ihn daher sehr lieb, ernannte ihn zum Zimmerwärter und ließ [15] ihm im Laufe der Jahre alle möglichen Vergünstigungen zuteil werden. Sie waren auch wohl verdient. Denn er waltete nicht bloß sehr eifrig seines Amtes, sondern legte überall Hand an, wo es etwas zu besorgen gab. So wurde er im Schlosse gewissermaßen das Faktotum. Wenn Ereignisse eintraten, die besondere Veranstaltungen notwendig erscheinen ließen, da hieß es gleich: ›Ach, das wird der Worel schon machen!‹ Und er machte es auch. Sogar ein ganz stattliches Haustheater stellte er einmal her, wobei er sich auch als Dekorationsmaler versuchte. Durch seine Verwendbarkeit kam die ganze Familie in Gunst. Man beschenkte die hübsche Frau Aninka, die inzwischen einen Knaben zur Welt gebracht, und die Kinder mit gefallsamen Kleidern, und als meinem Bruder ein Töchterchen geboren wurde, nahm man gleich die kleine Olga als künftige Gespielin in Aussicht.

Ich selbst war zu jener Zeit als Zögling ins Theresianum getreten. Von dort kam ich nur in den Ferialzeiten nach Hause, dann aber natürlich auch oft genug nach Blansek. Dabei konnte ich wahrnehmen, wie die Olga, die nun wirklich die Gespielin meiner kleinen Nichte geworden war, von Jahr zu Jahr schöner aufblühte. Sie geriet mehr dem Vater nach, hatte aber die großen schwarzen Augen der Mutter und eigentümlich blondes Haar, das wie blasses Kupfer schimmerte. Es war von solcher Fülle, daß es in seiner Schwere den Kopf des Mädchens nach rückwärts zog, wodurch dieses unwillkürlich eine stolze und hoheitsvolle Haltung annahm. Sie entwickelte sich auch sehr rasch, so daß sie mit neun oder zehn Jahren schon wie zwölfjährig aussah. Etwa fünfzehn mochte sie gewesen sein, als ich, des Studierens satt, gleich als Offizier – das ging ja damals – in die Armee trat. Bei kürzeren Sommer- oder Herbsturlauben – der Winter wurde ja meistens in der Stadt zugebracht – traf ich mit ihr oft im Blanseker Park zusammen. Sie war dort immer um meine Nichte beschäftigt, die sie sehr liebte. So entwickelte sich zwischen uns auch eine Art vertraulichen [16] Verkehrs, der meinerseits freilich immer von oben herab blieb. Hauptsächlich vielleicht deshalb, weil ich fühlte, daß ich nahe daran war, Feuer zu fangen. Sie selbst hielt sich, wie auch der jungen Komtesse gegenüber, in den Schranken jener stillen Unterwürfigkeit, die ihre Stellung mit sich brachte; nicht eine Spur von Koketterie war an ihr wahrzunehmen. Als ich aber knapp vor dem Kriege mit Italien für ein paar Tage nach Hause kam, um von den meinen vielleicht auf Nimmerwiedersehen Abschied zu nehmen, traf ich sie zufällig allein. Sie saß in einer blühenden Geißblattlaube und blätterte in einem Bilderbuche, das meiner Nichte gehörte. Ich hätte sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, denn die Laube war sehr tief. Aber ein brauner Dackel, der immer um die Mädchen war, kam herausgesprungen. Ich blieb am Eingang stehen. Olga erhob sich und legte das Buch weg. Ich trat hinein und reichte ihr die Hand hin. ›Adieu, Olga!‹ sagte ich. ›Heute abend reise ich wieder ab – und dann geht's ins Feld.‹ Sie blieb regungslos und sprach kein Wort. Aber sie war ganz blaß geworden, und ein Beben ging durch ihren schlanken Leib. Ich sah, wie sie gewaltsam an sich hielt. Plötzlich in krampfhaftes Schluchzen ausbrechend, warf sie sich mir an die Brust. Einen Augenblick war ich ganz fassungslos. Dann aber, das warme Leben an mir fühlend, umschloß ich sie mit beiden Armen. ›Liebe, liebe Olga,‹ flüsterte ich, während ich ihr Haar, ihre Stirn, ihren Mund küßte. Jetzt riß sie sich los, und das Gesicht mit den Händen verhüllend, entfloh sie.«

3.

III.

»Sie begreifen,« fuhr der Graf fort, »daß mir dieses Erlebnis einen großen Eindruck machte. Ich konnte den ganzen Tag über an nichts anderes denken und war beim Abschied von meinen Angehörigen sehr zerstreut. Auch während der Fahrt zum Regiment befand ich mich in jenem süßen Taumel, [17] den man sehr bezeichnend einen Seelenrausch nennt. Aber wie andere Räusche hielt er nicht vor. Schon als ich wieder den Dienst antreten mußte, begann er zu verfliegen. Dann kam der unglückliche Feldzug. Nach diesem verlor ich die Lust, das Soldatenspiel weiter zu spielen. Ich wollte ein größeres Stück Welt, wollte bedeutenderes Leben kennen lernen und beschloß, mich der Diplomatie zu widmen. Es war leicht durchzusetzen, daß ich einer Gesandtschaft attachiert wurde. So kam ich nach Madrid. Dort geschah, was so ziemlich jedem jungen Manne geschieht: ich verliebte mich in eine verheiratete Frau. Sie kennen sie nach dem Bilde, das über meinem Schreibtische hängt. Keine Spanierin, wie Sie vielleicht glauben könnten, sondern eine Italienerin. Ihr Gemahl, der in Madrid einen deutschen Mittelstaat vertrat, hatte die Komtessa als Legationsrat in Rom, seinem früheren Dienstposten, erehlicht. Er war ein hagerer, fadblonder und, wie es schien, auch blutloser Geselle, denn er benahm sich ungemein artig gegen die Liebhaber seiner Frau. Sie hatte deren, um es gleich zu sagen, sehr viele. Damals nahm ich ihr das höchst übel, heute ist es ihr längst verziehen. Denn sie war eine Frau, deren eigentümlich zarter Reiz alle Männer gleichmäßig anzog. Sie brauchte sich nur zu zeigen, mit ihren durchsichtig dunklen Augen zu lächeln und ein paar Worte zu sagen, so war jeder hingerissen. Konnte es da wundernehmen, daß sie, temperamentvoll wie sie war, von der Macht des männlichen Od, das ihr von allen Seiten so heiß entgegenströmte, leichter überwältigt wurde, als andere schöne Frauen, die man vielleicht bewundert, aber nicht sofort begehrt? Und sie verstand die große Kunst, sich mehrseitig hinzugeben, ohne dabei im Schlamm zu versinken. Sie tat es mit einer fast kindlichen Unbefangenheit und mit vollendeter Grazie. So mußte Josefine Beauharnais gewesen sein, die den großen Napoleon fesselte, obgleich er von ihrer Untreue überzeugt war. Nun, ich war kein Napoleon und verzieh ihr die Untreue nicht – mit Ausnahme der gegen ihren Gatten. [18] Ich wollte der einzige sein, und da mir das nicht gelang, quälte ich sie mit rasender Eifersucht. Mehr als einmal hatte ich unsere Beziehungen abgebrochen, um doch immer wieder zu ihr zurückzukehren. Aber es kam auch immer wieder zu den unerquicklichsten Szenen. Ich bedrohte – ja, ich beschimpfte sie sogar. Mit einer wahren Engelsgeduld ließ sie alles über sich ergehen, was mir doch hätte zeigen können, daß ich ihr mehr war, als meine gutmütigeren Nebenbuhler. Als ich mich jedoch eines deutschen Malers wegen, der nach Spanien gekommen war, um Velasquez zu studieren, zu einer Mißhandlung hinreißen ließ, da wies sie mir mit einem kalten Blick die Tür. Natürlich war jetzt ich der Beleidigte und schnaubte Rache. Ich dachte daran, den Maler zu fordern – und was derlei Ausgeburten einer verstörten Gemütslage mehr waren. Zum Glück war aber meine Vernunft schon damals stark genug, solch wahnwitzige Regungen zu besiegen. Aber ich litt unsäglich. Von Tag zu Tag wuchs meine Sehnsucht nach dem geliebten Weibe, aber auch die Erkenntnis, daß jetzt alles zu Ende sei. Ihren Anblick jedoch, dem ich täglich ausgesetzt war, ertrug ich nicht. Ich nahm, da ohnehin die Zeit der politischen Windstille herannahte, sofort Urlaub. Mein Vater und mein zweitältester Bruder, der nun auch schon tot ist, befanden sich noch in Wien, mein anderer Bruder jedoch war schon in den ersten Frühlingstagen nach Blansek gezogen. Dorthin wollte ich, denn große Städte mit ihrem Highlife waren mir jetzt gründlich verhaßt. Dabei kam mir mit einem Mal Olga in den Sinn, die ich im Laufe der Ereignisse gänzlich vergessen hatte. Wie greifbar trat mir die Gestalt des schönen Mädchens vor die Seele – und sehen Sie: in diesem Augenblick faßte ich den Entschluß, es zu heiraten. Ich war immer etwas romantisch angehaucht gewesen. Und trotz aller weltmännischen Genußfähigkeit – und wenn Sie wollen, Genußsucht, auch immer mit einem unbestimmten Hange nach stiller, beschaulicher Zurückgezogenheit in irgendeinem Erdenwinkel behaftet. Das konnte ich jetzt [19] haben, wenn ich mir auf unserem Grund und Boden – etwa zwischen Roggendorf und Blansek – ein komfortables Blockhaus mit waldigem Hintergrund und weiter Fernsicht erbauen ließ, um dort an der Seite eines schlichten, mir ganz ergebenen Weibes ein unabhängiges, wenn auch keineswegs müßiges Dasein zu führen. Denn ich hatte – auch das will ich Ihnen anvertrauen – zu jener Zeit schriftstellerische Neigungen. Montaigne und Larochefoucauld reizten mich zur Nachahmung. Auch als Familienvater dachte ich mich bereits und entwarf nach Rousseaus Emile weitgehende Erziehungspläne für meine präsumtiven Kinder. Daß man mir Schwierigkeiten machen könnte, sah ich wohl ein, ich achtete sie aber gering. Meine Brüder kannte ich als ziemlich vorurteilslos – und mein Vater, der allerdings zu fürchten war, mußte schließlich nachgeben. Es war ja damals nichts geradezu Horrendes, daß ein Fürst oder Graf eine Försters- oder Schafferstochter heiratete. Auch Wäschermädchen kamen vor. Heutzutage werfen sich meine Standesgenossen mehr auf Sängerinnen und Tänzerinnen, was wohl ein Zeichen höheren Geschmacks sein soll. Nun, ich erkor die Tochter des Worel. Papa und Mama waren nun freilich nicht besonders erwünscht, aber es waren brave Leute – und man konnte mit ihnen einen modus vivendi vereinbaren. Also mein Entschluß stand fest. Daß das Mädchen selbst einen Strich durch die Rechnung machen könnte, fiel mir nicht ein. Daß sie mich damals geliebt, darüber konnte kein Zweifel sein. Warum sollte sie es nicht auch jetzt – und mir etwa einen Korb geben, wenn ich ihr meine Hand antrug? Daß sie vielleicht inzwischen schon geheiratet haben könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. So sicher war ich der ganzen Sache.

Mit diesem Gefühle fuhr ich durch das Schloßportal in Blansek ein. Da fiel mir gleich als sehr seltsam auf, daß Vater Worel in einer Art von Schlafrock, den Kopf mit einem türkischen Fez bedeckt, auf der Bank vor seiner Wohnung saß und eine lange Pfeife rauchte, die er jetzt, indem er gravitätisch aufstand [20] und mit einer Verbeugung die rote Mütze lüftete, bei Fuß nahm. Von der übrigen Familie, die doch sonst bei ähnlichen Anlässen immer Spalier bildete, war niemand zu sehen. Als ich später meinem Bruder mein Befremden über dieses Verhalten äußerte, sagte er mißmutig: ›Ach ja, der Worel! Der hat mir den Dienst gekündigt.‹ Ich war sehr überrascht. ›Ja,‹ fuhr mein Bruder fort, ›in den Mann ist der Hochmutsteufel gefahren. Und eigentlich bin ich selbst schuld daran.‹ ›Wieso?‹ fragte ich. ›Wirst es gleich hören. Du kennst meine Lust an alten Sachen und weißt, daß ich ab und zu nach solchen alle Rumpelkammern durchstöbere. Das tat ich nun wieder einmal und fand dabei unter wertlosem Zeug ein ganz hübsches Treppengeländer aus Eichenholz mit geschnitztem Laubwerk. Ich freute mich sehr darüber und wollte es gleich an einer Mansardenstiege anbringen lassen. Da zeigte sich aber, daß es nicht langte und überdies eines kurzen Kniestückes bedurfte.‹ ›Na,‹ sagte ich zu Worel, der mich bei meinen Forschungen immer begleitete, ›du bist ja ein Tausendkünstler!‹ – Ich erwähne hier, daß wir damals zu allen unseren Bediensteten noch Du sagten. – Also: ›Du bist ja ein Tausendkünstler – wie wär' es, wenn du das Ding da vollständig machen und dich dabei auch einmal als Holzschnitzer versuchen würdest?‹ Der Mensch, der immer ziemlich eitel gewesen ist, wurde ganz rot vor Stolz. ›Das werd' ich schon machen, Erlaucht,‹ erwiderte er, ›wenn ich das richtige Holz bekomme.‹ Er bekam es und brachte wirklich nach einer gewissen Zeit das Geländer derart ergänzt, daß man, nachdem es gleichmäßig gestrichen und gefirnißt war, kaum einen Unterschied zwischen dem alten und neuen Teil wahrnehmen konnte. Ich belobte und entlohnte ihn für diese Arbeit, die ihm doch genug Mühe und Schweiß gekostet haben mochte. Seit diesem Tage dachte er nur mehr an derlei Leistungen. Er kramte nach Bruchstücken von Rokokomöbeln und vermorschten Wandtäfelungen, die er nachmachen wollte. Ich hatte ihm einmal zwei alte Quartbände geschenkt, [21] die kunstgewerbliche Kupfer enthielten. Er hatte, sie früher kaum angesehen, jetzt vertiefte er sich in ihr Studium. Darüber vernachlässigte er seine eigentlichen Arbeiten. Ich ließ es ihm hingehen, da ich wußte, daß er sehr empfindlich war; auch stand ja der Winter vor der Tür, den wir in Wien zubrachten. Zurückgekehrt, trafen wir im Schlosse auf ungenügende Vorkehrungen. Als ich Worel zur Rede stellte, warf er sich in die Brust und erklärte, daß er es an nichts habe fehlen lassen. Da ich mit meinen Leuten nicht gern hadere, schwieg ich und beschloß, sein weiteres Verhalten abzuwarten. Da zeigte sich sehr bald, daß aus einem ergebenen und beflissenen Diener ein starrköpfiges, von Größenwahn erfülltes Individuum geworden war, das die ihm zukommenden Verrichtungen unser seiner Würde hielt. Er hatte den Winter benützt, um in der Bibliothek, zu der er die Schlüssel hatte, allerlei Bücher zu lesen, und sich derart gebildet, daß er in einem geselligen Verein, der im Orte entstanden war, Vorträge hielt. Dieser Verein verfolgte tschechische Parteizwecke. Es war mir also höchst unangenehm, daß einer unserer Bediensteten daran teilnahm. Und mit dem Oberhaupt hat sich auch die ganze Familie verändert. Die Frau, deren Mutter inzwischen gestorben ist, scheint keine Lust mehr am Hauswesen zu haben. Sie überläßt alles der buckligen Maruschka und legt die Hände in den Schoß. Die Olga geht als junge Dame einher. Sie liest auch alle möglichen Bücher und bezeigt sich sehr hochnasig gegen unsere Minka. Meine Frau wollte sie als Kammerjungfer zu sich nehmen; daran war nicht mehr zu denken. Und der jüngste Sproß, der eben die Volksschule hinter sich hat, lümmelt den ganzen Tag müßig herum oder kratzt jämmerlich auf einer Geige. Dabei verlottert die ganze Wirtschaft. Der Garten ist verwildert, und das Stück Feld liegt brach da, von Unkraut überwuchert. So entgeht den Leuten ein gut Teil ihres Einkommens, und ich weiß nicht, wie sie ihr Auskommen finden. Alle diese Wahrnehmungen verstimmten mich, und ich sann hin und her, was ich nun mit dem Worel [22] anfangen sollte. Ihn Knall und Fall zu entlassen, ging doch nicht an. Denn er hatte uns ja zwanzig Jahre hindurch treue und ersprießliche Dienste geleistet. Und eigentlich Übles konnte ich ihm nicht vorwerfen. Da brach er selbst das Eis, indem er bei mir – wie er sich jetzt ausdrückte – um eine Audienz nachsuchte. ›Ich komme,‹ sagte er, ›um Eurer Erlaucht eine Bitte vorzutragen. Mein Franz hat eine sehr gute Klassifizierung erhalten, und ich habe die Absicht, ihn das Gymasium machen zu lassen. Auch Olga will sich zu irgendeinem Berufe vorbereiten. Ich möchte also beide Kinder bei Bekannten in der Stadt unterbringen. Dazu fehlen mir aber die Mittel. Ich bitte daher, Erlaucht möchten die Gnade haben, für den Franz einen Erziehungsbeitrag zu bewilligen.‹ ›So?‹ sagte ich, ›du willst also – ich sah, wie sehr ihn das du verschnupfte – deinen Sohn studieren lassen? Ich hatte gedacht, du würdest ihn in dein Handwerk einführen, und er würde einst dein Nachfolger werden. Und die Olga wollte meine Frau als Kammerjungfer nehmen.‹ ›Das geht nicht, Erlaucht‹, versetzte er. ›Es sind geistig sehr begabte Kinder.‹ ›Das will ich nicht bestreiten‹, sagte ich. ›Aber einen Erziehungsbeitrag bewillige ich entschieden nicht.‹ Er wurde puterrot vor Zorn. ›Dann muß ich Euer Erlaucht bitten, mich meines Dienstes zu entheben. Ich habe schon vor einiger Zeit von einer großen Kunsttischlerei in der Stadt einen sehr vorteilhaften Antrag erhalten. Den würde ich jetzt annehmen und dort eintreten.‹ ›Das ist deine Sache‹, erwiderte ich. ›Und da du solange bei uns in Dienst gestanden, erhältst du eine Pension von jährlich vierhundert Gulden. Du kannst also in der Stadt deine Kinder ausbilden lassen.‹ Damit war die Sache im reinen. Zu Neujahr ziehen die Leute ab.

Ich war natürlich über all das sehr erstaunt, aber doch begierig, die Olga zu sehen. Daß sie sich auf die junge Dame hinausspielte, konnte mir ja nicht wider den Strich gehen – und daß sie Bücher las, auch nicht. Es traf sich, daß sie, als wir nach Tisch auf der Terrasse den Kaffee nahmen, in einiger Entfernung [23] an uns vorüberschritt. Es kam ihr zu, uns zu grüßen. Sie tat es auch. Aber so, daß sie ganz komtessenhaft nur das Kinn anzog. Sie hatte sich in den letzten Jahren voll entwickelt und war sehr groß geworden. Ihre Züge kamen mir härter und schärfer vor; auch hatten ihre Haare eine dunklere Kupferfarbe angenommen. Aber sie war jetzt ein wahres Prachtgeschöpf, dessen Erscheinung meine Absichten keineswegs erschütterte.

Da geschah es, daß ich mich erkältete und ein paar Tage die Zimmer hüten mußte. Eines Nachmittags – es war Sonntag und mein Bruder mit den Seinen nach Roggendorf hinübergefahren – stand ich an einem Fenster, das auf einen Seitenpfad des Parkes hinausging. Ein mächtiger alter Ahornbaum stand davor und verdeckte es. Wie ich nun so durchs Gezweig hinuntersah, gewahrte ich Olga, die mit einem anderen, wahrscheinlich ihr befreundeten Mädchen vorüberkam. ›Na, du hast ja jetzt wieder deinen Grafen da‹, hörte ich das andere Mädchen sagen. ›Ach was, der!‹ erwiderte Olga wegwerfend. ›Heiraten würde er mich doch nicht, und nur so‹ – sie machte eine verächtliche Handbewegung.

Noch niemals war es mir so deutlich geworden, daß, wie man zu sagen pflegt, der Ton die Musik mache. Gegen ihre Äußerung war ja nicht das geringste einzuwenden. Sie war vielmehr sehr löblich und hätte mich überzeugen können, wie ehrenwert ihre Gesinnung war. Aber die Art und Weise, wie sie ihre, noch dazu tschechisch gesprochenen Worte vorbrachte, wirkte auf mich erkältend wie Eis. Denn sie zeigte mir, daß meine Erkorene nicht die geringste Empfindung für mich hege. Es war bei ihr damals eben nichts anderes gewesen als eine vorübergehende Emotion der Pubertät, wie sie jeder Backfisch durchzumachen hat. Diese Erkenntnis stimmte mich plötzlich ganz froh, und von diesem Augenblick an war auch Olga für mich Luft. Ich machte noch die Jagden mit und kehrte dann auf meinen Posten nach Madrid zurück.«

4.

[24] IV.

»Was ich dabei gefürchtet hatte, war das Wiederzusammentreffen mit jener Dame. Aber der Herr Gesandte war allein gekommen. Seine Gemahlin hatte in einem nordischen Seebade einen russischen Fürsten kennen gelernt und sich scheiden lassen. An der Seite des Russen soll sie in Petersburg noch eine sehr hervorragende Rolle gespielt haben – und tugendhaft geworden sein. Das kommt manchmal bei solchen Frauen vor, wenn sie zufällig auf den Richtigen treffen – und nebenbei ein wenig zu altern anfangen. Sie aber stand eigentlich noch immer in der Blüte ihrer Jahre, als sie plötzlich starb. Ich hatte es erst einige Zeit nach ihrem Tod erfahren. Aber die Kunde traf mich wie ein heftiger Schlag ins Innerste, der mich fühlen ließ, wie sehr ich dieses Weib geliebt hatte.«

Er schwieg, in Gedanken versinkend. Dann fuhr er fort: »Das Leben in Spanien war mir inzwischen immer öder geworden. Die Liebschaften der dicken Königin Isabella und die beständigen Pronunziamentos langweilten mich mehr als sie mich aufregten. So griff ich endlich wieder zum Schwert und machte das Mexikanische Abenteuer mit. Nach dem unglücklichen Ausgang unternahm ich noch eine Reise nach Paris und London und kehrte in unsere mährische Heimat zurück. Mein Bruder residierte, da unser Vater gestorben war, schon als Fürst in Roggendorf, wo jetzt auch ich meine Tage beschließen will.

An die Worels dachte man schon längst nicht mehr. Einmal aber kam doch die Rede auf sie, und mein Bruder sagte: ›Wie ich höre, ist es ihnen eine Zeitlang ganz gut gegangen. Er ist ja wirklich ein geschickter Mensch, und die ersteren Arbeiter in jener Kunsttischlerei sollen sehr gut bezahlt werden. Aber in seiner Familie hatte er Unglück. Die Olga, die in Blansek die Bewerbungen eines unserer Forstleute schnöd zurückgewiesen, hat sich in der Stadt mit dem Sohn eines reichen Fabrikanten [25] eingelassen. Er soll ihr die Ehe versprochen haben. Als sie aber durch ihn in andere Umstände gekommen war, verließ er sie. Man sagt, es sei eine böse Geschichte gewesen, denn Papa Worel wollte es mit Gewalt durchsetzen, daß sie der junge Herr zu seiner Frau mache. Aber es nützte nichts; sie mußten sich mit einer nicht unansehnlichen Abfindungssumme zufrieden geben. Aber da war auch gleich ein Schwindler da, der die Vaterschaft und auch das Kapital auf sich nahm, indem er Olga heiratete. Er hatte die Absicht, eine Fabrik zu errichten, in der alte Tuchreste zu frischen Stoffen verarbeitet werden sollten. Nach ein paar Jahren war das Geld zum Teufel gegangen, und da auch Wechselfälschungen mitspielten, kam der Herr Gemahl ins Zuchthaus. So mußte die Olga mit zwei Kindern zu ihrem Vater flüchten. Und der Schlingel von Sohn ist natürlich nicht einmal durch die zweite Gymnasialklasse gekommen. Er hat sich dem Violinspielen gewidmet, um es darin, wie der Alte versichern soll, zur Meisterschaft zu bringen. Nun, wir werden ja sehen.‹

Nicht lange nach diesem Gespräch wies mir mein Bruder ein Schreiben vor, das er eben von Worel erhalten hatte. Dieser teilte darin mit, daß er unverschuldet in eine große Notlage geraten sei, die jetzt um so drückender geworden, als ihn seine Frau wieder mit einem Kinde – einem Knaben, beschenkt habe. Er bitte daher, ihm einen Vorschuß von dreihundert Gulden zu gewähren, welche Summe er in kleinen Monatsraten dankbarst von seiner Pension zurückerstatten werde.

›Was wirst du tun?‹ fragte ich.

›Auf Ratengeschäfte lasse ich mich nicht ein‹, erwiderte mein Bruder. ›Aber ich werde ihm das Geld schicken, damit er sieht, daß man ihm nichts nachträgt.‹

›Weißt du was?‹ sagte ich. ›Ich muß dieser Tage ohnehin nach der Stadt fahren, und werde ihm das Geld überbringen.‹

Mein Bruder sah mich etwas erstaunt an. Da ich aber [26] erklärte, es interessiere mich, die Verhältnisse kennen zu lernen, in denen die Leute jetzt lebten, so stimmte er zu.

Ich begab mich also schon am nächsten Tage nach der Stadt. Es war Sonntag und ich hoffte, da Worel in seiner Wohnung anzutreffen. Diese befand sich in einer breiten, entlegenen Straße, in der noch sehr viele alte und niedere Häuser standen. Dazwischen waren mehrstöckige neue Bauten aufgeführt worden. Echte Proletarierhäuser. In einer dieser Zinskasernen hauste er jetzt, hoch oben in der letzten Etage. Schon im Torweg schlug mir ein beklemmender Geruch entgegen, der sich in jedem Stockwerk in einen andern Mißduft auflöste. Endlich war ich vor der gesuchten Tür angelangt, die halb offen stand. Drinnen im Dunst des Herdes kochte die bucklige Maruschka das Mittagessen. Als sie mich erblickte und erkannte, ließ sie den Löffel fallen, stürzte nach der Zimmertür, riß sie auf und schrie hinein: ›Graf Erwin ist da!‹ Ich vernahm, wie die Leute überrascht und bestürzt durcheinander fuhren; sie wußten offenbar nicht, wie sie mich empfangen sollten. Ich aber war schon eingetreten. In der Mitte eines kleinen, mit allerlei brüchigem Hausrat vollgepfropften Zimmers war Worel zu sehen, seinen jüngsten Sprößling auf dem Arm. In einiger Entfernung von ihm, an allen Gliedern zitternd, sein gealtertes, abgehärmtes Weib. Links stand eine schmale Kammer offen, in welche zwei notdürftig bekleidete und widerstrebende Kinder hineinzuziehen Olga bemüht war. Ein Blick auf sie genügte mir, um zu erkennen, daß sie noch immer schön – aber ihr Antlitz auch schon von scharfen Furchen durchzogen war. In der Kammer saß, mager und dünnbärtig, ein junger Mann mit fahlem Gesicht und finster blickenden Augen. Als es gelungen war, die Kinder hineinzubringen, zog Olga die Tür hinter sich zu.

›Herr Worel,‹ sagte ich jetzt, während mir die Frau einen abgenützten Stuhl zurechtschob, ›ich überbringe Ihnen hier im Auftrag meines Bruders die erbetene Summe. An Rückzahlung [27] brauchen Sie nicht zu denken, und wir wünschen nur, daß Ihnen damit geholfen sei.‹

Der Mann hatte sich inzwischen gefaßt. ›Ich danke sehr‹, erwiderte er gemessen, während er den Säugling in den Arm der Mutter legte, deren Augen bei meiner Rede feucht geworden waren. ›Es wird sich schon alles wieder machen. Ich hoffe auf einige größere Arbeiten außer Akkord. Es ist, wie ich mir mitzuteilen erlaubte, nur eine momentane Notlage. Der da‹ – er wies auf das Kleine – ›hat sie auf dem Gewissen. Im übrigen verspricht er, ein prächtiger Bursch zu werden. Sehen ihn Erlaucht nur an. Nicht wahr? Eine ganz tüchtige Leistung von Eltern in so späten Jahren.‹

Während ich nach dem Kinde blickte, das keinen Tropfen Blut in den Adern zu haben schien, aber jetzt heftig zu schreien anfing, ging die Zimmertür auf und der Sohn Worel trat mit einer kurzen Verbeugung herein. Breitspurig, aufgedunsen, das vulgäre Gesicht von langen Haaren umwallt.

›Das ist mein Franz‹, sagte Worel. ›Erkennen ihn Erlaucht noch? Er hat sich ganz auf die Musik geworfen. Er hofft auch bald im Orchester des Stadttheaters einen Platz zu finden.‹

›Ich gratuliere‹, sagte ich, während der Virtuose mit einem blöden Lächeln vor sich hinstierte. ›Und nun leben Sie alle wohl‹, fügte ich mit einem letzten Blick auf die geschlossene Kammertür hinzu und ging, von Worel durch die Küche geleitet.

Als ich langsam und vorsichtig die schmutzige Treppe hinunterschritt, vernahm ich, wie mir jemand nachgehuscht kam. Es war die Frau. ›Verzeihung, Erlaucht‹, flüsterte sie. ›Haben die Gnade, nur auf ein Wort –‹

›Was wünschen Sie, liebe Frau Worel?‹ fragte ich, auf einem Absatz der Treppe stehen bleibend.

›Ach, mein Gott‹, erwiderte sie, und brach in Tränen aus. ›Wir sind so unglücklich!‹

[28] ›Unglücklich? Ihr Mann sprach doch nur –‹

›Ach der!‹ unterbrach sie mich. ›Der sieht immer alles ganz anders an. Wie er es eben haben möchte. Und dann schämt er sich auch. Und unsere jetzige Notlage wäre auch das geringste. Worel ist ja fleißig und verdient viel. Aber die Kinder!‹ Sie hielt sich schluchzend die Hände vor die Augen.

›Was ist es mit den Kindern?‹

›Ach der Franz! Der ist ein Lump geworden. Mit dem Geigenspielen ist es nichts, rein nichts. Der Meister, zu dem er ging, hat ihn aufgegeben. Er soll gar kein Talent haben. Und nun lungert er den ganzen Tag herum, trinkt und macht Schulden. Das mit dem Theaterorchester hat er dem Vater vorgelogen.‹

Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte, und zuckte daher bloß die Achseln.

›Und dann die Olga! Ihre traurigen Schicksale werden in Roggendorff wohl bekannt geworden sein. Nun aber hat sie einen Menschen kennen gelernt, der in einer Spinnfabrik arbeitet. Die Leute sagen, daß er ein Sozialist ist und schlechte Gedanken im Kopf hat. In den hat sie sich verliebt. Zum erstenmal in ihrem Leben! Denn alles andere war doch nur so. Und nun, da ihr Mann im Gefängnis gestorben ist, will sie ihn heiraten – und selbst Arbeiterin in der Spinnfabrik werden. Denken Sie nur, Erlaucht, unsere Olga in einer Spinnfabrik!‹

Mir schien das nicht gerade das allergrößte Unglück zu sein. Aber ich dachte daran, daß ich sie einst selbst hatte heiraten wollen. ›Nun, wenn sie durchaus will,‹ sagte ich, ›so läßt sich nichts dagegen tun. Sie ist großjährig.‹

›Ja, ja,‹ entgegnete die Frau, ›es läßt sich nichts machen! Sie hat einen harten Kopf, gerade wie mein Mann. Aber es wird kein gutes Ende nehmen.‹

›Nun, wer weiß‹, sagte ich. ›Sie kennen ja den alten Spruch: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.‹

[29] ›Ach Gott!‹ sagte sie, trostlos aufblickend.›Und jetzt auch noch das Kind. Daß uns das hat geschehen müssen!‹

›Sie müssen es jetzt eben hinnehmen. Aber verzweifeln Sie nicht. Wir werden Sie nicht verlassen.‹

›O tausend Dank!‹ rief die Frau, wieder in Tränen ausbrechend. ›Auch Seiner Durchlaucht für die gütige Gabe!‹ Sie wollte meine Hand erfassen und küssen.

›Ist gern geschehen‹, sagte ich, mich losmachend. ›Und schreiben Sie nur, wenn Hilfe nottut.‹

Während ich jetzt die Treppe vollends hinabstieg und dem Innern der Stadt zuschritt, gedachte ich der Zeiten, da diese Menschen in einem behaglichen Heim, von frischer, gesunder Luft umweht, ein kräftig blühendes Dasein führten. Und jetzt atmeten sie dort oben in dem verpesteten Hause, in enge Räume zusammengepfercht, dem Elend preisgegeben! Dieser Wandel der Dinge durchschauerte mich, als hätte ich ihn am eigenen Leibe erfahren, und unwillkürlich sprach ich wieder die banale Phrase vor mich hin: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.«


* * *


»Alles Weitere ist bald erzählt«, fuhr der Graf nach einer Pause fort. »Welchen Ausgang Olga genommen, wissen Sie. Ihr älterer Bruder blieb ein Taugenichts, der in schlechten Wirtshäusern aufspielte. Schließlich wurde er zum Landstreicher und soll in einer offenen Scheune, darin er einmal bei starkem Winterfrost genächtigt, erfroren sein. Ein bezeichnendes Ende hat der Vater genommen. Er hatte sich durch sein selbstbewußtes, hochfahrendes Wesen schon lange bei seinen Mitarbeitern verhaßt gemacht. Als man einmal eine Lohnerhöhung durchsetzen wollte, arbeitete er während des Streiks im geheimen für den Besitzer der Tischlerei fort. Wohl durch Not dazu bewogen, aber noch mehr durch seine Eitelkeit. Denn es wurde ihm gesagt, daß nur er imstande sei, einen kleinen, besonders komplizierten Schrank anzufertigen, der von einer vornehmen [30] Persönlichkeit dringend bestellt worden war. Die Sache wurde entdeckt und von den Ausständigen sehr übel aufgenommen. Sie überfielen ihn bei günstiger Gelegenheit und prügelten ihn weidlich durch. Das schien weiter keine Folgen gehabt zu haben. Nach und nach aber begann er zu kränkeln, und eines Tages starb er ohne bestimmt nachweisbare Todesursache. So sind jetzt nur mehr drei Familienglieder am Leben. Die Mutter, die älteste Schwester, welche beide sich mit ihrer Hände Arbeit durchbringen – und der Jüngste, der den romantischen Namen Jaroslav führt. Wie es heißt, ein hübscher, anstelliger Knabe. Er soll auch ein sehr fleißiger Schüler sein und genießt von uns einen Erziehungsbeitrag. Vielleicht ist er schon der Mensch der Zukunft.«

[31] [35]Sappho.

[35][37]

1.

I.

Eines Tages hatte ich ihn wieder in seiner einsamen Behausung aufgesucht. Wir sprachen wie gewöhnlich über das, was uns beiden am nächsten lag: über Literatur. Dabei kamen wir auch auf die schrankenlose Erotik, die sich im modernen Frauenschrifttum kundgibt.

»Ja,« sagte er mit leichtem Lächeln, »die Erscheinung ist verwunderlich. Ich halte sie auch keineswegs für ein wesentliches Substrat der Frauenemanzipation, die ja mit ihren ernsten Zielen gerade in jener Hinsicht Beruhigung und Ablenkung anstrebt. Ich glaube vielmehr, daß derlei ekstatische Ausbrüche, derlei stürmische Angriffe auf eine veraltete Moral, die das Weib am vollen ›Sichausleben‹ hindert, größtenteils von unglücklichen Geschöpfen herrühren, die – wie ja auch so viele Männer – vom anderen Geschlechte nicht begehrt werden. Und zwar aus rein physiologischen und ästhetischen Gründen. Die meisten Vorkämpferinnen der freien Liebe würden, wenn selbst die letzte sittliche Hemmung verschwunden wäre, doch nur die traurige Erfahrung machen, daß sie nach wie vor zur Entbehrung verurteilt seien. Es ist begreiflich, daß sich die persönliche Eitelkeit gegen eine solche Annahme sträubt, und es wäre wirklich zu viel verlangt, daß die Frauen hierüber jemals zu deutlicher Einsicht gelangen sollten, wenn auch zuweilen in dieser oder jener eine Ahnung des wirklichen Sachverhaltes aufdämmern mag. Mir selbst wenigstens ist nur ein Weib begegnet, das sich über Ursache und Wirkung klar geworden.«

[37] »Und wer war dieses Weib?«

»Auch eine Dichterin.«

Er trat an einen kleinen Schrank, in dem er seine Papiere verwahrte, und entnahm ihm ein ziemlich umfangreiches Paket, dessen Aufschrift er mir wies. Sie lautete: Documenta feminina.

»Alte Liebesbriefe?« fragte ich.

»Sind auch dabei – aber nur sehr wenige an mich selbst gerichtet. Im einzelnen wie im ganzen jedoch sind es höchst charakteristische Kundgebungen, die ich im Laufe der Jahre aufgesammelt. Für einen Erforscher der weiblichen Psyche können sie von Wert sein. Auch kulturhistorisch sind sie nicht uninteressant. Denn sie umfassen mehr als ein halbes Jahrhundert und stammen aus allen Schichten der Gesellschaft. So weisen sie auch alle Bildungsgrade auf – von naiven und unorthographischen Ergüssen rückständiger Gretchen bis zu geistvollen Emanationen des auf der Höhe des heutigen Lebens angelangten Weibes.«

Er öffnete das Paket und zog nach kurzem Suchen zwischen mehr und minder vergilbten Schriftstücken einige eng beschriebene Blätter hervor, auf die er eine Zeitlang in schweigenden Gedanken niederblickte. Dann sagte er: »Dieser Brief ist vielleicht der persönlich inhaltsvollste von allen, die Sie hier sehen. Er ist an mich gerichtet. Die Dichterin, von der ich sprach, hat ihn mir geschrieben. Denn ich habe in ihrem Dasein eine kurze, aber bedeutungsvolle Rolle gespielt. Da sie längst nicht mehr atmet und mit dem wenigen, das sie hervorgebracht, verschollen und vergessen ist, so kann ich Ihnen das Erlebnis mitteilen, das jetzt mit allen Einzelheiten in der Erinnerung vor mir auftaucht.«


* * *


»Es war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Ich hatte schon damals angefangen, aus der Mode zu kommen. In meinem Schaffen war ein Stillstand eingetreten, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich neuen, glänzenderen Erscheinungen [38] zu. Dennoch verkehrte ich noch in der großen Welt, da sich einmal angeknüpfte Beziehungen nicht so leicht abbrechen lassen.

So fand ich mich auch bei einer Soiree ein, die noch nach Schluß der Saison in einem prachtliebenden plutokratischen Hause stattfand. Gleich bei meinem Eintritt kam der Hausherr, der mit seiner Gattin zum Empfang der Gäste nahe der Tür stand, auf mich zu. ›Sie können mir eine große Gefälligkeit erweisen‹, sagte er, mich vertraulich unter dem Arm fassend. ›Es ist heute eine junge Dame hier, die verwaiste Tochter eines höheren Beamten, mit dem einst mein Vater in Verbindung gestanden. Sie versucht sich als Schriftstellerin, und meine Frau, die sich für sie interessiert, bestand darauf, daß sie eingeladen werde. Ich dachte, sie würde sich entschuldigen lassen, denn sie lebt ganz zurückgezogen in bescheidensten Verhältnissen. Nun ist sie aber doch gekommen und dürfte sich unter den vielen ihr unbekannten Menschen ziemlich vereinsamt fühlen. Da wäre es denn sehr edel von Ihnen, wenn Sie sich ihrer ein bißchen annehmen wollten. Möglicherweise ist Ihnen auch ihr Name nicht mehr ganz unbekannt, da sie doch schon einiges veröffentlicht hat.‹

Es zeigte sich nun, daß ich wirklich eine Novelle in Erinnerung hatte, die in einer Tageszeitung erschienen und mir durch sehr lebendige Milieuschilderung angenehm aufgefallen war. Sie spielte irgendwo auf einem adeligen Gute und war offenbar unter dem Einflusse Turgenjews entstanden, der damals viel gelesen wurde. Auch hatte ich in einem poetischen Jahrbuche von derselben Verfasserin zwei Gedichte gefunden, die eine ungewöhnlich tiefe Empfindung bekundeten.

Obgleich ich der persönlichen Bekanntschaft mit Autoren beiderlei Geschlechtes immer gern aus dem Wege ging, so konnte ich jetzt doch nicht umhin, dem Hausherrn meine Bereitwilligkeit auszusprechen.

›Schön. Da werde ich Sie gleich vorstellen‹, sagte er und lenkte mich durch den bereits stark gefüllten Saal in ein Nebengemach, [39] wo sich sitzende und stehende Gruppen von Herren und Damen befanden. In der Ecke eines kleinen Sofas war eine weißgekleidete Frauengestalt zu erblicken, die eine rote Kamelie im schlicht gescheitelten blonden Haar trug. Sie befand sich im Gespräch mit einem noch sehr jungen Manne, einem nahen Anverwandten des Hauses, der neben ihr in einem Fauteuil saß. Es war eine Dichterin und ihr Nachbar erhob sich sofort wie erlöst, als jetzt die Vorstellung erfolgte. Ich nahm seinen Platz ein und sagte der Dame einiges Verbindliche über ihre mir bekannten Leistungen.

Sie errötete bis unter die Stirnhaare. ›Sie kennen also meine Versuche?‹ sagte sie mit vibrierender, etwas klangloser Stimme.

›Gewiß. Und ich kann nur wiederholen, daß sie mir sehr gefallen haben.‹

›Wirklich?‹ erwiderte sie unsicher. ›Ich selbst halte sehr wenig davon.‹

›Das ist ja ein gutes Zeichen.‹

›Meinen Sie? Es beweist doch nur Mangel an Selbstvertrauen. Und das ist immer notwendig, wenn man etwas hervorbringen will.‹

›Nun allerdings. Aber sehr oft haben gerade talentlose Leute das größte Selbstvertrauen.‹

›Das ist wahr. Die meisten Menschen überschätzen – oder belügen sich. Ich habe gelernt, gegen mich aufrichtig zu sein. Und da glaub ich, mir sagen zu müssen, daß meine Begabung nicht ausreicht. Ich kann nichts erfinden. Nur ganz Persönliche Eindrücke regen mich an.‹

›Das wäre ja das Richtiges‹, warf ich ein.

›Aber auch da gestaltet sich mir alles nur sehr langsam. Ich ringe mit dem Ausdruck – das Schreiben macht mir viel Mühe –‹

›Trösten Sie sich. Es ist manchem großen Schriftsteller so ergangen.‹

[40] ›Ich weiß. Und doch, wenn ich sehe, wie leicht und sicher andere Frauen Buch um Buch fertig bringen, da verzweifle ich. Es fehlt mir zwar nicht an Plänen und Entwürfen, aber ausführen kann ich sie nicht. Ich finde nicht die nötige Ruhe und Sammlung. Mein ganzes Leben –‹ Sie brach ab und blickte vor sich hin.

Wie sie so dasaß, etwa dreißigjährig, schmächtig und schmalschultrig, mit dem länglichen Gesicht und der stark entwickelten Nase, war sie keineswegs eine reizende Erscheinung. Aber sie hatte schöne, grünlich schimmernde Augen, und die Nase wies im Profil eine edle Linie. Zudem lag etwas Rührendes in der ganzen unscheinbaren Gestalt, und mit einer Art von Wehmut betrachtete ich ihr unmodisches Kleid, die sichtlich nur gemachte Blume in ihrem Haar und den alten, gebrechlichen Elfenbeinfächer, den sie in der Hand hielt.

Ein Diener trat heran und servierte Tee. Sie nahm eine Tasse und ein paar kleine Süßigkeiten.

Während sie den Tee schlürfte, erklangen im Saale die Töne eines Pianos.

›Mein Gott! Musik!‹ rief sie erschrocken aus und setzte die Tasse weg. ›Wenn nur nichts von Wagner gespielt wird!‹

›Warum?‹ fragte ich. ›Lieben Sie Wagner nicht?‹

›O ja. Seine Musik hat große Gewalt über mich. Aber sie regt auch meine Nerven fürchterlich auf!‹ Sie bewegte sich unruhig auf dem Sofa.

Inzwischen nahm drinnen das Tonstück seinen Fortgang.

›Es ist nicht von Wagner‹, sagte ich. ›Ich glaube, eine Sonate von Brahms –‹

›Nein, Wagner ist es nicht‹, erwiderte sie aufatmend. ›Ob Brahms, kann ich nicht sagen. Ich habe so wenig von ihm gehört. Überhaupt bin ich eigentlich ganz unmusikalisch.‹

Der Sonate folgten einige Lieder, von weiblicher Stimme gesungen.

Wir hörten schweigend zu. Mittlerweile aber waren viele [41] Personen, die mit uns im Zimmer gewesen, nach und nach in den Saal getreten, so daß wir uns jetzt fast allein befanden.

›Wollen wir uns nicht auch ein wenig die Gesellschaft ansehen?‹ fragte ich.

›O ja‹, sagte sie und erhob sich. ›Ich habe Sie ohnehin schon zu lange aufgehalten.‹

›Keineswegs. Es war mir ein Vergnügen, an Ihrer Seite verweilen zu können. Da wir aber schon einmal hier sind, so dürfen wir uns nicht allzu sehr auf die Sonderlinge hinausspielen.‹

Wir gingen also in den Saal, wo es jetzt, da die Musik beendet war, bunt und glänzend durcheinander wogte. Zwischen den prachtvollen Roben und funkelnden Geschmeiden der Damen nahm sich die Dichterin in ihrem ärmlichen Putz seltsam genug aus. Sie wurde auch von allen Seiten ziemlich befremdet angesehen; man wußte offenbar nicht recht, was man aus ihr machen sollte. Endlich trat die Hausfrau an sie heran, die nun angelegentlich mit ihr sprach und sie dann einer kleinen Gruppe älterer Damen vorstellte. Auch ich fand nähere Bekannte, die mich in Anspruch nahmen, und so verlor ich sie aus den Augen. Nach einer Weile erblickte ich sie wieder. Sie schien mich gesucht zu haben und kam jetzt auf mich zu.

›Ah, da sind Sie!‹ sagte sie. ›Ich will mich nur von Ihnen verabschieden.‹

›Sie wollen fort?‹

›Es ist schon spät, und ich habe einen weiten Weg nach Hause.‹

›Sie werden doch nicht allein gehen?‹

›Gewiß. Das bin ich gewohnt. Aber so nach Mitternacht wäre es mir doch nicht angenehm.‹

›Mit Ihrer Erlaubnis würde ich mich Ihnen sehr gern anschließen.‹

›Das kann ich nicht zugeben. Sie hatten wahrscheinlich vor, bis zu Ende zu bleiben.‹

[42] ›Keineswegs. Ich hatte die Absicht, mich noch vor dem Souper zu entfernen, das sich hier immer sehr in die Länge zieht. Wissen Sie was? Nehmen wir ein paar Bissen beim Büffet und dann gehen wir.‹

Sie war es zufrieden, und wir suchten das Büffetzimmer auf, das ganz leer war, da die Stunde des Soupers doch schon heranrückte. An einem kleinen Tische nahmen wir Platz, und ich ließ durch einen noch anwesenden Diener Sandwiches und kalten Aufschnitt herbeibringen. Auch zwei Gläser Médoc, davon eine Flasche entkorkt bereit stand.

Unser Mahl war rasch beendet. In der Garderobe, die sich unten im Vestibül befand, nahm meine Begleiterin ein leichtes dunkelblaues Mäntelchen um und hüllte den blonden Scheitel in ein weißes Schleiertuch.

›Wo wohnen Sie?‹ fragte ich vor dem Tore des Palais, wo immer Mietwagen zur Verfügung waren.

›Auf der Wieden – weit draußen in der Nähe des Belvederes.‹

›Gestatten Sie, daß ich einen Wagen nehme?‹

›Ach nein. Wenn es Ihnen nicht zu entlegen ist, so gehen wir lieber. Die Nacht ist so schön.‹

Sie war es wirklich: eine echte mondbeglänzte Mainacht. Im Helldunkel der Anlagen längs der Ringstraße stand alles in Blüte: Kastanien, Flieder, Goldregen. Schimmernde Farben, wehende Düfte.

Ich hatte ihr den Arm geboten, und wir schritten nebeneinander hin.

›Nun, wie haben Sie es heute abend gefunden?‹ fragte ich.

›Gefunden? Mein Gott, ich hatte ja nichts erwartet. Vielmehr bin ich wieder so recht zur Überzeugung gelangt, daß ich in solch eine Gesellschaft nicht passe. Ich wollte eigentlich auch gar nicht hingehen und entschloß mich nur dazu, um die Hausfrau, die sich meiner freundlich annimmt, nicht zu [43] verletzen. Trotzdem würde ich es jetzt sehr bereuen, wenn ich nicht so unverhofft Ihnen begegnet wäre.‹

›Auch ich hatte diese Begegnung nicht vermutet und freue mich darüber. Hoffentlich setzt sich unsere Bekanntschaft fort.‹

›Sollten Sie das wirklich wünschen?‹ fragte sie, indem sie die Augen forschend zu mir aufschlug.

›Gewiß. Ich glaube, wir sind beide einsame Menschen, die vielleicht bestimmt wären, sich aneinander zu schließen.‹

Ihr Arm zitterte leicht unter dem meinen.

›Sie sind also einsam?‹ sagte sie nach einer Pause. ›Ich hätte eher das Gegenteil vermutet.‹

›Man macht sich von anderen oft ganz unrichtige Vorstellungen. Vielleicht irr' ich mich auch in Ihnen.‹

›In jener Hinsicht gewiß nicht.‹

Es trat wieder ein Schweigen ein. Die weitgedehnte Straße lag in nächtlicher Ruhe da. Die Trambahn klingelte nicht mehr; nur wenige Wagen, nur wenige Menschen kamen an uns vorüber.

Plötzlich war in einiger Entfernung vor uns ein junges Paar zu bemerken, das aus einer Seitengasse eingebogen sein mußte. Zwei hohe, schlanke Gestalten, die sich im Gehen zärtlich aneinander schmiegten und jetzt einen Augenblick stillhielten, um sich flüchtig zu küssen.

›Sehen Sie dort?‹ sagte ich. ›Zwei Glückliche!‹

›Ja‹, erwiderte sie. ›Aber wer weiß, auf wie lange.‹

›Nun, jedem Glück ist schließlich eine Zeitgrenze gesetzt. Wenn man es nur einmal wirklich genossen hat!‹

›Ich habe es nie genossen.‹

›Nie?‹

›Nein. Denn ich bin niemals geliebt worden. Das heißt –‹ Sie unterbrach sich.

Ich erwiderte nichts. Aber eine eigentümliche Empfindung überkam mich. Auch ich war ja eigentlich niemals geliebt worden. Alle meine bisherigen Beziehungen zu den Frauen waren halbe geblieben, hatten mir mehr Qual als Glück gebracht. Wenn [44] ich nun hier das weibliche Herz, die weibliche Seele gefunden hätte, nach der ich mich immer gesehnt ...

Ich blickte auf ihr Antlitz nieder, das vom hellen Mondlicht verklärt wurde. ›Und wenn ich Sie lieben würde?‹ sagte ich, ihren Arm sanft an mich drückend.

Ich fühlte jetzt, wie sie im Innersten erbebte. ›Sie würden mich nicht lieben‹, erwiderte sie und wandte das Haupt ab.

Wir waren inzwischen auf dem Schwarzenbergplatz angekommen und lenkten der Heugasse zu, an deren oberem Ende sie wohnte.

›Also, wann seh' ich Sie wieder?‹ fragte ich, als wir uns dem Hause näherten.

Sie kämpfte offenbar mit sich selbst; es schien, als wolle sie sagen: niemals! Dann aber plötzlich mit vor Erregung zitternder Stimme: ›Wann Sie wollen! Bei mir kann ich Sie nicht empfangen, denn ich wohne sehr eingeschränkt bei Bekannten zur Miete. Aber drüben im Belvedere können wir zusammentreffen. In dem kleinen Nebengarten, wo der Pavillon steht. Sie wissen doch? Dort ist es in den Mittagsstunden ganz einsam.‹

›Also morgen – oder eigentlich heute, bald nach Zwölf.‹

›Ja‹, sagte sie und zog die Klingel. Dann reichte sie mir die Hand, die ich festhielt.

Wir hörten kommen. ›Gute Nacht!‹ sagte ich.

›Gute Nacht!‹ erwiderte sie mit gedämpfter Stimme und einem: letzten Drucke der Hand. Das Tor wurde geöffnet und hinter ihr geschlossen.

Als ich jetzt allein war und dem Stadtteil zuschritt, in dem ich damals wohnte, überkamen mich allmählich drückende Gedanken. Etwas wie Reue beschlich mich. Hatte ich mich da nicht zu einer vorschnellen Erklärung hinreißen lassen? Zu einer Erklärung, die ich kaum vor mir selber, noch weniger aber dem Weibe gegenüber verantworten konnte, dem ich sie getan? Würd' ich es wirklich lieben können? Bis jetzt hatte mich bei den Frauen [45] immer nur Schönheit angezogen und gefesselt. Und die Dichterin war nicht schön. Aber in ihrem ganzen Wesen lag etwas, das mich rührte, das mich ergriff. Und sie hatte ja schöne Augen und, wie ich im Büffetzimmer, wo sie die Handschuhe abgestreift hatte, bemerken konnte, auch schöne Hände. Und noch edlere, höhere Reize waren ihr zu eigen! Sie besaß Geist, Tiefe der Empfindung – und war, das fühlte ich, inniger Hingebung fähig. Dieses Bewußtsein hob wieder meine gesunkene Zuversicht. Als ich zu Bett gegangen war, kamen mir vor dem Einschlafen zwei Verse in den Sinn, die ich einmal irgendwo, ich glaube in einem Album, gelesen hatte:


Größer als die Sehnsucht, selbst zu lieben, Ist die Sehnsucht, sich geliebt zu sehn!

2.

II.

Dennoch war meine Stimmung keine ganz freie, als ich mich gegen Mittag auf den Weg nach dem Belvedere machte, und mit einer gewissen Befangenheit trat ich in den bezeichneten Garten, wo die Dichterin bereits in sichtlicher Erwartung nahe beim Pavillon auf einer Bank saß. Diese Befangenheit schwand aber, als sie sich jetzt erhob und mir zur Begrüßung entgegenschritt. Denn sie sah, mit bescheidenen Mitteln herausgeputzt, ganz anmutig aus. Sie trug ein hellgraues Kleid mit weißer Garnierung, und ein blaubebändertes Strohhütchen ließ ihr ganz gut zu den blonden Haaren und dem vor innerer Erregung rosig gefärbten Antlitz. Ich hatte mich jedoch kaum neben ihr niedergelassen, als auch schon mein scharfes und verwöhntes Auge Einzelheiten an ihr wahrnahm, die meinen Schönheitssinn aufs empfindlichste verletzten. Ich bemerkte vor allem leicht verkrüppelte, abstehende Ohren, die gestern irgendwie verdeckt gewesen sein mochten; ich bemerkte ein haarloses Genick, ein Mangel, der mich bei Frauen seit jeher höchst unangenehm berührt hatte. Ich nahm trockene, gewissermaßen verlechzte [46] Lippen wahr, die fahle Zähne sehen ließen, und selbst die schönen Augen wurden mir dadurch verleidet, daß der blonde Brauenwuchs darüber sehr spärlich und mit Kohle nachgedunkelt war. Überhaupt trat jetzt im vollen Tageslicht das körperlich Unzulängliche der ganzen weiblichen Erscheinung immer deutlicher hervor. Natürlich trachtete ich, all diese Eindrücke in mir zu überwinden. Jedenfalls wollte ich sie nicht merken lassen und versuchte einen herzlich intimen Ton anzuschlagen. Aber ich war so aus der Fassung gebracht, daß ich eigentlich gar nicht mehr wußte, was ich sagen sollte. In meiner Verwirrung fragte ich die Dichterin, wie sie geschlafen habe, kam wieder auf den gestrigen Abend, kam wieder auf ihre Arbeiten zurück – kurz ich sprach von allem möglichen, nur von dem nicht, was sie erwartet haben mochte, erwartet haben mußte. Diese Enttäuschung drückte sich auch in ihrem Gesicht aus, der immer ernster, immer farbloser wurde. Sie gab, mit starren Augen vor sich hinblickend, sehr einsilbige Antworten, so daß unsere Unterhaltung schon in ein peinliches Stocken geriet.

Mittlerweile aber war eine alte Frau in dem Garten erschienen, in dem wir bis jetzt allein gewesen, und hatte sich ganz nahe bei uns auf eine Bank niedergelassen. Sie zog aus ihrem Tragbeutel Strickzeug hervor und begann emsig mit den Nadeln zu hantieren, wobei sie uns jedoch nach Art unfeiner Leute mit rücksichtsloser Neugierde im Auge behielt.

›Das ist unerträglich!‹ sagte endlich die Dichterin, indem sie rasch aufstand. ›Gehen wir doch lieber hinunter in das Kastanienrondell, dort ist es auch schattiger.‹

›Oder vielleicht in die Gemäldegalerie?‹ warf ich ein. ›Es ist, glaube ich, heute Eintrittstag.‹

›Auch das, wenn Sie wollen‹, erwiderte sie gereizt.

Wir traten also hinaus und bewegten uns schweigend den Stufen zu, die zum Schlosse hinanführen. Gleich bei unserem Eintritt war zu bemerken, daß die Galerie nur wenig besucht war. Auf den kühlen Marmorfliesen des [47] Vorsaales angelangt, blickten wir unschlüssig nach rechts und nach links.

›Gehen wir zu den Italienern?‹ fragte ich, da ich wahrnahm, daß diese Abteilung einigermaßen von Menschen belebt war.

›Ach, sehen wir uns die Niederländer an‹, erwiderte sie.

Wir bogen also nach links ein, und es zeigte sich, daß wir die einzigen in der weiten Zimmerflucht waren.

Zerstreuter sind die herrlichen Bilder wohl noch nie betrachtet worden, als jetzt von uns. Ich blieb endlich, um ihn näher ins Auge zu fassen, vor einem Rembrandt stehen; sie aber ging gleich voraus in den Rubenssaal und ließ sich auf den rotsamtenen Puff nieder, der in der Mitte stand. Nach einer Weile folgte ich ihr, und während ich jetzt neben ihr saß, ließ ich die Blicke über die Gestalten des großen Vlämen schweifen, die uns geheimnisvoll umschwiegen.

›Eigentümlich‹, sagte sie. ›In meiner Jugend haben diese Bilder viel mächtiger auf mich gewirkt. Damals erschien mir Rubens als der größte Maler, den es je gegeben, wie ich denn überhaupt die Niederländer, ihres kräftigen Realismus wegen, den Italienern vorzog. Im Laufe der Jahre bin ich freilich davon zurückgekommen.‹

›Ach ja‹, sagte sie wie abwesend und legte dabei ihre Hand auf die meine.

Ich fühlte bei dieser Berührung gar nichts, aber ich konnte jetzt doch nicht umhin, mit einem leisen Drücken ihrer Hand zu erwidern. Kaum war dies geschehen, als sie mir auch schon mit geschlossenen Augen halb an die Brust sank, das Antlitz an meiner Schulter bergend.

Ich war nahe daran, eine abwehrende Bewegung zu machen. Aber was blieb mir in dieser Situation übrig, als still zu halten? Ihre hingebende Wallung in irgendeiner Weise zu erwidern, war mir jedoch unmöglich.

So verharrten wir einige Augenblicke. Plötzlich schnellte sie empor und eilte hinaus. Ich ihr nach.

[48] ›Wohin wollen Sie?‹ rief ich.

Sie war schon im ersten Zimmer angelangt. Dort wandte sie sich um und machte eine heftig abwinkende Gebärde. ›Nein! Nein! Folgen Sie mir nicht! Leben Sie wohl!‹ Dabei rannte sie fast an einen dicken Herrn an, der eben, einen roten Bädeker in der Hand, eingetreten war und ihr jetzt sehr verwundert nachblickte. In großer Verlegenheit schritt ich an ihm vorüber und konnte draußen im Vorsaal noch gewahren, wie sie fluchtartig die Treppe hinabeilte.

Sollte ich sie nicht doch einzuholen trachten? Ich wollte es auch. Aber schon auf der Treppe hielt ich an. Nein! Wozu? An eine Wiederannäherung war ja nach diesem Vorfall nicht mehr zu denken. Und so war es vielleicht ein Glück zu nennen, daß der Bruch so rasch stattgefunden hatte. Sie konnte ja noch keine tiefere Neigung zu mir gefaßt haben. Nur ein unbezwinglicher Ausbruch leidenschaftlichen Temperaments war es gewesen, der sie mir an die Brust sinken ließ. Aber wie beschämt mußte sie sich jetzt fühlen! Wie gedemütigt! Und nur durch meine Schuld! Ich machte mir die bittersten Vorwürfe und sann hin und her, wie ich alles einigermaßen wieder gut machen könnte. Sollte ich ihr eine schriftliche Selbstanklage zukommen lassen? Aber hieße das nicht den Stachel nur noch tiefer drücken?

In dieser quälenden Gedankenrast verbrachte ich den Rest des Tages auf meinem Zimmer. Spät abends aber wurde mir durch einen Dienstmann der Brief überbracht, den ich Ihnen jetzt vorlesen will.«


* * *


»Mein heutiges Benehmen wird Ihnen, dem Menschenkundigen, keineswegs rätselhaft erscheinen. Wenn ich es jetzt doch mit diesen Zeilen näher zu erklären und auch des weiteren auseinanderzusetzen suche, so geschieht es vor allem, um Sie möglicher Selbstvorwürfe zu entlasten. Dann aber, weil ich Sie vollständig mit dem Unglück meines Lebens vertraut machen will.

[49] Ich habe Ihnen gesagt, daß ich niemals geliebt worden bin. In den Augen der Welt wird dies nicht gerade als besonderes Unglück erscheinen. Wie viele Frauen gibt es, die nicht geliebt werden! Auch sind ihrer nicht wenige, die gar kein Verlangen danach tragen. Das heißt, nicht in dem Sinne, wie ich es verstehe. Sie wollen gefallen, sich bei anmutigen Flirten unterhalten – und sich schließlich angemessen verheiraten. Daß sie dann wünschen und fordern, ihr Mann möge sie gern haben, ihnen die eheliche Treue bewahren, ist selbstverständlich. Leidenschaftliche Emotionen aber, allzu heißblütige Zärtlichkeiten begehren sie – wenigstens auf die Dauer – nicht, ja sie werden ihnen sehr oft unangenehm und lästig. Hingegen gibt es weibliche Naturen, die mit einem intensiven, nie sich erschöpfenden Hange zum Manne behaftet sind. Und das sind die Unglücklichen, wenn sie nicht jene Eigenschaften besitzen, die imstande sind, die Männer anzuziehen. Das Los solcher armen Geschöpfe hat Karl Beck mit wenigen Worten ebenso treffend wie ergreifend gekennzeichnet:


›Wenn je das Schicksal fluchen will,

So gibt es einem Weib

Ein Herz begehrend tief und still,

Doch ohne Reiz den Leib.‹


Zu diesen Fluchbeladenen gehöre auch ich. Es hat lange gebraucht, bis ich dahin kam, mich zu ihnen zu rechnen. Denn in meiner Jugend galt ich allgemein, wenn nicht für schön, so doch für hübsch, und wenn ich in den Spiegel blickte, glaubte ich mehr Reize zu besitzen, als so manche meiner Altersgenossinen, die ich aufs eifrigste umschwärmt sah. Die schlimmsten Erfahrungen, die bittersten Enttäuschungen waren notwendig, um mich von diesem Wahne zurückzubringen.

Schon als ich noch ein Kind von zehn oder elf Jahren war, hatte sich jener unselige Hang in mir geregt. Man wird ihn also einen krankhaften nennen können. Aber wer kann dafür, daß ihm krankhafte Triebe innewohnen? Ist man denn vor eine Wahl gestellt? Aber immerhin ...

[50] Also schon als Kind empfand ich Liebessehnsucht. Und diese Sehnsucht fand auch bald ihren Gegenstand in der Person eines schönen Knaben, der sehr oft zu einer uns verwandten Familie kam. Er war ein Schulkamerad des Sohnes, der drei Schwestern hatte. Diese Schwestern besaßen nun wieder Freundinnen, und so kam es, daß dort an Sonn- und Feiertagen immer ein großer Kinderkreis versammelt war. Da zeigte sich auch, wie früh bei den Menschen, wenn auch ganz unbewußt und harmlos, die Aggregate der Liebe zutage treten. Die Mädchen rissen sich bei gemeinsamen Spielen förmlich um den schönen Robert, der es schon verstand, diese unschuldigen Regungen sich zunutze zu machen, indem er sehr oft die Gespielinnen der Reihe nach umhalste und küßte, oder sonst ein tolles Wesen mit ihnen trieb. Nur mich übersah oder überging er. Und wenn ich mich schüchtern an ihn herandrängte, sah er mich eine Weile an und sagte dann, indem er mir flüchtig die Wange streichelte: ›Nun ja, du bist ja meine liebe Martha‹. Ich war darüber tief unglücklich, und wenn ich nach Hause kam – ich war das einzige Kind meiner Eltern – weinte ich vor dem Einschlafen still in mein Kopfkissen hinein. Diese vorzeitigen Qualen dauerten übrigens nicht lange. Man war in jener Familie auf das Treiben aufmerksam geworden und wußte den Knaben fern zu halten. So beruhigte ich mich wieder, und in den Jahren meiner Entwicklung bewegte sich meine Sehnsucht im Reich der Träume, die nach und nach in teils unerwiderte, teils durch äußere Umstände wenig begünstigte Neigungen übergingen. Erst in reiferem Mädchenalter sollte ich endlich heiraten. Es war jemand in unserem Hause erschienen, der sich bemühte, meine Gunst zu erwerben. Ein junger Görzer, Doktor der Rechte, der im Bureau meines Vaters arbeitete. Dieser hielt viel von ihm, und da er seine Absichten bemerkte, so hatte er um so weniger dagegen einzuwenden, als der Freier aus angesehener Familie und auch nicht ohne Vermögen war. Wir verlobten uns. Daß es dem jungen Manne vielleicht nur darum zu tun war, seine bis jetzt noch provisorische [51] Stellung im Ministerium zu festigen und zu fördern, fiel mir nicht ein, obgleich es mir seltsam vorkam, daß er auch jetzt noch in den Schranken zarter Aufmerksamkeit verblieb und intimere Vertraulichkeiten, wie sie unter Verlobten üblich sind, fast ängstlich vermied. Ja, er wehrte sie sogar ab, wenn ich mich dazu hinreißen lassen wollte. Wie gesagt, das befremdete mich. Aber ich suchte es mit einer strengen Ehrenhaftigkeit in Einklang zu bringen, die es ihm verbot, mir vor der Hochzeit näher zu treten. Diese sollte nun stattfinden. Das Aufgebot war erfolgt, Tag und Stunde der Trauung festgesetzt. Die Hochzeitsgäste, darunter auch ein Onkel des Bräutigams, dessen Vater durch ein schweres Leiden in Görz zurückgehalten wurde, hatten sich bereits teils bei uns, teils in der Kirche eingefunden – aber der Bräutigam fehlte. Mit Kranz und Schleier stand ich erwartungsvoll da, alles befand sich in größter Spannung, und schon wurde vom Pfarrer, der uns trauen sollte, jemand abgesandt, um nach dem Grunde der Verzögerung zu forschen, als ein in Görz aufgegebenes Telegramm an den Onkel eintraf: ›Heirat unmöglich‹. Meine Bestürzung, das allgemeine Erstaunen können Sie sich vorstellen. Man vermochte sich diesen plötzlichen Rücktritt in zwölfter Stunde nicht zu erklären und riet auf eine momentane geistige Störung. Als aber von dem Abtrünnigen ein Brief kam, des kurzen Inhalts: er sähe zwar ein, daß man ihm nie und nimmer verzeihen werde, gäbe jedoch die heilige Versicherung, daß er nicht anders habe handeln können, da glaubte man wieder an ein physisches Gebrechen, das den jungen Mann verhindere, die Ehe einzugehen. Ich selbst neigte mich dieser Annahme um so williger zu, als sie eine dunkle Ahnung in mir beschwichtigte, daß sich bei ihm nach und nach eine tiefe körperliche Abneigung gegen mich festgesetzt habe. Er selbst aber verzichtete nunmehr auch auf seine Stellung in Wien und widmete sich in seiner Vaterstadt der Advokatur.

Bald nach diesem peinlichen Vorfalle starb meine Mutter, die seit langem gekränkelt hatte. Ich bezog nun mit meinem [52] Vater eine andere Wohnung. Sie befand sich am Heumarkt. Die Nähe der dortigen Kasernen brachte es mit sich, daß dieser oder jener Offizier auf mich aufmerksam wurde und mir zu Gefallen öfter an dem Hause vorüberging. Auch ein Major, schon ein älterer Mann, aber hoch und schlank gewachsen, wie er war, eine vornehme, interessante Erscheinung. Er gefiel mir – und ich ließ es ihn merken. So dauerte es nicht lange, daß er mir, als ich eines Tages – es war im Winter – allein nach der Stadt ging, auf der Straße folgte und mich ansprach. Wir trafen uns nun öfter – und schließlich schlug er mir eine Zusammenkunft in seiner Wohnung vor. Nach allem Bisherigen werden Sie nicht zweifeln, daß ich, wenn auch nach längerem Widerstände, darauf einging. Er erwartete mich in abendlicher Dunkelheit, und dicht verschleiert wankte ich an seinem Arm zum ersten Stockwerk der Kaserne empor. In einem Zimmer, das nur von flackernder Ofenglut unsicher beleuchtet war, nahm er mir rasch Hut und Mantel ab und zog mich mit sich auf ein Sofa. Meiner Sinne nicht mächtig, bestürmt von dem Doppelgefühl der Scham und des Verlangens, schloß ich die Augen, und unsere Lippen begegneten sich. Aber schon nach den ersten Zärtlichkeiten ließ er von mir ab und rückte zur Seite. Eine Weile blieb er sitzen, dann stand er auf und zündete einen Armleuchter an. ›Mein Fräulein‹, sagte er, mit ernster Miene vor mich hintretend, ›ich war im Begriff, ein Verbrechen zu begehen. Ja, so muß ich es nennen, denn aus mehrfachen Gründen hätte ich Sie doch nie und nimmer zu meiner Frau machen können. Mein besseres Selbst hatte sich im letzten Augenblick geregt, und ich kam zur Besinnung. Verzeihen Sie, daß ich mich von meinem heißen Blute habe hinreißen lassen. Ich bereue es tief.‹

Ich blieb regungslos und gab keine Antwort. Er aber schritt langsam im Zimmer auf und nieder. Endlich sagte er, meinen Mantel aufnehmend: ›Ich glaube, es ist Zeit, daß Sie an den Heimweg denken.‹ Ohne etwas zu erwidern, erhob ich mich. Er legte mir den Mantel um und reichte mir den Hut, [53] den ich mechanisch aufsetzte. Den Schleier ließ er selbst herab, dann bot er mir den Arm und führte mich auf die Straße, wo er sich mit einem ehrerbietigen Handkusse von mir verabschiedete.

Mit welchen Empfindungen ich nach Hause gekommen war, wie ich die Nacht verbracht, davon hab' ich jetzt selbst keine deutliche Vorstellung mehr. Doch am nächsten Tage schrieb ich dem Major einen Brief voll leidenschaftlicher Selbstanklagen – aber auch voll leidenschaftlicher Vorwürfe, die ihn erkennen lassen mußten, wie sehr ich ihn liebe – und daß ich ihm bedingungslos angehören wolle. Es erfolgte keine Antwort. Und als ich hierauf, alles um mich her vergessend, am hellen Tage zu seiner Wohnung hinanschritt, erhielt ich von dem Diener den Bescheid, der Herr sei nicht anwesend, er habe sich auf eine Dienstreise begeben. Das war erlogen. Denn schon am nächsten Vormittag sah ich ihn, wie er, an der Spitze seiner Abteilung reitend, von einer Übung zurückkehrte.

Wer weiß, was ich, im tiefsten verwundet, an allen Nerven gereizt, noch würde unternommen haben, wenn mein Vater nicht plötzlich erkrankt und gestorben wäre. Nun stand ich da, gänzlich verwaist und auch der Lebenssorge preisgegeben. Denn er war immer auf seinen Gehalt eingeschränkt gewesen. Die geringen Ersparnisse, die er zurückgelegt, hatte er, wahrscheinlich aus Sorge für meine Zukunft, zu Spekulationen verwendet, die, wie sich jetzt herausstellte, vollständig mißglückt waren. In dieser plötzlichen Hilflosigkeit und nur auf eine zu erhoffende geringe Gnadengabe angewiesen, wurde mir, als der Frühling kam, von befreundeter Seite der Vorschlag gemacht, die Stelle einer Erzieherin bei einer adeligen Familie in Ungarn anzunehmen. Es würden keine besonderen pädagogischen Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt; man wünsche nur eine Dame aus gutem Hause, die den noch in zartem Alter stehenden Kindern die deutsche Umgangssprache vermittle. Nach kurzer Bedenkzeit ging ich darauf ein, denn ich fühlte, daß mir eine andere Umgebung, eine andere Lebensluft notwendig sei. Ich brach also nach dem Gute auf, [54] das sich nicht auf einer Pußta, sondern in einer ganz anmutigen Gegend Oberungarns befand. Ich wurde dort in nationaler, das heißt, höchst ungezwungener Weise empfangen, noch mehr aber durch den Anblick des Ehepaares überrascht. Denn man konnte sich kaum etwas Schöneres vorstellen, als die beiden stattlichen, blühenden Gestalten, die sich gewissermaßen um den Vorrang in der Erscheinung stritten. Auch die Kinder, zwei Mädchen von acht und sechs Jahren, waren reizende Geschöpfe. Als wir beim Abendbrot saßen, berührte es mich sehr seltsam, daß mich der Gutsherr, ohne auf die Anwesenheit seiner Frau die geringste Rücksicht zu nehmen, oft sehr eindringlich, ja mit begehrlichen Blicken betrachtete. Am nächsten Tage beim Frühstück und am Mittagstisch setzte er dieses Benehmen, ohne viel zu sprechen, nur noch auffallender fort, so daß ich ganz verwirrt wurde und nachts keine Ruhe finden konnte. Ich hatte die Kinder, die nebenan schliefen, zu Bett gebracht, ich aber lag vor innerer Erregung wach in dem meinen. Da sah ich beim fahlen Schein eines Nachtlichtes, wie die Eingangstür meines Zimmers aufging und ein Mann – der Gutsherr – lautlos hereintrat. Ich stieß einen leichten Schrei aus. ›Pst!‹, lispelte er, den Finger an den Mund legend, ›wecken Sie die Kinder nicht.‹ Und schon war er an mich herangekommen, hatte mich umfangen, und sein heißer Atem umquoll mir Stirn und Wangen...

Ich war wieder allein. Das Nachtlicht erlosch allmählich und der Morgen begann durch die Spalten der Vorhänge zu dämmern. Mit der Empfindung einer erlittenen Gewalttat lag ich da – und dennoch durchschauerte mich ein unsägliches Wonnegefühl. Wie konnte er nur? Im Besitze einer so schönen Frau! Liebte er sie nicht? Oder hätte ich, ohne es zu ahnen und noch weniger zu wollen, den Sieg über sie davongetragen? Mein lang unterdrücktes Selbstgefühl regte die Schwingen und trug mich weit über das Vorgefallene empor. Ich erwog gar nicht, wie sich nun alles gestalten würde, und ging fast leichten Sinnes mit den Kindern zum Frühstück hinunter. Er war noch nicht da, nur [55] die Frau. Als er kam, begrüßte er mich kalt und förmlich. Das befremdete mich nicht sehr, denn ich fand es begreiflich, daß er sich vor den anderen nichts wollte merken lassen. Während des Frühstückes aber suchte mein Blick mehrmals den seinen. Er schien es nicht zu bemerken und sah gleichgültig über mich hinweg. Bei den späteren gemeinsamen Mahlzeiten verhielt er sich ebenso, und als ich einige unverfängliche Worte an ihn richtete, erwiderte er sie kaum. Nun befiel mich eine tiefe Seelenangst – und in marternder, ungewisser Erwartung, mit hochklopfendem Herzen durchwachte ich die Nacht. Aber der Morgen dämmerte wieder durch die Ritzen der Vorhänge – und er war nicht erschienen. Einige Tage vergingen so – ich ertrug es nicht länger. Eines Morgens war ich unter dem Vorwande, etwas vergessen zu haben, in das Frühstückszimmer zurückgekehrt, wo er, wie gewöhnlich allein geblieben, rauchend die Zeitung las.

Wankend vor innerer Erregung war ich eingetreten.

›Was wünschen Sie?‹ fragte er, leicht aufblickend.

Ich mußte mich an eine Stuhllehne halten. ›Was ich wünsche?‹ erwiderte ich mit zitternder Stimme. ›Sie dürften es sich wohl denken können.‹

›Ich denke mir gar nichts‹, sagte er kurz.

Ich hatte mich inzwischen einigermaßen gefaßt, und der Zorn, der in mir bei seinem brutalen Wesen aufstieg, überwand meine zitternde Befangenheit. ›Sie sind mir eine Erklärung schuldig‹, sagte ich.

›Welche Erklärung?‹

›Was nun geschehen soll?‹

›Was soll denn geschehen?‹

›Nun, wenn Sie das nicht wissen –‹

›Ich weiß gar nichts. Sie gefallen mir einfach nicht. Sie hätten das schon merken können. Ich ersuche Sie also, mich in Ruhe zu lassen.‹

Es verschlug mir den Atem. Ich rang nach Worten, konnte sie aber nicht finden. ›Das ist zu viel!‹ stieß ich endlich hervor und brach in Tränen aus.

[56] Er erhob sich mit halbem Leibe. ›Keine Szene, wenn ich bitten darf! Sonst sind Sie die längste Zeit hier gewesen.‹

›Elender!‹ rief ich aus, wandte mich und ging.

In meinem Zimmer brach ich zusammen. Das Mädchen, das um die Kinder war, mußte mich laben, bis ich mich einigermaßen erholt hatte. Nun aber galt es, meiner Pflicht nachzukommen und mit den Kindern in den Park zu gehen, wo ich ihnen auf einer erhöhten, von alten Linden beschatteten Stelle vorzulesen pflegte. Weiter unten dehnte sich ein großer, mit Wasserpflanzen bedeckter Teich aus. Als wir dort angelangt waren, sagte ich den Mädchen, daß ich starke Kopfschmerzen hätte und sie heute selbst lesen müßten. Als sie sich dazu angeschickt hatten, schritt ich an den Teich hinunter und begann ihn zu umschreiten. Da hinein! rief es in mir. Da hinein – es bleibt mir nichts anderes übrig nach der unerhörten Schmach, die ich erlitten! Und nicht eigentlich diese war es, was mein Innerstes wie mit Schlangenbissen marterte. Das brutale Wort: ›Sie gefallen mir nicht!‹ hatte wie ein Blitz alles Vergangene erhellt: ich war ein Weib, das nicht gefiel, das Abscheu erweckte! Ich erschien mir selbst als ein Zerrbild, als ein häßliches Unding, das vernichtet werden mußte. Also da hinein! Da hinein!

Ein Gärtner ging zufällig vorüber. Ich wußte, daß er etwas deutsch verstand, und fragte ihn, ob der Teich tief sei. Der Mann bestätigte es mit der Warnung, ich möchte nur die Kinder in acht nehmen.

Gut, dachte ich bei mir – heute Nacht! Als ich mich aber, während alles im Kastell schlief, hinuntergeschlichen hatte, fand ich nicht die Kraft, nicht den Mut, es zu tun. Der Mond stand so mild über den dunklen Wipfeln; ringsum war tiefe, selige Ruhe ausgebreitet. Und ich Unselige sollte jetzt hinein in die schlammige Flut, in die umstrickenden Wasserpflanzen! Ich schauderte. Das Leben in mir sträubte sich gegen den Tod. Nein, ich konnte es nicht! Doch fort von hier – fort ohne Aufschub! [57] Aber wie? Sollte ich entfliehen gleich einer Verbrecherin? Konnte ich einen kaum eingegangenen Vertrag so ohne weiteres brechen? Diese Erwägungen verursachten mir neue Qualen; ich wußte nicht mehr, was ich tun, was ich lassen sollte.

Merkwürdig genug befreite mich am nächsten Morgen die Frau des Gutsherrn – er selbst war beim Frühstück nicht erschienen – aus diesem grausamen Zwiespalt. ›Liebes Fräulein,‹ sagte sie mit einem Lächeln, das ich nie vergessen werde, ›ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir uns infolge unvorhergesehener Umstände entschlossen haben, eine Reise anzutreten und dann für den Rest des Sommers ein Seebad aufzusuchen. Mitnehmen können wir Sie leider nicht, denn wir werden uns doch ein wenig einzuschränken haben. Ich bitte sie aber, ein halbjähriges Salär anzunehmen, damit Sie sich ohne Sorge nach einer anderen Stelle umsehen können.‹ Zum Glück war ich in der Lage, dieses Salär ablehnen zu können, und erwiderte, daß die Eröffnung nur meinem eigenen Wunsche entgegenkäme, da ich in Wien eine wichtige Angelegenheit durchzuführen hätte. So war ich frei und reiste noch am selben Tage ab. Während der langen Eisenbahnfahrt befand ich mich fast die ganze Strecke allein im Coupé. Wie ich nun so, in mich versunken, durch die geöffneten Fenster in die wechselnde Gegend hinausblickte, durchzuckte mich plötzlich der Gedanke, das entsetzliche Erlebnis zu einem Roman oder einer Erzählung zu gestalten. Ich hatte immer viel gelesen; aber nie hatte ich den Drang empfunden, mich schriftstellerisch zu versuchen. Nun aber war ich von diesem Drang unwiderstehlich erfaßt worden, und kaum in Wien angelangt, machte ich mich an die Arbeit. Da hatte ich aber gleich das Gefühl, daß ich das Ganze nicht so grell und graß, nicht so roh und unvermittelt hinstellen dürfe. Es galt, so schien es mir, seelisch tiefer zu motivieren, feinere Übergänge zu finden – kurz zu idealisieren, vor allem die Heldin, die ich ja selbst war. Das versuchte ich auch und nur rein Äußerliches [58] behielt ich fast unverändert bei. Dadurch aber bekam die Geschichte, die Sie ja kennen, etwas Halbes, Verfälschtes, Verlogenes. Sie befriedigte mich daher auch keineswegs, noch weniger aber befreite sie mich. Dennoch sandte ich das Manuskript an eine Redaktion, die es mit einer schmeichelhaften Erwiderung annahm und auch gut honorierte. Eine neue Lebensbahn schien mir eröffnet zu sein. Ich betrat sie mit um so froherer Zuversicht, als die Befürchtung möglicher Folgen jener unseligen Nacht geschwunden war. So kam ich denn auch mit einigen literarischen Kreisen in Berührung. Es mangelte da nicht an Männern, die sich für mich interessierten und mir in dieser oder jener Weise näher treten wollten. Aber schon nach kurzer Zeit zog sich jeder zurück. Obgleich ich nach all dem Erlebten in meinem Selbstgefühle schon aufs tiefste erschüttert war, konnte ich doch noch immer nicht fassen, nicht begreifen, daß es mir ganz unmöglich sein sollte, auch nur einen einzigen an mich zu fesseln. Ich wußte und sah ja, daß selbst häßliche, alternde, ja sogar gealterte Frauen Leidenschaften erweckten – warum gerade ich nicht? Ich fing an, den Männern zu grollen, ihnen die Schuld beizumessen – und kam doch immer wieder auf die verzweifelten Worte zurück, die Heinrich von Kleist seine Penthesilea ausrufen läßt:


›Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt!‹


Da – mit einem Mal, schien auch mir das Glück der Liebe aufleuchten zu wollen. Ich hatte einen jungen Schriftsteller kennen gelernt, der aus einer Provinzstadt gekommen war, um in Wien Boden zu gewinnen. Sein Talent war kein sehr bedeutendes, aber es schien mir echt und aller Beachtung wert. Er fand sie auch, aber man hatte zu dem, was er vorlegte, noch kein rechtes Vertrauen und vertröstete ihn immer auf spätere, stärkere Leistungen. So konnte er seine Arbeiten nicht verwerten und geriet mehr und mehr in eine höchst prekäre Lage. Von mimosenhaft zarter Empfindung, wie er war, vertraute er sich niemandem an. Ich aber, mit dem Instinkt des Weibes, [59] erriet seine Sorgen und suchte einige wohlhabende Leute, die mir bekannt waren, für ihn zu interessieren. Sie händigten mir Geldbeträge ein, die ich ihm überbringen sollte. Er zögerte, sie anzunehmen. Es war rührend, dabei den Kampf zu beobachten, den in seinem Innern Stolz und Armut kämpften. Schließlich siegte die Armut. In Tränen ausbrechend, umarmte er mich. Dabei kam auch ganz unwillkürlich die Neigung zum Ausbruch, die er, wie ich ahnte, ja wußte, immer für mich empfunden, wenn auch mit der ihm eigenen Schüchternheit sorgfältig verhehlt hatte. Nun aber überließ er sich ganz seinen Empfindungen. Die innige, fast feminine Zärtlichkeit, die er mir bewies, versetzte mich in einen wahren Taumel des Glücks. Dadurch aber wurde das Verhältnis vom Manne zum Weibe fast umgekehrt. Ich wurde die Gebende, er der Empfangende. Schon nach einiger Zeit glaubte ich zu fühlen, daß ihn die Leidenschaftlichkeit meines Wesens bedrücke, beängstige. Ich jedoch – zum ersten Mal, da ich dies schreibe, erröte ich – betrachtete ihn als mein Geschöpf, mit dem ich nach meinem Willen schalten könne. Und als ich merkte, daß er mehr und mehr erkaltete, machte ich ihm heftige Vorwürfe. Er erschrak und tat sich mit erneuten Zärtlichkeiten Gewalt an. Ich erkannte das sofort und wurde nur um so erbitterter. Eines Tages, als ich auch einigen Grund zur Eifersucht zu haben glaubte, geriet ich ganz aus der Fassung und erging mich in häßlichen Drohungen. Er war totenfahl geworden. Ich sah, wie es in seiner Brust arbeitete; ich sah, wie er seine Empörung, seinen Zorn niederkämpfen wollte. Aber er vermochte es nicht. ›Genug!‹ schrie er. ›Lassen Sie mich! Ich will, ich kann Sie nicht mehr sehen!‹

Da erhob ich die Hand wider ihn.

Mit starren, weit aufgerissenen Augen stand er da und regte sich nicht. ›Schlagen Sie zu! Ich hab' es verdient, weil ich Ihnen noch immer Liebe geheuchelt. Sie waren mir schon längst widerlich geworden.‹

[60] Das traf. Mein Arm sank herab, und ich ging, während er einen langgedehnten Schrei der Befreiung ausstieß ...

Was soll ich Ihnen noch sagen? Ich war vernichtet. Denn da war ja wieder, hundertfach verstärkt, das entsetzliche Wort gefallen, das mich damals in den Tod treiben wollte. Und wieder dachte ich daran. Aber gerade die Wucht dieses letzten Schlages war es, was mich auch wieder aufrichtete. Er überzeugte mich, daß mein Schicksal ein unabwendbares sei. Verzichten. Ja, das war es: ich mußte verzichten! Und mit dieser Erkenntnis schien mich eine hehre Kraft zu überkommen, die mich über alles weitere Wünschen und Begehren emporhob. Es war ein beseligendes Gefühl. Aber wie alle Gefühle und Stimmungen, die mit unserem innersten Wesen in Widerspruch stehen, hielt es nicht vor. Der Kampf des Willens mit dem Intellekt begann in mir. Ich wollte arbeiten, aber wie ich Ihnen sagte, ich konnte meine Gedanken nicht sammeln. Es war ein aufreibender Zustand, ein beständiger Wechsel von dumpfer Resignation und immer wieder auftauchender Sehnsucht ...

In dieser Gemütslage befand ich mich, als ich gestern mit Ihnen zusammentraf. Sie waren so lieb mit mir, so herzlich. Nicht bloß, daß Sie der Schriftstellerin anerkennende Worte sagten: ich schien Ihnen auch, während Sie mich – ich nahm es ja wahr – forschend und aufmerksam betrachteten, zu gefallen. Und als wir in der hellen Mondnacht über die Ringstraße schritten und Sie das Verlangen äußerten, unsere Bekanntschaft fortzusetzen, da zitterte es in mir wieder wie eine Hoffnung auf. Er ist nicht mehr jung, dachte ich; er scheint, gleich mir, traurige Erfahrungen hinter sich zu haben – vielleicht genüge ich ihm. Vielleicht konnten wir uns wirklich zu einem gegenseitig beglückenden Bunde aneinander schließen. Aber Sie werden mir das Zeugnis geben, daß ich widerstand – wenigstens widerstehen wollte. Ihre Frage, wann Sie mich wiedersehen würden, zögerte ich zu beantworten. Ich kämpfte mit mir selbst – endlich riß es mich hin. Sei es! dachte ich. Die erste Wiederbegegnung soll entscheiden, [61] Sie hat entschieden – und mir zur letzten, dauernden Gewißheit verholfen. Leben Sie wohl und antworten Sie mir nicht!«


* * *


Er ließ die Blätter sinken, und eine Zeitlang verhielten wir uns schweigend.

Endlich sagte er: »Nun, wie finden Sie das? Glaubt man nicht, einen modernen Frauenroman in nuce vor sich zu haben? Nur mit dem Unterschied, daß es sich hier um innerlich wahrste, wenn auch unser Gefühl verletzende Bekenntnisse einer verzweifelnden Seele handelt, während dort alles auf eitle Selbstverherrlichung des Weibes abgesehen ist, das aus einer Hand in die andere geht, weil es den ›Rechten‹ nicht finden kann?«

»Es ist so«, erwiderte ich. »Aber was geschah weiter?«

»Sie werden es hören. Begreiflicherweise war ich durch den Brief sehr erschüttert worden. Und auch, trotz der ruhigen Fassung des Schlusses, beängstigt. Ich wollte antworten. Doch kaum, daß ich zu schreiben begonnen, ließ ich davon ab. Was hätte ich nach all dem noch vorbringen können? Hier war wirklich Schweigen der Rest. Aber längere Zeit hindurch fürchtete ich auf eine traurige Notiz zu stoßen, so oft ich eine Zeitung zur Hand nahm. Nach und nach beruhigte ich mich und trat eine Reise an. Nach meiner Rückkehr machte ich einen Besuch in jenem Hause, wo ich die Dichterin kennen gelernt, und erkundigte mich nach ihr. ›Ach‹, hieß es, ›die hat ein sehr vorteilhaftes Engagement als Gesellschafterin einer kranken Dame angenommen.‹ Merken Sie wohl: die unheilbar kranke Ehegattin, die seit Ibsens Rosmersholm in der Literatur gang und gäbe geworden, begann hier schon eine Rolle zu spielen. Die besagte kranke Dame war nicht mehr sehr jung, und ihr Mann noch nicht sehr alt. Zudem befand sich ein etwa achtzehnjähriger Sohn im Hause. Ich behaupte gar nichts, ich mutmaße nur, daß die ›letzte Gewißheit‹ keine dauernde gewesen. Denn als sich die Dichterin im Laufe [62] der Zeit mit der ganzen Familie an die Riviera begab, hat sie sich von einem Felsen in der Nähe Genuas à la Sappho ins Meer gestürzt. Das heißt, sie wollte sich hineinstürzen. Der Felsen aber, ein sehr beliebter Aussichtspunkt, fällt nicht ganz steilrecht ab. Sie traf also auf vorspringende, vielfach gezackte Wandungen und langte mit zerschmetterten Gliedern und blutender Stirn unten an, wo nur die Strandwellen ihre Füße umspülten. Man brachte das Ereignis mit einem Schwindelanfall in Zusammenhang, der die Ärmste, die sich vielleicht zu weit vorgewagt, plötzlich ergriffen hatte. Immerhin möglich. Genug: sie starb am nächsten Tage. Friede ihrer Asche!«

[63] [65]Hymen.

[65][67]

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers.

Auch mit dieser Novelle scheint sich Saar lange getragen zu haben. In seinem Nachlaß findet sich ein älteres Blättchen, das von einem Hauptmann Karl von B ... erzählt, der sich infolge einer Verwundung im Jahre 1859 in den Bureaudienst zurückziehen mußte und seit seinen jungen Jahren mit der ebenso schönen als verführerischen Frau eines angesehenen Mannes in einem leidenschaftlichen Verhältnis steht, während sie nebenbei noch andere Beziehungen unterhält und für die Mätresse eines Fürsten gilt ....

Die Handschrift ist datiert: »Blansko, im März 1905.« Sie stimmt in ihren älteren, später durchstrichenen Lesarten mit dem ersten Druck in der Osterbeilage der »Neuen Freien Presse« 1905 (Sonntag, 23. April, Nr. 14608) ziemlich genau überein; die wenigen Abweichungen und der Untertitel: »Eine Geschichte in Arabesken« (der in der Handschrift fehlt) gehen entweder auf eine Abschrift oder auf die Druckkorrektur zurück. Dieselbe Handschrift hat der Dichter, neuerdings durchkorrigiert, als Vorlage für den zweiten Druck in der »Tragik des Lebens« (Wien 1906, Seite 83–131) benützt, der daher mit ihren späteren Lesarten fast genau übereinstimmt. Im ganzen hat die Novelle nur wenig bedeutende Änderungen er fahren. Von Interesse ist, daß der Dichter in der zweiten Hälfte der Handschrift den Helden zweimal »Samek« (anstatt »Sandek«) nennt; an einer der beiden Stellen ist die falsche Namensform sogar noch im ersten Druck stehen geblieben.

[67][69]

Die schlanke blonde Frau saß mir bei dem Diner gegenüber, fast verdeckt durch einen hohen Tafelaufsatz, hinter den ihr lichtes Antlitz mit den dunklen Amethystaugen nur selten zum Vorschein kam. Aber gleich im Empfangszimmer war mir dieses Antlitz ganz besonders aufgefallen. Bei der großen Anzahl der Geladenen fanden keine unmittelbaren Vorstellungen statt, und so wandte ich mich an einen Bekannten um Auskunft über die Dame, die eben mit einem jungen Modegelehrten in eifrigem Gespräche begriffen war. Was ich erfuhr, genügte mir, um zu wissen, an wen mich ihr Gesicht erinnert hatte – und daß ich sie selbst schon einmal als Kind gesehen. Während nun die zahlreichen Gänge gereicht wurden, hatte ich Zeit, um über allerlei Vergangenes nachzudenken. Meine beiden Tischnachbarinnen fanden mich daher sehr zerstreut und einsilbig, worüber sich auch die ältere von ihnen, die gern über Kunst sprach, ganz offen beschwerte. Mir aber gestaltete sich schon an jenem Abend die kleine Geschichte, die ich jetzt niederzuschreiben beginne.


* * *

1.

I.

Zu Anfang der siebziger Jahre war es, daß ich, von einem Spaziergang nach Hause zurückgekehrt, eine Visitenkarte vorfand. Der Offizier, hieß es, der sie abgegeben, würde in einer Stunde wieder nachsehen. Ich war darüber nicht sonderlich erfreut, [69] obgleich um der Hauptmann Sandek – so stand auf der Karte – einst als Leutnant befreundet gewesen. Er war auch damals eine sympathische Persönlichkeit. Achtzehn Jahre alt, war er aus einer Militärbildungsanstalt ins Regiment gekommen, wo er durch die harmonische Frische und Unbefangenheit seines Wesens gleich alles für sich einnahm. Auch geistige Fähigkeiten schien er zu besitzen; wenigstens legte er eine große Lern- und Wißbegierde an den Tag. Ich konnte ihm, als wir einander näher traten, nicht genug Bücher zum Lesen geben oder anempfehlen. Aber es zeigte sich bald, daß er sie nicht verstand, und die unausgesetzten, oft recht abgeschmackten Fragen, die er über Inhalt und Tendenz an mich richtete, wurden mir um so ärgerlicher, als er dabei doch immer seine eigene verschrobene Meinung aufrecht halten wollte. Dennoch blieben unsere Beziehungen gute, da er ja sonst ein vortrefflicher Mensch und liebenswürdiger Kamerad war.

Da fügte es sich, daß er auserkoren wurde, dem Sohne eines hohen Generals Unterricht in einigen militärischen Gegenständen zu erteilen. Der junge Herr war im Lernen stark zurückgeblieben, so daß er auf das akademische Studium, zu dem man ihn anfänglich bestimmt hatte, verzichten mußte. Es galt also jetzt, ihm die nötigen Vorkenntnisse zum Eintritt in die Armee beizubringen. Sein Vater, der General, besaß eine Frau, die immer als große Schönheit gegolten hatte und es gewissermaßen auch jetzt noch war. Wie allgemein bekannt, hatte sie es mit der ehelichen Treue niemals sehr ernst genommen, und es hieß, daß der jeweilige Adjutant ihres Gemahls auch immer ihr jeweiliger Liebhaber gewesen sei. Das mochte auf Übertreibung beruhen, gewiß aber war, daß sich zwischen ihr und dem blutjungen Offizier ein Verhältnis entspann, das für diesen verderbliche Folgen hatte. Denn durch die falsche und verlogene Stellung, die er dem Gatten sowohl wie dem heranwachsenden Sohne gegenüber einnahm, wurde sein lauterer, bis dahin jünglinghaft unschuldiger Charakter im tiefsten geschädigt. [70] Dazu kam noch, daß er sich durch dieses Verhältnis in eine vornehmere gesellschaftliche Sphäre erhoben fühlte, wobei die Eitelkeit, die vielleicht seit jeher in ihm latent gewesen, mehr und mehr entbunden wurde. Er nahm gezierte Allüren an und bildete sich im Laufe einiger Jahre bei verschiedenen Garnisonswechseln zu einem schmachtenden, aber auch gewissenlosen Lovelace aus, der mit dem Ehebruch einen ganz offenkundigen Kultus trieb. Er sagte jedem, der es hören wollte, daß man nur in Beziehungen zu einer verheirateten Frau die Liebe wirklich kennen lerne; wie denn auch erst die reife und erfahrene Frau das eigentliche Weib sei. Mit Mädchen, die er insgesamt Backfische oder noch schlimmer Gänse nannte, wollte er nichts zu tun haben. Da er jetzt immer nur in höheren Kreisen zu verkehren trachtete, entfremdete er sich auch allmählich seinen Kameraden, so daß der Abschied, den wir bei meinem Scheiden aus dem Regiment voneinander nahmen, ein ziemlich kühler war ....

Und nun trat er nach mehr als einem Jahrzehnt bei mir ein. Fast unverändert. Derselbe schlanke und geschmeidige Wuchs, der ihn immer ausgezeichnet. Das blonde, leicht gelockte Haar noch immer dicht; nur die fein geschnittenen Züge des hell schimmernden Gesichtes erschienen schlaffer, und um die Augen, die in ihrem etwas starren Glanze an dunkle Amethyste erinnerten, zeigten sich feine Fältchen. Er verbeugte sich nachlässig graziös und streckte mir dann die Hand entgegen.

»Verzeih, wenn ich dich etwa störe«, sagte er. »Aber da mich der Zufall heute in deine Nähe gebracht hat, so konnte ich dem Antrieb nicht widerstehen, dich aufzusuchen.«

»Freut mich sehr«, erwiderte ich, »Aber wie wußtest du –«

»Daß du hier wohnst? Nun, derlei erfährt man eben. Ich bin ja schon ein halbes Jahr in Wien – als Frequentant des Stabsoffizierskurses.«

»Du bist also schon so weit! Ich gratuliere.«

»Danke«, erwiderte er etwas zerstreut, indem er mit der [71] Hand über die Stirn fuhr. »Die Sache ist nicht leicht durchzuführen. Man stellt jetzt ganz unerhörte Anforderungen, und in gewissen Jahren nimmt die Lernfähigkeit ab. Aber wie geht es dir?« fuhr er ablenkend fort, indem er den Blick musternd über die ziemlich kahlen Wände meines Zimmers schweifen ließ.

»So, so – den Umständen angemessen.«

»Nun ja, es ist nicht leicht, sich in einem neuen Berufe – – Aber eine sehr schöne Aussicht scheinst du hier zu haben«, unterbrach er sich, stand auf und trat an ein Fenster.

Die Fernsicht, die ich damals in meiner hochgelegenen Wohnung hatte, war wirklich sehr schön. Ich konnte über eine weite Flucht von Gärten hinweg auf die ragenden Türme und Kuppeln der Stadt blicken. Es war eben Frühlingsanfang, und ein weißes, hier und dort von zartem Rot durchschimmertes Blütenmeer lag vor uns.

»Herrlich!« rief er aus. »Ich beneide dich. Ich selbst habe in meiner Stadtwohnung nichts anderes vor mir, als eine trostlose Reihe von Fenstern und Dächern.«

Wir setzten uns wieder und begannen von vergangenen Zeiten zu sprechen. Er zeigte sich dabei unruhig und zerstreut. Nach einer Weile trat er wieder ans Fenster und blickte gespannt hinaus. Zurückgekehrt nahm er den Faden des Gespräches wieder auf, spielte aber in nervöser Hast mit der Quaste seines Säbels, den er nicht abgelegt hatte. Sehr bald stand er wieder auf und schien nun etwas Erwartetes zu erblicken, denn ein Zug von Befriedigung trat in sein Antlitz.

»Jetzt muß ich dich verlassen, lieber Freund«, sagte er. »Ich bin nämlich nicht allein in diese Gegend gekommen, sondern mit Bekannten, die hier für den Sommer eine Villa gemietet haben. Ich werde dort ein häufiger Gast sein und mir also erlauben, dich manchmal zu besuchen.« Er langte nach seiner Mütze.

»Wird mir ein Vergnügen sein. Nur bitte ich: nicht vor fünf Uhr nachmittags. Denn bis dahin bin ich immer beschäftigt.«

[72] »Ganz mein Fall«, erwiderte er. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich angestrengt bin. Heute habe ich mir eine Ausnahme gestattet und kann das Versäumte nur hereinbringen, indem ich die Nacht hindurch büffle. Also leb' wohl, auf Wiedersehen!« Er ging, von mir hinausbegleitet.

Einigermaßen getröstet, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Er hatte also Bekannte, die im Sommer hier wohnen werden. Wahrscheinlich in meiner Nähe. Darum hatte er auch mit so gespannter Aufmerksamkeit durchs Fenster geblickt. Jedenfalls eine Verabredung. Wohl mit einer Dame. Denn er hatte sich in dieser Hinsicht gewiß ebensowenig verändert wie in seinem Äußeren. Immerhin. Was kümmerte es mich? Wenn er mich nur nicht allzu oft aufsuchte. Aber er hatte selbst gesagt, daß er sehr angestrengt sei – und hin und wieder mochte er ja kommen ...

Er kam auch nicht so bald. Ich aber mußte ihm artigkeitshalber doch einen Gegenbesuch machen. Als ich wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, wollte ich mich dieser Pflicht entledigen. Auf seiner Karte stand die Adresse. Er wohnte in Mariahilf, in der Nähe der Stiftskaserne. Nun denn: so gegen Mittag stieg ich dort drei Treppen empor, in der Hoffnung, ihn nicht anzutreffen und mit einem Kartenabwurf davonzukommen. Aber er war zu Hause. Sein Bursche sagte, der Herr sei eben im Umkleiden begriffen; aber ich möchte nur eintreten und ein wenig warten. Ich betrat also das geräumige Zimmer, in das mich der Diener geführt. Es war ein ganz hübsches Garçoninterieur. Nicht viele Möbel, aber eine bequeme Ottomane. Spiegel und ein paar gute Kupferstiche an den Wänden. Neben einem Bücherregal ein zierlicher Schreibtisch. Und auf diesem, neben allerlei Nippes, die Kabinettphotographie einer Dame. Diese Dame mußte ich kennen. Ich entsann mich auch bald, daß ich sie vor Jahren oft gesehen hatte, ohne zu wissen, wer sie war. Auch heute wußte ich es nicht. Aber sie war nur im Laufe einiger Wintermonate fast [73] täglich auf einem Morgengange begegnet, den ich über den damals noch bestehenden Teil des alten Glacis unternahm. Sie machte den Eindruck einer verheirateten Frau, befand sich jedoch immer in Begleitung eines Herrn, der zu den bedeutendsten Schriftstellern jener Tage zählte. Seine geistvollen Essays, seine scharfen Theaterkritiken wurden immer mit Spannung erwartet und mit andächtigem Eifer gelesen. Aber er schrieb im ganzen wenig, und die Zeitungen hatten oft Mühe, etwas von ihm herauszubekommen. Denn er wollte sich nicht binden und war, da er einiges Vermögen besaß, nicht eigentlich auf literarischen Erwerb angewiesen. Im übrigen galt er als weltmännischer Sonderling, der ab und zu in den Wiener Salons auftauchte und wieder verschwand. In letzterer Zeit hieß es, daß er in näheren Beziehungen zu einer jungen, ebenso schönen wie geistvollen Schauspielerin stehe; man sprach sogar von einer Verlobung. Eine stadtbekannte Persönlichkeit, fiel er schon durch seine äußere Erscheinung eigentümlich auf. Schlank und hager, hielt er sich im Gehen stark vornüber geneigt, so daß er etwas gebrechlich aussah. Sein Antlitz mahnte an das des Sokrates und erschien beim ersten Anblick häßlich. Sah man aber näher zu, so traten sehr feine und charakteristische Züge hervor, besonders die außerordentliche Klarheit und Leuchtkraft seiner tiefliegenden grauen Augen. Auch seine Begleiterin war nicht schön. Eher klein als groß, hatte ihre Gestalt etwas Gedrungenes, Gestauchtes. Aber ihre Gliederbewegungen waren von anmutiger Energie, wie sich auch in ihrem blassen Antlitz, aus dem große dunkle Augen blitzten, ungemeine Willenskraft ausdrückte. Da die beiden, die sich hier offenbar zu einem gemeinsamen Spaziergang zusammenfanden, immer in sehr lebhaftem Gespräch begriffen waren, so konnte ich auch wahrnehmen, daß die Dame prachtvolle Zähne besaß.

Und nun hatte ich ihr Porträt vor mir. Sie zeigte sich darauf einigermaßen gealtert, und der Ausdruck von Willenskraft trat schärfer hervor. Daß das Bild auf dem Schreibtische [74] Sandeks stand, gab mir zu denken. Jedenfalls wies es auf nähere Bekanntschaft hin.

Aber da trat er schon selbst aus der geschlossen gewesenen Seitentür. Sehr sorgfältig gekleidet, von einem leichten Hauch feinen Parfüms umweht.

»Verzeih',« sagte er, mir die weibisch gepflegte weiße Hand entgegenstreckend, »verzeih', daß ich dich habe warten lassen. Ich mußte mich ankleiden. Leider werde ich mich auch nicht lange deiner angenehmen Gegenwart erfreuen können, denn ich habe etwas sehr Wichtiges vor.«

»Laß dich nicht stören«, warf ich ein. »Ich bin ja fürs erste nur gekommen, deinen Besuch zu erwidern. Wir werden uns wohl noch öfter sehen.«

»Gewiß, gewiß. Aber nimm doch Platz und rauchen wir wenigstens eine Zigarette.« Er langte nach einer Schachtel, die auf dem Rauchtischchen stand.

»Ich danke. Du hast Eile – und ich selbst habe noch einiges zu tun –«

»Nun denn, aufs nächstemal. Wir können gleich zusammen fortgehen.«

Er rief seinen Diener, der ihm Säbel und Mütze reichte. Dann schritten wir die Treppe hinunter. »Gehst du nach der Stadt?« fragte er unten.

»Ja.«

»Mein Weg führt mich nach einer anderen Richtung. Also auf baldiges Wiedersehen.«

Wir drückten einander die Hand und trennten uns.

2.

II.

Meine Vermutungen bestätigten sich bald. Denn schon in nächster Zeit sah ich jene Dame in einem Garten auf- und niederschreiten, den ich von meinem Fenster aus fast ganz überblicken konnte. Ein etwa zehnjähriger Knabe war um sie; wahrscheinlich [75] ihr Sohn. Obgleich ich nun Besseres zu tun hatte als den Fenstergucker zu machen, so blickte ich jetzt doch öfter hinüber und konnte nicht umhin, mich erkundigen zu lassen, wer in der Villa wohne. Ein Hofrat, hieß es; den Namen wußte man nicht genau. Aber den Hofrat selbst, einen beleibten und wie es schien, behäbigen Mann, gewahrte ich bisweilen, wie er nachmittags unter einer Linde saß und die Zeitung las. Öfter, besonders gegen Abend, war der Garten sehr belebt. Gruppen von Herren und Damen; darunter auch Sandek. Bei mir hatte er sich nicht mehr eingefunden, was mir ganz recht sein konnte. So interessierte mich auch die Sache immer weniger, und ich dachte nicht weiter darüber nach.

Eines Vormittags jedoch, als ich ganz zufällig ans Fenster trat, sah ich die Dame an der Seite eines Herrn langsam im Garten hin und her gehen. Täuschte mich mein Auge? Das war ihr Begleiter von damals, der sich, wie den Journalen zu entnehmen gewesen, vor einigen Monaten zur Erholung nach Nizza begeben hatte. Ich nahm rasch mein Opernglas zur Hand. Ja, er war es. Und wieder waren die beiden in lebhaftem Gespräch begriffen. Aber es schien weniger ein Gespräch als ein Streit zu sein. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen. Die Dame schien heftige Vorwürfe zu machen, die ebenso heftig erwidert wurden. Endlich verschwanden sie in einer Partie des Gartens, die ich nicht mehr überblicken konnte. Jetzt aber begann ich mich meiner Späherrolle zu schämen und schloß den Gucker in die Lade. Meine Gedanken jedoch verweilten unwillkürlich bei dieser erneuten Begegnung aus der Ferne, und ich stand noch einige Tage unter ihrem Eindruck. Schließlich verflüchtigte sich auch dieser und machte sich erst wieder geltend, als eines Tages Sandek ganz unvermutet bei mir eintrat. Er entschuldigte sich, daß er mich so lange nicht aufgesucht hatte.

»Warst du vielleicht unwohl?« fragte ich, da ich bemerkte, daß er blaß und angegriffen aussah.

»Ach nein«, erwiderte er, während wir uns setzten. »Aber [76] die Zeit der Prüfungen naht heran, und da heißt es die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich schlafe sehr wenig.« Eine Pause trat ein, während welcher er verlegen hin und her rückte. Endlich fuhr er zögernd fort: »Ich bin eigentlich gekommen, lieber Freund, um eine Frage an dich zu richten.«

Ich sah ihn erwartend an.

Er schwieg eine Weile; offenbar formulierte er die Frage im Geist. Dann sagte er, die Worte in sichtlicher Erregung nur mühsam hervorbringend: »Hältst du es für möglich, daß sich eine Frau – das heißt eine Dame, die über den Verdacht eigennütziger Absichten vollständig erhaben ist – ohne Liebe hingibt?«

Obgleich ich sah, wie schmerzlich sich diese Frage aus seinem Innersten loslöste, konnte ich doch kaum ein leichtes Lächeln unterdrücken. Denn sie erinnerte mich in ihrer abstrakten Fassung an die ästhetisierenden Fragen seiner Jugend. Zum Beispiel: ob Hamlet, der fünf Akte lang nicht wisse, was er tun soll, wirklich der Held – dieses Wort betonte er sehr nachdrücklich – einer Tragödie sein könne? Oder: warum Medea statt ihrer Kinder nicht lieber den Jason oder die Kreusa umgebracht habe? Und ähnliches. Dann aber auf den vollen Ernst eingehend, den die Frage für ihn haben mochte, erwiderte ich: »Gewiß halte ich es für möglich.«

Er zuckte zusammen und wurde ganz bleich. »Du hältst es also für möglich?« stammelte er. »Aber es müßte doch irgendein Grund vorhanden sein – –«

Es kam mich an, zu sagen, daß die Gründe so zahlreich wären wie die Brombeeren. Aber ich hielt an mich und versetzte: »Es kann verschiedene Motive geben. Sie hängen von dem Wesen, den Verhältnissen der Betreffenden ab. Du hast doch so viele französische Romane gelesen, die sich mit solchen Problemen beschäftigen. Es gibt Frauen, die einer bloßen Laune folgen; diese Fälle sind nicht allzu selten. Oder von einer momentanen sinnlichen Erregung hingerissen werden. Das [77] ist dann eine Schwäche, die meist bittere Reue und Haß gegen den Verführer zur Folge hat. Sehr oft – und gerade bei starken weiblichen Naturen – kann es par dépit geschehen.«

»Par dépit,« widerholte er mit bebender Stimme. »Du meinst also, daß sich eine Frau gewissermaßen aus Ärger oder aus Verzweiflung –«

»Ganz recht. Wenn sie sich von einem geliebten Manne verlassen weiß. Um ihren Schmerz zu übertäuben – oder auch nur zu erproben, ob und wie ihre Reize auf einen andern wirken. Auch das wird meistens tief bereut. Aber warum fragst du denn eigentlich?« fuhr ich fort, obgleich ich es sehr wohl wußte.

»O,« sagte er unsicher, »ich kenne jemanden, der über diesen Punkt – –«

»Lieber Freund,« unterbrach ich ihn, »lassen wir das gegenseitige Versteckenspielen. Ich erlaube mir nicht, in deine Verhältnisse einzudringen. Da du aber gekommen bist, meine Ansicht zu hören, so sage ich dir: du selbst bist derjenige, der über diesen Punkt Klarheit haben will.«

»Woher vermutest du –?« erwiderte er betreten.

»Nun, die Vermutung liegt doch nahe genug. Es handelt sich jetzt nur darum, ob du mit mir noch weiter über die Sache sprechen willst.«

»Gewiß, gewiß«, sagte er im Kampfe mit sich selbst. »Es ist mir ja darum zu tun –«

»Nun, dann will ich dir kurz und bündig Aufklärung geben. Du liebst eine Frau – und diese Frau liebt einen anderen.«

Er sah mich mit halb offenem Munde an. »Woher weißt du – –?«

»Infolge durchaus unwillkürlicher Beobachtungen. Denn beide Persönlichkeiten sind mir bekannt, wenn ich auch niemals mit ihnen verkehrt habe.«

Er war noch immer sprachlos vor Erstaunen.

»Die eine dieser Persönlichkeiten,« fuhr ich fort, »wohnt [78] hier in der Nähe. Also ich wiederhole: du liebst eine Frau, die einen anderen liebt. Und dieser andere – die alte Geschichte – hat sie früher geliebt und liebt jetzt eine andere. Und darum hat sich jene Frau dir in die Arme geworfen.«

Er fuhr wieder zusammen, machte aber eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein, so ist es nicht. In die Arme geworfen hat sie sich mir nicht. Aus deinem Ausspruch erseh' ich, daß du die Frau wirklich nicht kennst, wenn du vielleicht auch weißt, wer sie ist. Um sich jemandem in die Arme zu werfen, dazu ist sie viel zu stolz. Ich fühle mich daher verpflichtet, dir jetzt nähere Aufklärungen zu geben, damit du die Sachlage, die du ja im allgemeinen erraten hast, deutlich überblicken kannst. Dann wird dir auch die Situation klar werden, in der ich mich befinde.«

Er schloß die Augen, wie um seine Gedanken zu sammeln. Dann strich er sich über die Stirn und begann: »Ich wurde in jenes Haus durch einen Empfehlungsbrief eingeführt, der mir in Prag mitgegeben wurde. Bei meinem Antrittsbesuche an festgesetztem Tage wurde ich sehr höflich, aber keineswegs zuvorkommend empfangen. Man schien dem Militär nicht besonders gewogen zu sein. Auch ich fühlte mich nicht besonders angemutet. Der Hausherr machte mir den Eindruck eines heimtückischen Bureaukraten. Die Frau gefiel mir gar nicht. Ich fand sie eher häßlich als schön; ihre ganzen Allüren waren mir zu wenig weiblich. Der resolute Ton, den sie im Gespräch anschlug, verletzte mich. Ich dachte also, weitere Beziehungen nicht aufzunehmen. Da ich aber schon in nächster Zeit zu einer Abendgesellschaft gebeten wurde, ging ich doch hin. Es waren nicht viele Leute da, meist alte und ältere Herren mit ihren Frauen. Eine Whistpartie an mehreren Spieltischen kam in Gang. Es traf sich, daß ich der Partner des Hofrates wurde. Daß ich sehr gut spielte, schien ihm zu imponieren – und von da ab wurde ich sehr oft zu ganz kleinen Whistabenden gebeten. Die Frau nahm an dem Spiele nicht teil, nur wenn [79] es durchaus an einem Partner fehlte, ließ sie sich dazu herbei. Nun war es merkwürdig, daß sie mir, je öfter ich sie sah, je mehr gefiel. Ich fand sie nach wie vor keineswegs schön, aber alles, was mich früher an ihr unangenehm berührt hatte, empfand ich jetzt als eigentümlich charakteristischen Reiz; besonders ihre tiefe, ungemein klangvolle Stimme übte auf mich eine bezwingende Macht aus. Ich fing an, ihr zu hofieren. Es wurde anfänglich nicht beachtet; nach und nach aber schienen meine Bemühungen Eindruck zu machen. Und als ich mich einmal, da wir uns gerade allein gegenüber befanden, mit einer leidenschaftlichen Erklärung hervorwagte, sah sie mich lang an und sagte: ›Sie lieben mich also?‹ Und als ich, ihre Hand ergreifend, dies beteuerte, erwiderte sie: ›Nun, dann will ich Sie auch lieben.‹ Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken, näherte ihre Lippen den meinen und drückte einen sanften Kuß darauf. Mein Entzücken war grenzenlos. Noch nie hatte mich die Eroberung einer Frau so unsäglich beglückt. Ich befand mich in einem wahren Taumel – und eine Reihe seliger Tage begann. Denn wir waren nun vollständig eines Sinnes. Ich mußte kommen, so oft ich nur konnte, – vormittags, nachmittags, abends. Mein so häufiges Erscheinen mußte im Hause auffallen, besonders dem Gatten. Sie bekümmerte das gar nicht, denn sie pflegte auf ihn niemals Rücksicht zu nehmen; ich aber fühlte mich beengt, obschon ich gleich anfangs erkannt hatte, daß die Ehe jedes inneren Zusammenhanges entbehrte und nur formell aufrecht erhalten wurde. Daß aber der Mann über unsere Beziehungen mit einer Art sarkastischer Befriedigung hinwegsah, fing an mich zu verdrießen. Ebenso das Benehmen des Knaben, des einzigen Kindes seiner Eltern. Er bezeigte sich nicht gerade unfreundlich, aber zurückhaltend und lauernd, obgleich er, wenn er bei meinem Kommen um seine Mutter war, sofort das Zimmer verließ. Wie gesagt, das alles war mir peinlich, aber es ging unter in dem Gefühl des Glückes, das ich in der Nähe der Geliebten empfand.

[80] Eines Abends, als wir nach dem Whist bei dem üblichen kleinen Souper saßen, sagte der Mann plötzlich: ›Nun, der‹ – du wirst ja wissen, wen ich meine –, ›muß ja jetzt dieser Tage von Nizza zurückkehren. Da wird es endlich mit der Heirat ernst werden.‹

Sie erblaßte flüchtig. Dann warf sie ihrem Mann einen kalten Blick zu und sagte: ›Ich wünsche ihm alles Glück dazu.‹

Von da ab kam der Hofrat, so oft es anging, mit sichtlichem Behagen auf diesen Gegenstand zurück. Und als ich endlich fragte, wer denn der Herr eigentlich sei, sagte er: ›Ein alter Freund meiner Frau. Er ist Ihnen wohl als Schriftsteller bekannt.‹ Ich konnte das halb und halb zugeben; sie aber schwieg beharrlich, doch kam auf ihren Wangen eine fleckige Röte zum Vorschein, was bei ihr immer ein Zeichen innerer Erregung war. Die Sache fing an, mich zu beklemmen, und ich fühlte, wie eine unbestimmte, aber qualvolle Eifersucht in mir aufstieg, die ich nur mit aller Gewalt zu unterdrücken vermochte.

Eines Tages hatten wir aus irgendeinem Grunde keine Vorlesungen und ich benützte diese zufällige Freiheit, um bei Maja – ein Kosename, den ich ihr beigelegt – zu ungewohnter Stunde mich einzufinden. Ich dachte sie damit freudig zu überraschen, wenn ich sie zu Hause antraf, dessen ich ja nicht ganz sicher sein konnte. Bei meinem Eintritt ins Vorzimmer stieß ich fast mit einem Herrn zusammen, der eben im Fortgehen begriffen war. Wir maßen uns gegenseitig mit befremdeten Blicken und schritten ohne Gruß aneinander vorüber. Mich aber hatte es sofort durchzuckt: das war er – der alte Freund. Das Stubenmädchen, das ihm beim Anziehen des Oberrockes behilflich gewesen, beeilte sich, mich bei der Gnädigen zu melden, was sonst nicht der Fall zu sein pflegte. Ich begab mich inzwischen in den Salon, der an das Boudoir Majas stieß. Von dort herüber vernahm ich ihre zornige Stimme: ›Was? Jetzt?‹ Und irgend ein Gegenstand wurde heftig zu Boden oder sonst wohin geworfen. Bald darauf trat sie selbst ein, die Wangen [81] fleckig gerötet. ›Sie sind hier?‹ fragte sie. ›Ich habe Sie nicht erwartet.‹

›Das wußte ich‹, antwortete ich, über diesen Empfang betreten und gereizt. ›Aber ich habe zufällig diesen Vormittag frei und dachte –‹

›Nun ja‹, erwiderte sie einlenkend, wenn auch noch unfreundlich. ›Aber ich liebe derlei Überraschungen nicht‹

›Es war doch schon hie und da der Fall‹, sagte ich, ›und Sie zeigten sich immer erfreut –‹

›Das schien Ihnen vielleicht so. Aber immerhin. Von jetzt ab jedoch muß ich Sie bitten –‹

›O gewiß‹, versetzte ich, dem in mir aufgestiegenen Unmut freien Lauf lassend. ›Ich werde nicht mehr kommen. Da Sie jetzt andere Besuche empfangen, bin ich überflüssig.‹

Sie warf das Haupt empor. ›Was für Besuche?‹

›Nun, von Ihrem alten Freunde.‹

›Was wollen Sie damit sagen?‹

›Daß mir im Vorzimmer ein Herr begegnet ist, der eben von Ihnen wegging.‹

›Darf ich vielleicht keine Besuche empfangen?‹

›Ohne Zweifel. Ich aber habe nicht Lust, mich in Nebenbuhlerschaften einzulassen.‹ Damit machte ich eine förmliche Verbeugung und schickte mich an, den Salon zu verlassen.

In ihrer Brust arbeitete es heftig. Sie ließ mich bis zur Tür gehen, dann rief sie: ›Robert!‹

Ich blieb stehen.

Sie war offenbar durch mein Benehmen überrascht. Bei den zärtlichen Empfindungen, die ich für sie hegte, hatte sie mich für demütig und unterwürfig gehalten; mein kurz angebundener Stolz imponierte ihr. ›Kommen Sie zu mir, Robert‹, sagte sie mit sanfter Stimme und streckte mir die Hand entgegen.

Ich war schwach genug, umzukehren und die Hand zu ergreifen.

›Seien Sie vernünftig, Robert. Ich bin eine nervöse Frau [82] und kann meinen Stimmungen nicht immer gebieten. Und was jenen Herrn betrifft, so ist er wirklich nichts anderes als ein alter Bekannter, dem ich doch mein Haus nicht verschließen kann. Er gedenkt jetzt zu heiraten. Also bilden Sie sich nichts ein. Sie wissen, daß ich Sie liebe.‹ Damit schlang sie den Arm um mich und ließ ihre Lippen lang auf den meinen ruhen. – Und nun kamen Tage, lieber Freund,« fuhr er mit verzweifelter Gebärde fort, »die ich zwischen Himmel und Hölle verlebte, bald in die einen erhoben, bald in die andere hinabgestoßen. Denn das Benehmen Majas wechselte beständig. Heute zärtlich und hingebend, war sie morgen kalt, rauh und von rücksichtsloser Härte. Ich stand vor einem Rätselabgrund und hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Denn wenn sie wirklich – was mir eine innere Stimme zurief – den anderen liebt: warum leugnete sie es hartnäckig, wenn ich es ihr vorwarf? Sie ist ja eine starke, entschlossene Natur, die keine Furcht kennt. Und warum sucht sie mich immer wieder zu fesseln, so oft ich diesem unerträglichen Zustand ein Ende machen und mich losreißen will?« Er brach ab und blickte wie verloren vor sich hin.

Ich schwieg. Dann sagte ich: »Nun die Lösung des Rätsels ist doch ganz einfach. Sie will eben den anderen, da die Heirat noch nicht erfolgt ist, wieder zu sich hinüberziehen – und dich dabei nicht ganz aufgeben.«

»Aber das ist ja schändlich!« rief er aus.

»So scheint es uns. Aber die Frauen sind nun einmal so geartet, und man sieht, wie wenig du sie eigentlich trotz deiner vielen Erfahrungen kennst. Glaubst du denn, daß auch nur eine in ihrer Lage den Mann, von dem sie weiß, daß er sie wirklich liebt, willig ziehen läßt? Und du liebst sie doch wirklich?«

»Wie ich noch nie ein Weib geliebt!« stieß er hervor.

»Weil du zum erstenmal an eines geraten bist, das dir überlegen ist.«

»Überlegen?« fragte er betroffen und hochmütig zugleich.

[83] »Ja, ich muß es dir offen sagen. Sie ist dir überlegen – vielleicht in jeder Hinsicht. Du müßtest dich ihr eben unterordnen.«

»Unterordnen?! Wie meinst du das?« fuhr er auf.

»Du müßtest dulden lernen, müßtest dich in ihren Seelenzustand zu finden wissen und mit verständnisvoller Nachsicht alles anwenden, um den anderen, da du ihr doch jedenfalls nicht gleichgiltig bist, vergessen zu machen und sie allmählich ganz zu dir hinüberzuziehen.«

Er sprang auf. »Du meinst also,« schrie er, »daß ich mich in einen Wettkampf einlassen soll? Mit diesem Skribler!« Er fühlte gar nicht, wie er mich selbst durch diese Bezeichnung verletzen mußte.

»Unterschätze niemanden«, erwiderte ich ruhig. »Der Mann, von dem wir sprechen, steht geistig sehr hoch.«

»Das mag sein«, knirschte er. »Aber er ist häßlich wie ein Affe!«

»Darüber ließe sich streiten. Und sicher ist es, daß die Frauen in dieser Hinsicht ganz andere Anschauungen haben als wir. Bei ihnen geben Eigenschaften den Ausschlag, die nur für sie im Äußeren eines Mannes erkennbar sind. Aber ich sehe, daß du die Frau doch nicht eigentlich liebst, sondern daß dich deine schwer verletzte Eitelkeit in eine unheilvolle Leidenschaft hineingetrieben hat.«

Er schien die Wahrheit meiner Worte zu empfinden, denn er zuckte zusammen. Aber er wies sie auch sofort von sich, indem er aufsprang und heftig im Zimmer hin und her schritt: »Sei es wie immer, ich ertrage diesen Zustand nicht länger! Ich gehe dabei zugrunde!«

»Das begreife ich«, sagte ich.

»Höre!« fuhr er fort. »Vier Wochen sind es her, daß ich nach einer heftigen Szene erklärte, sie würde mich nicht wiedersehen. Sie machte auch diesmal keinen Versuch, mich zurückzuhalten und ließ mich, sich kalt umwendend, gehen. Ein [84] paar Tage lang atmete ich befreit auf und vertiefte mich mit vollem Eifer in meine Studien, die ich inzwischen ganz vernachlässigt hatte – oder besser gesagt, ich war nicht fähig, ein Buch zur Hand zu nehmen. Bald aber stellte sich Erwartung ein – Erwartung, daß sie mir ein Zeichen geben, mich wieder zu sich rufen würde. Da es nicht geschah, steigerte sich die Erwartung zur Marter, obgleich ich mir beständig sagte, daß ich ja den vollständigen Bruch gewünscht hatte und unbedingt wünschen müsse. Aber es nützte nichts, und ich war nahe daran, ihr zu schreiben. Da kam ein Brief voll zärtlicher Vorwürfe, voll inniger Beteuerungen. Ich wollte sofort zu ihr eilen. Aber kaum aus dem Hause getreten, kehrte ich wieder um. Das Bild des anderen war vor mir aufgestiegen und trieb mich zurück. Bleibe fest! rief ich mir zu. Ich blieb es und beantwortete auch den Brief nicht. Aber ich konnte zu keiner inneren Ruhe gelangen. Ich zwang mich, zu arbeiten, zu lernen – meine Gedanken versagten. So verging mehr als eine Woche. Eines Abends, schon sehr spät – ich hatte mich doch ein wenig zurechtgefunden – saß ich bei Lampenschein an meinem Arbeitstische, als es draußen klingelte. Ich hatte meinem Burschen gestattet, ins Wirtshaus zu gehen, und mußte nun selbst nachsehen. Als ich die Tür öffnete, stand Maja vor mir, in einen Theatermantel gehüllt, die Kapuze tief ins blasse Gesicht hineingezogen. Was soll ich dir weiter sagen: an jenem Abend geschah, was früher nicht geschehen war.« Er setzte sich wieder und starrte vor sich hin.

Ich schwieg gleichfalls. »Da wären wir ja wieder bei deiner ursprünglichen Frage angelangt«, sagte ich endlich.

»Ja, ja«, rief er aus und sprang wieder auf. »Und ich hätte sie mir doch selbst beantworten können! Denn Maja war in meinen Armen kalt wie Eis. Und als ich ihr das vorwarf, brauste sie auf in heftigem Zorn. Ich sei ein Undankbarer, schrie sie. Was ich denn wolle? Sie habe mir den höchsten Beweis ihrer Liebe gegeben – und noch immer [85] hege ich Zweifel. Ich war im Augenblicke ganz zerknirscht und tat Abbitte.«

»Und was geschah weiter?«

»Was weiter geschah?!« Er warf sich in den nächsten Stuhl. »Es folgten noch einige Zusammenkünfte, die mir erneute Qualen brachten. Denn deutliche Anzeichen der Kälte wechselten bei ihr mit Ausbrüchen leidenschaftlicher Hingebung. Und siehst du, bei solchen Ekstasen habe ich das Gefühl, daß sie in meinen Armen an jenen anderen denkt. O, es ist ein Zustand, um wahnsinnig zu werden! Und dabei«, fuhr er stotternd fort, »soll ich mich für die Prüfungen vorbereiten. Ich bin in allem zurückgeblieben – ich kann meine Aufgaben nicht mehr bewältigen. Falle ich durch, so bin ich verloren. Denn meine Karriere ist dann abgeschnitten – und mir bleibt nichts als das höhnische Bedauern meiner Kameraden!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein Schluchzen aus.

War meine Teilnahme bis jetzt auch eine geringe, nun, da ich Tränen zwischen seinen Fingern hervorquellen sah, wurde ich ergriffen. Ich stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Fasse dich. Deine Lage, ich seh' es ein, ist eine verzweifelte. Nur ein Mittel gibt es, dich aus ihr zu befreien. Die volle und rückhaltslose Erkenntnis, daß du sie selbst herbeigeführt.«

Er ließ die Hand von den Augen sinken und sah mich verständnislos an.

»Ja,« fuhr ich fort, »du selbst hast sie herbeigeführt. Und die Qualen, die sie dir verursacht, mußt du als Sühne früherer Verschuldungen betrachten.«

»Welcher Verschuldungen?« lallte er.

»Denk' an all die Verhältnisse, die du mit Frauen unterhalten hast. Es fällt mir nicht ein, dir Moral predigen zu wollen. Aber wie du auch jetzt darüber denken magst, nach reiflicher Erwägung wirst du zugeben müssen, daß du wiederholt unrecht gehandelt hast. Und jedes Unrecht muß früher oder später [86] im Leben abgebüßt werden. Diese Erkenntnis, so peinlich sie auch für dich sein mag, wird dir die Kraft verleihen, dich – und auch jene Frau in irgend einer Weise aus der verworrenen und unwürdigen Lage zu befreien, in der ihr euch beide befindet.«

Er wand sich auf dem Sessel hin und her, und ich erkannte, daß meine Worte nur halb in ihn eingedrungen waren. Oder vielmehr: er fühlte ihre Wahrheit, aber nach Art schwacher Geister und untiefer Naturen vermochte er nicht eine Sache zu Ende zu denken und dabei sich selbst zu Leibe zu gehen. Er ertrug die Wendung, die unser Gespräch genommen, nicht länger und stand auf. »Ja, ja,« sagte er, sich wiederholt über die Stirn fahrend, »du hast recht, du hast recht .... Aber« – er sah nach der Uhr – »es ist Zeit, daß ich gehe. Ich danke dir, daß du mich so teilnehmend angehört hast. Wir werden ja sehen, wie sich alles gestaltet.« Damit reichte er mir die Hand und ging.

Es wird sich nicht gut gestalten, dachte ich, als ich jetzt allein war. Die innere Zerrüttung dieses Mannes war schon zu weit vorgeschritten. Auch körperlich schien er mir gebrochen. Sein Gang war unsicher, seine Hände fühlten sich kraftlos und zitterig an. Ich fürchtete für das Ende. Ob er sich jetzt zu ihr hinüberbegeben hatte? Ich konnte mich nicht enthalten, ans Fenster zu treten und den Garten ins Auge zu fassen. Es dauerte nicht lange, so sah ich die beiden nebeneinander auf und nieder gehen ....

Einige Tage nachher brachten mehrere Blätter die Notiz, daß die Vermählung des andern wahrscheinlich während der Theaterferien stattfinden dürfte.

3.

III.

Der Sommer hatte seine Höhe erreicht. Die Rosen in den Gärten waren verblüht; duftlose, aber farbenprächtige Feuerlilien und Gladiolen standen in den Beeten, während das Grün [87] der Wipfel allmählich seinen Schimmer verlor. Von Sandek hatte ich kein Lebenszeichen mehr erhalten. Auch drüben hatte ich ihn nicht mehr wahrgenommen. Dort war es jetzt überhaupt leer und still geworden; man schien sich bereits in einer Sommerfrische zu befinden. Was aber war mit Sandek geschehen? Die theoretischen Prüfungen mußten doch schon vorüber sein; vielleicht hatte er sich zu den praktischen in irgendein Übungslager begeben. Oder er war schon zu seinem Regiment eingerückt. Daß er sich von mir nicht verabschiedet hatte, befremdete mich nicht. Denn es war bei seinem Wesen nur natürlich, daß er mich nach unserer letzten Unterredung vermied. Und doch war ich über sein Schicksal beunruhigt und mußte öfter an ihn denken. Endlich entschloß ich mich, dort nachzusehen, wo er gewohnt hatte; irgend jemand würde mir wohl Auskunft geben können. Beim Hausbesorger, wo ich nachfragen wollte, fand ich, wie das in Wien nicht selten der Fall ist, die Tür verschlossen; ich stieg also die drei Treppen empor und drückte an der betreffen den Klingel. Nachdem ich es wiederholt getan, wurde die gegenüber befindliche Tür zur Hälfte geöffnet, und ein alter Herr mit weißem Schnurrbart und freundlichen blauen Augen blickte heraus.

»Wen suchen Sie?« fragte er.

»Den Hauptmann Sandek.«

»Sie sind wohl ein Bekannter von ihm – und haben ihn längere Zeit nicht gesehen?«

»So ist es.«

Der stattliche Alte trat heraus. »Mein Name ist Wernhart, Oberst in Pension.«

Ich verbeugte mich und stellte mich gleichfalls vor.

»Nun dann–« er unterbrach sich. »Wollen Sie sich vielleicht einen Augenblick zu mir herein bemühen.« Er führte mich durch ein schmales Vorzimmer in ein behaglich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster durch herabgelassene Jalousien gegen das Eindringen der Sonnenstrahlen geschützt waren. Er bat mich Platz zu nehmen und setzte sich mir vertraulich nahe.

[88] »Ich bin Witwer«, begann er, »und habe meine beiden Töchter – einen Sohn besitze ich leider nicht – ausgeheiratet. Da ich aber doch die mir lieb gewordene Wohnung nicht aufgeben mochte, vermiete ich seit Jahren die Hälfte an Offiziere der Kriegsschule. So hat auch der Hauptmann Sandek diesen Winter bei mir gewohnt, jetzt aber« – er dämpfte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern – »befindet er sich im Lainzer Irrenhause.«

»Im Irrenhause –?«

»Leider. Das ist die Folge, wenn sich die Herren im Studieren allzuviel zumuten. Es hat nicht jeder die notwendige geistige Spannkraft. Und wenn man sie erzwingen will, so reibt man sich dabei auf. Ich hatte an dem Hauptmann schon zu Beginn des Frühlings bedenkliche Anzeichen wahrgenommen und ihm den freundschaftlichen Rat erteilt, sich nicht so sehr anzustrengen. Schließlich hängt ja nicht das Leben an dem goldenen Kragen. Aber der Ehrgeiz! Der Ehrgeiz! Man will doch den Anforderungen entsprechen, die heutzutage gestellt werden – und nicht etwa als Hauptmann in Pension gehen. Da war es zu meiner Zeit ganz anders. Man avancierte in der Tour, wenn auch natürlich die entsprechende Befähigung vorhanden sein mußte.«

»Ja – und seit wann –?«

»Ungefähr fünf Wochen ist es her, daß er plötzlich einen Anfall von Tobsucht bekam. Es war eine schreckliche Geschichte. Ich und sein Diener – sowie die Leute im Hause, wir wußten uns gar nicht zu helfen, bis man ihn endlich nach Lainz gebracht hatte. Bemühen Sie sich nicht etwa hinaus. Sie können ihn nicht sehen. Sein Zustand ist ein ganz hoffnungsloser. Die Ärzte sprechen von einer rasch fortschreitenden Paralyse.«

»Das ist höchst traurig –«

»Gewiß. Er war ein so prächtiger Mensch! Wenn ich nicht ganz irre,« fuhr der alte Herr flüsternd fort, indem er sich [89] die Hand vor den Mund hielt, »wenn ich nicht ganz irre, war auch eine Liebesgeschichte mit im Spiele.«

»So«, sagte ich, und erhob mich. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Oberst, für Ihre gütigen Mitteilungen. Vielleicht darf ich Sie bitten, mir über den weiteren Verlauf ein paar Zeilen zukommen zu lassen.«

»O sehr gern«, erwiderte er, meine Karte in Empfang nehmend.

Wie unerbittlich sich menschliche Schicksale vollziehen! So sprach es in mir, während ich mich auf den Heimweg machte ...

Nach einiger Zeit – von dem Oberst hatte ich noch keine Nachricht erhalten – trat ich eine schon früher beabsichtigte kleine Rundreise durch Italien an. Als ich zurückkehrte, war es schon tief im Herbst. Unter den Briefen und Drucksachen, die ich auf meinem Schreibtische gehäuft vorfand, fiel mir auch ein schwarz gerändertes Parte ins Auge. Es zeigte an, daß der Hauptmann Robert Sandek nach schwerem Leiden an einer Gehirnlähmung verstorben war.

Das Ende ...

Ich trat ans Fenster. Öde, kahl und fahl lagen die Gärten vor mir. Ein rauher Nord, der düstere Wolken am Himmel trieb, fegte die letzten Blätter von den Bäumen.

4.

IV.

Jahre waren verflossen. Ich befand mich in Steiermark und hatte mich bestimmen lassen, dort eine Kuranstalt aufzusuchen, die auf halber Alpenhöhe lag und sich eines weitverbreiteten Rufes erfreute. Ein berühmter Arzt, einer der ersten, die das Naturheilverfahren in Schwung gebracht, leitete sie. Als ich eintraf, neigte die Saison bereits dem Ende zu. Es hatte den Tag über in Strömen geregnet; tiefhängende graue Nebelschleier verhüllten die ganze Gegend. Ich war im Kurhause abgestiegen, und die ungewohnten, mit Petroleumlampen[90] – elektrisches Licht gab es damals noch nicht – düster beleuchteten Räumlichkeiten hatten für mich etwas Unheimliches, Niederdrückendes. Auch die nicht sehr zahlreichen Kurgäste, die eben an der aus Milch und Schrotbrot bestehenden Abendtafel saßen, waren nicht sonderlich anziehend. Einen wahren Schrecken aber empfand ich, als ich unter ihnen einen Mann gewahr wurde, den ich lieber zu allen Teufeln gewünscht hätte. Es war dies ein wohlhabender Müßiggänger, der sich auf den Dichter hinausspielte und an jeden Schriftsteller herandrängte, wobei er allerdings die Maske großer Bescheidenheit vornahm. In Wahrheit aber strotzte er von Eigendünkel und glaubte mit seinen Novelletten und Gedichten, die er ab und zu in prächtiger Ausstattung erscheinen ließ, die Literatur zu bereichern. Im übrigen beschäftigte er sich mit gesellschaftlichem Tratsch, und da er in allen Kreisen verkehrte, so zeigte er sich auch mit der Wiener Skandalchronik aufs innigste vertraut. Hin und wieder konnte er ganz unterhaltend sein; aber den geschwätzigen und aufdringlichen Menschen einige Wochen hindurch beständig an der Seite zu haben, war eine trostlose Aussicht.

Er erhob sich auch sofort und eilte mir entgegen. »Sie hier, Hochverehrter!« – das Wort ›Meister‹ war damals noch nicht gebräuchlich. »Welch freudige Überraschung! Allerdings muß ich gleichzeitig mein Bedauern aussprechen, da Sie doch nur ein körperliches Leiden hieherführen kann. Aber Ihr Aussehen ist vortrefflich – und so wird es nicht so arg sein. Im übrigen werden hier wahre Wunderkuren vollführt. Auch leben läßt es sich ganz angenehm, wenn man auch gewissermaßen auf Wasser und Brot gesetzt ist. Erlauben Sie, daß ich Sie gleich der Gesellschaft vorstelle!«

Er tat es mit großer Emphase, wobei ich wieder einmal die Genugtuung erlebte, daß die Leute von meinem Dasein keine Ahnung gehabt hatten und mich mit offenem Munde anglotzten. Ich verbiß meinen Ärger in ein paar Schinkenschnitte, die mir, da ich ja noch die Kur nicht angetreten hatte, ausnahmsweise[91] vorgesetzt wurden. Um das Maß voll zu machen, zeigte sich, daß mein Kollege im Kurhause auch mein ziemlich naher Zimmernachbar war. »Also auf Wiedersehen morgen früh in der Wandelhalle«, sagte er, als wir uns zurückzogen. »Das schlechte Wetter scheint anhalten zu wollen, und da ist an einen Gang ins Freie kaum zu denken. Sobald es wieder schön ist, werde ich Sie die herrlichsten Waldwege führen.«

In drei Tagen war es wirklich schön geworden, und ich konnte seiner Begleitung nicht entgehen. Ich ließ sie mir auch insofern gefallen, als ich der Gegend unkundig war. Wir schritten anfänglich einen wohlerhaltenen Parkweg hinan, der die Anstalt mit den umliegenden, gleichfalls von Kurgästen bewohnten kleinen Villen vollständig überblicken ließ und eine immer weitere Rundsicht eröffnete, bis er endlich in ein felsiges Waldgebiet hineinführte. Wir hatten dieses kaum betreten, als uns zwei Gestalten entgegenkamen, die einen höchst malerischen Anblick darboten. Eine Frau und ein etwa sechsjähriges Mädchen. Beide trugen, wie dies hier nach der Morgenkur üblich war, die Haare aufgelöst. Die der Frau fielen in langen Strähnen hinab und umflossen sie wie ein dunkler Mantel; die des Kindes, von hellem Blond, umwallten das zarte, lichte Gesichtchen wie ein goldenes Vlies und waren kranzartig mit einem blühenden Genzianenzweig geschmückt, so daß die Kleine wie ein Elfchen aus dem Sommernachtstraum aussah, während die Mutter mit herben, finsteren Zügen an Lady Macbeth erinnerte.

Mein Begleiter lüftete den Hut zu ehrerbietig lächelndem Gruß, der von der Frau mit kurzem Kopfnicken erwidert wurde. Nachdem die beiden weit genug hinter uns waren, fragte er mit bedeutungsvollem Augenzwinkern: »Wissen Sie, wer die Dame ist?«

Ich verneinte, obgleich ich sie sofort erkannt hatte und mir die große Ähnlichkeit des Kindergesichtes mit dem Sandeks überraschend in die Augen gesprungen war. Er aber fuhr in seiner Weise frivol geheimnisvoll fort: »Die Hofrätin –« er [92] nannte den Namen. »Eine sehr bedeutende, geistvolle Frau, die ihrem Mann in jeder Hinsicht überlegen ist. Sie hat jahrelang mit« – er nannte wieder den Namen – »ein sehr intimes Verhältnis gehabt, das sich erst löste, als der schwarzgallige Lessing die blauäugige Undine vom Theater wegheiraten wollte. Diese aber hat sich ihm, das wissen Sie ja, wie schon vorher manchem anderen, mit ihrem glatten Fischleib im letzten Augenblick entwunden. Und da hat auch der Herr wieder das Sprichwort bewahrheitet: on revient toujours ... Allerdings schon in etwas schadhaftem Zustande. Er hat ja immer an der Leber gelitten und scheint jetzt ganz und gar einzutrocknen. Erst kürzlich hat er die Dame, die schon sehr bald die Anstalt verläßt, hier besucht. Was aber die Kleine betrifft, die Sie jetzt gesehen haben, so kommt mir ihre Existenz etwas fragwürdig vor. Während des Interregnums soll ihrer Mama ein Offizier näher getreten sein. Ich will nichts behaupten – aber das Töchterchen sieht weder dem Hofrat noch seiner Gemahlin ähnlich« ...


* * *


Und nun sah dieses Töchterchen mit voll entwickeltem Frauenreiz mir gegenüber – an der Seite des jungen Modegelehrten aus der Schule Brandes' und Nietzsches. Es war ein gefährlicher Tischnachbar, der ihr da den feingeschnittenen orientalischen Kopf und die geistsprühenden Augen beständig zuwandte und sie mit dem Zauber seines Wortes zu umstricken schien. Schon manche der jungen und jüngsten Damen, die sich zu seinen Vorlesungen drängten, war, wie es hieß, diesem Zauber erlegen. Er aber wußte bis jetzt nur Hoffnungen zu erwecken – keine zu erfüllen.

Am anderen Ende der Tafel saß auch der Gemahl der blonden Frau, ein etwas aufgeschwemmt aussehender Baron mit eingeklemmtem Monokel. Er war zwischen zwei steife Standesdamen hineingeraten, mit denen er sich furchtbar zu langweilen schien. Er hielt sich jedoch am Menü schadlos und [93] trank sehr viel Champagner, der gleich von der Suppe an gereicht, wurde.

Endlich tauchte man die Finger in die flachen Wasserschalen und begab sich in das anstoßende sehr geräumige Rauchzimmer, um den Kaffee zu nehmen. Auch dort wich der Beredte nicht von der Seite der jungen Frau, so daß ich mein Vorhaben, mich ihr zu nähern, aufgab. Ich zog mich in eine Ecke zurück und dachte wieder über die Verkettungen des Lebens nach. Was wohl mit der Mutter geschehen sein mochte? Und ob nicht vielleicht der Tochter ein ähnliches Los bevorstand? Die Männer, denen beiden sie gewissermaßen ihr Dasein verdankte, waren gestorben. Und die schöne, geistvolle Schauspielerin, die unbewußt mit in diese Wirrnisse verflochten gewesen, hatte bald darauf dennoch geheiratet. Einen damals sehr berühmten Bühnendichter. Aber die Ehe war keine glückliche und wurde bald getrennt. Ich warf den Rest der Havanna in den Aschenbecher und entfernte mich unbemerkt, während sich der Baron eben ein Gläschen Mandarin eingoß.

5.

V.

Das Diner hatte knapp vor Ostern stattgefunden. Die Saison ging somit zu Ende, und die gesellschaftlichen Beziehungen lockerten sich, bis sie schließlich der Sommer gänzlich auflöste. Erst der November führte das mehr oder minder weit getrennt Gewesene allmählich wieder zusammen und die »jours« traten in ihr Recht.

So konnte auch ich nicht umhin, mich bei dem der Dame des Hauses einzufinden, wo ich an jenem Abend geladen war. Eintretend, fand ich das Empfangsboudoir fast leer, nur eine Dame saß neben der Hausfrau auf dem Sofa. Zu meiner Überraschung war es die, welche mir damals so viel zu denken gegeben. Es war kaum die gegenseitige Vorstellung erfolgt, als in einer etwas auffallenden Besuchstoilette die schöne Schauspielerin hereintrat. [94] Ja, sie war noch immer schön, obgleich ein Vierteljahrhundert über ihre Blütezeit dahingegangen und sie selbst einigermaßen korpulent geworden war. In das ältere Fach übergetreten, zeigte sie ihr Talent von einer ganz neuen Seite und entzückte wieder das Publikum, das sich ihr schon ein wenig entfremdet hatte. Wir begrüßten einander als alte Bekannte, die sich schon lange nicht mehr gesehen hatten, und bei ihrer lebhaften, humoristischen Art brachte sie sogleich ein allgemein anregendes Gespräch in Fluß. Nur die junge blonde Frau verhielt sich dabei ziemlich teilnahmslos. Nach einer Weile erhob und verabschiedete sie sich.

Sobald sie draußen war, sagte die Schauspielerin: »Mein Gott, was hat denn das liebe Frauchen? Sie ist ja kaum mehr zu erkennen. Vor einem halben Jahr traf ich sie noch blühend und strahlend in einer Soiree bei Weikers. Ist sie vielleicht leidend?«

Auch mir war es aufgefallen. Die Hausfrau aber rückte etwas verlegen auf ihrem Sitze hin und her. »Sie wissen also nichts?« erwiderte sie nach einer Pause.

»Nicht das geringste. Wir Komödianten leben ja eigentlich doch nur in unserer Kulissenwelt.«

»Auch Ihnen ist nichts bekannt?« wandte sich die Hausfrau an mich.

Ich verneinte.

»Merkwürdig. Es wird doch überall davon gesprochen, und so ist es wohl keine Indiskretion, wenn ich Ihnen die Sache mitteile. Die junge Frau hat sich nämlich scheiden lassen, um den genialen Ästheten zu heiraten, der seit ein paar Jahren eine so große Rolle in der Gesellschaft gespielt. Sie kennen ihn ja beide?«

Wir stimmten zu.

»Nun aber hat es der Herr für gut befunden, zurückzutreten und nach London abzureisen. Welch ein Schlag das für die Ärmste war, können Sie sich denken. Mir selbst ist die Affäre [95] auch deshalb peinlich, weil sie sich in meinem Hause angesponnen hat.«

»Ach Gott!« sagte die Schauspielerin. »Man darf derlei nicht zu tragisch nehmen. Die Frau ist ja noch so jung – sie wird sich schon wieder zurecht finden.«

»Das hoff' ich auch«, erwiderte die Dame des Hauses. »Übrigens hatte die Absicht, sich scheiden zu lassen, schon lange vorher bei ihr bestanden. Denn der Baron ist ein ganz unwürdiger Mensch. Ein Spieler, der das kleine Gut, das er besitzt, schon dreifach überschuldet hat. So reizend sie als Mädchen war, hat er sie doch nur ihres Geldes wegen geheiratet. Denn ihr Vater, der verstorbene Hofrat, hat ein sehr bedeutendes Vermögen hinterlassen.«

»Ja, die jungen Mädchen!« sagte die Schauspielerin. »Die springen nur so in die Ehe hinein. Und nun gar mit der Aussicht auf eine siebenzackige Krone im Trousseau.«

»Da irren Sie sich. So oberflächlich war sie nicht, daß sie sich durch Titel ködern ließ. Es wirkten ganz andere Umstände mit. Sie hatte sich im elterlichen Hause sehr unglücklich gefühlt. Denn ihre Mutter hegte seit jeher eine ganz unbegreifliche Abneigung gegen sie, unter der sie sehr litt. Der Baron war ein Bekannter ihres um zwölf Jahre älteren Bruders – und da hatte sie sich entschlossen.«

»Lebt ihre Mutter noch?« fragte ich.

»Kennen Sie sie?«

»Vor vielen Jahren bin ich flüchtig mit ihr zusammengetroffen.«

»Sie kennen Sie also nicht näher. Eine ganz merkwürdige Frau. Sie war nie schön, aber höchst interessant. Dabei eine stolze, herrische Natur. Sie soll einst sehr leidenschaftlich gewesen sein – mir aber hat sie stets den Eindruck großer, fast eisiger Kälte gemacht. Jetzt ist sie – schon seit zwei Jahren schwer krank. Eine Gesellschafterin und zwei Pflegerinnen sind [96] um sie. Ihre beiden Kinder – auch der Sohn ist verheiratet – läßt sie nur selten vor sich.«

»Wer weiß, wie das alles zusammenhängt«, bemerkte die Schauspielerin obenhin.

»Das ist eben ein Rätsel. Was aber die Tochter betrifft, so kann ich nur sagen, daß sie ein ganz wundervoller Charakter ist. Sie hat mir soeben anvertraut, daß sie dem Baron ihren fünfjährigen Knaben ein für allemal abgekauft hat. Das heißt: gegen so und soviel verzichtet er auf seine Vaterrechte. Sie mußte dabei schwere Geldopfer bringen, aber das Kind bleibt ihr bis zur Großjährigkeit erhalten. Sich ganz seiner Erziehung zu widmen, betrachtet sie jetzt als Lebensaufgabe. Sie heiratet gewiß nicht wieder. Und im übrigen wird sie auf dem Gebiete der Frauenfrage und der öffentlichen Wohltätigkeit einen angemessenen Wirkungskreis zu finden trachten.«

Zwei neue Besuche traten ein, das Gespräch unterbrechend ....

[97]

Die Pfründner.

1.

[98] [103]I.

Es war im Vorfrühling. Einige außergewöhnlich schöne und warme Tage hatten in dem Garten des Versorgungshauses für Ortsarme den Rasen zum Grünen und an den Bäumen und Gesträuchen die Knospen zum Schwellen gebracht, ja an dem vernachlässigten Aprikosenspalier längs der Feuermauer des anstoßenden Hauses waren schon weiße Blüten zum Vorschein gekommen. Aber ein plötzlicher Wetterumschlag war erfolgt, und nach starken Regengüssen begann ein rauher Nordwest von der nahen Türkenschanze herüberzufegen. So war denn der Garten, wo sich alte bresthafte Leute schon gehend oder sitzend gesonnt hatten, wieder winterlich verödet. Nur der Pfründner Karl Schirmer betrat ihn noch nach der kärglichen Mahlzeit, die er in einer benachbarten kleinen Gastwirtschaft einzunehmen pflegte. Er wandelte dann trotz der feuchten Kälte, die sehr empfindlich in seinen von mehrfachen Übeln angegriffenen Körper eindrang, auf den verlassenen Pfaden umher. Denn er fühlte sich da unten doch wohler als oben im Hause, wo ihm die Stubengenossen sein jämmerliches Dasein nur noch mehr verbitterten.

So war er auch jetzt wieder, die Schöße des abgetragenen Oberrockes fester an den Leib haltend, in seinem einsamen Rundgang begriffen, als er plötzlich auf entfernterer Bank eine weibliche Gestalt sitzen sah, die vom Kopf bis über die Hüften hinab in ein altes wollenes Tuch gewickelt war. Da er sie nicht kannte, so wollte er, ohne sie weiter zu beachten, an ihr vorübergehen. Als er aber doch näher hinblickte, schien ihm das [103] schmale blasse Antlitz, das aus der Umhüllung halb zum Vorschein kam, nicht ganz fremd zu sein. Er blieb stehen und betrachtete das Weib forschend. Auch sie sah ihn mit sanften blauen Augen an.

»Ich sollt' Sie kennen«, sagte er.

»Freilich kennen S' mich, Herr Schirmer. Und ich hab' Sie auch gleich kennt. Schon von weitem an Ihrem Gang.«

»Jesus!« rief er aus. »Sie sind ja – – «

»Die Rosi bin ich, die bei Ihnen im Dienst war.«

»Mein Gott, die Rosi! Ja, ja, das ist das alte liebe G'sicht – «

»Alt ist's freilich worden – und ich auch.«

»Na, wir sind's alle zwei worden. Aber was machen S' denn da, Frau – Frau – «

»Weigel«, ergänzte sie.

»Richtig! Warten S' auf jemand, Frau Weigel?«

»Warten? Ich bin ja da in der Versorgung.«

»In der Versorgung? Ich hab' Sie aber noch nie g'seh'n.«

»Ich war im Spital. Fünf Monat'. Aber sein denn Sie auch –?«

»Freilich«, erwiderte er mit bitterem Lächeln. »Seit'm neuen Jahr bin ich da.«

»Mein Gott, Herr Schirmer wie sein S' denn nur so weit – – G'hört hab' ich wohl schon lang, daß's Ihnen schlecht geht – – «

»Aber so schlecht, hätten S' Ihnen doch nicht denkt. Na, da wär' viel drüber z' reden.«

»Sie waren halt immer z' gut, Herr Schirmer. Viel z'gut – «

»Ah was, z'gut!« unterbrach er sie. »Dumm bin ich mein Lebtag g'wesen – und schwach. Drum bin ich auch z'grund gangen.«

»Und die Frau«, fragte sie zögernd, »ist die g'storben?«

»Die lebt. Und ganz lustig auch noch – bei ihrem alten [104] Liebhaber in Grinzing. Aber wie ist's denn mit Ihnen? Sie haben ja damals eine ganz gute Partie g'macht. Ihr Mann war ja Werkführer in der Parkettenfabrik.«

»Ja, das war er. Und es ist uns die erste Zeit ganz gut gangen. Aber da ist der Teufel in ihn g'fahren. Er hat ein eigenes G'schäft anfangen wollen – in Favoriten. Aber es hat sich gar nicht rentiert, und wir sind mehr und mehr herunterkommen. Und da hat er z' trinken ang'fangen bis das Letzte vertrunken war, so daß ich nach sein' Tod im Elend z'ruckblieben bin.«

»Also Witwe. Haben S' Kinder?«

»Keine. Um eins bin ich kommen. Seit der Zeit bin ich auch nimmer recht g'sund g'wesen. Hab' mir daher auch nix verdienen können. Nach allem Möglichen hab' ich g'riffen. Z'letzt bin ich ins Bedienen gangen. Aber ich hab's nicht leisten können und hab' froh sein müssen, daß s' mich als Zuständige da aufg'nommen haben.«

Er betrachtete sie teilnehmend. Die Sonne warf eben jetzt aus grauen Wolken heraus einen leuchtenden, wärmenden Strahl über den Garten.

»Arme Frau«, sagte er leise, während er sich mit halbem Leibe neben ihr auf die Bank niederließ. »Und im Spital waren S'?«

»Grad bin ich 'rauskommen.«

»Was hat Ihnen denn g'fehlt?«

»Ganz ein' eigene Krankheit. Auf der schwarzen Tafel über meinem Bett war's aufg'schrieben. Ich kann mir's nicht merken.«

»Haben S' Schmerzen g'habt?«

»Schmerzen just nicht. Aber fast am ganzen Leib war ich steif. Ich hab' schon nicht mehr gehn können. Das ist drin besser worden durch die vielen Bäder und das Massieren. Da haben s' mich auch wieder 'rausg'schickt. Aber die Arm' kann ich noch immer nicht recht bewegen, und die Händ' sind wie [105] aus Holz. Schau'n S' nur her.« Sie zog unter dem Tuche eine aufgequollene, mißfarbige Hand hervor, deren Finger eigentümlich gekrümmt waren.

Er befühlte sie zaghaft. »Mein Gott, wirklich wie aus Holz«, sagte er. »Aber trösten S' s Ihnen. Wenn die Füß' besser worden sind, können's die Händ' auch werden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das hoff' ich nicht. Die Arzt' haben selber g'sagt, daß ich die Sach' nimmer ganz losbringen werd'. Und manchmal krieg' ich auch solche Zuständ'. Da schnürt's mir den Kopf und die Brust z'samm', daß ich jetzt und jetzt glaub', es ist meine letzte Stund'!«

Er seufzte tief auf. »Schrecklich! Die Krankheiten, die's auf der Welt gibt! Was ich alles hab', kann ich Ihnen gar nicht sagen.«

»Ja, sein S' denn nicht g'sund?«

»G'sund?! Ein Krüppel bin ich, ein elender Krüppel!«

Sie blickte ihn erstaunt an. Sein gut gefärbtes Gesicht, seine noch hellen, nur an den Lidern etwas entzündeten Augen schienen diesen Jammerruf Lügen zu strafen. »Aber anmerken tut man Ihnen nix«, sagte sie. »Sie hab'n sich fast gar nicht verändert seit damals. Grau – oder eigentlich weiß sind S' freilich worden.«

»Das ist's ja, was mein Elend noch ärger macht«, versetzte er. »Wenn mich einer so anschaut, glaubt er gar nicht, daß ich krank bin. Denn von den Martern, die ich ausz'steh'n hab', weiß er nichts. Umbracht haben s' mich freilich noch nicht. Aber auf ja und nein kann's kommen, daß man mich ins Spital 'neinschleppt und unters Messer liefert. In Gott'snamen! Denn da herin ist's so nicht mehr zum aushalten.«

Sie blickte mit beistimmendem Kopfnicken vor sich hin. »Wo sind S' denn?« fragte sie dann. »Oben oder unten?«

»Oben«, sagte er mit bitterem Hohn. »Sie haben mir ja die Ehr' antan und mich ins Herrenzimmer geben. Aber ich wär' viel lieber unten bei die alten Schnapsbrüder.«

[106] »Das glaub' ich. Denn da oben sind S' ja mit dem Weißeneder beisammen.«

»Ja, das ist einer! Möcht' wissen, wo der Kerl den Hochmut hernimmt. Er behandelt einen grad so, als wär' man sein Bedienter. Und die andern zwei, die noch im Zimmer sind, stoßen in sein Horn. Denn er ist nun einmal der Stubenvater, mit dem sich's keiner verderben will.«

»Unten bei die Weiber ist's auch nicht viel besser. Da führt die Professerstochter 's Regiment. Die ist der reine Satan. Auf mich hat sie's seit jeher abg'sehn g'habt.«

»Mich kann s' auch nicht leiden. Die alte Hex' möcht' haben, daß man ihr in einem fort Schönheiten sagt. Das bring' ich nicht übers Herz. Aber der Weißeneder halt's mit ihr. Man sollt's nicht glauben.«

»Er weiß schon, warum er's tut. Bei dem gibt's nix umsonst. Vor die zwei muß man sich in acht nehmen. Drum fürcht' ich mich auch jetzt, 'neinz'gehn, und hab' mich da im Garten niederg'setzt.«

»Ja, wir haben's gut troffen, liebe Frau Weigel. Aber was woll'n wir machen? Müssen's halt aushalten, so lang's geht. Aber wissen S', mir ist's völlig ein Trost, daß wir jetzt beieinander sind.« Er langte nach ihrer Hand, die sie wieder unter das Tuch gezogen hatte, und drückte sie sanft, eingehüllt, wie sie war.

Eine Kirchturmuhr schlug in der Ferne.

»Zwei Uhr«, sagte er, sich rasch und ängstlich erhebend. »Ich muß 'nauf, Karten spielen. Ich wüßt' nicht, was mir zuwiderer wär'! Ich verlier' dabei meistens meinen letzten Kreuzer. Aber ich kann mir nicht anders helfen, sonst seckieren s' mich wieder bis aufs Blut. B'hüt Ihnen Gott derweil, Frau Weigel.«

Sie blickte ihm mit gesenktem Haupte nach. Der Himmel hatte sich inzwischen etwas aufgeheitert. Helles Blau kam über dem Garten zum Vorschein, und sonnige Lichter umspielten [107] die Bank, auf der sie noch eine Weile in Gedanken versunken sitzen blieb. Endlich, mit sichtlich schwerem Entschlusse, erhob sie sich mühsam, nahm das Bündel auf, das neben ihr unter dem Tuch gelegen hatte, und bewegte sich der Weiberabteilung zu, die sich im rechten Erdgeschoß des Hauses befand.

2.

II.

Karl Schirmer, oder, wie er früher stets genannt wurde, der »Schirmer Karl« war eine jener im Grunde des Herzens ehrlichen, aber willensschwachen und kleinmütigen Wiener Naturen, wie sie noch heute nicht bloß als atavistische Erscheinungen vorkommen. Von seinem Vater, einem wohlhabenden Holzhändler an der Donaulände, hatte er Tatkraft und Betriebsamkeit nicht ererbt; der Sohn war mehr der Mutter nachgeraten, die eine sinnenfrohe, sorglose und in ihrer Weise sentimentale Frau gewesen. Ihr erstes und einziges Kind, ihren Karl, liebte sie abgöttisch und hatte seinetwegen, nachdem ihr Mann plötzlich am Herzschlag verschieden war, nicht wieder geheiratet, obgleich es der noch immer stattlichen Witwe an Bewerbern nicht gefehlt haben mochte. Der Geschäftsführer jedoch, der notgedrungen aufgenommen werden mußte, verstand es, sich bei ihr in Gunst zu setzen, so daß sie nach und nach fast ganz unter die Botmäßigkeit dieses rohen, dem Trunke nicht abholden Mannes kam. Nur in allem, was ihren Karl betraf, gab sie nicht nach und verteidigte ihn oft wie eine Löwin ihr junges gegen die derben Erziehungsversuche des Halbgatten. Infolgedessen kam es, daß der Knabe den Geschäftsführer haßte und, das Unlautere der häuslichen Verhältnisse instinktiv herausfühlend, die Mutter trotz ihrer Zärtlichkeit nicht sonderlich liebte. So wurde er gewohnt, in sich selbst hineinzuleben. Er suchte entlegene und einsame Räume des Hauses auf oder versteckte sich draußen zwischen dem hoch aufgeklafterten Holze, wo er oft stundenlang ohne jede Beschäftigung zubrachte. Auch das [108] Spielen mit anderen Knaben freute ihn nicht. Denn die Kinder in der nächsten Umgebung waren nicht die feinsten und hatten ihn gleich bei den ersten Begegnungen tüchtig durchgebläut. Diesem inhaltslosen Jugenddasein entsprechend war auch sein Bildungsgang. Um einst das Geschäft zu übernehmen, brauchte er in jener Zeit nur lesen, schreiben und rechnen zu können, und das lernte er ja zur Not in der Normalschule, in die man ihn schickte. Endlich kam es auch dahin, daß er versuchen mußte, sich ein wenig im Geschäft umzutun und in die Bücher und Rechnungen Einsicht zu nehmen. So oft er sich aber dazu anschicken wollte, wurde ihm diese Bemühung durch die Art und Weise des Geschäftsführers derart verleidet, daß er immer froh war, die Schreibstube wieder hinter sich zu haben. Schließlich beschränkte er sich darauf, bei dem Ausladen des Holzes gegenwärtig zu sein, das auf Schiffen oder Flößen die Donau herunter kam; aber er hatte da mehr den blauen Himmel und die grünen Baumwipfel der Brigittenau im Auge. Hingegen kam er durch nachbarliche und sonstige Beziehungen nach und nach in recht lockere Gesellschaft. Die Söhne wohlhabender Bürgerfamilien, die in den angrenzenden Vororten ihren Sitz hatten, wußten damals nichts Besseres zu tun, als es in ihrer Weise »umgehen« zu lassen. Sie kannten die besten Heurigenschenken, wo sie schon vormittags zu finden waren, und nachmittags fuhren sie in feschen Zeugeln in den Prater oder sonstwohin, wo es eine »Hetz'« gab. Auch nachts waren sie um Unterhaltung nicht verlegen und trafen in Lokalen zusammen, wo ihnen »saubere Madeln« Gesellschaft leisteten. Und der Schirmer Karl mußte mittun, ob er nun wollte oder nicht. Eigentlich wollte er nicht, denn er saß am liebsten für sich allein am Ufer des Kanals und fischte. Aber da kam ihm die ganze Rotte lärmend ins Haus gefallen und zog ihn mit Gewalt fort. So gewöhnte er sich allmählich, widerstandslos wie er war, Wein zu trinken, der ihm gar nicht mundete, und ließ sich ohne Vergnügen mit Frauenzimmern ein, die ihm schön taten, um ihm sein Geld abzunehmen. [109] Dieses Leben ging so fort, bis seine Mutter, die zu kränkeln begonnen hatte, eines Tages starb. Nun war er wirklich der Herr. Statt aber den unleidlichen Geschäftsführer abzuschaffen, behielt er ihn der lieben Bequemlichkeit halber bei; er hatte sich ja auch überzeugt, daß der Mann insofern ehrlich war, als er nicht allzuviel für sich selbst auf die Seite brachte. Und es dauerte nicht lange, so heiratete der Schirmer Karl auch. Denn als er wieder einmal mit den Kumpanen beisammen war, hatte ihn der junge Menzinger – er hieß Franz – mit der Hand derb auf die Achsel geschlagen und gesagt: »Du, Karl, du mußt meine Schwester heiraten.« Dem Überraschten gefiel diese Schwester gar nicht. Sie war ihm hin und wieder flüchtig begegnet, wobei er gefunden hatte, daß sie nicht übel gewachsen war. Aber ihr Gesicht mit dem langen, vorspringenden Kinn und den starren schwarzen Glaskugelaugen hatte ihm mißfallen und ihre scharfe, schnarrende Stimme nicht bloß im Ohr weh getan. Aber der Menzinger Franz hatte ja gesagt und in nächster Zeit immer wiederholt, daß er sie heiraten müsse – und so tat er's. Es wurde ihm auch von verschiedenen Seiten sehr wohlmeinend erklärt, daß die Menzinger Theres wenigstens zehntausend Gulden mitbekommen werde, die doch im Geschäft sehr nutzbringend angelegt werden könnten. Und überdies: er sah ein, daß er eine Hausfrau brauche, denn es sah bei ihm schon recht unordentlich aus. Er freute sich, daß es nunmehr mit der wüsten Tagdieberei und Zecherei ein Ende haben und er in der Lage sein würde, endlich das Geschäft wirklich in die Hand zu nehmen. Er war dazu um so mehr gezwungen, als ihm der bisherige Leiter, der sein Schäflein ins trockene gebracht, den Dienst gekündigt hatte. Aber die behagliche Häuslichkeit, auf die er gerechnet, wollte sich nicht einstellen. Denn kaum daß die Honigmonde – wenn es wirklich solche waren – ihr Ende gefunden hatten, mußte er erkennen, daß die Menzinger Theres eher an alles andere dachte als an die Pflichten einer sorglichen Ehegattin. Sie wollte sich beständig unterhalten [110] und zwang ihn, sie an öffentliche Vergnügungsorte zu führen, wobei sie sich an auffallendem Putz nicht genug tun konnte. Und als er endlich bescheidenen Einwand erhob und meinte, so könne das Leben nicht weitergehen, da erwiderte sie sehr gereizt, ob er denn glaube, daß sie ihn geheiratet habe, um mit ihm in der »Hütten« zu sitzen. So nannte sie mit Vorliebe das zwar niedere, aber sehr weitläufige Schirmersche Haus. Und was ihren Kleideraufwand betraf, so wies sie auf ihre Mitgift hin, die übrigens noch immer unverzinst bei Vater Menzinger steckte. Und als das Leben in der Tat nicht mehr so weiterging, wurde sie mürrisch, zänkisch und erklärte ihm bei jeder Gelegenheit, daß er das Geschäft nicht verstehe. Dieser Vorwurf traf ihn um so schmerzlicher, als er auf Wahrheit beruhte; er selbst sagte es sich ja oft genug im stillen. Und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Zwischendurch kam freilich etwas, um das sinkende Schiff wieder zu heben. So zuweilen eine große Bestellung auf Bauholz, da ja die Stadterweiterung mehr und mehr in Zug kam. Aber im ganzen wollte das nicht viel besagen, und der einst so blühende Handel schleppte sich nur mühselig dahin. Und das Leben Schirmers wurde danach. Seine Frau kümmerte sich mit unverhohlener Verachtung immer weniger um ihn. Sie hatte sich ein paar flotte Freunde ins Haus gezogen, darunter einen reichen, vierschrötigen Weingärtenbesitzer aus Grinzing. Mit diesen Freunden, die immer mit Wagen angesaust kamen, fuhr sie über Land oder in die Stadt hinein, wo man gemeinschaftlich Theater besuchte oder zu Volkssängern ging, die sich gerade besonderer Beliebtheit erfreuten. Ihr Mann nahm sich das nicht sonderlich zu Herzen. Er hatte sie ja nie geliebt und war eigentlich froh, daß er jetzt abends allein sein und, wenn es die Jahreszeit erlaubte, wieder seinem alten Vergnügen, dem Angeln, nachhängen konnte.

Um diese Zeit traf es sich, daß ein neues Dienstmädchen ins Haus kam. Sie hieß Rosalie Eder und war die Tochter eines Gemeindedieners. Schlank und zart gebaut, sah sie mit [111] gesundblassen Wangen, blondem Kraushaar und mit großen Augen, die wie Kornblumen leuchteten, jünger aus, als sie wirklich war, denn sie mochte schon ziemlich tief in den Zwanzigern stehen. Sie hatte ein stilles, etwas schwermütiges Gehaben. Manchmal begann sie ganz leise vor sich hin zu trällern, verstummte aber gleich wieder, gewissermaßen vor sich selbst erschreckend. Es war kein Wunder, daß sie dem Vereinsamten von Tag zu Tag besser gefiel. Sie führte ihm ja eigentlich das Hauswesen und kam ihm daher oft genug vor Augen. Ihr Anblick erfüllte ihn immer mit Freude, aber auch mit Schmerz. »Wenn das meine Frau wäre!« sagte er zu sich selbst. »Wie glücklich wär' ich!« Und er konnte auch bemerken, daß ihn das Mädchen keineswegs gleichgültig ansah. Vielmehr lag etwas wie zärtliche Teilnahme in ihrem sanften Blick. Ja, ein anderer als der Schirmer Karl hätte nicht viel Federlesens gemacht und sie, wenn sie ihm so mit halbentblößten Armen das Essen auftrug, herzhaft an sich gezogen. Er jedoch tat es nicht. Wohl kaum aus moralischen Bedenken. Aber er war eine ängstliche Natur, und als solche bedachte er die Folgen. »Ich bin ein verheirateter Mann«, sagte er sich, »was sollte daraus werden?« So unterließ er es, seine Neigung kundzugeben; ja er schlug immer die Augen nieder, wenn er notgedrungen mit der Rosi reden mußte. Einmal nur, als sie ihm wieder das Nachtmahl vorsetzte, konnte er sich nicht enthalten, ihre Hand zu ergreifen, die trotz aller harten Arbeit stellenweise ganz blühweiß aussah, und sie eine Zeitlang festzuhalten. Aber er sah dabei dem Mädchen nicht in das erglühende Gesicht und sagte kaum hörbar, denn es verschlug ihm die Stimme: »Rosi, ich hab' Sie so gern.« – »Ich hab' Ihnen auch gern, Herr Schirmer«, erwiderte sie still. Dabei blieb es. Aber der Schirmer fing jetzt zu leiden an. Denn seit er die sanfte Wärme ihrer Hand gespürt, kam immer stärkere Sehnsucht über ihn, die er nur mit Gewalt zu unterdrücken vermochte. Er konnte kaum mehr das Essen hinunterbringen, das sie ihm vorsetzte. So atmete er fast wie befreit [112] auf, als die Rosi eines Tages den Dienst kündigte. Sie werde heiraten, sagte sie. Einen Werkmeister in der Nußdorfer Parkettenfabrik. Als sie Abschied nahm, seine Frau war zufällig auch dabei, sprach er halb abgewandt: »Werden S' recht glücklich, liebe Rosi.«

Er aber wurde jetzt immer unglücklicher. Denn bald nachdem Rosi das Haus verlassen und einer derben, grobknochigen Magd den Platz geräumt hatte, erlitt er im Geschäft einen furchtbaren Verlust. Ein unternehmender Architekt hatte von ihm eine Unmasse Bauholz auf Kredit bezogen. Eines Tages entleibte sich der Mann, und es stellte sich heraus, daß seine Gläubiger das leere Nachsehen hatten. Am ärgsten war Schirmer getroffen, und er erkannte, daß er nun selbst vor dem vollständigen Ruin stehe. Man riet ihm auch gleich von mehreren Seiten, Konkurs anzumelden, damit er doch vor dem unvermeidlichen Zusammenbruch noch einiges für sich selbst errette. Aber das ging dem Schirmer gegen das Gefühl. Dazu war er im Grunde zu ehrlich oder zu wenig gescheit; auch hatte er in seiner angeborenen Ängstlichkeit seit jeher eine große Scheu vor allen gerichtlichen Verhandlungen empfunden. Er rechnete und fand, daß er sämtlichen Verpflichtungen doch zur Not nachkommen könne, wenn er seinen ganzen Besitz einem Käufer überließ, der sich angeboten hatte. Die Familie seiner Frau und diese selbst widersetzten sich aufs heftigste. Sie gaben ihm alle möglichen Namen, mit denen man den Mangel an gesunden fünf Sinnen zu bezeichnen pflegt. Aber es nützte nichts: er blieb fest. Hinterlistige Machenschaften waren nun einmal gegen seine Natur, und aus dieser konnte er trotz aller Schwäche nicht herausgebracht werden. Er schloß also den Handel um so mehr ab, als ihm der Käufer eine kleine Wohnung im rückwärtigen Teil des Hauses zusicherte und ihn, da ihm doch alte Einzelheiten des Geschäftes bekannt waren, zum vorläufigen Leiter gegen einen allerdings geringen Monatslohn in seine Dienste nahm. Das war nun freilich ein Anlaß für die Frau, zu erklären, daß [113] sie unter solchen Umständen nicht länger bei ihm bleiben könne. Er war es auch ganz zufrieden und überließ ihr das Heiratsgut, das ja noch immer nicht ausbezahlt worden war. Sie aber ging zu ihrem Freunde, dem Grinzinger Weingärtenbesitzer, um ihm, dem Unbeweibten, die Wirtschaft zu führen.

So eng und dürftig sich jetzt auch die Verhältnisse Schirmers gestalteten, er fühlte sich doch zum erstenmal im Leben glücklich. Denn er war jeder persönlichen Sorge ledig und hatte nur darüber zu wachen, daß sich die Arbeiten im Geschäfte ordentlich vollzogen. Und da war es merkwürdig, wie wohltätig die Erfüllung einer einfachen, aber bestimmten Pflicht auf den wenig umsichtigen Mann wirkte. Was er in seiner Jugend, träg und zerstreut, wie er gewesen, nur mißmutig getan, dem kam er jetzt mit Lust und Liebe nach. Er kannte zu dieser Zeit kein besseres Vergnügen, als auf dem Holzplatze oder am Kanalufer zu stehen, das Ab- und Aufladen genau zu überwachen und oft genug selbst mit Hand anzulegen. Die Arbeitsleute, die ihn, solang er noch der Herr war, mehr oder minder über die Achsel angesehen, bekamen jetzt Respekt vor ihm. Sie fanden es schön, daß er sich so willig selbst zur Arbeit herbeiließ, und fühlten eine Art ehrfürchtigen Mitleids mit ihm. So war auch der neue Besitzer mit ihm zufrieden und war froh, ihn zur Hand zu haben. Er aber lebte gleichfalls in Zufriedenheit seine Tage hin, stand frühmorgens auf, nahm seine schlichten Mahlzeiten in dem nahen Strandwirtshause »Zum König von Bayern« und ging früh zu Bett, um den Schlaf des Gerechten zu schlafen.

So verstrich Jahr um Jahr, und er würde sich kein anderes Los gewünscht haben, wenn sich nicht körperliche Leiden eingestellt hätten. Seine Gesundheit, ob er auch seit jeher, wie ihm immer gesagt wurde, vortrefflich aussah, war niemals eine sehr feste gewesen. Er hatte immer zu Erkältungen geneigt, und seit er nun fast den ganzen Tag bei jedem Wetter im Freien zubringen mußte, wurde er mehr und mehr von Katarrhen [114] und rheumatischen Schmerzen befallen. Auch hatte er sich, als er beim Heben eines sehr schweren abgeholzten Stammes mithalf, einen Schaden am Leibe zugezogen, den er, indolent, wie er war, anfänglich nicht beachtete. Nach und nach aber wurden die Beschwerden immer größer, und der endlich zu Rate gezogene Arzt konnte ihm nur mehr Vermeidung jeder körperlichen Anstrengung verordnen. Das war nun leichter gesagt als getan, und so schleppte er sich mit dem stetig zunehmenden Übel mühselig dahin. Eines Morgens aber konnte er nicht mehr aufstehen. Sein linkes Bein war während der Nacht plötzlich von einer heftigen Ischias ergriffen worden, die ihn wochenlang ans Bett fesselte. Halbwegs genesen, vermochte er nur mit Hilfe eines Stockes zu gehen, und das erste feuchtkalte Herbstwetter warf ihn nochmals danieder. An fernere Dienstleistung war also nicht zu denken; jeder andere Brotherr als der seine würde ihn entlassen haben. Dieser aber empfand Mitleid und beließ dem gealterten Mann Wohnung und Gehalt, ohne weitere Anforderungen an ihn zu stellen. Die inzwischen herangewachsenen Kinder jedoch begannen den Alten, der hier das Gnadenbrot aß, mit scheelen Augen zu betrachten. Vor allen der älteste Sohn, der einst das Geschäft zu übernehmen hatte. Er stellte dem Vater vor, daß es mit dem Schirmer nicht so weitergehen könne. Das Hinterhaus, in dem er wohnte, sei aufs äußerste baufällig und erheische dringend umfassende Reparaturen oder wäre noch besser durch einen den Verhältnissen entsprechenden Neubau zu ersetzen. Man solle also trachten, den Alten in einer Bürgerversorgung unterzubringen, worauf er ja vollen Anspruch habe. Er erhalte dann auch das normalmäßige Pfründnergeld, und so könne er seine Tage in Ruhe beschließen.

Das alles mußte sich Schirmer selbst sagen und erhob keinen Einspruch, als ihm sein Herr eines Tages mitteilte, er habe für ihn die Aufnahme in das Armenhaus der Gemeinde erwirkt. Er machte sich bereit, seine alte Heimstätte zu verlassen, und [115] schied von ihr ohne besonderes Herzweh. Denn in dem Hause am Donaustrande, das einst sein Großvater erbaut, an den er sich, wie an seinen Vater, kaum mehr erinnerte, hatte er ja nur Schlimmes und Trauriges erlebt. Und bei seiner Gemüts- und Sinnesart würde er sich auch in der Versorgung ganz zufrieden gefühlt haben, wenn er dort abseits von den anderen Mitbewohnern hätte hausen können. Aber das gab's eben nicht. Denn selbst das Herrenzimmer im ersten Stockwerk, wohin man ihn aus besonderer Rücksichtnahme versetzt hatte, war für vier Insassen bestimmt. Er mußte also mit noch drei anderen beisammen sein. Und diese drei Kumpane waren derart, daß sie ihm das bißchen Daseinsgefühl gründlich verleideten. Sämtlich aus guten Bürgerfamilien stammend, hatten sie es durch Leichtsinn so weit gebracht, daß sie ihre ererbten Geschäftsbesitze gründlich vertan hatten. Mit verschiedenen späteren Unternehmungen hatten sie, nicht sehr bedenklich in der Wahl der Mittel, ihr Dasein zur Not weiter gefristet, bis sie endlich, auf Namen und Verdienste ihrer Vorvorderen pochend, in den Hafen der Versorgung eingelaufen waren. Diese geriebenen Leute hatten sehr bald erkannt, daß ihr neuer Genosse im Grunde des Herzens schwach und furchtsam war, und betrachteten ihn als willkommene Beute ihrer niedrigen Gesinnungen. Sie waren roh und herrisch gegen ihn, legten ihm allerlei auf, wozu er keineswegs verpflichtet war, und nahmen ihm bei erzwungenem Kartenspiel sein Geld ab. Auch sonst schikanierten sie ihn in jeder Weise. Besonders durch rücksichtsloses und boshaftes Bewerkstelligen von Zugluft, gegen die der an Rheumatismus Leidende ungemein empfindlich war.

Das Haupt dieses Dreibundes war ein alter hagerer Wiener »Biz« mit einem frechen Gesicht und dünnen, an den Schläfen nach vorn gestrichenen grauen Haaren, der einst im Orte ein großes, sehr gut besuchtes Kaffeehaus besessen hatte. Auf diese Vergangenheit war Herr Weißeneder noch immer sehr stolz, wobei er jedoch vergaß, daß er später als Kognak- und Zigarrenagent [116] verschiedener Unredlichkeiten halber einige Monate im »grauen Hause« gesessen hatte. Trotzdem war er jetzt als Ältester Stubenvater, eine Würde, die er mit großtuerischem Wesen ausnützte. Da er mit einer Venenerweiterung an den Beinen behaftet war, so blieb er meist den ganzen Vormittag im Bette, wobei er Schirmer alle möglichen Handreichungen auferlegte. Nachmittags aber suchte er seine Freundin in der Weiberabteilung auf. Diese Freundin, namens Leontine Hanstein, wurde allgemein nur die Professorstochter genannt. Ihr Vater hatte im Laufe der vierziger Jahre ein Knabenpensionat unterhalten, das sich eines sehr guten Rufes erfreute. Die anmutige Lage des Ortes, das Haus mit großem Garten, in dem es sich befand, bewog wohlhabende Eltern in der Provinz, ihre Söhne auf die Dauer der Lernzeit dort unterzubringen. Herr Hanstein verdiente also ein hübsches Stück Geld, und als er als Witwer starb, fand sich auch ein nicht ganz unbeträchtliches Vermögen vor. Die Tochter aber, sein einziges Kind, brauchte es in ganz kurzer Zeit auf. Denn sie war vergnügungs-und gefallsüchtig und stets bemüht, ihrer zweifelhaften Schönheit durch ungemessenen Putz aufzuhelfen. Sie ließ sich in törichte Liebeshändel ein, die immer im Sand verliefen, bis sie endlich ein unternehmender Heiratsschwindler um den Rest ihrer Habe brachte. Nun war guter Rat teuer, und die alternde Kokette mußte mit ihren nicht ungeschickten Händen zu erwerben trachten. Sie erhielt Arbeit in einem Damenmodegeschäft. Aber sie blieb nicht lang bei der Stange und geriet mehr und mehr auf unsaubere Abwege, bis sie endlich, körperlich gebrochen und wirklich erwerbsunfähig, hier unterkriechen konnte. Aber eine Liebesnärrin, wie sie war, wollte sie noch immer gefallen und suchte sich mit gefärbten Haaren und falschen Zähnen den Anschein von Jugendlichkeit zu geben. Herr Weißeneder benützte diese Schwäche und spielte sich als Liebhaber auf, um sie zu allerlei Unterhaltungen führen zu können, wobei sie ihn natürlich freihalten mußte. Denn sie setzte auch in der Versorgung das [117] langbetriebene Geschäft des Schreibens von Bettelbriefen fort, die meist an ehemalige, jetzt in hervorragenden Lebensstellungen befindliche Schüler ihres Vaters gerichtet waren und nicht seiten ganz erkleckliche Unterstützungen eintrugen. Den Schirmer aber haßte sie, weil er ihr die Huldigung, die sie von jedem neuen Ankömmling im Herrenzimmer erwartete, nicht dargebracht hatte.

So war denn im ganzen Hause keine Seele, die dem Ärmsten wohlwollte; die alten Leute, die unten in der gemeinsamen Männerabteilung zusammengepfercht waren, hatten ja auch nur scheele Blicke für die bevorzugten Oberen. Nun aber war plötzlich ein Sonnenstrahl in das öde Dunkel seines Daseins gefallen. Frau Weigel, die Rosi, war mit ihm unter einem Dache. Nun hatte er jemand, mit dem er einmal vom Herzen weg reden konnte. Und er würde jetzt täglich das liebe gute Gesicht erblicken, das sich im Laufe der Jahre trotz Not und Krankheit nur wenig verändert hatte. Ein Gefühl aus der Zeit, da er mit ihr zusammen gewesen, überkam ihn. Es war wie ein Hauch der Jugend, der ihn anwehte, und leichter und schneller als sonst stieg er die Treppe zum Herrenzimmer empor, wo ihn, während Herr Weißeneder noch im Bette lag, die beiden anderen Kumpane schon zum Tarock erwarteten. Da er an Rosi dachte, spielte er noch schlechter als sonst und verlor zwei Sechser. Aber er war dabei ganz wohlgemut und fragte Herrn Weißeneder, als dieser endlich Anstalten machte, sich vom Lager zu erheben, ob er ihm nicht irgendwie behilflich sein könne.

3.

III.

Er konnte kaum den Augenblick erwarten, wo er die Rosi wiedersehen würde. Aber am nächsten Tage regnete es wieder, und auch in den nächstnächsten fand sich keine schickliche Gelegenheit. Denn auffällig wollte er es nicht machen, geschweige denn, sie etwa in der Weiberabteilung aufsuchen.

Da geschah es, daß unten ein alter Mann vom Schlage [118] gerührt wurde und starb. An dem Leichenbegängnis mußten sämtliche Pfründner teilnehmen. Sie gingen paarweise geordnet hinter dem mit einem abgeschabten Bahrtuch bedeckten Sarge. Zuerst die Männer, dann die Frauen, die sich, so gut es ging, in eine Art Trauerstaat versetzt hatten. Gleich hinter dem Geistlichen aber und einem Gemeindevorsteher, der von Amts wegen bei der kargen Feierlichkeit anwesend sein mußte, schritten, gewissermaßen als Oberhäupter der folgenden Schar, Herr Weißeneder und Fräulein Hanstein. Diese hatte sich einen alten schwarzen Krepphut mit schleißigen Schwungfedern aufgeputzt, die über ihrer verwitterten und windschiefen Gestalt hoch hin und her schwankten. Der frühere Kaffeehausbesitzer aber trug einen fragwürdigen, schief aufs Ohr gesetzten Zylinder und einen fadenscheinigen Leibrock, der vorn an der Brust mit brüchiger Seide ausgeschlagen war.

So bewegte sich der Zug zu dem Friedhof auf der Türkenschanze hinan, der erst seit einigen Jahren bestand und daher noch nicht viele Gräber aufwies; an einer großen Grufthalle für vornehme Tote wurde sogar noch gebaut. Nur im vordersten Teile drängten sich die Hügel aneinander, mit Blumen und Denksteinen geschmückt, während der übrige, weit bemessene Raum brach innerhalb der Umfassungsmauer lag. Links aber, nicht weit vom Eingang, befand sich das Schachtgräberfeld. Dort versenkte man die Armen, die keine eigene Ruhestätte bezahlen konnten und der Vergessenheit anheimfielen. Der Platz sah wüst genug aus. Eine holperige, von schütterem Graswuchs bedeckte Fläche, aus der hier und dort ein kümmerliches, rasch vergängliches Holzkreuz hervorragte.

Die Grube für den alten Mann stand schon offen. Der Priester machte nicht viele Umstände. Er sprach ein kurzes Gebet, schwenkte ein paarmal das Weihrauchfaß, die Anwesenden ließen jeder eine Schaufel Erde auf den Sarg niederpoltern – und die Sache war abgetan. Die Würdenträger entfernten sich so rasch wie möglich, denn da es ein schöner wolkenloser [119] Tag war, so brannte die Sonne schon sehr empfindlich auf den Nacken. Auch die Pfründner zerstreuten sich. Die einen, um wieder nach Hause zu gehen, die anderen, vorwiegend Weiber, um die vornehmeren Gräberreihen zu besichtigen. Nur die Weigel verweilte noch, während der Totengräber das frische Grab zuwarf. So blieb auch Schirmer in einiger Entfernung zurück. Er sah, wie sie jetzt an ein großes Kruzifix herantrat, das mit einem Betschemel versehen und als gemeinsames Denkmal bei dem Gräberfelde angebracht war. Dort sank sie in die Knie, faltete die Hände, die in groben Handschuhen staken, und begann andächtig zu beten. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, aus dem ihr schmales Antlitz mit der fein geschwungenen Nase licht hervorschimmerte. Rückwärts kam ein noch blonder Haarknoten halb zum Vorschein, der in der Sonne wie Gold glänzte. Wie schön sie noch immer ist! dachte Schirmer und war glücklich, sie betrachten zu können.

Jetzt aber bekreuzte sie sich und stand auf. Dabei fiel ihr Blick auf Schirmer, der ganz leise nähergetreten war. »Sie sein da, Herr Schirmer?« fragte sie ein bißchen verwirrt.

»Schon die längste Zeit. Und hab' zug'schaut, wie andächtig Sie waren.«

»Ich hab' für meine Eltern bet't – und auch für mein' Mann«, erwiderte sie still. »Aber die anderen sind schon alle weg«, fuhr sie umherblickend fort.

»Ja. Und das ist gut. Da können wir doch ungeniert miteinander reden. Wie geht's Ihnen denn, Frau Weigel?«

»Mein Gott, wie soll's mir denn gehn? So im ganzen ist mir ein bissel leichter.«

»Sie schaun auch schon viel besser aus. Und schön sein S' auch noch immer.«

»Ach gehn S'«, sagte sie und wurde rot. Dann begann sie sich langsam in Bewegung zu setzen. Er blieb ihr zur Seite, und bald waren sie bei den stattlichen Gräberreihen angelangt, die jetzt schon wieder still und verlassen dalagen. Sie traten [120] in eine hinein. Ein schwerer Duft von Hyazinthen und Narzissen, die auf den Hügeln blühten, schlug ihnen entgegen.

Sie betrachteten schweigend die Denksteine und die darauf angebrachten Skulpturen. Endlich sagte die Rosi:

»Ja, die Reichen, die können so schön begraben werden. Unsereins wird verscharrt wie ein Hund. Und doch wär's gut, wenn man schon da unten liegen möcht'.«

»Weiß Gott!« erwiderte er. »Ich hab' schon oft dran denkt, meinem elendigen Leben ein End' z'machen. Aber sehn S', Frau Weigel, seit Sie jetzt im Haus' sind, bin ich wie ausgewechselt. Das Leben freut mich wieder, denn mir ist, als wär' alles wieder wie damals. Erinnern S' Ihnen noch an die Zeit?«

Sie senkte den Blick. »Warum soll ich mich denn nicht erinnern? Es war ja so schön da unten an der Donau.«

»Und wissen S' noch, wie gern ich Sie g'habt hab'?«

»Ich weiß's. Aber es hat ja nicht sein können.«

»Es hätt' schon sein können. Aber wir haben uns nicht 'traut.«

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Es hat nicht sein können, denn es hätt' sich nicht g'schickt. Schwer is mir g'nug worden. Es hat mir völlig 's Herz ab'druckt. Drum hab' ich auch den Weigel g'nommen, wie er um mich ang'halten hat.«

»Also deswegen. Und Sie sein so unglücklich mit ihm worden.«

»Die erste Zeit is angangen. Aber dann hat er mich mit Eifersucht g'martert. Und ich hab' ihm gar kein' Anlaß geben. Gern hab' ich ihn freilich nicht g'habt, und ich müßt' lügen, wenn ich sagen tät, daß mir nicht manchmal ein anderer g'fallen hätt'. Aber daß ich mich vergessen hätt' oder nur ein bisserl in was eing'lassen –, drauf hätt' ich jede Stund' die Hostie nehmen können. Er aber hat mir nicht glaubt, und wie's G'schäft immer schlechter gangen ist, hat er mich in sein'm Rausch g'schlagen.«

»G'schlagen? Arme Rosi! Ja, wir zwei haben's gut[121] troffen in der Eh'. Aber wissen S', ich hab' mir schon die Tag' was ausdenkt. Wir sollten schaun, daß wir da aus der Versorgung 'naus kommen. Mit unserm Pfründnergeld könnten wir vielleicht irgendwo z'sam menziehn. Wieviel haben S' denn?«

»Sieben Gulden.«

»Und ich fünfzehn. Das wären zweiundzwanzig im Monat. Da könnten wir uns schon ein Zimmer und ein Kucherl nehmen.«

»Ja, wenn ich g'sund wär'. Aber mein Gott, mit diese Händ'!« Sie hob sie empor. »Ich kann ja gar nichts anrühren. Und Sie sagen ja auch, daß S' krank sind. Das wär' eine schöne Wirtschaft. Und das Geld tät' auch nicht langen. Wir müßten doch wenigstens dreißig Gulden haben, wenn wir uns ein Quartier nehmen wollten.«

»Sie hab'n recht«, sagte er niedergeschlagen. »Aber mich freut's, daß Sie nichts dagegen hätten – und mit mir gehn möchten.«

»Warum denn nicht?« erwiderte sie und blickte zu Boden. »Zwei so alte Leut' – «

»Na, gar so alt sein wir doch nicht. Wenn wir g'sund wären, möchten wir beide unsere Jahr' nicht spüren. Sie nicht und ich nicht. Denn seh'n S', Frau Weigel, wir zwei haben ja nie was g'nossen. Unser' Jugend ist unterdruckt worden – drum ist sie auch noch in uns. Mir wenigstens ist jetzt, als wär' ich zwanzig Jahr' alt, und ich spür' fast meine Schmerzen nimmer.«

Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich kann mir's eigentlich auch nicht recht denken, daß ich schon zweiundfünfzig bin.«

»Sie schaun auch nicht danach aus. Denn wie ich g'sagt hab': Sie sind noch immer schön – und ich hab' Sie noch immer so gern wie damals.«

Sie schlug die sanften blauen Augen langsam zu ihm auf. »Was nutzt's«, sagte sie mit einem leichten Seufzer. »Wir können jetzt ebensowenig zusamm'kommen wie damals.«

[122] »Aber wir sind doch beisamm'. Wir können uns ja jeden Tag sehn und miteinander reden.«

»Reden nicht. Wenigstens nicht in der ersten Zeit. Denn, wenn die andern merken, daß wir uns von früher kennen und gut miteinander sind, möchten s' uns gleich verfolgen. Bei uns ist ja der Neid und der Haß z' Haus'. Es kann's keiner sehn, daß der andere eine Freud' hat. Und gar der Weißeneder und die Professerstochter, die möchten uns das Leben völlig verleiden.«

»Wahr is«, sagte er traurig. »Wir haben ein eigenes Schicksal. Aber ich will mit dem Anschaun z'frieden sein. Denn ich bin schon glücklich, wenn ich das liebe gute G'sicht vor mir hab'. Und denken kann ich ja auch den ganzen Tag an die Rosi – und glauben, daß sie mich auch noch ein bissel gern hat. Net wahr?« Er strich ihr sanft über die von dem Kopftuch halbverhüllte Wange.

Sie schwieg. Aber in diesem Schweigen lag für ihn ein unsägliches Glück – –

So standen jetzt die beiden inmitten der Gräber. Die Hyazinthen und Narzissen dufteten; zwei frühe Schmetterlinge gaukelten darüber hin. Und ringsum leuchtete der goldene Nachmittag, während am Horizont weiße schimmernde Wolken in das helle Blau des Himmels emportauchten.

4.

IV.

Sie waren, damit es nicht auffalle, jedes allein nach Hause gegangen, nach langer, langer Zeit mit einem Gefühl des Glückes in der Brust. Und da sie an Entbehren gewöhnt waren, so genügte es ihnen auch, daß sie sich nun öfter und öfter sehen und einander mit den Augen zulächeln konnten. Denn es wurde ja jetzt wirklich Frühling, und die alten Fliederhecken im Garten standen, vom warmen Sonnengold umglänzt, in voller Blüte. Und da saßen und gingen die Bewohner des Armenhauses [123] wieder im Freien herum. Die Frauen waren in der Mehrzahl und hielten sich in jeweilig befreundeten Gruppen zusammen. Nur das Fräulein Hanstein fand das unter ihrer Würde und blieb zumeist in dem leeren Zimmer, wo sie ihren Freund ungestört empfangen konnte. Die Rosi aber hatte sich an ein altes Weiberl angeschlossen, das Hofbauer hieß und mit einer großen verhärteten Balggeschwulst an der rechten Seite des Halses behaftet war. Trotzdem zeigte sich die kleine schmächtige Greisin noch beweglich und rührig und half der Rosi in allem, was diese allein nicht zu leisten vermochte. Sie war ihr beim Ankleiden behilflich, reinigte für sie Zimmer und Gang, kochte für beide Kaffee und holte aus der nächsten Wirtschaft das gemeinsame Mittagsmahl herüber, das aus Suppe und etwas Gemüse bestand. Fleisch konnten die Ärmsten ja nicht erschwingen. Dennoch erholte und kräftigte sich Rosi zusehends, und Schirmer hatte die Freude, wahrzunehmen, wie sie von Tag zu Tag beweglicher wurde. Auch mit den Händen schien es besser zu werden; denn er sah, daß sie schon ab und zu Strickversuche machte, wobei sie freilich mit dem Halten der Nadeln große Mühe hatte.

Eines Tages, als sich Schirmer zufällig allein im Herrenzimmer befand, erschien ein Postbote und überbrachte ihm einen Brief, dessen Empfang er bescheinigen mußte. Er war sehr überrascht, denn er konnte sich gar nicht erklären, wer ihm geschrieben haben sollte. Doch nicht etwa seine Frau? Als er aber zögernd und prüfend das Kuvert betrachtete und darauf die Amtsstampiglie eines Wiener Advokaten bemerkte, erschrak er heftig. Sollte es sich da um etwas Rückständiges, Vergessenes aus früherer Zeit handeln, das jetzt mahnend und fordernd an ihn herantrat? Mit zitternder Hand entfaltete er den Brief. Als er ihn aber gelesen hatte, bebte er am ganzen Leibe. Doch nicht aus Angst, sondern aus Freude. Er mußte sich setzen, sonst wäre er vielleicht umgesunken. Denn der Advokat schrieb, daß der Wiener Bürger Jakob Bürdell im Jahre 1831 eine Stiftung für verarmte Familienmitglieder errichtet habe, die [124] den Namen Bürdell führen oder mütterlicherseits mit ihm zusammenhängen. Diejenigen, so diese Stiftung genossen hatten, seien im Laufe der Jahre mit dem Tode abgegangen; zuletzt ein altes Ehepaar, das vor kurzem fast gleichzeitig gestorben sei. Da sich schon seit langem niemand mehr um eine Präbende gemeldet, so habe er, der Advokat, als Rechtsanwalt der Stiftung, es für seine Pflicht erachtet, Nachforschungen anzustellen, da sonst das zu ziemlicher Höhe angewachsene Stiftungsvermögen dem Fiskus anheimfallen würde. Dabei habe er nun ermittelt, daß die Mutter Schirmers eine geborene Bürdell gewesen und daß nunmehr ihrem Sohne, da dieser gänzlich verarmt sei, der Anspruch auf eine Präbende von jährlich sechshundert Gulden zustehe. Schirmer möge daher in der nächsten Woche sich in der Advokaturskanzlei einfinden, wo man alles Weitere besprechen und veranlassen werde.

Der saß noch immer da, das Blatt in den Händen. Er las es wieder und wieder, denn er traute seinen Augen nicht; es war ihm, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Aber keinen schmerzenden, sondern einen, der ihn in einen wonnigen Taumel versetzte. Nein, das Glück! Sechshundert Gulden aufs Jahr! Sollte das wirklich möglich sein! Aber da stand's ja schwarz auf weiß. Daß ihm auch seine Mutter nie von dieser Stiftung gesprochen hatte! Freilich, sie waren ja wohlhabende Leute damals, und da brauchte man an derlei nicht zu denken. Jetzt aber gab es kein Hindernis mehr, daß er und die Rosi zusammenziehen konnten in eine kleine hübsche Wohnung, irgendwo in einem billigen Vorort. Das sollte ein Leben werden! Und sie war ja auch fast gesund. Erst kürzlich hatte er wahrgenommen, daß sie die Zimmerfenster scheuerte. Sie konnte also auch schon ihre Hände wieder gebrauchen. Und so mußte sie es auch gleich erfahren, was für ein unverhofftes Glück ihnen jetzt bevorstand. Wenn er sie nur für einen Augenblick sehen und ihr rasch alles sagen könnte! Er schob den Brief sorgfältig in die Brusttasche und eilte die Treppe hinunter in den Garten. Dort saßen einige[125] Weiber, aber die Rosi war nicht darunter. Er ging auf und ab in der Erwartung, daß sie vielleicht kommen würde. Aber sie kam nicht. In seiner Unruhe trat er unter die Einfahrt und blickte nach rechts in den Gang der Weiberabteilung hinein. Er war leer und still. Jetzt aber ging eine der beiden Zimmertüren auf, und Rosi trat heraus, einen irdenen Krug in der Hand. Sie näherte sich, ohne ihn zu gewahren, der Wasserleitung und drehte den Hahn. »Rosi!« rief er gedämpft. Sie erschrak und wandte sich um. »Erschrecken S' nicht«, flüsterte er. »Ich hab' Ihnen was zu sagen.«

»Was denn?« fragte sie leise.

»Etwas sehr Gutes. Aber so in der Eil' kann ich nicht alles herausbringen. Wär's denn nicht möglich, daß wir eine Viertelstund' lang miteinander reden könnten?«

»Ja, wo denn?«

Er dachte einen Augenblick nach. »Wissen S' was, kommen S' heut nachmittag um viere zur Barbarakapell'n in der Krottenbachstraßen. Dort gehen immer nur wenig Leut'. Und weit ist's auch nicht.«

»Weit ist's nicht«, sagte sie zögernd. »Aber – «

»Kommen S' nur«, drängte er. »Es trifft sich ja auch gut, daß heut' der Weißeneder und die Hanstein ein' Ausflug g'macht haben. Ins Krapfenwaldl. Dort wollen s' z' Mittag essen. Denn es ist heut ihr Namenstag, und sie wird vielleicht irgendwoher ein Geld 'kriegt haben. Also um viere wart' ich auf Sie bei der Kapellen. Ich hab' Ihnen wirklich was Wichtig's zu sagen. Ich hoff, Sie werden eine Freud' haben, Rosi.« Er sah sie dabei dringend und flehend an.

Sie zögerte noch. Endlich sagte sie: »Na ja, ich werd' kommen. Aber jetzt gehn S'«, fuhr sie flüsternd fort und legte den Finger an den Mund, »mir scheint, ich hör' wen.« Wirklich knarrte die zweite Tür.

Er war schon fort, als zwei Weiber heraustraten, die sahen ihn also nicht mehr. Er aber ging jetzt in die kleine schlechte Wirtschaft, [126] um wie gewöhnlich dort zu essen. Er konnte jedoch kaum einen Bissen hinunterbringen, so aufgeregt war er. Und nachher mußte er wieder Karten spielen. Sie waren heute wieder nur zu drei, und die Mitspieler dachten ihn tüchtig zu rupfen. Aber merkwürdig; er, der sonst immer verlor, gewann heute in einem fort. Das ärgerte die beiden Kumpane, und endlich warf der fallierte Gemischtwarenhändler Wufka heftig die Karten auf den Tisch und schrie: »Der Schirmer hat heut ein Sauglück, ich spiel' nicht weiter!« Darüber war er natürlich sehr froh und machte, daß er in die Krottenbachstraße kam. Es war noch nicht viel über drei Uhr, und er konnte noch lange warten. Es war ein heißer Juni-Nachmittag, und die weitgedehnte Straße lag im grellen Sonnenschein da. Die Häuser schienen ausgestorben, kein Wagen fuhr. Auch von der angrenzenden Türkenschanze kein Laut. Denn die Kinder, die dort auf den grasigen Abhängen zu spielen pflegten, waren noch in der Schule. Das heiße Licht und der weiße Straßenstaub, der es zurückwarf, blendeten ihn und taten seinen Augen weh. Er schritt bis zu der ziemlich weit oben liegenden Kapelle und noch ein Stück darüber hinaus. Da sah er ein kleines, abseitiges Wirtshaus, das er wohl so vom Vorübergehen kannte, in das er aber niemals hineingegangen war. Es lag feldeinwärts an der Straßenerhöhung und war mit einem terrassenförmigen Vorgärtchen versehen, in welchem Tische und Stühle standen. Auch hinter dem Hause befand sich ein schmaler Garten mit schattenden Wipfeln. Diese Gastwirtschaft, in der man auch Kaffee und Milch bekam, war an Wochentagen fast gar nicht besucht, nur an Sonn- und Feiertagen fielen oft zahlreiche Gäste ein, meistens Ausflügler, die hier ein Gabelfrühstück oder bei der Rückkehr ein spätes Nachtmahl einnehmen wollten. ›Dahinein werd' ich mit der Rosi gehn‹, dachte Schirmer. ›In dem hinteren Garten ist es einsam, und da können wir alles ungestört miteinander bereden.‹ Er freute sich, daß er die Entdeckung gemacht hatte, und kehrte wieder um. Es dauerte aber noch eine gute Weile, bis er endlich die Erwartete von weitem kommen [127] sah. Sie ging nicht sehr rasch und hatte ein verwaschenes blaues Kopftuch zum Schutz gegen die Sonne tief ins Gesicht hineingezogen. Er eilte ihr entgegen.

»Da bin ich«, sagte sie, seinen Gruß erwidernd, »wenn uns nur niemand sieht.« Dabei blickte sie ängstlich hin und her.

»Wer sollt' uns denn sehen?« erwiderte er. »Und wenn auch, es liegt nix mehr dran. Kommen S' nur mit. Ich hab' ein gutes Platzl gefunden, wo ich Ihnen alles sagen kann.«

Sie begriff nicht, was er eigentlich vor hatte, und schritt zögernd an seiner Seite hin. »Da ist die Kapellen«, sagte sie, als sie davor angelangt waren.

»Ja, das ist sie. Aber wir gehn noch ein Stückel weiter«; er wies gegen das kleine Haus hin. »Dort oben setzen wir uns im Garten nieder.«

»Das ist ja ein Wirtshaus«, sagte sie.

»Freilich ist's eins. Und da können wir gleich eine Jausen nehmen.«

»Ich hab' mein bissel Kaffee schon trunken«, warf sie ein.

»Das macht nichts. Sie können noch ein' zweiten trinken. Oder ein Glas Bier. Das werden S' bei der Hitz' schon vertragen.«

»Aber ich weiß gar nicht – « Sie sah ihn unschlüssig und forschend an.

»Werden S' schon erfahren. Kommen S' nur, Frau Weigel.«

Und so schritten sie jetzt die acht oder zehn Stufen empor, die an dem Vorgärtchen vorbei ins Haus und in den rückwärts gelegenen Garten führten. Sie setzten sich an einen der letzten rohgezimmerten Tische. Eine angenehme, dämmerige Kühle umfing sie.

»Is da nicht schön«, sagte er, »unter die alten Nußbäum'?«

»Ja«, erwiderte sie und schob ihr Kopftuch zurück, so daß die weiße Stirn und zwei schlichte, aber noch immer füllige Haarscheitel zum Vorschein kamen. Er sah sie an und wollte [128] etwas sagen. Aber da erschien ein verschlafen aussehender Bursch in Hemdärmeln und fragte nach ihrem Begehr.

»Bringen S' derweil eine Flaschen Bier«, sagte Schirmer.

»Abzug oder Lager?«

»A Lager! Wir brauchen nicht zu sparen«, fügte er, zu Rosi gewendet, hinzu, als der Bursch fort war. Die Rosi aber blickte noch immer unsicher und verlegen vor sich hin und nestelte an den dünnen Trikothandschuhen, die sie trug. Alte, zurückgelegte Waren, wie sie im Ausverkauf um ein paar Kreuzer zu haben war.

Als das Bier auf dem Tische stand, öffnete Schirmer den Verschluß der Flasche und füllte die Gläser.

»Für mich net so viel«, sagte Rosi abwehrend, »ich bin's nicht g'wohnt.«

»Ach was«, erwiderte er. »Also jetzt anstoßen!« Er hob sein Glas und hielt es ihr entgegen. Sie tat ihm Bescheid und trank, aber eigentlich nur so den Schaum weg. Er jedoch leerte sein Glas fast mit einem Zuge, denn durch die Hitze und Aufregung war er sehr durstig geworden; die Zunge hatte ihm schon an dem Gaumen geklebt. »So. Und jetzt!« sagte er mit einem tiefen Atemzug und holte den Brief des Advokaten aus der Brusttasche hervor. Dann rückte er sich auf der Bank zurecht und begann den Brief langsam und deutlich vorzulesen. »Na, was sagen S' denn jetzt, Frau Weigel?« fragte er, als er fertig war.

Sie war ganz blaß geworden, und ihre Hände zitterten. »Was soll ich denn sagen? Es ist ein groß's Glück für Sie, Herr Schirmer.«

»Und für Sie auch! Denn jetzt können wir aus dem höllischen Haus fortkommen und miteinander wirtschaften.«

Sie schwieg. Doch da er sie, auf eine Antwort harrend, dringend ansah, so sagte sie endlich: »So sollt's doch wahr werden?«

»Freilich! Es kommt nur drauf an, ob Sie wollen?« Er suchte in ihrem Antlitz zu lesen, und da fand er auch, daß sie wollte, obgleich sie nichts erwiderte und die Augen auf die Tischplatte [129] gesenkt hielt. »Na also«, fuhr er fort, »jetzt haben wir nur mehr eine Wohnung z'finden, die für uns paßt.«

»Ich wüßt' schon eine«, sagte sie nachdenklich.

»So? Wo denn?«

»In Salmannsdorf. Dort hab' ich eine Tant'! Ein arm's Weib, obwohl s' ein klein's Haus hat. Solang ihr Mann glebt hat, der als Anstreicher ein' guten Verdienst g'habt hat, haben s' auch allein drin g'wohnt. Aber seit er tot ist, muß sie eine Partei 'neinnehmen. Und da hat s' halt ihr Kreuz. Denn der Zins wird oft schuldig blieben oder gar net 'zahlt. Und da wär' sie g'wiß froh, wenn s' ein paar ordentliche Leut' in die Wohnung krieget.«

»Und ist die Wohnung sauber?«

»Wie ich sie kenn', ist sie ganz gut. Zimmer, Kammer und Kuchel. Ein Gartl ist auch dabei.«

»Das wär' ja grad, was wir brauchen täten. Und aufm Land lebt sich's auch schöner als in der Stadt, wo wir doch in so ein Zinshaus für kleine Parteien ziehen müßten und eine Menge Nachbarn hätten – weiß Gott, was für eine.«

»Freilich. Und die Tant' ist auch ein seelengutes Weib. Wenn ich g'sund g'wesen wär' und ein bißl was hätt' leisten können, hätt's mich auch zu sich g'nommen, obwohl für mich eigentlich kein Platz g'wesen wär'. Denn sie hat mit ihrer Tochter selber nur ein ganz kleines Zimmerl.«

»Na, alsdann. Da gehn wir halt miteinander nach Salmannsdorf und schaun uns die G'schicht' an.«

»Ich hab' eh schon immer die Tant' heimsuchen wollen.«

»Wissen S' was? Gehn wir gleich morgen. Morgen ist Sonntag, und da wird's auch der Tant' ganz recht sein, wenn wir kommen. Wir können uns wieder bei der Kapellen z'sammfinden. Aber schon in der Früh', daß wir nicht in die große Hitz' hineinkommen.«

»Erst geh' ich in die Mess' mit der Hofbauer«, sagte sie.

»Recht ist's. Beten S' für uns. Wir müssen auch unserm [130] Herrgott danken, daß er uns ein so unverhofftes Glück g'schickt hat in unserm Elend. Lang g'nug haben wir's ertragen müssen, aber jetzt wollen wir, soweit's noch geht, froh und zufrieden leben.« Er legte seine Hand sanft auf die ihre. Sie fester anzufassen oder gar zu drücken, wagte er nicht, denn er fürchtete der Rosi weh zu tun.

»Meine Händ' sind auch schon besser«, sagte sie still.

»Sehn S', ich hab's g'sagt. Aber lassen S' einmal schaun.«

Er zog ihr leise und vorsichtig den Handschuh von der Rechten und blickte forschend auf die Hand nieder, die nach und nach zum Vorschein kam. Sie hatte die krankhafte Mißfarbe verloren und erglänzte fast rosig. Aber gerade dieses Glänzen der Haut und eine stark gerötete Schwellung an den Fingerspitzen zeigten, daß die Hand noch immer nicht gesund war. »Und weich ist sie auch schon«, sagte er mit zartem Drücken. »Sie haben immer eine so schöne Hand g'habt, Rosi.«

Sie erwiderte nichts, ließ ihm aber die Hand, die er in der seinen behielt. Und da fühlte er sich durchrieselt wie damals, als er sie zum ersten und einzigen Mal ergriffen hatte. Und es kam ihn an, sich darauf niederzubeugen und sie zu küssen. Aber er zagte wie damals und sagte nur innig: »Rosi!«

Er sah, wie sie ganz blaß wurde, und fühlte, daß ein leichter Schauer durch ihren Körper ging. Und da rückte er unwillkürlich dicht an sie heran und sah ihr mit den ehrlichen braunen Augen tief in die sanften blauen, in die ein feiner, feuchter Schimmer getreten war. So weilten jetzt die beiden, von einer späten, vielleicht letzten Wallung ihres Blutes ergriffen. Er hörte ihr Herz schlagen, und sie vernahm seine tiefen Atemzüge, die heiß an ihre Wange drangen. »Rosi!« flüsterte er mit bebender Stimme. Sie schloß die Augen. Und da war es, als suchte sein Mund den ihren ...

Plötzlich fuhren sie auseinander; Schritte waren vernehmbar geworden. Und vor ihnen standen in einiger Entfernung der Weißeneder und die Hanstein. Er in einem verschossenen [131] karierten Sommeranzug, sie in einem hochgeschürzten alten Musselinkleid, auf den ungleich gefärbten Haaren einen zerknitterten, mit allerlei buntem Zeug überladenen Strohhut; in der Hand hielt sie einen großen Strauß von Wiesenblumen. Er aber hatte die seine in die Seite gestemmt und betrachtete mit giftigem Behagen das überraschte Paar, während seine Begleiterin hochmütig die schadhaften falschen Zähne fletschte.

»Ah, dahier bleib'n mir net!« sagte endlich Weißeneder mit lauter Stimme. »Kommen S', gehn m'r ins Vorgartl.« Und die beiden wendeten sich mit einem letzten verachtungsvollen Blick und verschwanden.

Der Schirmer aber und die Rosi waren noch immer wie versteinert. Endlich sagte diese mit tonloser Stimme: »Mein Gott, wie sein denn die herkommen?«

»Das weiß der Teufel«, erwiderte er.

»Daß uns grad die haben sehen müssen!« jammerte sie.

»Na, was is' denn weiter!« sagte er, sich gewaltsam fassend.

»Ich scham' mich so viel«, fuhr sie fort und blickte zur Seite.

In Wahrheit schämte er sich auch. Aber er erwiderte: »Was haben wir uns denn zu schamen? Und grad vor denen da! Die ziehn ja immer miteinander herum, die zwei alten Vogelscheuchen.«

»Na ja, aber – «

»Kein Aber, liebe Rosi. Wir sind einig miteinander, und da hat auch kein Mensch mehr was zu sagen.«

»Sie wer'n schon sehn, was die zwei tun wer'n.«

»Was können's denn tun?« brauste er auf. »Und wenn's uns etwa die letzten Tag' in der Versorgung verbittern möchten, so bin ich noch da!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Bei ihm bewährte sich jetzt das Sprichwort, daß Gut Mut gibt.

»Nehmen's Ihnen nur vor dem Weißeneder in acht, das ist ein böser Mensch.«

»Das weiß ich. Ich hab' g'nug von ihm hinunterschlucken müssen. Aber jetzt soll er mir nur kommen.«

[132] Sie machte eine ängstliche Gebärde und wollte etwas sagen, aber es war, als brächte sie es nicht her aus.

In diesem Augenblick erschien der Bursch wieder, um nachzusehen.

»Noch a Flasch'n Bier!« rief ihm Schirmer zu. »Und habt's was z' essen?«

»An Käs und a Salami.«

»Also bringen S' a Salami. Und a paar Brot!« Und als der Bursch abging, wandte er sich an Rosi: »Wissen S', ich hab' ein' Hunger, denn ich hab' den ganzen Tag vor lauter Aufregung kein' Bissen 'nunterbracht. Und Sie werden doch auch ein bissel was nehmen!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab' gar kein' Appetit.«

Er faßte wieder ihre Hand. »Aber sein S' doch nicht so niederg'schlagen, Rosi!«

Sie schwieg und seufzte tief auf.

»Aber gehn S', Sie machen mich ja ganz traurig. Und wir sollten doch lustig sein!«

Sie bemühte sich zu lächeln, aber sie vermochte es nicht.

Als jetzt das Angeschaffte gebracht wurde, fragte Schirmer: »Sein die zwei noch im Vorgartl?«

»Grad sein s'weggangen. Sie haben bloß an Kaffee trunken.«

»Gut is. Ich werd' auch gleich zahl'n.« Er tat es und gab sogar ein Trinkgeld, das er von seinem Spielgewinst nahm; im übrigen sah es mit seiner Kasse nicht zum besten aus, denn es war ja schon der zweiten Hälfte des Monats.

Jetzt bat er die Rosi, doch etwas zu nehmen; sonst würd' es ihm, wie er sagte, auch nicht schmecken. Ihr zuliebe nahm sie zwei Schnitten auf den Teller und brach ein Stückchen vom Brot weg. Aber sie mußte sich Gewalt antun, während Schirmer mit Heißhunger zu essen begann.

Die Sonne war inzwischen schon tiefer gesunken und warf von Westen her einen rötlichen Strahl durch die Wipfel, in denen ein paar kleine Vögel zwitscherten.

[133] Als Schirmer fertig war und auch das Bier schon zur Neige ging, sagte Rosi: »Ich glaub', wir geh'n jetzt.«

»Na ja«, erwiderte er, sein Glas ausschlürfend. »Aber bereden wir gleich alles wegen morgen.«

»Mein Gott, ich hab' schon völlig die Lust verloren – «

»Wär' nicht übel! Das gibt's nicht. Wir haben's uns vorg'nommen und werden uns die Freud' nicht verderben lassen. Kurzum: Wir treffen uns morgen früh um achte bei der Barbara-Kapellen.«

»Um Achte noch nicht. Da fangt erst die Mess' an, und die versäum' ich morgen um keinen Preis.«

»Na, also um Neune. Ist auch noch Zeit genug, wenn's da auch schon ein bissel heiß ist. Wir gehn halt recht langsam 'nüber.«

Es schien, als wollte sie noch etwas einwenden; da sie aber erkannte, daß er nicht abzubringen war, so stimmte sie schweigend zu. Darauf erhoben sich beide und traten den Heimweg an. Während des kurzen Weges wollte die Rosi immer etwas sagen, aber sie brachte es nicht übers Herz.

So waren sie bei dem Hause angelangt, in das die Rosi gleich hineinging. Er aber kehrte wieder um, gegen die Türkenschanze zu. Denn trotz des Mutes, der ihn angewandelt hatte, war er infolge seiner Natur auch wieder etwas zaghaft geworden und wollte nicht gleich mit dem Weißeneder zusammentreffen. Er ging bis zu dem kleinen erhöhten Rondell, wo unter schmächtigen, spärlich belaubten Ahornbäumchen mehrere Holzbänke angebracht waren. Dort weilte des Abends immer eine Anzahl von Müttern und Kindermägden, kleine Rollwagen vor sich, in denen jüngste Sprößlinge sanft schliefen, während ältere sich lustig auf den umliegenden Sandhaufen tummelten. Auch liebende Paare gab es oft, die hier die frische Abendluft genossen. Er fand noch ein Plätzchen und dachte still darüber nach, was nun alles geschehen würde. Und obgleich es ihm auch nicht mehr ganz leicht ums Herz war, so freute er sich doch auf [134] den morgigen Tag, den er mit der Rosi in Salmannsdorf verbringen würde – noch mehr aber auf die Zukunft. Die Rosi je doch saß auf ihrem Bett und begann leise zu weinen. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war leer, denn die anderen Weiber, auch die Hofbauer, weilten noch im Garten. In dem anstoßenden kleineren Zimmer aber zankte die Hanstein mit einer hinfälligen, schwindsüchtigen Person, die ihr die Dienste einer Kammerzofe leisten mußte.

5.

V.

Als Schirmer nach Hause kam, lag Weißeneder schon im Bett und schien zu schlafen. Von den anderen Zimmergenossen hatte sich der eine gegen Abend mit der Bahn nach Klosterneuburg begeben, wo er Bekannte hatte, bei denen er den morgigen Sonntag zubringen wollte. So saß Herr Wufka allein am Tische bei einem Glase Bier und rauchte seine Pfeife. Schirmer begrüßte ihn flüchtig und trachtete gleich ins Bett zu kommen. Denn er fühlte sich sehr ermüdet und verspürte ziehende Schmerzen im linken Bein, was immer auf einen bevorstehenden Witterungswechsel deutete. Er schlief auch sehr bald ein. Aber schon nach ein paar Stunden erwachte er wieder und konnte keine rechte Ruhe mehr finden. Das Bein schmerzte stärker, und die Gedanken begannen in seinem Kopfe herumzugehen, während in einiger Entfernung von ihm Herr Wufka die gewohnten Schnarchtöne von sich gab. Und da fragte sich Schirmer auch wieder, was denn die Hanstein und den Weißeneder, die er im Krapfenwaldl vermutet hatte, in das kleine Wirtshaus in der Krottenbachstraße geführt haben könnte. Das hing so zusammen. Die Hanstein war eine Lotterieschwester, die immer auf eine Terne hoffte, obgleich sie niemals im Leben eine gemacht hatte. Trotz ihrer Bildung, mit der sie bei jeder Gelegenheit prahlte, war sie seit jeher sehr abergläubisch gewesen, und so fiel ihr plötzlich ein, daß sie an ihrem Namenstage besondere Chancen habe, auf [135] dem Kieselgrunde des Sieveringer Brünndls unfehlbare Nummern wahrzunehmen. Sie änderte also in zwölfter Stunde das verabredete Ziel des Ausfluges und bestieg mit ihrem Galan einen nicht weit vom Versorgungshause vorüberfahrenden Stellwagen, der das Paar nach Sievering brachte. Dort hielten sie im Gasthause »zur heiligen Agnes« Mittag und begaben sich dann durch eine kurze Waldstrecke zum Brünndl, wo denn auch die Hanstein mit Hilfe einiger in der Kabbala sehr bewanderter Weiber, die sich an diesem Orte immer geschäftsmäßig herumtrieben, die unfehlbaren Nummern wahrnahm und auf einem Stückchen Papier notierte. Dann ging sie mit Weißeneder tiefer in den Wald hinein, wo sich die beiden an geeigneter Stelle ins Gras niederstreckten und im kühlen Schatten der Buchen zwei Stunden fest schliefen. Als sie erwacht waren, handelte es sich darum, was man jetzt weiter unternehmen sollte. Die Hanstein fand, daß es für heute genug sei. Für morgen aber hatte ihr unternehmender Geist eine Nachfeier ihres Namenstages entworfen. Man sollte schon am frühen Vormittag nach der Stadt fahren und dem Hochamte in der Augustinerkirche beiwohnen. Diese religiöse Feierlichkeit spielte nämlich in ihren unvergänglichen Jugenderinnerungen die größte Rolle. Denn bei einem Hochamte in der Augustinerkirche, dem sie eines Sonntags ganz zufällig beigewohnt, hatte eine sehr hohe Persönlichkeit, die sich im Oratorium befand, mit ihr ein lebhaftes Augenspiel eröffnet. Und dieses Augenspiel setzte sich auch an mehreren folgenden Sonntagen fort, da sie es nunmehr nicht unterließ, jeden Sonn- und Feiertag in der Kirche zu erscheinen. Ja, es verstärkte sich so sehr, daß sie daran die kühne Erwartung knüpfte, es müsse jetzt und jetzt ein Abgesandter erscheinen und im Namen jener hohen Persönlichkeit einen Antrag auf morganatische Ehe vorbringen. Da dies nicht geschah, sondern vielmehr die hohe Persönlichkeit ebenbürtig heiratete und Wien verließ, so mußte sie auf diese Hoffnung verzichten. Sie hielt aber die innere Überzeugung aufrecht, daß hierbei nur die zwingendsten Standes- und Familienrücksichten [136] ausschlaggebend gewesen seien und daß jene Persönlichkeit bis zu ihrem im Laufe der Jahre erfolgten Tode in unauslöschlicher Liebe der Dame in der Augustinerkirche gedacht habe. So wollte sie denn morgen eine süßwehmütige Gedächtnisfeier abhalten, dann mit Weißeneder im Michaeler Bierhause zu Mittag speisen und schließlich den Prater besuchen. Dabei würde allerdings das Geld, das sie, wie Schirmer richtig vermutet hatte, als reichliches Almosen aus der Ferne er halten, bis zum letzten Kreuzer aufgehen. Aber was lag daran? Wenn sie sich nur einmal wieder so recht unterhalten konnte! Dann mußte man sich eben wieder einschränken. Darum sollte es auch für heute genug sein und gleich der kürzeste Rückweg durch die Weingärten nach Hause eingeschlagen werden. Weißeneder, der infolge seiner Neigung zu Venenentzündungen kein guter Fußgeher war, beantragte zwar zu fahren; sie aber behauptete, daß sie das Gerütteltwerden im Stellwagen nicht gut vertrage, und so machten sie sich auf die Beine und langten endlich auf etwas beschwerlichen Pfaden in der Krottenbachstraße an, wo sie in der einladenden kleinen Wirtschaft eine leichte Erfrischung einzunehmen beschlossen.

Schirmer also konnte lange nicht mehr einschlafen. Endlich so gegen Morgen geschah es. Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Er blickte nach der alten Schwarzwälderuhr an der Wand. Es fehlte nicht viel auf acht. Da hieß es sich sputen, um zu rechter Zeit zu kommen – und nicht etwa gar durch irgendeinen Zwischenfall aufgehalten zu werden. Er wusch sich rasch und begann sich anzukleiden. Er war noch nicht ganz fertig damit, als er zu seinem Erstaunen – von den Plänen der Hanstein wußte er ja nichts – bemerkte, daß Weißeneder, nachdem er sich gestreckt und mehrmals laut gegähnt hatte, gleichfalls vom Lager aufstand und sich zu waschen begann. Das war dem Schirmer keineswegs angenehm, und er trachtete, in aller Eile ohne Gruß fortzukommen. Als er aber die Türklinke ergriff, vernahm er, wie Weißeneder mit barscher Stimme rief: »Schirmer!«

[137] Dieser hielt an und fragte, halb zurückgewendet: »Was wollen S' denn?«

»Wo gehn S' denn hin?«

»Fort geh' ich.«

»Bleib'n S' da!«

Gegen diesen Befehl sträubte sich Schirmer im innersten. Aber das Wort des anderen hatte eine suggestive Macht über ihn, und er blieb stehen. »Warum soll ich denn dableiben?« fragte er zögernd.

»Wo wollen S' denn eigentlich hin?« entgegnete Weißeneder, sein schütteres Haupthaar vor einem kleinen, halberblindeten Hängespiegel mit Kamm und Bürste behandelnd.

Schirmer wußte nicht, was er erwidern sollte. Auf diese inquisitorische Frage war er nicht vorbereitet. Auch hatte er niemals – schon als Knabe nicht – lügen können und war immer gleich mit der vollen Wahrheit herausgerückt, wenn ihm auch diese zum Nachteil gereichte. Eine schöne und seltene Eigenschaft, aber auch ein Beweis großer Schwäche. Diesmal aber wollte er doch nicht gestehen, daß er mit der Rosi eine Zusammenkunft habe, und sagte unsicher: »Ich hab' halt was z' tun.«

Weißeneder begann vor dem Spiegel seine Halsbinde zu knüpfen. »Sie müssen heut' z' Haus' bleiben«, sagte er, ohne umzublicken.

»Warum denn?«

»Weil i fortgeh'. Und es is möglich, daß heut der Bürgermeister inspizieren kommt, und da muß jemand im Herrenzimmer sein.«

»Es ist ja der Wufka da«, erwiderte Schirmer, auf diesen hindeutend, der noch im Bette lag.

»Der hat heut an wichtigen Gang.«

»Aber ich hab' auch einen«, versetzte Schirmer, der jetzt doch schon anfing, gereizt zu werden.

Der andere hatte die Halsbinde geknüpft und drehte ihm [138] die Vorderansicht zu. »So«, sagte er, ihn mit giftigem Hohn angrinsend, »vielleicht gar mit der Weigel?«

Schirmer fühlte, daß es nun ernst werde und wollte einlenken, damit er nicht gerade jetzt zum äußersten gedrängt werde. Aber die Galle, die freilich nur die einer Taube war, begann ihm zu schwellen. »Na, und wenn ich einen Gang mit der Weigel vorhätt'!« stieß er hervor.

»So«, sagte Weißeneder, nahe herantretend und ihn mit den kleinen undurchsichtigen Schlangenaugen anbohrend. »Wie sein S' denn eigentlich mit dem Weib bekannt wor'n?«

Schirmer wand sich förmlich unter diesen Blicken, die ihn ängstigten und doch aufstachelten. »Was geht denn das Ihnen an?« sagte er.

»Eigentlich nix. Sö aber sollten sich schamen.«

»Warum denn?«

»Weil's a Schand' ist, daß Sie mit ihr ins Wirtshaus gehn und sie dort abbusseln.«

»Von abbusseln is ka Red'.«

»So? Glauben S' vielleicht, ich hab's net g'sehn?«

Schirmer konnte nicht mehr an sich halten. »Na«, sagte er herausfordernd, »und wenn Sie's auch g'sehn hätten? Sie haben am wenigsten drüber z' reden!«

»Was!?« schrie der andere, die Arme in die Seite stemmend und den knöchernen Schädel mit der vorspringenden Nase zu dem kleineren Gegner niederbeugend.

»Nein, Sie haben gar nix z' reden«, schrie dieser. »Kehren S' den Mist vor Ihrer eigenen Tür!«

»Was? Was?« wiederholte kreischend Weißeneder.

»Ich lass' mich von der Weigel net aushalten, wie Sie von der alten Hex'!«

Das Antlitz Weißeneders verzerrte sich. Er öffnete den weitgeschlitzten zahnlosen Mund, als wollte er Schirmer verschlingen. »Sag'n S' das no' mal, Sö Fallott!« stieß er in pfeifendem Ton hervor.

[139] »Wenn Sie's no anmal hör'n wollen, so sag' i's halt no anmal. Sie lassen Ihnen von der Hanstein aushalten! Ob Sie s' auch abbusseln müssen, das weiß i net. Wann aber einer von uns ein Fallott is, so sein Sie's! Denn i bin net im Kriminal g'sessen.«

Kaum hatte er diese Worte ausgestoßen, als er auch schon einen Schlag ins Gesicht bekam, daß er zurücktaumelte. Es war die erste tätliche Mißhandlung, die er als Erwachsener erlitten; selbst als Kind war er, dank seiner Mutter, körperlich niemals gezüchtigt worden. Einen Augenblick blieb er fassungslos. Dann griff er in ausbrechender Wut instinktiv nach dem Henkelglase, aus dem Wufka gestern abends Bier getrunken, um es als rächende Waffe gegen den stärkeren Feind zu gebrauchen. Er schwang es und stürzte damit auf Weißeneder los. Dieser aber hatte ihn schon mit beiden Händen, die den Fängen eines großen Raubvogels glichen, am Halse gepackt. Ein kurzes, heftiges Ringen entstand, wobei der sehnige Weißeneder den ungelenken und schwerfälligen Angreifer gegen die Wand drückte. Dort hielt er ihn fest, indem er ihm das Knie in die Weiche stemmte. Dabei traf er, ohne es zu wollen, die Stelle, wo Schirmer den alten Schaden am Leibe hatte. Der Bedrängte brüllte laut auf vor Schmerz, es wurde ihm dunkel vor den Augen, und bewußtlos glitt er allmählich unter dem Drucke zu Boden.

»Mein Gott! Was haben S' denn da gemacht!?« schrie Wufka und sprang aus dem Bett, wo er bis jetzt angesichts der beiden Streitenden als sich freuender Dritter verweilt hatte. »Sie hab'n 'n ja um'bracht!« Er beugte sich forschend über Schirmer, der wie tot dalag.

»A was!« sagte Weißeneder, indem er den leise Stöhnenden mit dem Fuße anstieß, »der Kerl wird schon wieder aufstehn!«

Aber Schirmer stand nicht wieder auf. Sie mußten ihn ins Bett tragen und sich entschließen, den Armenarzt zu verständigen. Als dieser endlich erschien, fand er das ganze Haus in [140] Bewegung und wurde ins Herrenzimmer gewiesen. Dort traf er den Schwerverletzten bei halbem Bewußtsein, laut jammernd und in rasenden Schmerzen sich windend. Nach rascher Untersuchung erklärte er, daß es äußerst schlimm stehe; nur von einer unverzüglichen Operation könne vielleicht Rettung erhofft werden. Aber es war zu spät. Schirmer starb während der Fahrt in dem Krankenwagen, der ihn in das Spital bringen sollte.

6.

VI.

In einer stillen Nebengasse der von Menschen und Fuhrwerk aller Art dicht belebten Gersthofer Straße, die in die lachenden Gefilde von Pötzleinsdorf hinausführt, befindet sich ein ausgedehntes, klosterähnliches Gebäude mit angrenzendem Garten. An der Stirnseite trägt dieses Gebäude in goldenen Lettern die Inschrift: »Haus der Barmherzigkeit«. Und diese Bezeichnung verdient es im vollsten, im eigentlichsten Sinne des Wortes. Denn in seinen weitläufigen Sälen und Zimmern beherbergt es Arme und Hilflose, die mit unheilbaren Übeln behaftet sind. Alle Gebreste und Krankheiten, deren bloßer Name Grauen und Schauder erweckt, sind hier anzutreffen, und die davon Befallenen werden mit unermüdlicher Hingebung von mildtätigen Nonnen betreut, bis sie der Erbarmer Tod von ihren Leiden erlöst. Den meisten geht er grausam jahre- und jahrelang vorüber; aber fast alle tragen ihr schreckliches Los in stummer Duldung, ja oft mit freudiger Ergebenheit, ein Beweis von der Leidensfähigkeit der menschlichen Natur und von der unendlichen Zähigkeit des Willens zum Leben ...

Unter diesen Unglücklichen befand sich auch lange Zeit hindurch die arme Rosi.

Sie hatte am Morgen jenes verhängnisvollen Tages andächtig in der Kirche gekniet und den Himmel inbrünstig angefleht, ihr und dem Schirmer gnädig zu sein. Denn sie hatte [141] das Gefühl, daß ihr und ihm ein großes Unheil bevorstehe. Auch war es ihr, als hätte sie eine Schuld auf dem Gewissen. Denn sie hatte Schirmer etwas verschwiegen, das sie ihm hätte mitteilen sollen; aber bei der ihr angeborenen Schämigkeit hatte sie es nicht über die Lippen gebracht. Als sie in die Versorgung aufgenommen wurde, war sie, trotz einer gewissen Schwäche und Hinfälligkeit, die ihre beginnende Erkrankung mit sich brachte, noch eine ganz liebliche Erscheinung gewesen. Als solche erweckte sie die Aufmerksamkeit und nach und nach die senile Lüsternheit Weißeneders. Er stellte ihr Anträge, die sie mit Schrecken und Abscheu zurückwies. Zuletzt unternahm er bei günstiger Gelegenheit einen rohen Angriff, so daß sie um Hilfe rufen mußte. Es war niemand herbeigekommen, aber Weißeneder hatte von ihr abgelassen und sah sie seit jener Stunde, die eine ihren Zustand verschlimmernde Nervenerschütterung zur Folge hatte, nicht mehr an. Sie aber fühlte, daß sie der Mann nunmehr hasse und nur auf eine Gelegenheit warte, um sich zu rächen. Und nun hatte er sie mit Schirmer in dem Wirtsgarten getroffen, was ihm die Genugtuung bot, sie auch verachten zu können. Das schmerzte sie tief. Und jedenfalls würde er nicht säumen, seinen Groll an Schirmer auszulassen, der unter seiner Botmäßigkeit stand. Den mußte sie also, so schwer es ihr werden würde, von allem in Kenntnis setzen, damit er auf der Hut sei.

Mit diesem Vorsatze war sie aus der Kirche weg zur Barbara-Kapelle gegangen, deren Vergitterung nur an ganz bestimmten Festtagen offen stand; heute war sie wie gewöhnlich geschlossen. Sie ging also davor erwartungsvoll auf und nieder. Der Tag hatte sich schon am frühen Morgen sehr heiß angelassen. Eine dumpfe Schwüle brütete rings, und die Sonne, deren Strahlen sengend und stechend niedergebrannt, verschleierte sich allmählich mit trüben Dunstmassen. Der Rosi wurde es ängstlich zumute. Eine bleierne Schwere lastete ihr im Nacken, sie konnte kaum mehr die Füße heben. Ihre kranken Nerven [142] spürten ein herannahendes Gewitter, und wirklich tauchten schon hinter den Höhen des Kahlengebirges dunkle Wolkenspitzen hervor. Sie ließ sich auf eine kleine Rasenböschung in der Nähe nieder. Langsam, schier endlos schlichen die Minuten, schlichen fast zwei Viertelstunden an der Harrenden vorüber. Aber Schirmer kam nicht. Da mußte etwas vorgegangen sein! Eine tödliche Angst befiel sie. Sie erhob sich, um nach Hause zu eilen. Da vernahm sie rollenden Donner, und leichte Blitze zuckten aus dem dunklen Gewölk, das inzwischen höher und höher gestiegen war. Fort! Rasch fort! Aber schon erhoben sich heftige Windstöße, die sie mit entfesseltem Regenguß vor sich hinpeitschten. Als sie, triefend vor Nässe, im Hause anlangte, war das Entsetzliche längst geschehen. Regungslos, fast stumpfsinnig, vernahm sie die Kunde, bis sie endlich mit ausbrechendem Jammer an ihrem dürftigen Bette niedersank ...

Die Eindrücke dieses grauenvollen Tages hielten in ihr ungeschwächt vor und waren fast ihre einzige Erinnerung, als sie nach einer Reihe von Jahren mit zum Teil eingeschrumpften, zum Teil entzündlich geschwellten Gliedern und bewegungslosem, starrem Antlitz im Hause der Barmherzigkeit lag. Alles andere schwebte ihr nur undeutlich vor: ihre Kinder- und Jugendjahre, ihre traurige Ehe – ja selbst die Gestalt Schirmers. Die sah sie wie aus weiter, weiter Ferne, von einem lichten Nebelschleier umhüllt. In bösen Träumen aber, die sie bisweilen hatte, wenn sie nach qualvoll durchwachten Nächten endlich einschlief, erschien ihr nicht selten der lange und hagere Weißeneder mit dem frechen Gesicht, der vorspringenden Nase und den kleinen Schlangenaugen. Er streckte die Krallenhände nach ihr aus, und die Hanstein stand dabei und fletschte die schadhaften falschen Zähne. Und dann erwachte sie bebenden Herzens und empfand es wieder als unverzeihliche Schuld, daß sie dem Schirmer nicht alles gesagt und ihn gewarnt habe. Auch von der Zeit träumte ihr öfter, die sie an der Klinik eines berühmten Professors zugebracht. Der hatte sie dort aufgenommen und zwei Jahre [143] lang behalten, um seinen Schülern das langsame und wechselvolle Fortschreiten jener so seltenen, auf einer Verhärtung des Hautzellgewebes beruhenden Krankheit zu demonstrieren, von der sie ergriffen war. Bei diesen täglichen Untersuchungen und Bloßstellungen ihres jammervollen Leibes hatte sie unsäglich gelitten, bis sie endlich auf ihr flehentliches Bitten in das Asyl der Unheilbaren versetzt wurde. Auch die Hofbauer mit der großen Balggeschwulst am Halse erblickte sie zuweilen. Das gute alte Weib hatte mit ihr die Versorgung verlassen, weil ja dort für die Freundin keines Bleibens mehr war, und beide hatten hierauf in einer feuchten, dunklen Kammer bei einer Taglöhnerfamilie gewohnt und ein grenzenlos kümmerliches Dasein gefristet. Und dann erzählte ihr die Hofbauer, daß sich der Weißeneder wegen schwerer körperlicher Verletzung zu verantworten gehabt habe, aber infolge der Aussage des Zeugen Wufka ganz glimpflich davongekommen sei. Nun lebe er nicht mehr; die Hanfstein aber schleppe sich noch auf Krücken herum. Von alledem träumte der armen Rosi, wenn sie nach qualvoll durchwachten Nächten endlich einschlief. Von Schirmer aber träumte ihr seltsamerweise nie. Nur ein einziges Mal – sie wußte nicht recht, ob sie schlafe oder wache – war es ihr, als befände sie sich in seinem Hause an der Donaulände. Sie setzte ihm das Essen vor, und er ergriff ihre Hand. Und da durchströmte sie ein so süßes, so wonniges Gefühl, daß sie hätte aufjauchzen mögen vor Glück. Das war aber in der Stunde, wo sie der große Allerbarmer zu sich rief.

[144]

Notes
Erstdruck: Wien und Leipzig (Wiener Verlag) 1906. Enthält die Novellen »Die Familie Worel«, »Sappho«, »Hymen« und »Die Pfründner«.
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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Tragik des Lebens. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AF4B-3