[108] Außer Dienst

[109] [115]An einem klaren, aber kalten Maitage, dessen scharfe Lust mich sehr eindringlich an Heines Wort vom »grün angestrichenen Winter« erinnerte, langte ich in einer elenden Postkutsche bei dem Städtchen an. Ich will es nicht nennen, um diese Zwischenstation mit ihrer landschaftlichen Umgebung nicht in Verruf zu bringen, desto freimütiger jedoch kann ich mich darüber äußern. Ich hatte bisher die Überzeugung gehegt und oft ausgesprochen, daß es eine eigentlich häßliche Gegend nicht gebe, daß die Natur nie und nirgend unschön sein könne. Denn um ihren Zauber voll zu empfinden, brauche ich nicht etwa den Golf von Neapel oder irgend eine großartige Alpenlandschaft: mir genügt ein Stückchen Flur oder Feld, von ein paar Bäumen bestanden, oder ein schütteres Kiefernwäldchen auf einem sandigen Hügel; selbst vereinsamt klaffende Bodenrisse, in denen sich allerlei Gestrüpp und Unkraut angewuchert hat, können mich durch ihren malerischen Reiz in Stimmung versetzen. Nun: Flur und Feld mit vereinzelten Bäumen darauf, eine erhöhte schüttere Waldung und weithin klasfende Bodenrisse gab es auch hier. Aber es war alles so wie durcheinander geworfen am unrechten Fleck angebracht; das Auge konnte keine Linie verfolgen und suchte umsonst nach einem Ruhepunkte. Das fahle Grün der Vegetation verschmolz gleichsam mit dem bräunlichen Grau des Bodens, eine Mischung, die sich wie Schmutz ausnahm. Diesen Farbenton wies auch das Städtchen auf. Mit seinem halb in sich zusammengesunkenen Kirchturm und den windschiefen Dächern lag es wie ein Haufen Elend und Verkommenheit da, und zwei [115] angerußte Fabriksgebäude in nächster Nähe machten das Bild nicht lieblicher. Ich empfand also auch nicht die geringste Lust, während des kurzen Aufenthaltes, der mir hier bevorstand, die Gassen und den mutmaßlichen Hauptplatz in Augenschein zu nehmen, sondern zog es vor, im Gasthause zum »Posthorn« zu bleiben, das gleich am Eingange des Städtchens lag, und wo nunmehr die Pferde, der Kutscher und auch meine Wenigkeit abgefüttert werden sollten. Was mich betraf, so verspürte ich bereits große Eßlust. Denn nach einer nächtlichen Eisenbahnfahrt hatte ich nichts anderes zu mir genommen, als ein Glas jenes berüchtigten Milchkaffees, der an Bahnhöfen verabreicht wird. Aber das Aussehen des »Posthorns«, sowie seine ganzen inneren Einrichtungen ließen keine sehr leckere Mahlzeit erwarten. Dagegen hatte das kleine Herrenzimmer neben der allgemeinen Gaststube etwas den Appetit Niederschlagendes. Es war offenbar seit längerem nicht gelüftet worden und roch nach Feuchtigkeit und altem Tabakqualm. Aber was war zu tun? Resigniert setzte ich mich an einen der wenigen Tische und ließ mir meinen Mittag auftragen. Während ich noch die wässerige, mit ockergelben Fettaugen überdeckte Suppe löffelte, trat ein Mann herein, der mich mißmutig von der Seite betrachtete und sich schwerfällig an einem anderen Tische niederließ. Er schien hier Stammgast zu sein, denn hinter ihm erschien sofort die Aufwärterin und stellte mit barscher Vertraulichkeit die Suppenschale vor ihn hin.

Er saß mir schräg gegenüber, und das Zimmer war so schmal, daß wir einander sehr deutlich ins Auge fassen konnten. So erkannte ich auch jetzt in ihm einen Regimentskameraden aus meiner Militärzeit. Verändert hatte er sich allerdings in hohem Maße. Früher schlank und zierlich gewachsen, war er jetzt zu unförmlicher Leibesfülle gediehen, die ihm um so übler ließ, als seine ursprünglich schönen und feinen Gesichtszüge gleichsam im Fett zerflossen waren. Dazu noch vor der Zeit gelichtetes, schon leicht ergrautes Haar und vernachlässigte Kleidung, [116] die aus einer Lodenjoppe, ziemlich abgetragenen Beinkleidern und hohen Stieseln bestand.

Ich hatte das Gefühl, daß auch er mich erkannt habe; da aber keiner den Anfang zu einer Kundgebung machen wollte, so verzehrten wir beide schweigend unser kärgliches Mahl. Endlich, nachdem die Teller abgeräumt waren, fragte er mit einer Art Verdrossenheit zu mir herüber: »Bist du's, oder bist du's nicht?«

»Ich werd' es wohl sein'«, erwiderte ich. »Und du bist es wohl auch.«

»Freilich bin ich's«, sagte er und blickte mich dabei wie herausfordernd an. »Aber du bist mit dem Postwagen gekommen und fährst weiter nach B ...?«

»Nicht nach B ..., nur nach K ...«

»Aha, nach K ...! Gewiß zu der dortigen Herrschaft, die dich geladen hat? Du bist ja, wie ich zufällig in der Zeitung gelesen habe, ein berühmter Mann geworden.« Um seine schlaffen Mundwinkel zuckte es wie verbissener, mit Hohn vermischter Ärger.

Derlei halbe Ausfälle schon gewohnt, ließ ich diese Äußerung unbeachtet. »Nein,« sagte ich, »ich bin nicht bei der Herrschaft geladen; ich kenne sie gar nicht. Ich besuche nur einen Freund, der in K ... ein kleines Anwesen hat; dort will ich den Sommer zubringen. Aber wie kommst du hierher?«

»Wie ich hierher komme? Ich lebe hier in Pension.«

»In diesem Nest?«

»Wo soll ich denn leben? Etwa in Wien – damit ich dort verhungere?«

»Nun, es gibt noch andere Orte –«

»Keinen gibt's, wo man mit einer Oberleutnantspension auskommen könnte. Es wäre denn irgend ein ganz weltverschlagenes Dorf. Und dahin könnte ich mich auch nicht ziehen, weil ich doch in einem gewissen Kontakt mit den Militärbehörden bleiben muß. Also eine Stadt taugt für mich nicht – und alle größeren Ortschaften auf dem Lande haben längst angefangen, [117] sich zu modernisieren und in Sommerfrischen oder Luftkurorte umzuwandeln. Davon ist hier keine Rede.«

»Das glaub' ich«, sagte ich. »Die Gegend ist nicht danach angetan.«

»Zum Glück nicht. Denn siehst du, gerade diese Gegend ist mir ans Herz gewachsen. In ihr fühl' ich mich wohl – soweit ich mich überhaupt wohl fühlen kann.«

»Aber wie ist es eigentlich mit dir?« fragte ich zögernd. »Warum bist du denn in Pension gegangen?«

»Gegangen!« hohnlachte er. »Gegangen! Aber freilich, du bist ja schon viel früher weg, und da kannst du nichts wissen. So will ich dir's kurz auseinandersetzen. Bekannt ist dir, wie aufsässig mir unser Oberst seit jeher gewesen. Warum, weiß ich eigentlich selbst nicht.«

»Nun, Anlaß hast du ihm hin und wieder schon gegeben.«

»Was für Anlaß?« erwiderte er giftig. »Im Dienst hab' ich immer meinen Mann gestellt, das wirst du mir nicht bestreiten können. Nur die Gage hat bei mir nie gelangt. Und da hab' ich Schulden gemacht. Aber das war so ziemlich allgemein. Bist du vielleicht mit den dreiunddreißig Gulden ausgekommen?«

»Allerdings nicht.«

»Na also! Und der Conte Smechia – und der Desy – und wie sonst die Günstlinge des Trentusch hießen, die verspielten Hunderte im Macao und wurden von dem Prager Juden auf Wechsel geklagt, ohne daß es ihnen bei dem gestrengen Herrn geschadet hätte. Aber weil ich bei dem Gastwirt in der Nähe der Kaserne mit dem Kostgeld in Rückstand geblieben war – und den Schuster und die Waschfrau nicht bezahlen konnte, drohte er mir mit Entlassung. Ich war eben ein armer Teufel, der sich nicht zu helfen wußte. Von Hause bekam ich gar nichts. Denn meine arme Mutter lebte selbst nur sehr kümmerlich von einem kleinen Witwengehalt. Das allein hat mich in seinen Augen schon herabgesetzt, denn er wollte nur vermögende Offiziere [118] im Regiment – oder Komißknöpfe, die die Kunst verstanden, von Wasser und Brot zu leben. Wie oft er mich bei der Beförderung zum Oberleutnant übergangen hat, wird dir doch wohl noch in Erinnerung sein. Auch daß ich während des Feldzuges im Jahre 59 zum Depotbataillon versetzt worden bin, nur damit ich nicht etwa Gelegenheit fände, mich auf dem Schlachtfelde auszuzeichnen. Als der Friede geschlossen war, konnt' ich wieder einrücken. Du hast damals quittiert, ich aber mußte als Leutnant weiter dienen, während einige meiner Rangsgenossen schon Hauptleute waren. Was ich dabei litt, kannst du dir denken. Aber was hätte ich anfangen sollen? Zum Glück kam ich nach einiger Zeit in ein anderes Regiment. Zu Nr. 80. Dort unter Fremden war die Sache erträglicher. Auch traf ich auf einen wohlwollenden Oberst, der Anteil an meinem Geschick nahm. Aber was half's? Befördern konnte er mich doch nicht; es gab ja jetzt Überzählige genug. Erst im Jahre 64, als wir in Schleswig-Holstein für die Preußen die Kastanien aus dem Feuer holten, und das Regiment dorthin abzog, eröffneten sich Aussichten. Aber gleich im ersten Treffen bei Overselk bekam ich zwei dänische Kugeln in den Leib. Die eine da ins linke Bein, die andere in die rechte Seite zwischen die Rippen. Und die hab' ich noch in mir.«

»Die hast du noch?«

»Freilich hab' ich sie. Sie konnte nicht aufgefunden werden. Da war an kein Weiterdienen zu denken. Schon des Hinkebeins wegen, das mir geblieben ist. Und so bin ich denn noch glücklich als Oberleutnant pensioniert worden.«

»Und die Kugel macht dir keine Beschwerden?«

»Nicht sonderlich. Sie wandert so in mir herum. Einmal spür' ich sie da, einmal dort. Und dann stellen sich auch Beklemmungen und Atemnot ein.«

»Aber da würde ich mich doch gründlich untersuchen lassen.«

»Was nützt alle Untersuchung! Ich kann mir doch den Leib nicht zerschneiden lassen.«

[119] Ich schwieg, denn Röntgens Entdeckung war noch nicht gemacht.

»Die Ärzte haben mir damals gesagt,« fuhr er fort, »daß die Sache solange nichts auf sich habe, bis sich die vermaledeite Bohne an irgend ein edles Organ macht. Dann freilich könne es sehr arg werden. Na, und das wart' ich ab.«

»Das ist sehr traurig«, sagte ich nach einer Pause.

»Lustig ist's nicht. Aber ich habe mich nachgerade an diesen Zustand gewöhnt und bin schließlich froh, daß ich mein verpfuschtes Dasein in Ruh' und Frieden ausknirschen kann.«

»Hättest du nicht doch trachten können, irgend eine Beschäftigung zu finden –«

»Beschäftigung?« erwiderte er, den Kopf zurückwerfend. »Etwa als Schreiber bei einem jüdischen Advokaten? Oder so was. Dafür dank' ich ergebenst. Ich ziehe es vor, unabhängig zu leben. Und dazu ist dieser Ort, an den ich durch einen Zufall geraten bin, wie geschaffen.«

»Aber bringt dich hier nicht die Langeweile um? Was tust du denn den ganzen Tag?«

»Mein Lieber, darauf kann ich dir mit der alten Anekdote aus den Fliegenden Blättern antworten. Ein Professor fragt einen Ziegenhirten auf freiem Felde, woran er den ganzen Tag denke? Ich bin nicht so dumm, versetzte der Ziegenhirt, daß ich an etwas denken müßte. Und siehst du: ich bin nicht so dumm, daß ich etwas tun müßte. Ich habe mir meinen Tag eingeteilt, und da vergeht er mir sehr rasch –«

»Da wär' ich doch neugierig.«

»Wirst es gleich hören. Des Morgens – allzu zeitig erwache ich nicht – nehm' ich den Kaffee im Bett und rauche meine Pfeife dazu, denn Zigarren trägt es mir nicht. Dann kleid' ich mich langsam an und mache trotz meiner Schwerfälligkeit einen ausgiebigen Rundgang um das Städtl. Immer denselben Weg, nur daß ich ihn zur Abwechslung einmal von rechts, einmal von links beginne. Dabei freue ich mich, daß [120] ich stets auf die bekannten Gegenstände treffe. Aha, denk' ich mir, da steht der alte Birnbaum, den die Raupen jeden Sommer kahl fressen. Und jetzt komm' ich bald an den breiten Graben, den ich nur mit Mühe übersetzen kann. Und dort seh' ich schon die verfallene Hütte, vor der die zerlumpten Kinder lungern und mich anbetteln. Zuweilen schenk' ich ihnen auch einen Kreuzer. Na, und so vergeht die Zeit bis Mittag. Da verzehr' ich, wie du gesehen hast, meinen Schlangenfraß. Er könnte noch schlechter sein, denn der Wirt hat mich gegen Überlassung von zwei Dritteln meiner Pension in Wohnung und Verpflegung genommen. Ob er etwas dabei verdient, weiß ich nicht; jedenfalls läßt er mich merken, daß er mir eine Gnade erweist. Nach Tisch rauche ich auf meinem Zimmer wieder meine Pfeife. Dabei fange ich zu lesen an. Romane natürlich. Lauter solche, die heute schon ganz aus der Mode gekommen sind; in der hiesigen Leihbibliothek kriegt man eben keine anderen. Begonnen habe ich mit Sue und Dumas. Die Geheimnisse von Paris, der ewige Jude – und auch der Montechristo sind ganz großartige Werke. Auch von Boz einiges. Die Pickwicker und den Oliver Twist habe ich mehrmals nacheinander gelesen. Ich glaube nicht, daß einer, der heute schreibt, ähnliches zustande bringt. Aber auch der Hauff, der Zschokke und der Van der Velde sind ganz tüchtige Kerle. Nun bin ich freilich schon zu Clauren, Cramer und Spieß hinauf- oder eigentlich herabgekommen – und so wird es nicht mehr lange weitergehen; werde nach alten Zeitungen greifen müssen. Also wie gesagt: nachmittags lese ich. Dann hänge ich in den Dämmerstunden meinen Gedanken nach und lasse meine ganze Vergangenheit an mir vorüberziehen. Lauter böse Erinnerungen. Aber sie schmerzen mich nicht. Vielmehr ist es mir ein eigenes Behagen, bei den ärgsten zu verweilen und mir alle Einzelheiten so recht im Geiste auszumalen. Dabei sag' ich mir mit einer Art Genugtuung: siehst du, das alles hast du erleben müssen!«

»Aber du wirst doch auch angenehme Erinnerungen haben?«

[121] »Keine! Keine einzige! Nicht einmal aus meiner frühen Jugend, wo doch jeder mal, und wenn es ihm auch sonst noch so schlecht erging, seine Freuden gehabt hat. Mein Vater war sehr früh gestorben, und so wurde mir meine Knabenzeit durch einen Vormund vergällt. Der hatte beständig an mir zu nörgeln und zu hofmeistern. Ich lernte ihm immer zu wenig, und sein größtes Vergnügen war, in Gegenwart meiner Mutter die Prophezeiung auszusprechen, daß ich es niemals zu etwas bringen würde. Na, und eigentlich hat er ja recht gehabt.«

»Du bist doch Offizier geworden.«

»Mit Müh' und Not! Anderen kam das goldene Portepee nur so zugeflogen. Ich aber habe mich fünf Jahre lang als Kadett schinden müssen. Unter dem Hauptmann Wucic, dem rohen Kroaten – und unter dem heimtückischen Pasch. Das war eine Höllenzeit!«

»Aber später als Leutnant. Du warst doch ein hübscher Bursche, und soviel ich weiß, hat es dir an Liebschaften nicht gemangelt.«

»Liebschaften!« rief er unwillig aus. »Verliebt war ich freilich oft genug, aber wie Nestroy in einem seiner Stücke sagt: mit der Gegenliebe hat es gehapert. Ich bin niemals an die Rechte gekommen.«

»Wie war's denn mit der schönen Juwelierstochter in Prag, die aussah wie eine Neapolitanerin. Die soll doch – –«

»Hör' mir auf mit der! Die war nichts als eine abgefeimte Kokette, die mit dreien von uns zu gleicher Zeit angefangen hatte. Mit mir, dem Hübl und dem Paravicini. Jedem hat sie Blumen geschickt, jedem auf Rosapapier die ganz gleichen Briefchen geschrieben und ihn dahin bestellt oder dorthin. Ins Theater, ins Konzert – oder auf die Sophieninsel. Schließlich sind wir ihr darauf gekommen; du kannst dir denken, was für Gesichter wir gemacht haben. Und auf den Schlag waren fast alle, denen ich wie ein Narr nachgerannt bin.«

»Aber die schlanke Blondine, mit der man dich so oft gesehen hat. Die hättest du ja, glaub' ich, heiraten sollen?«

[122] »Freilich hätt' ich! Und ich war auch nahe daran, die Torheit zu begehen und ihretwegen in den Finanzdienst zu treten. Kaution hatte sie ja keine. Aber ich habe noch zu rechter Zeit erfahren, daß sie vor mir ein Verhältnis mit einem Studenten gehabt hatte, das nicht ohne Folgen geblieben war. Die hatte sich mir allerdings an den Hals geworfen, aber geliebt hat sie mich nie. Ich sage dir: mich hat nur einmal ein Mädel wirklich gern gehabt: die kleine Fanuschka in Znaim.«

»Die –?«

»Mach' kein so verächtliches Gesicht! Das war eine Perle – wenn man sie auch bei der Madame Kokum haben konnte. Ihre eigene Mutter hat sie hingeschickt, wenn sich kein Kreuzer Geld im Hause befand.«

»Du hast dich also näher mit ihr eingelassen?«

»Nun ja – wie man's nimmt. Mir gefiel das arme Ding, das gleich beim ersten Zusammentreffen eine Neigung zu mir gefaßt hatte. Die erste im Leben, wie sie mir sagte. Sie war ja auch noch blutjung, kaum siebzehn. Die Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen, waren schauderhaft. Einen Vater schien sie nie gekannt zu haben. Ihre Mutter, ein noch ganz hübsches Weib, war dem Trunk ergeben und hing überdies an einem verlumpten Kerl. Außerdem war eine alte Großmutter im Hause, stocktaub und seit Jahren gelähmt. Daß ich unter solchen Umständen mit Geld aushelfen mußte, begreifst du. Es war freilich nicht viel, denn die Kleine machte gar keine Ansprüche und war zufrieden, wenn sie sich ein bißchen Kaffee kochen konnte. Auch die Mutter war bei all ihren Untugenden nicht gerade habgierig. Aber ich hatte ja selbst nichts und mußte mich schließlich an einen Wucherer wenden, der mir die Haut über die Ohren zog. Darum war ich auch froh, als der plötzliche Marschbefehl der Geschichte ein Ende machte, und kümmerte mich den Teufel um die Träuen des verzweifelten Mädels, das mich beim Abschied fast wie eine Irrsinnige umklammerte. Ich hatte noch die letzte Nacht bei ihr zugebracht [123] und konnte nur mit Gewalt verhindern, daß sie mir um fünf Uhr morgens auf den Hauptplatz nachrannte, wo schon meine Leute mit dem Vorspannswagen auf mich warteten, denn ich hatte als Quartiermacher vorauszugehen. Ja, damals steckte ich auch noch voller Vorurteile und legte keinen Wert auf die Liebe des unglücklichen Geschöpfes. Heute möcht' ich sie mit meinen Nägeln aus der Erde herauskratzen.«

»Aus der Erde? Ist sie tot?«

»Freilich. Hier in meiner Einsamkeit hab' ich die Briefe gelesen, die sie mir nach Wien schrieb – und die ich damals unbeantwortet gelassen – ja oft gar nicht angesehen hatte. Ich sage dir: trotz der ganz unmöglichen Orthographie, um einen Stein zu erweichen. Und da hat mich eine solche Sehnsucht nach ihr überkommen, daß ich auf gut Glück nach Znaim schrieb. Eigentlich ein Unsinn, denn es waren ja fast zehn Jahre darüber hingegangen. Natürlich erhielt ich keine Antwort. Aber ich wollte nun einmal etwas über ihr Schicksal erfahren; wenn's halbwegs möglich gewesen wäre, hätte ich sie hierher genommen. Und so wendete ich mich an das dortige Gemeindeamt. Man ließ mich warten. Endlich kam die Nachricht, daß Franziska Bischof am 1. Mai 1856 gestorben ist.«

Er schwieg und blickte vor sich hin.

»Kannst du dich noch erinnern, wie sie aussah?« fragte er nach einer Weile.

»So ganz deutlich nicht mehr. Ich habe sie ja auch nur ein paarmal flüchtig gesehen.«

»Reizend war sie mit ihrem zierlichen Körperchen! Die lockigen goldbraunen Haare rundum geschnitten – ein wahres Engelsköpfchen. Und die lieben blauen Augen! Aber daß sie Anlage zur Schwindsucht hatte, ließ sich auch schon erkennen. An ihren Schläfen war die Haut so fein und durchsichtig, daß man die Äderchen darunter zählen konnte. Und das Rot, das oft auf ihren Wangen brannte, war kein gesundes.« Er strich mit der Hand über die Tischplatte. »Na, hin ist hin! Ich werd's [124] auch nicht mehr lange machen. Und das ist gut. Morto io, morto un cane.«

»Du solltest so nicht reden.«

»Warum denn nicht? Ich bin überzeugt, daß du dir ganz dasselbe denkst. Und dann soll man mich auch einscharren wie einen Hund. Einen militärischen Leichenkondukt, den sie etwa aus B ... hierher senden möchten, werd' ich mir verbitten. Schad' ums Pulver, das dabei verschossen würde. – Aber mir scheint, da kommt schon der Kutscher, um dich zu holen. Es ist Abfahrtszeit.«

Es war so.

»Also, leb' wohl«, sagte er, während wir uns jetzt beide erhoben. »Wiedersehen werden wir uns wohl kaum mehr.«

»Nun, vielleicht bei meiner Rückkehr.«

»Ach was, bis dahin –«

Es klang wie eine Ablehnung, und so drückte ich ihm schweigend die Hand.

Er geleitete mich zum Tor, unter dessen Bogen er stehen blieb. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, winkten wir noch einander zu.

Der Tag hatte sich inzwischen verdüstert. Graue Wolken waren aufgestiegen und trieben am Himmel hin. Zu beiden Seiten der Straße zeigten sich weitgedehnte fahlbraune Felder mit kümmerlicher Saat, aus welcher hin und wieder krächzende Dohlen träg aufflogen. Ich hüllte mich fester in meinen Mantel. Tiefe Traurigkeit überkam mich, während ich jetzt ein Menschenschicksal überdachte, das vielleicht auch mein eigenes hätte werden können .....

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 5. Teil. Außer Dienst. Außer Dienst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AE48-6