[222] Die Kuh

Hell schien die Morgensonne. Herbstlich schon,
Erquickend strich die Luft durch's weite Thal,
Indeß ich, eines Flüßchens Lauf verfolgend,
Auf schmalem Fußpfad schritt und frohgemuth
Die Blicke schweifen ließ in's Himmelblau
Und über Rüben- und Kartoffelfelder,
Die weit sich dehnten bis zum dunklen Rande
Der fernen Tannenwälder. Links von mir,
Auf hohem Damme, liefen an den Schienen
Die Stangen hin mit ihren Wunderdrähten,
Drauf zwitschernd noch die letzten Schwalben saßen;
Ein Wächterhaus, umblüht von Sonnenblumen,
Sah nahebei aus dichten Weidenbüschen
Gleich einem lieblichen Idyll hervor.
Da hört' ich lauten Aufschrei – und gewahrte,
Wie eine Kuh aus nied'rem Koben brach –
Und hinterdrein, halbwüchsig kaum, ein Mädchen,
Das wie in Todesangst den Schweif des Thiers
Umklammert hielt, um es am Flieh'n zu hindern.
Zu schwach doch war der Ärmsten Kraft; geschleift
Auf steilem Abhang, ließ sie endlich los,
Dieweil Frau Blässe rasch mit tollen Sätzen
Feldeinwärts sprang. Dies Alles war so rasch
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Gescheh'n, daß ich nicht Hilfe bringen konnte –
Und nun trat auch der Wächter selbst hervor,
Ein alter, hag'rer Mann, der sich verzweifelt
In's graue Haar fuhr, als er schon fernab
Die Kuh erblickte durch die Rüben traben.
»O du!« rief er in heft'gem Zorn hinab
Zur zitternden Gestalt, die sich, vor ihm
Am Boden, wimmernd an's zerschund'ne Knie griff:
»O du Verfluchte! Dreimal Gottverfluchte!
Schärft' ich nicht ein dir, sie mir wohl zu hüten?
Ein Bettler bin ich, ärmer als ein Bettler,
Wenn sie entläuft! Und kehrte sie auch wieder –
Wer zahlt den bösen Schaden auf den Feldern?
Und kommt zum Walde sie, trifft sie der Heger –
Der ist mir gram und schießt die Bestie nieder!
Nun auf! Nun lauf und bring' sie mir zurück –
Wenn dir dein Leben lieb ist, Gottverfluchte!«
So schrie er wild und mit geballten Fäusten,
Nach Odem ringend, in ohnmächt'ger Wuth.
Ich selber – rathlos stand ich; wußte nicht,
Sollt' ich den Mann begüt'gen – sollt' ich rasch
Statt jener armen Kleinen nach der Kuh
In Lauf mich setzen – als ich plötzlich sah,
Wie diese, gleichsam sich besinnend, anhielt,
Dann, leichthin tänzelnd, wie nur Kühe tänzeln,
Den Schweif gehoben, sich zur Heimkehr wandte
Und munt'ren Brüllens nach dem Koben lief,
Den Jammer endend, den sie wachgerufen ...
Mir aber war der schöne Tag verdorben.

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Die Kuh. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AEC4-0