[151] Elisabeth

Wir werden uns, ich weiß es, wiederseh'n –
Ob mancher Lenz erblüht noch und verblüht;
Wir werden plötzlich vor einander steh'n,
Ob wir, uns nicht zu finden, auch bemüht.
Dann ist vielleicht dein Haar schon silberweiß,
Und kahler wölbet sich der Scheitel mir,
Doch jung und blond erscheinst du noch dem Greis,
Und braungelockt und jung erscheint er dir.
Denn was die Zeit auch Beiden abgestreift:
Sie rührte nicht an uns'rer Herzen Gluth,
Die, überdauernd, neu zum Leben reift,
Was lang in der Erinn'rung Grab geruht.
Noch einmal zuckt es in uns mächtig auf,
Es ist der Lebenskräfte letzter Schuß;
Noch einmal wallt das Blut mit raschem Lauf –
Wir küssen heiß wie einst den letzten Kuß.
[152]
Dann aber lassen wir uns wieder still
Und fühlen leise, Hand in Hand gelegt,
Daß jeder Keim zur Frucht gedeihen will,
Den einmal wahrhaft tief das Herz gehegt.
Wir fassen's nicht, daß wir so lang gelebt,
Einander fern – und doch die Brust voll Drang;
Daß wir, trotz allen Sehnens, nicht gestrebt
Uns aufzusuchen – ach schon lang, schon lang!
Wir fassen's nicht, daß von einander je
Wir scheiden konnten, zürnend und mit Groll,
Und selbst uns schaffen jenes herbe Weh',
Das heiß in Thränen durch die Wimper quoll.
Auch uns'ren Fehlern sinnen wir dann nach –
Und finden doch die Summen gleichgesetzt,
Da Jedes das nur an sich selbst verbrach,
Womit es oft das And're schwer verletzt. –
So weilen wir mit Blicken, tief und mild;
Ich streichle dir, wie einst, das schlichte Haar,
Und uns'rer Jugend lang getrübtes Bild,
Vor uns'rem Geiste wird es hell und klar.
Und all' der Kampf, die selbstgeschaff'ne Qual
Zerstieben, so wie Nebel sanft zerstiebt –
Und nieder fällt auf uns der reinste Strahl:
Wir sehen nur, wie sehr wir uns geliebt!

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Gedichte. Zweites Buch. Aus dem Tagebuch der Liebe. Elisabeth. Elisabeth. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AE96-5