[262] Melanie

Seit du von mir für immer bist gegangen
Und einsam ist mein Tag und meine Nacht,
Seh' ich dich oft im Traum mit bleichen Wangen,
Das dunkle Aug' in düst'rem Schmerz entfacht.
Du trittst herein in das verwais'te Zimmer
Und siehst, wie fremd, mit langem Blick dich um –
Und still verklärt von geisterhaftem Schimmer,
Willst du dann wieder gehen, ernst und stumm.
O bleibe! ruf' ich aus mit bangem Schauer –
Wohin, eh' noch dein Mund den Gruß mir bot?
Da schüttelst du das Haupt mit tiefer Trauer:
Du weißt es ja, so sprichst du, ich bin todt.
Ich aber d'rauf: Und bist du auch gestorben,
Wir können dennoch bei einander sein;
Wir hatten unser Glück so schwer erworben –
Ich laß' dich nicht, und fürder bist du mein!
[263]
Du schaltest nach wie vor im kleinen Hause,
Das du betreut mit sorglich lieber Hand –
Belebst und schmückst, wie sonst, des Dichters Klause,
Den keine Seele je wie du verstand.
Und wieder sitzen wir beim schlichten Mahle,
Die Bissen reichend uns'rem treuen Hund,
Und wandeln dann begnügt im Abendstrahle
Mit sanften Schritten durch des Gartens Rund! –
Da bebst du auf in seligem Entzücken,
Dein Angesicht färbt leiser Röthe Schein –
Doch wie ich jetzt dich an mein Herz will drücken,
Erwach' ich auch im Dunkel – und allein ...
Und dennoch, sieh': muß auch der Traum zerstieben,
Er kündet mir geheime Wirklichkeit;
Was da gescheh'n: wir sind vereint geblieben,
Und scheinbar nur hat uns der Tod entzweit.
Wenngleich dein Irdisches zu Staub vermodert,
Ich weiß es, daß dein Geist mich stets umschwebt;
Von jener Flamme, die in dir gelodert,
Fühl' ich für immer mir das Herz durchbebt.
Was mit den Jahren wir erlebt, erstritten,
Zu festem Kitte ward es allgemach –
Wir wurden Eins durch das, was wir erlitten
In dieser Welt, die viel an uns verbrach.
[264]
Und hier am Schlusse dieser Liederreihe –
Ach, so vertraut dir einst in Ton und Wort –
Empfängt erst unser Bund die letzte Weihe:
So lang sie leben, lebst du mit mir fort!

Blansko, im Februar 1885.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Gedichte. Drittes Buch. In memoriam. Melanie. Melanie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AF11-3