[116] Die Troglodytin

[117] [121]»Ja, es ist eine Zeit her, daß ich die Geschichte erlebt,« sagte der Forstmeister Pernett, indem er sich nachdenklich den angegrauten Bart strich, »und doch ergreift mich noch heute die Erinnerung daran ganz eigentümlich. Aber hören Sie:

1.

I.

Man schrieb das Jahr 65, und ich befand mich als Adjunkt im Dienste des Grafen W .... auf einem seiner Güter in Mähren. Der Revierförster, dem ich zugeteilt wurde, war ein ausgezeichneter Forstmann, aber schon ziemlich bejahrt und überdies mit einem bösen Gichtleiden behaftet, daher fast der ganze eigentliche Dienst auf meinen Schultern lastete. Doch jung und kräftig, meinem Berufe leidenschaftlich ergeben, ließ ich es mich nicht verdrießen, zu leisten, was eben zu leisten war – und manchmal auch noch mehr. Ich kam also, außer bei dienstlichen Gängen nach der im Schlosse befindlichen Forstkanzlei, nur sehr selten aus dem Wald heraus, was ich übrigens gar nicht bedauerte. Denn ich war kein Wirtshausgeher, kein Freund des Kegelschiebens und sonstiger Unterhaltungen, auf welche in der Regel der Sinn junger Leute gerichtet ist. Eines aber entbehrte ich schwer: den Umgang mit angenehmen Frauenzimmern, zu denen ich, offen gestanden, Zeit meines Lebens große Neigung empfunden. Und gerade in dieser Hinsicht sah es im Forsthause sehr traurig aus. Die alten Leute hatten zwar zwei Töchter – ein Sohn war ihnen versagt geblieben –, aber die eine war schon verheiratet, als ich kam, und die andere [121] folgte bald diesem Beispiele, indem sie die Frau eines fürstlichen Schloßgärtners in der Nachbarschaft wurde; ich blieb also in unserem Heim auf den Anblick der wohlbeleibten, schwerfälligen Försterin und einer alternden Magd beschränkt. Im übrigen freilich hatte ich nur allzuoft mit jungen Weibsleuten zu tun, die nicht ganz ungefährlicher Art waren. Die zahlreichen und ausgebreiteten herrschaftlichen Industrien hatten nämlich eine Arbeiterbevölkerung, gewissermaßen ein ländliches Proletariat geschaffen, das die Gegend in weitem Umkreise bewohnte und von der Hand in den Mund lebte; bäuerliche Ansassen gab es nur wenige. Die Weiber und Töchter dieser Leute verdingten sich denn auch als Tagelöhnerinnen bei der Feld- und Forstwirtschaft, und so kam es, daß ich oft eine Schar von Mädchen beim Aussetzen der Kulturen zu verwenden und zu beaufsichtigen hatte; außerdem erschienen sie an bestimmten Tagen im Walde, um Klaubholz zu sammeln. Sie hatten durchaus nichts Plumpes und Ungeschlachtes an sich, vielmehr waren die meisten schlanke, zierliche Gestalten mit wohlgeformten Händen und Füßen, und was man auch gegen die Gesichter einwenden konnte, schöne Augen hatten sie fast alle und wußten davon auch ausgiebigen Gebrauch zu machen. Dabei waren sie träg und nachlässig, naschhaft und diebisch – und auch sonst zu jedem Unfug aufgelegt. Weh' dem, der sich mit einer von ihnen leichtfertig eingelassen hätte; er wäre unrettbar in die Verlotterung mit hineingezogen worden. Wie oft scherzte ich mit dem Wirtschaftsadjunkten, der ein junger Mann von gutem Hause und mancherlei Kenntnissen war, über unser gemeinsames Schicksal, das uns, während wir doch über mehr willfährige Sklavinnen hätten verfügen können als der Großtürke, zu einem trostlosen Zölibat verurteilte und uns obendrein noch zwang, dem verführerischen Völklein gegenüber grimmige und bärbeißige Mienen aufzusetzen, die freilich auch nicht besonders wirksam waren: sie hatten im besten Falle vorwurfsvoll schmachtende – in der Regel aber nur übermütig herausfordernde Blicke und [122] spöttisches Gelächter hinter unserem Rücken zur Folge. Dennoch hielten wir uns wacker, und was mich selbst betraf, so kann ich heute noch sagen, daß ich mich von all den hübschen Teufelinnen vollkommen frei bewahrt habe. Einmal aber war doch die Versuchung auf ganz merkwürdige Art an mich herangetreten.

Der Ort, in dessen nächster Nähe sich das Schloß befand, war ein ausgedehnter, von einem Flusse durchströmter Marktflecken, dessen Einwohnerschaft aus ziemlich wohlhabenden Bürgern und Grundbesitzern bestand; auch das Gericht des Bezirkes hatte dort seinen Sitz. Außerhalb des Ortes, in gleicher Linie mit der nach den gräflichen Hütten- und Eisenwerken führenden Chaussee, lief eine langgestreckte Gasse hin, die aus gleichmäßig erbauten und mit kleinen Gärten versehenen Häusern bestand. Es war eine Arbeiterkolonie, die schon ein Vorfahr des Grafen nach englischem Muster ins Leben gerufen, und in welcher Sauberkeit und verhältnismäßiger Wohlstand herrschten, da die Inwohner, zumeist Maschinenschlosser und Modelltischler, gut bezahlte, intelligente Leute waren, deren Mehrzahl bereits anfing, sich mit allerlei sozialistischen Problemen zu beschäftigen. Im Rücken des Ortes selbst hingegen, an den zerklüfteten Ufern eines weitläufigen Baches, hatte eine andere Ansiedelung Platz gegriffen, die sich wüst und unfreundlich genug ausnahm. Denn dort hausten niedrige Löhner und Handlanger, die, mit ihren zahlreichen Familien in schlecht gemauerten Hütten bunt zusammengepfercht, ein von Not und Kümmernis bedrängtes Dasein fristeten. Unter ihnen befand sich auch ein heruntergekommener Mensch, namens Kratochwil. Er hatte einst bessere Tage gesehen und war vor einiger Zeit noch Eigentümer der Kaluppe gewesen, in welcher er jetzt mit seinem Weibe und fünf Kindern eine jämmerliche Räumlichkeit innehatte, ab und zu bei den Hochöfen und Ziegeleien beschäftigt. Da er aber infolge des Branntweintrinkens, dem er ergeben war, auch körperlich immer mehr verfiel, so konnte er kaum mehr [123] zu irgend einer Arbeit verwendet werden und wurde schließlich, rückständiger Miete halber, eines Tages mit den Seinen erbarmungslos vor die Tür gesetzt. Noch gelang es den Leuten, die sich in ihrem Elend zu den unsaubersten Hantierungen herbeiließen, bei dem Abdecker des Ortes in einem notdürftig schützenden Verschlag unterzukriechen; sie hatten sich jedoch kaum dort eingenistet, als auch schon der Flecktyphus unter ihnen ausbrach und das Weib samt zwei Kindern in das Notspital der Gemeinde geschafft werden mußte. Die Kinder starben, die Mutter genas und kehrte zu den Ihren zurück, die nunmehr, da sie ihren Schlupfwinkel sofort hatten verlassen müssen, unter freiem Himmel kampierten. Da es Sommer war, so ging diese Lebensweise mit Zuhilfenahme von Betteln und allerlei Felddiebstählen eine Weile hin, als aber endlich die rauhe Jahreszeit hereinbrach, schienen die Obdachlosen dem völligen Untergange preisgegeben. Es wäre zwar Pflicht der Gemeinde gewesen, für die Leute, welche als Eingeborene nicht ›abgeschoben‹ werden konnten, in irgend einer Weise Sorge zu tragen, und wirklich kam auch die Sache im Rate zur Verhandlung. Da sich jedoch nicht absehen ließ, wie diesem von Gott verlassenen Menschenknäuel Hilfe zu bringen wäre, und es doch nicht anging, eine aus fünf Köpfen bestehende Familie schlankweg aus dem Gemeindesäckel zu ernähren, so kam man zu keinem Beschlusse und ließ einstweilen die Dinge ihren Lauf nehmen. Da fügte es der Zufall, daß die Landplage der wandernden Zigeuner auch wieder einmal über den Ort kam. Man mußte diesen Nomaden eine mehrtägige Lagerung außerhalb des Weichbildes gestatten und stellte ihnen eine versandete Hutweide am linken Ufer des Flusses zur Verfügung, wo auch alsbald eine Reihe löcheriger Zelte aufgeschlagen war. Nach ihrem Abzuge zeigte sich eine geräumige Erdvertiefung, welche die Bewohner eines weitläufigen Zeltes zu besserem Wetterschutz mochten gegraben haben; auch eine Anzahl brüchiger Zeltstangen war zurückgeblieben. Auf diese Überreste einer annähernd [124] menschlichen Behausung stürzten sich die Kratochwil, die das braune Volk die ganze Zeit über mit scheeläugiger Neugierde umlauert hatten, wie Habichte und nahmen sofort davon Besitz. Die Schütte faulen Strohes, die sie samt einigen schlechten Lumpen in der Grube vorfanden, diente ihnen fürs erste zu willkommener Lagerstätte, und nachdem ihr stumpfer Sinn einmal angeregt war, ergab sich das Weitere von selbst. Mit Benutzung der Zeltstangen, mit zusammengerafftem alten Lattenwerk und frischem Tannenreisig wußten sie eine schützende Bedachung herzustellen, unter der sie sich, so gut es anging, häuslich einrichteten. Sie gruben die eine Hälfte des Geviertes noch um einiges tiefer und erlangten dadurch zwei Wohnräume, wo sie Moos und trockenes Laub aufschütteten. Sie sorgten für eine gesicherte Feuerstelle, sie legten eine unterirdische Vorratskammer an, in der sie erbeutete Lebensmittel verwahrten, und da man ihnen gestattet hatte, im Walde Holz zu sammeln, so war auch bald ein ganz stattlicher Vorrat an Brennmaterial in der Nähe des Einganges aufgeschichtet; ja, als der Frühling ins Land zog, versuchten sie sogar auf ihrem Territorium Kartoffeln und andere leicht wuchernde Gemüse zu pflanzen. Mit höhnischer Verwunderung blickte man nach dem seltsamen Anwesen, das sich, von zwei jungen Silberpappeln überragt, eigentlich ganz malerisch ausnahm. Einige Spaßvögel hießen es bereits ›Villa Kratochwil‹; der Wirtschaftsadjunkt aber hatte die Inwohner einmal gesprächsweise die Troglodyten genannt, und diese, wenn auch nicht ganz zutreffende Bezeichnung war ihnen seither im Munde vieler geblieben. Um ihr sonstiges Tun und Treiben kümmerte sich niemand. Die Kinder wuchsen selbstverständlich ohne Schulunterricht in äußerster Verwahrlosung heran. Der ältere Junge, ein blutleerer, lendenlahmer Gesell, schien noch die besten Anlagen zu besitzen, denn er wurde des Herumlungerns müde und verdingte sich als Knecht bei einem Fuhrmann, der allerdings selbst herabgekommen war und nur noch ein paar abgetriebene Mähren im Stall hatte. [125] Die beiden Jüngsten aber, ein Mädchen und ein Knabe, zeigten seit ihrer frühesten Kindheit die schlimmsten Eigenschaften. Nicht allein, daß sie aufs Zudringlichste bettelten, sie stahlen auch wie die Elstern; besonders war das Mädchen in dieser Hinsicht berüchtigt und gefürchtet. Das kleine Ding wußte sich des Abends in die Häuser einzuschleichen, wo sie in irgend einem Versteck die Nacht zubrachte, um am frühen Morgen mit leicht erhaschter Beute zu entweichen. So wurde sie einmal sogar unter dem ehelichen Lager eines Gutsbeamten entdeckt, dingfest gemacht und dem Gerichte überantwortet. Da sie aber noch nicht in dem Alter gesetzlicher Verantwortlichkeit stand, mußte sie wieder frei und der häuslichen Züchtigung anheimgegeben werden. Was es mit der letzteren auf sich hatte, konnte man sich mit Hinblick auf die Eltern vorstellen, welche wohl in ihrer Sucht nach Branntwein wenigstens indirekt die Mitschuld der Anstiftung mochten getragen haben. Endlich aber war die Dirne doch schon mehr als halbwüchsig, als sie im Verein mit ihrem jüngeren Bruder bei Nacht in eine verrammelte Bodenkammer drang und dort allerlei entwendete. Sie wurde also wegen Einbruchsdiebstahls auf ein Jahr ins Zuchthaus gesteckt, während der Bursche mit einer leichten Gefängnisstrafe im Orte selbst davonkam.

In dieser Verfassung befand sich die Familie Kratochwil, deren bisherige Schicksale mir bloß vom Hörensagen bekannt waren, während meines ersten Dienstjahres, und auch ich konnte nicht umhin, ihrer freien Siedelung Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ich daran vorüberkam, und das war bei meinen Dienstgängen, einer erwünschten Wegkürzung halber, meistens der Fall. Auch drängte sich bei der kleinen Nebenbrücke, die dort über den Fluß führte, stets der Bursche auf, der jeden anbettelte, von dem er möglicherweise noch eine Gabe zu erlangen hoffte. Er wies dabei den widerlich aussehenden Stumpf seiner rechten Hand vor, die er sich, als man ihn einmal zur Feldarbeit zwingen wollte, aus Ungeschick oder, wie behauptet wurde, vorsätzlich [126] mit einer Sichel verstümmelt hatte. Im übrigen jedoch war er ein kräftiger, von Gesundheit strotzender Junge, dessen tadellosen Körperbau man bewundern mußte, wenn er, halb nackt, fischend oder krebsend im Wasser stand. Auch sein Gesicht war bei aller Rohheit nicht unschön, und seine lebhaften, olivengrünen Augen stachen eigentümlich von einer dichten Fülle kupferfarbener Haare ab, die senkrecht über seiner Stirn emporstanden. Zudem hatte er bei aller Frechheit etwas Gutmütiges und Drolliges, so daß man oft nicht umhin konnte, ihm wider bessere Einsicht kleine Münze oder einen Zigarrenstummel zuzuwerfen, an welchem er auch sofort unter tollen Freudensprüngen mit den wunderlichsten Grimassen zu saugen begann.

Eines Tages – es war im Mai, der sich nach einem rauhen, fast winterlichen April herrlich anließ – hatte ich wieder in der Forstkanzlei zu tun. Als ich mich der Brücke näherte, gewahrte ich unten, hart an der Uferböschung, eine weibliche Gestalt liegen, die sich im warmen Flußsande träg und behaglich sonnte. Sie war nur mit einem dünnen, farblosen Fähnchen bekleidet, das ihr, vielfach zerschlissen, kaum über die Kniee zu reichen schien. Das verwaschene bunte Kopftuch war in den Nacken hinabgesunken und ließ krauses dunkles Haar sehen; der Blick starrte gedankenlos gen Himmel. Da jetzt meine Schritte auf den Balken erdröhnten, wandte sie mir mechanisch das Haupt zu, unter welches sie beide Arme geschoben hatte, und sah mich mit großen, dunkelgrünen Augen an. Diese Augen und auch sonst eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Strolche brachten mich sofort zur Überzeugung, daß es die Kratochwilsche Tochter sei, die wohl in letzter Zeit aus der Strafanstalt zu den Ihren zurückgekehrt war.

Meine Geschäfte nahmen diesmal längere Zeit in Anspruch, so daß etwa zwei Stunden vergangen waren, als ich mich wieder auf den Heimweg machte. Das Mädchen lag noch immer regungslos auf derselben Stelle. Meiner ansichtig geworden, dehnte und reckte sie langsam die Glieder, hob sich [127] gähnend mit halbem Leibe empor und folgte mir eindringlich mit den Augen.

Im Forsthause erzählte ich bei Tisch von meiner Begegnung. Der Förster, im Grunde des Herzens ein gutmütiger Mann, aber barsch und oft grausam in Worten, wenn ihm etwas wider den Strich ging, zeigte sich sehr aufgebracht. Er behauptete, das nichtsnutzige Ding würde im Zuchthause gewiß nur noch schlechter geworden sein, und dabei kam er auf die ganze Familie zu sprechen, die ihm seit jeher ein Dorn im Auge gewesen. ›Dieses Gezücht‹, rief er aus, ›verschändet den ganzen Ort. Es ist ein wahrer Skandal, daß sich die Gemeinde nicht endlich ins Mittel legt!‹

Und da saß er wieder einmal auf seinem Steckenpferde. Unter der Feudalherrschaft emporgekommen, war er ein Feind der autonomen Gemeinde, mit der es des öfteren Grenzstreitigkeiten gab, die auch den Wald berührten. Am meisten aber haßte er den Bürgermeister, weil dieser, ein wohlhabender Grundbesitzer, auch als das Haupt der slawischen Partei galt, die in ihrer natürlichen Mehrzahl nach und nach eine gewisse Machtstellung erlangt hatte. Der Förster jedoch, obgleich selbst von slawischer Abstammung, hielt sich infolge seiner ganzen Erziehung und seines langjährigen dienstlichen Verhältnisses leidenschaftlich zu den Deutschen des Ortes.

Mich selbst kümmerte dieser Zwiespalt damals noch wenig, und ich warf ein, daß die Gemeinde den Kratochwils gegenüber sich in einer sehr schwierigen Lage befände.

›Ach was!‹ unterbrach er mich heftig. ›Reden Sie diesem Volk nicht auch noch das Wort! Indolenz ist es, sträfliche Indolenz! Und obendrein ein Verbrechen, die Leute so dicht beisammen in ihrer verpesteten Erdhöhle zu belassen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man die Lumpeneltern nicht zu Paaren treiben und die Kinder irgendwo zu redlichem Erwerb unterbringen könnte.‹

›Um die Kinder ist es zu schade‹, bemerkte die Försterin. [128] ›Die beiden jüngsten sind mir immer als ganz hübsch aufgefallen; besonders das Mädchen.‹

›Die kann's noch weit bringen! Aber freilich, was kümmert das die Väter der Gemeinde? Hat doch der Herr Bürgermeister seinen einzigen Sohn aufwachsen lassen wie das liebe Vieh.‹

›Der Junge soll ja seit jeher schwachsinnig gewesen sein‹, sagte die Frau, immer zum Begütigen bereit.

›Mag sein; aber keineswegs derart, daß ihm ein ordentlicher Unterricht nicht hätte beikommen können. Der Vater war in der Lage gewesen, einen Lehrer zu halten, oder auch zwei, wenn es schon mit dem Knaben in der Schule nicht vorwärts ging. Er dachte wohl, es sei nicht notwendig. Denn trotz seines Geldes und seiner städtischen Kleidung ist und bleibt er ein Bauer, dessen ganze Weisheit darin besteht, das Kalb vor den Pflug zu spannen. Nun, das ist seine Sache. Was jedoch die Kratochwilschen betrifft, so bin ich überzeugt, daß dieses Gesindel über kurz oder lang irgend ein Unheil anrichtet.‹

Beim Abendessen kam der Alte wieder auf dieses Thema und gab infolgedessen zum Schlusse allerlei Schauergeschichten aus seinem Leben zum besten. Er erzählte von einem verzweifelten Kampfe, den er als junger Mann mit Wildschützen bestanden, von gelegten Waldbränden, von verfolgten Verbrechern, die sich in das Revier geflüchtet, und dergleichen mehr. Als wir zu Bette gegangen waren, konnte ich lange nicht einschlafen; dann aber träumte mir allerlei verworrenes und schreckhaftes Zeug, wobei die Troglodytenfamilie am Flusse in allen Gestalten die Hauptrollen spielte.

2.

II.

Am nächsten Morgen hängte ich mein Gewehr über die Schulter, pfiff meinem Hunde und ging in den Wald. Denn es war einer der Tage, an welchen Klaubholz gesammelt wurde, und da hieß es, ein wachsames Auge haben. Kannten doch die Leute, so diese Vergünstigung genossen, keine Schonung [129] dessen, was, wie sie meinten, eben der freien Natur angehörte. Sie zertraten aufs rücksichtsloseste die jungen Kulturpflanzen, brachen mit ihren Stangen, daran starke Haken befestigt waren, samt den dürren Zweigen auch gesunde nieder und legten nicht selten feine Schlingen ins Buschwerk, auf daß sich Hühner und junge Hasen verfängen. So durchstreifte ich denn jenen Teil des Reviers, der sich mehr gegen die Niederung hinzog; auf dem höher gelegenen, wo Rotwild wechselte, hatte es weniger Gefahr, denn die meisten vermieden in der Regel den beschwerlichen Aufstieg; auch waltete dort seines Amtes der oben wohnende Heger.

Es ging diesmal sehr lebhaft zu, da man die erste schöne Zeit benützte, um sich für länger hinaus zu versorgen; es wimmelte nur so von Weibern und halbwüchsigen Kindern. Indessen war die Sonne immer höher gestiegen, und der Forst begann allmählich wieder zu vereinsamen, als ich, bereits an die Heimkehr denkend, die Mutter Kratochwil gewahrte, wie sie eine ziemlich steile Lehne mühsam herunterhumpelte. Das ausgemergelte, hinfällige Weib hatte sich eine ungeheuere Last von Reisig und dürrem Laub auf den Rücken gebürdet; sie keuchte, und der Schweiß rann über ihr knochiges, bläulichrotes Gesicht, während ein paar Schritte hinter ihr die Tochter ganz frei und unbelastet hinabtänzelte, nur die dünne Brechstange gleichsam zum Spiel nach sich schleifend. Seht die Zuchthausprinzessin, dachte ich, indes mir die Alte mit heiserer Stimme einen demütigen Gruß zurief, seht die Troglodytin, sie läßt die Mutter sich zu Tode schleppen, ohne auch nur ein Zweiglein aufzunehmen! Dennoch konnte ich nicht umhin, der kräftig schlanken Gestalt nachzublicken, wie sie jetzt auf ebenem Boden trotz ihrer Lumpen wirklich wie eine Prinzessin einherschritt und sich dabei anmutig in den Hüften wiegte. Sie war ohne Gruß und Seitenblick an mir vorübergegangen; aber bei einer Pfadbiegung angelangt, blieb sie plötzlich stehen und blickte rasch mit einem flüchtigen Lächeln nach mir zurück. Ich ärgerte [130] mich, daß sie nun bemerkt hatte, wie ich ihr nachstaunte, und ging geraden Weges nach Hause, wo ich aber von dieser neuerlichen Begegnung schwieg, um den Förster nicht wieder in Harnisch zu bringen.

Tags darauf hatte ich in der Baumschule zu tun, die, dem Waldrande schon ziemlich nahe, in einer anmutigen windgeschützten Schlucht lag. Als ich mich der Umfriedung näherte, sah ich unweit davon das Mädchen auf einem bemoosten Steine sitzen, als erwarte sie jemanden. Sie hatte im Schoße eine Menge von Vergißmeinnichten liegen, die sie am Rande eines hinter ihr vorüberrieselnden Baches gepflückt haben mochte, und auf welche sie jetzt errötend niederblickte. Eine eigentümliche Empfindung durchzuckte mich; aber ich ging, ohne sie anzusehen, an ihr vorüber und trat in die Baumschule. Während ich dort musterte und hantierte, blickte ich unwillkürlich zwischen den Latten durch und gewahrte, wie sie jetzt mit ungeschickten Fingern bemüht war, die kleinen blauen Blumen zum Strauß zu einen. Mir wurde immer seltsamer und peinlicher zu Mut, und um nicht wieder an ihr vorbeizukommen, zwängte ich mich nach der anderen Seite hin durch den an mehreren Stellen brüchig gewordenen Zaun und trachtete das Dickicht zu gewinnen, indem ich in einen schmalen Pfad einbog. Ich war noch nicht lange gegangen, als es in der Nähe raschelte und mein Hund leicht anschlug. Ich dachte, es wäre ein Reh, statt dessen aber brach das Mädchen hervor und huschte, während sie den Strauß fallen ließ, dicht an mir vorbei, sofort jenseits wieder verschwindend. Ich ließ die plump aussehende Gabe liegen und ging meines Weges. Nach einger Zeit erschien sie wieder – und bald darauf ein drittes Mal. Diese zudringliche Verfolgung begann mich zu ärgern; rasch entschlossen, bog ich sofort nach rechts ab und schritt quer durchs Holz auf der kürzesten Linie dem Forsthause zu. Als ich mich der Schwelle näherte, hörte ich in der Entfernung hinter mir ein kurzes, helles Lachen erklingen, wie das einer Spottdrossel.

[131] Am nächsten Tage trat sie mich wieder an – und auch an dem nächstfolgenden; sie mußte offenbar irgendwo auf der Lauer liegen, um zu erforschen, welche Richtung ich nahm, wenn ich das Haus verließ, sonst hätte sie nicht stets neben mir her sein können. Als ich am dritten Tage zurückkehrte, sagte der Förster: ›Sie, Pernett, ist Ihnen nicht die junge Kratochwil begegnet? Ich habe die verdammte Dirne heute früh am Hause vorbeischleichen sehen wie eine Katze. Sie treibt sich gewiß im Revier herum.‹

Ich weiß nicht, was mich abhielt, die volle Wahrheit zu sagen, und erwiderte bloß, daß ich das Mädchen allerdings von weitem wahrgenommen.

›Sie hätten sie anrufen und abschaffen sollen. Ich bitte mir aus, daß es das nächste Mal sofort geschieht. Und wenn sie Ihnen keine Folge leistet, so hetzen Sie den Hund auf sie – oder brennen ihr eins hinauf!‹

›Ja, wenn das nur so ginge!‹ erwiderte ich mit gezwungenem Lachen.

›Leider geht's nicht. Und das weiß auch das Gesindel und nimmt sich daher alles und jedes heraus. Diese Kanaille aber darf um keinen Preis geduldet werden. Drohen Sie nur, daß man den Eltern das Klaubrecht entzieht, das wird schon wirken.‹

Ich fühlte mich während dieser Unterredung um so befangener, als ich mir bewußt war, bei der ersten Frage meines Vorgesetzten errötet zu sein. Aber er hatte recht: der Sache mußte ein Ende gemacht werden. Ich nahm mir also vor, das Mädchen bei der ersten Wiederbegegnung scharf anzulassen.

Am nächsten Morgen war trübes, regnerisches Wetter eingefallen, und ich dachte daher, daß sie sich heute wohl nicht zeigen würde; aber es dauerte nicht lange, so sah ich sie im nassen Gestrüpp einer abgeholzten Lehne auftauchen.

›He! du!‹ rief ich sie an.

[132] Sie stand still und blickte mir, unter dem triefenden Kopftuche über und über erglühend, entgegen.

›Was streichst du denn da im Wald herum?‹ fuhr ich barsch fort, indem ich auf sie zutrat.

Sie schien eine andere Sprache erwartet zu haben, denn ihr Gesicht verfinsterte sich und ihre Augen nahmen einen bösen Ausdruck an. ›Nun,‹ fragte sie mit rauher Stimme, ›darf ich's vielleicht nicht?‹

›Nein!‹

›Warum nicht? In den Wald kann jeder gehen.‹

›Meinst du? Im Revier darf sich niemand aufhalten – und du am wenigsten.‹

›Wer wird mich hindern?‹

›Ich.‹

›Ihr? Geht!‹ Sie sah mich dabei mit zusammengezogenen Brauen verächtlich – und doch mit ungläubiger Zärtlichkeit an.

Ich fühlte, wie mir dieser Blick ins Innere drang; dennoch nahm ich eine gleichgültige Miene an. ›Was mich betrifft, so sollt' es mich wenig kümmern, ob du da bist oder nicht; du wirst die Bäume nicht forttragen. Aber der Förster duldet's nicht und hat mir befohlen, dich abzuschaffen.‹

›Und wie wollt Ihr das anfangen?‹ fragte sie höhnisch.

Mein Stop hatte sich mittlerweile zwischen uns beide gestellt und fing jetzt an, sie vorsichtig zu beschnuppern.

›Wollt Ihr mir vielleicht gar mit dem Hund zu Leibe?‹ fuhr sie lachend fort. ›Der würd' Euch nicht gehorchen.‹ Sie hatte bei diesen Worten einen Brocken schwarzen Brotes aus der Tasche gezogen, nach welchem Stop, gefräßig wie alle Jagdhunde, gierig schnappte und dann, nach mehr verlangend, wedelnd zu ihr emporsah. ›Seht Ihr! Er ist klüger, als sein Herr; er nimmt, was man ihm gibt.‹

Ihre Unverschämtheit verdroß und empörte mich jetzt wirklich. ›Weißt du,‹ sagte ich, ›ich werde mich mit dir in kein Hinund [133] Herreden einlassen, und erkläre dir nur, daß ich dich nicht mehr hier treffen will. Gewalt kann ich allerdings nicht anwenden, aber es gibt noch andere Mittel, dir den Kopf zurechtzusetzen. Fürs erste dürfen deine Eltern nicht mehr Holz sammeln, wenn du mir noch einmal in den Weg kommst. Das merk' dir!‹ Damit ließ ich sie, dem Hunde pfeifend, kurzweg im Gestrüpp stehen. Ich empfand deutlich, wie sie mir mit zornig funkelnden Augen nachblickte, und nach einer Weile vernahm ich ein wildes, weithin schallendes Hohngelächter.

Aber meine Worte, sowie mein ganzes Benehmen schienen doch die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt zu haben; denn das zudringliche Geschöpf blieb von diesem Tag an dem Walde fern; wenigstens bekam ich es nicht zu Gesicht. Aber seltsam: obgleich ich mit dem Erfolg zufrieden sein mußte und es auch wirklich war, so fehlte mir doch etwas bei meinen Gängen. Es war mir, als könnte ich noch immer nicht daran glauben, daß sie meinem Befehl gefolgt sei, und so oft ich es irgendwo in den Zweigen rascheln hörte, glaubte ich auch ihre Gestalt hervorbrechen zu sehen, gewissermaßen enttäuscht, wenn ich nun in der Tat irgend ein Getier erblickte.

Inzwischen war es vollends Sommer geworden und draußen auf den weitgedehnten, sonnenbeglänzten Feldern begann allmählich das Korn zu reifen. Um diese Zeit hatte ich mich einmal in der Frühe zu dem Heger hinauf begeben und mit ihm den oberen Teil des Reviers begangen; als ich mich zum Abstieg anschickte, war es bereits nahe an Mittag und die Hitze, schon am Morgen höchst empfindlich, hatte sich inzwischen bis zum Unerträglichen gesteigert. Aus dem Nadelholz rings herum drang eine betäubende Glut und schien jeden Laut zu ersticken; nicht einmal das Hämmern des Spechtes klang durch die Stille. Ich hatte meinen Rock ausgezogen und lechzte wie mein Hund, der mit heraushängender Zunge dicht hinter mir herschritt. Aber alle Bäche und Wasserrisse waren eingetrocknet, und die kurze Wegstunde, die ich noch bis zum Forsthause zurückzulegen [134] hatte, schien mir gerade Zeit genug, um zu verdursten. Da fiel mir ein, daß ich mich in der Nähe eines Erdbruches befinden müsse, woselbst ich im vorigen Sommer während der größten Dürre eine Quelle angetroffen hatte, die mühselig zwischen Moos und Baumwurzeln hervorsickerte. Ihr spärliches Wassergeriesel sammelte sich in einem kleinen, von Zeit zu Zeit überfließenden Tümpel, wodurch der Ort selbst beständig feucht gehalten und der Wuchs hoher Ulmen begünstigt wurde, die in der Runde kühle, düstere Schatten verbreiteten. Ich trachtete sofort, die kürzeste Richtung zu gewinnen, indem ich mich ohne weiteres durchs Dickicht schlug. Bald empfand ich auch, wie mir ein erquickender Hauch entgegenwehte; jetzt vernahm ich schon deutlich, wie es in der Tiefe rieselte und plätscherte. Noch ein paar Schritte – und unter mir lag der klare, umschattete Tümpel. Aber gleichzeitig benahm es mir den Atem, und ich mußte mich taumelnd am nächsten Ast festhalten. Denn dem kleinen Bassin, an dessen Rand sich weibliche Kleidungsstücke verstreut zeigten, entstieg eben mit blinkendem Leibe das Mädchen. Stolp war vorausgeeilt; sie schrak zusammen und wandte mir das Antlitz zu. Ihre erste Regung war, sich in instinktmäßiger Scham die Hände vor die Augen zu schlagen; sofort aber zuckte es eigentümlich um ihren Mund, und indem sie die erhobenen Arme sinken ließ, nahm sie die bekannte Venusstellung an, die sie nie im Leben vor Augen gehabt. Ich wendete mich ab und floh den Pfad zurück, den ich mir gebrochen. Wie ein Trunkener taumelte ich vorwärts; das Herz schlug mir bis an den Hals hinauf; Hitze und Trockenheit in der Kehle drohten mich zu ersticken, während mich mein Hund, der sich inzwischen satt getrunken, mit noch triefender Schnauze lustig umsprang.

Wie ich damals nach Hause gekommen, weiß ich heute nicht mehr; ich kann nur sagen, daß ich das Bild nicht vor den Augen wegbrachte, daß mich marternde Sehnsucht verzehrte, daß ich mit dem Entschlusse kämpfte, das Mädchen aufzusuchen – und[135] was derlei Ausgeburten einer erhitzten Phantasie mehr waren. Vernunft und Ehrgefühl halfen mir freilich über all diese Erschütterungen hinweg; aber mir war und blieb in den nächsten Tagen elend zumut. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen und schritt im Walde wie ein Schatten umher.

So mochte fast eine Woche vergangen sein, und ich mußte wieder einmal nach der Baumschule sehen, die ich seither vermieden hatte, obgleich mich eine geheimnisvolle Macht hinzuziehen schien. Schon aus einiger Entfernung konnte ich bemerken, daß das Mädchen, wie damals, in der Nähe des Zaunes saß. Ich fühlte einen heftigen Ruck am ganzen Körper, und unwillkürlich wendete ich mich zur Umkehr. Doch schon schämte ich mich auch dieser unwürdigen Feigheit und beschloß, der Gefahr, wenn es denn wirklich eine sein sollte, mutig zu begegnen; schritt also jetzt an der Sitzenden, ohne ihr einen Blick zu schenken, vorüber. Stop aber hielt an und wedelte ihr wie einer guten Bekannten entgegen. Sie lockte ihn an sich heran. Ich pfiff; doch da sie ihm den Kopf kraute, folgte er nicht gleich. Das ärgerte mich. ›Laß den Hund in Ruhe!‹ herrschte ich ihr zu, mit einer halben Wendung stehen bleibend.

›Kann ich dafür, daß er mich kennt?‹ antwortete sie ruhig, ohne aufzusehen. ›Er weiß sich nicht zu verstellen, wie Ihr.‹

›Was willst du damit sagen?‹ erwiderte ich barsch.

›Warum tut Ihr, als sähet Ihr mich nicht?‹

›Sei froh, wenn ich dich nicht sehe‹, sagte ich bedeutungsvoll.

›Ach geht!‹ sagte sie, indem sie sich von dem Stein erhob und langsam auf mich zukam. ›Ich habe ja doch Tag für Tag hier auf Euch gewartet.‹

›Auf mich? Weshalb?‹

Sie erwiderte nichts, sah mich aber mit einem Blick an, der mir das Blut sieden machte – und mich doch gleichzeitig derart empörte, daß ich mit ungeheuchelter Entrüstung ausrief: [136] ›Du bist ein schamloses Ding! Schau, daß du fortkommst – und das sogleich!‹

Sie blickte mich halb erschreckt, halb ungläubig an, während ein blödes Lächeln um ihre roten, halb geöffneten Lippen spielte.

›Hast du gehört? Hinweg! sag' ich!‹ Damit trat ich, den Arm gebieterisch ausgestreckt, so drohend auf sie zu, daß Stop trotz seiner freundlichen Gesinnung bedenklich zu knurren anfing.

Sie bebte zusammen; gleich darauf aber kam ein tückischer, herausfordernder Trotz in ihrem Antlitz zum Vorschein; es war, als wollte sie sich zur Wehr setzen. Dann aber nahmen ihre Züge plötzlich den Ausdruck vollständiger Gleichgültigkeit an. ›Nun ja; tut nicht so böse und schreit nicht. Ich gehe schon. Aber schenkt mir wenigstens etwas. Ich habe Hunger. Und seht, das Kleid geht schon ganz in Fetzen – auch habe ich keine Schuhe –‹

›Du brauchst Schuhe – du Strauchdiebin!‹ rief ich hart.

Sie zuckte wieder zusammen; ihre Augen waren ganz dunkel geworden und blitzten vor Wut und Haß. ›Warum heißt Ihr mich so?‹ rief sie mit geballten Fäusten. ›Euch habe ich nichts gestohlen.‹ Dann ließ sie allmählich die Arme sinken und sagte vorwurfsvoll: ›Ihr solltet mich nicht so nennen – gerade Ihr nicht.‹

Ich selbst hatte das Wort bereut, kaum daß ich es ausgestoßen. ›Warum läßt du's auch darauf ankommen‹, entgegnete ich milder. ›Und wenn du Hunger hast, warum arbeitest du nicht?‹

›Das geht nicht‹, erwiderte sie dumpf.

›Weshalb nicht?‹

›Es nimmt mich niemand.‹

›Das ist nicht wahr. Hast du's denn schon versucht?‹

Sie schüttelte das Haupt.

›So tu's!‹

[137] Sie blickte nachdenklich vor sich hin. ›Schenkt mir lieber etwas‹, sagte sie nach einer Weile.

›Nein, ich schenke dir nichts! Das hieße nur deine Trägheit, deine schlimmen Neigungen unterstützen. Oder doch –‹ fuhr ich fort, von einem plötzlichen Gedanken überkommen ›ja, ich will dir so viel schenken, daß du eine Zeitlang nicht zu hungern brauchst und dir ein paar Ellen Zeug an den Leib schaffen kannst; aber auch nur unter der einen Bedingung, daß du dich nach Arbeit umsiehst.‹

Sie schwieg und schien einen schweren inneren Kampf zu kämpfen. ›Es nimmt mich niemand‹, wiederholte sie endlich. ›Ihr wißt doch – –‹

›Ich weiß. Aber gerade deswegen wird und muß man dich nehmen; denn es ist jedermanns Pflicht, dir zu einem ordentlichen Leben zu verhelfen. Im Wirtschaftshofe findest du ganz gewiß Aufnahme. Wenn du willst, werde ich mit dem Adjunkten sprechen.‹

›Nehmt Ihr mich lieber‹, sagte sie, rasch aufblickend. ›Ihr könnt mich ja auch im Walde brauchen.‹

›Nein,‹ entgegnete ich verwirrt, ›nein, dazu ist es jetzt schon zu spät; die Kulturen sind ausgesetzt, und was ich dir sonst noch zu tun geben könnte, würde nicht weit reichen. Aber bei der Wirtschaft geht es erst jetzt so recht an. In der nächsten Woche beginnt die zweite Rübenhacke, dann die Heumahd, späterhin ist der Schnitt – und endlich die Rübenernte. So hättest du Beschäftigung und Verdienst bis tief in den Herbst hinein. Willst du?‹

Ich sah, daß sie zu keinem Entschluß kommen konnte und wie verloren vor sich hinstarrte. Ich trat ihr näher und zog die Börse. ›Schau,‹ sagte ich in mildem Tone, ›du bist ein hübsches Mädchen; warum willst du nicht auch brav und rechtschaffen sein? Wie heißt du denn eigentlich?‹

›Maruschka‹, sagte sie still.

›Also, Maruschka, warum willst du nicht, wie all die anderen, [138] dein tägliches Brot erwerben – für dich – und auch für deine Eltern, die nun einmal zur Arbeit nicht mehr taugen? Dein Beispiel würde den Bruder aneifern – und ihr könntet alle miteinander noch ehrsame Leute werden, statt in Elend und Schande zu verkommen. Denkst du denn gar nicht an deine Zukunft?‹

Ihre breiten, kräftigen Nasenflügel hatten während meiner Worte leise zu zittern begonnen; die Mundwinkel zogen sich schmerzlich herab – und jetzt brach sie in ein unaufhaltsames, lautes Weinen aus.

›Siehst du?‹ fuhr ich fort, indem ich mit der Hand leicht über ihr sprödes Haar fuhr. ›Nimm dir's zu Herzen. Heute ist Freitag – übermorgen, Sonntags, in aller Frühe begib dich nach dem Hofe und melde dich zur Arbeit. Willst du?‹

›Ich will‹, sagte sie schluchzend.

›Nun also. Da nimm! Es ist so viel, als ich eben kann. Aber ich baue auf dein Versprechen. Und daß du mir nicht mehr in den Wald kommst! Hörst du?‹

Sie schüttelte unter Tränen das Haupt, zum Zeichen, daß sie nicht wiederkommen wolle.

›Und nun leb' wohl‹, sagte ich.

Sie hielt die Gabe in der fest geschlossenen Hand. Stumm, gehorsam, noch immer leise weinend, wandte sie sich und ging.

Mit freier, gehobener Brust atmete ich auf. Alle unlauteren, häßlichen Empfindungen waren in mir wie hinweggespült; ich hatte nur das frohe Gefühl, wohl gehandelt zu haben.

Ich erstieg die Anhöhe und wartete, bis Maruschka aus dem Walde in die sonnige Ebene hinaustrat. Sie blickte nicht um, sondern schritt mit gesenktem Haupte zwischen den leuchtenden Kornfeldern dahin. Endlich trocknete sie sich die Augen und begann dann langsam und vorsichtig die Banknote zu entfalten, die ich ihr in die Hand gedrückt.

3.

[139] III.

Gleich am Nachmittage suchte ich den Adjunkten auf. Er hörte mich einigermaßen verwundert an und fragte lächelnd, wie ich dazu käme, den Fürsprecher der jungen Troglodytin zu machen. Darauf war ich vorbereitet und konnte daher ohne jede Verlegenheit auseinandersetzen, daß sich das Mädchen zu großem Verdrusse der Försters tagelang im Revier umhergetrieben, daß ich ihr endlich ins Gewissen geredet und sie bestimmt habe, sich Sonntags im Wirtschaftshofe zu stellen und um Beschäftigung zu bitten. Und am Ende seien wir ja infolge unseres Amtes berufen, uns der Leute anzunehmen, da man sich von seiten der Ortsobrigkeit gar nicht um sie kümmere.

›Gewiß,‹ antwortete er, ›und an mir soll's nicht liegen, wenn das verlotterte Ding etwa klagen sollte, daß man es rettungslos verkommen lasse. Auch kann ich ja eben jetzt nicht genug rührige Hände finden. Aber ich gestehe Ihnen offen, daß ich zu ihrem guten Willen kein rechtes Vertrauen zu fassen vermag. Und selbst wenn sie die redlichste Absicht hätte, so wird sie diese ihrer Natur gegenüber nicht durchsetzen können – gerade so wenig, wie ihre Eltern, die ja auch hin und wieder derlei Anwandlungen gehabt haben. Es sind nun einmal degenerierende Menschen, denen die Arbeitsscheu im Blute steckt. Ein paar Tage, höchstens eine Woche lang greifen sie zu; dann lassen sie plötzlich alles liegen und stehen und strecken sich wieder auf die faule Haut. Das scheint, wie gesagt, auf rein physischen Gesetzen zu beruhen, die selbst dem äußeren Zwange spotten. Wie es mit dem Bruder in dieser Hinsicht abgelaufen ist, wissen Sie ja; ich fürchte, die Schwester wird einen ähnlichen Ausgang nehmen. Aber wie gesagt, wenn sie kommt, ist sie angenommen. Einige von den Weibern und Mädchen, die im Grunde nicht um gar vieles besser sind, werden wohl die Nase rümpfen, wenn sie mit der abgestraften Diebin [140] aufs Feld hinaus sollen, aber das gibt sich in wenigen Tagen und braucht uns nicht zu kümmern.‹

Montags, in aller Frühe, begann die Rübenhacke, und ich suchte einen erhöhten Punkt am Waldrande auf, um der Arbeit von weitem zuzusehen. Während der Nacht hatte es heftig gewittert; nun war die Luft durchsichtig klar, und ein kühler Wind strich von Norden her über die Felder, die sich zu beiden Seiten der Landstraße weithin ausdehnten. Wie Smaragd stachen die Rübenpflanzungen von dem gelblich wogenden Getreide ab, und die bunten Kopftücher der Arbeiterinnen, die sehr zahlreich in tief gebückter Haltung auf dem grünen Plan beschäftigt waren, flatterten wie seltsame große Blumen. Ich bemühte mich, Maruschka unter der zerstreuten Schar herauszufinden, aber es wollte mir nicht gelingen, und schon begann ich zu zweifeln, daß sie ihren Vorsatz ausgeführt – als ich sie plötzlich auftauchen sah, nunmehr deutlich erkennbar an den farblos dunklen Lumpen, die sie noch immer am Leibe trug; nur ein neues, feuerfarbenes Kopftuch hatte sie sich bis jetzt mit meinem Gelde zugelegt. Sie war also wirklich gekommen – sie arbeitete! Zufrieden blickte ich noch eine Weile auf das bunte Bild, dann ging ich meinen Geschäften nach.

Gegen Abend fühlte ich mich plötzlich unwohl. Ich mußte mich irgendwie erkältet haben, und als ich zu Bett ging, stellte sich Schüttelfrost samt einer starken Halsentzündung ein, die mich einige Tage im Hause fest hielt; währenddessen aber war die Arbeit auf den Rübenfeldern zu Ende geführt worden.

Hingegen folgte schon in der nächsten Zeit die Heuernte, und eine große, an den Ort grenzende Wiese wurde zuerst in Angriff genommen. Da ich an diesem Tage zufälligerweise im Schlosse zu tun hatte, wo eben zwei junge Grafen zur Bürsch angekommen waren, so konnte ich bei meiner Rückkehr das rüstige Treiben in der Nähe betrachten und trat endlich selbst hinein. Obgleich die Sonne noch nicht sehr hoch stand, herrschte doch schon die ganze drückende Schwüle des Juli. Der Schweiß [141] der Arbeit floß in Strömen; dennoch war es eine Freude, zu sehen, wie die Leute, Männer und Weiber vereint, lustig die Sensen schwangen und die langhalmigen Gräser, in welchen sie bis an die Hüften standen, vor sich niederlegten. Auf dem bereits abgemähten Teil der Wiese wurde in großen Kreisen eine neue Maschine herumgefahren, welche bestimmt war, die duftigen Schwaden zu wenden und leicht auszubreiten. Dort konnte man auch den Adjunkten gewahren, der eifrig hin und her schritt, seinen Feldstock schwingend. Als er meiner ansichtig wurde, rief er schon von weitem: ›Grüß Gott, Herr Waldkollege! Ihr kommt wohl, um nach meiner Schutzbefohlenen zu sehen? Aber die werdet Ihr hier nicht finden. Was ich vorhergesagt, ist eingetroffen. Zwei Tage lang hat sie bei den Rüben gearbeitet, dann verschwand sie. Wenn aber dennoch Euer Herz nach ihr verlangt,‹ fuhr er etwas ironisch fort, ›so schaut nur dorthin!‹ Er wies dabei mit seinem Stocke nach einem hohen Mühlendamm, der sich am Rande der Wiese hinzog. Und wirklich: dort oben saß Maruschka am Fuße eines morschen Weidenstrunkes, der einzelne junge Triebe in der Sonne glänzen ließ. Sie selbst aber trug noch ihre alte Kleidung, und so zeichnete sich die ganze Gestalt finster und unerfreulich gegen den lichten Horizont und seine weiß schimmernden Wolken ab. Das feuerfarbene Tuch hatte sie auf den Knieen liegen, in ihrem Haar funkelte ein Büschel roter Mohnblumen. So blickte sie, die Arme aufgestemmt und das Kinn mit den Händen stützend, auf die emsige Schar zu ihren Füßen nieder.

›Es ist freilich bequemer,‹ fuhr der Adjunkt fort, ›sich die Sache aus der Vogelperspektive mit anzusehen. Dennoch begreift unsereiner gar nicht, wie der Dirne der Tag hingehen mag; das ewige Faulenzen und Vagieren muß doch auch seine Pein haben. Und was sie nur dabei denken mag? Denkt sie überhaupt an oder über etwas? Wer vermag sich in die Seele eines solchen Wesens zu versetzen? Ich habe mich schon öfter gefragt, was sie denn eigentlich abhalten mag, die Pfade [142] des am nächsten liegenden und dabei bequemsten Lasters zu beschreiten; des Erfolges wäre sie ja sicher. Denn trotz ihrer Verwahrlosung, ihrer breiten Backenknochen und der etwas platten Nase ist sie doch eine Schönheit, eine echt slawische Schönheit. Hier im Orte könnte freilich ihr Weizen nicht blühen; aber sie brauchte ja nur eine Fußreise nach Brünn anzutreten, dort gibt es Seelenverkäuferinnen genug, die sie mit offenen Armen empfangen würden. Es kann also doch nur wieder die Macht der Trägheit sein, was sie an das gewohnte heimatliche Elend festbannt. Merkwürdig ist es übrigens, daß sich hier nicht wenigstens irgend ein verkommener Bursche an sie macht. Ich kann zwar für ihre Tugend nicht einstehen, aber gewiß ist, daß ich sie niemals mit irgend etwas Männlichem habe verkehren sehen; sie treibt sich immer mutterseelenallein umher. Wäre sie überhaupt fähig, zu lieben? Ja, das sind lauter Probleme, lieber Freund, und wenn man sich so in der Lage befände, wäre es ganz interessant, sie in andere Verhältnisse zu versetzen und zu beobachten, was dabei herauskäme, welche ungeahnten Eigenschaften sie vielleicht entwickeln würde – – Aber Teufel, was treibt denn die Maschine!?‹ rief er, plötzlich abbrechend. Diese schien ins Stocken geraten zu sein, und besorgt eilte er auf sie zu. Ich winkte ihm mit der Hand zum Abschied und ging.

Seine Worte hatten in mir einen Sturm heraufbeschworen, der alles gewaltsam Unterdrückte und vergessen Schlummernde wach rüttelte. Neuerdings tobte mein Blut und erzeugte die tollsten, ausschweifendsten Gedanken. Aber es gelang mir doch bald, wieder über mich selbst Herr zu werden – und um so mehr zu bleiben, als ich ja Maruschka nicht mehr sah. Dem Walde blieb sie fern, und ich selbst, um nicht an ihrem Heim vorüberkommen zu müssen, bequemte mich stets zu einem längeren Umweg durch den oberen Teil des Ortes. In der Eile hatte ich einmal den früher gewohnten Pfad eingeschlagen, und da stand sie gerade auf der Brücke. Sie hielt sich tief über das[143] Geländer gebeugt und blickte in das Wasser hinunter. Vielleicht hatte sie mich kommen sehen und sich infolgedessen abgewendet; mir aber fiel auf, daß sie besser und sorgfältiger als sonst gekleidet erschien, und zwar in helle Farben; um den bräunlichen Hals trug sie eine dreifache Schnur bunter Glasperlen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie sie zu dem allen gekommen sein möchte.

So vergingen mehrere Wochen, und die Jagdzeit rückte heran. Die Herrschaft war inzwischen vollzählig eingetroffen; auch zahlreiche Gäste erschienen. Da gab es denn gleich zum Anfang ein lustiges Geknalle auf den Stoppelfeldern, das den Hühnern und Hasen galt; nunmehr aber sollte im Walde der erste Trieb auf Rehe stattfinden. Ich mußte mich also tags vorher zu dem Heger hinaufbegeben, um mit ihm das Nötige zu verabreden, fand ihn aber nicht zu Haufe. Sein junges Weib – er hatte, bereits ziemlich hoch betagt, eine zweite Ehe geschlossen – säugte eben auf der Schwelle ihr Kind und meinte, der Mann müsse noch in der Nähe sein, denn er wäre erst vor kurzem weggegangen. Sie bezeichnete mir die Richtung, die er mutmaßlich eingeschlagen, und so betrat ich den angegebenen Pfad, der in das ernste Düster hoher Tannen hineinführte. Eine Zeitlang blieb er eben, dann hob er sich, um plötzlich in eine muldenförmige Vertiefung abzufallen, die, von jungen Lärchen- und Fichtenschößlingen bestanden, im vollen Lichte der klaren Herbstsonne lag. Ich hielt einen Augenblick still, um zu sehen, ob sich nicht der Heger dort unten befinde – da gewahrte ich ein zärtliches Pärchen, das in trauter Umschlingung zwischen dem niederen Buschwerk ruhte. Die Überraschten – denn auch sie erblickten mich jetzt – fuhren auseinander und verbargen, indem sie sich rasch umwälzten, instinktmäßig die Gesichter im Grase. Aber ich hatte sie bereits erkannt: es waren Maruschka – und der Sohn des Bürgermeisters, ein bartloser, noch nicht zwanzigjähriger Bursche, der eigentlich hübsch zu nennen gewesen wäre, wenn nicht ein widerlicher [144] Zug von Geistesschwäche und kindischer Weichheit sein Antlitz entstellt hätte.

Ich kehrte natürlich sofort um und schritt den Pfad wieder zurück. Aber es dauerte nicht lange, so kam mir jemand eilig nachgekeucht. Es war der Junge, ohne Kopfbedeckung, den Rock nur so um die Schultern geworfen. ›Herr Adjunkt! Herr Adjunkt!‹ rief er noch aus der Entfernung mit flehender Stimme.

›Was soll's?‹ fragte ich, indem ich anhielt.

›Ach, Herr Adjunkt,‹ stammelte er, sich mühsam des ungewohnten deutschen Idioms bedienend, ›verraten Sie nichts! Sagen Sie niemandem, daß Sie mich hier oben mit der – mit der Maruschka gesehen haben.‹

›Was kümmert das mich? Bin ich ein altes Weib?‹ versetzte ich barsch in seiner Muttersprache.

›Ach, es wäre schrecklich, wenn man's erführe‹, fuhr er weinerlich fort. ›Mein Vater – und auch die Mutter wäre – –‹ Er machte Gebärden des Außersichseins.

›Das glaub' ich gern‹, bekräftigte ich. ›Aber kommt ihr denn oft hier oben zusammen?‹ fuhr ich unwillkürlich fort und schämte mich vor mir selbst, daß ich bei dieser Frage ein zuckendes Weh am Herzen verspürte.

›I freilich‹, grinste der Bursche, und sein Mund zog sich dabei bis zu den Ohren. ›Alle Tage.‹

›An derselben Stelle?‹

›Einmal da, einmal dort.‹

›Und wie könnt ihr dann glauben, daß euch niemand gewahr werden wird?‹

›O, da herauf kommt ja kein Mensch. Höchstens Leute aus dem fürstlichen Revier herüber, und die kennen uns nicht.‹

›Aber der Heger? Der müßte euch doch schon getroffen haben?‹

›O, der Pan Heger,‹ lachte der Junge wieder, ›der tut uns nichts. Der hält den Mund. Dem hab' ich –‹ er machte eine bezeichnende Pantomime, daß er ihm Geld in die Hand gedrückt.

[145] Und das bestärkte mich wieder in der üblen Meinung, die ich, sowie der Förster, von dem Manne hatte. Im Dienste zwar erschien er sehr brauchbar; er besaß Umsicht, Mut und Energie, seine sonstigen Eigenschaften aber flößten kein Zutrauen ein. Er trank gern und hatte schwere Familiensorgen auf dem Halse, da ihm noch drei Kinder aus erster Ehe anhingen. Niemals kam er mit seinem Gehalt aus, und der Graf, bei dem er eine Zeitlang in Privatdiensten gestanden und welcher für ihn eine besondere Vorliebe zeigte, mußte ihn fortwährend unterstützen. Ich ärgerte mich.

›Auch Ihnen werd' ich mich schon dankbar erweisen‹, fuhr der Bursche mit unterwürfiger Zutraulichkeit fort.

›Was untersteht Ihr Euch!‹ brauste ich auf. ›Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Was mich betrifft, könnt Ihr also vollständig beruhigt sein. Ich sag' Euch das, damit, wenn die Sache heute oder morgen doch ruchbar wird, es nicht etwa heiße, ich hätte sie zutage gebracht‹. Damit ließ ich ihn stehen.

Den Heger traf ich nunmehr zu Hause. Es kam mich an, ihn zur Rede zu stellen; aber die ganze Sache war mir so widerlich, daß ich sie nicht noch einmal berühren wollte. Ich erteilte also bloß meine Befehle für die Jagd und ging dann meiner Wege.

4.

IV.

Der Förster begab sich nur höchst selten in den Marktflecken; sein Leiden und die damit verbundene Griesgrämigkeit hinderten ihn daran. Mußte es aber doch hin und wieder aus zwingenden Gründen geschehen, so blieb er auch meistens gleich bis tief in die Nacht hinein unten hängen. Denn er pflegte alsdann das Honoratioren-Wirtshaus aufzusuchen, wo der seltene Gast mit großer Zuvorkommenheit empfangen wurde; das gute böhmische Bier und eine Tarockpartie taten das übrige, um [146] den brummigen Alten auftauen zu lassen, der sich, einmal in Fluß gekommen, als sehr gemütlicher und lustiger Gesellschafter erwies.

Das war auch in dieser Zeit einmal der Fall gewesen. Ich saß noch mit der Försterin, die ihn stets mit einiger Ängstlichkeit erwartete, beim Lampenschein am Tische, als er nach Hause kam. Er sah sehr heiter aus, und während er sich's bequem machte, sagte er: ›Wißt ihr das Neuste? Der ganze Ort ist voll davon. Der Sohn des Bürgermeisters hat eine Liebschaft mit der jungen Kratochwil.‹

›Was du nicht sagst!‹ rief die Försterin verwundert aus.

Ich aber wußte es ja, und zuckte daher nur die Achseln.

›Eine schöne Bescherung für den Herrn Papa‹, fuhr der Alte fort. ›Nun kann er leicht fluchen und wettern und dabei schwören, er wolle die ganze Familie ins Zuchthaus bringen. Daran hätte er früher denken sollen, jetzt ist es zu spät.‹

›Nun, es wird ja nicht so arg sein‹, meinte die Frau.

›Arg ist es, sehr arg. Der schwachköpfige Lali, der schon als Bub' immer hinter den Weibsbildern her war und von ihnen beständig zum Narren gehalten wurde, ist endlich vor die rechte Schmiede gekommen. Das nichtsnutzige Mensch hat ihn natürlich gleich mit offenen Armen empfangen. Und nun er den Braten geschmeckt, heult und flennt er und droht, er werde sich umbringen, wenn man ihm die Maruschka nimmt.‹

›Jesus Maria! Der Schlingel!‹ stieß die Försterin halblaut hervor, indem sie die Hände faltete.

›Tun wird er's freilich nicht, aber ihre liebe Not werden die Eltern mit ihm haben; der verzogene Bursch war ja seit jeher gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Jetzt lassen sie ihn freilich nicht mehr allein über die Straße, sonst aber achteten sie, trotz aller Affenliebe für den einzigen, nicht darauf, daß der Tagdieb unter dem Vorwande, nach den Feldern zu sehen, beständig vom Hause fern war. Man hätte sonst früher dahinter kommen müssen. Merkwürdig ist es überhaupt, daß auch sonst [147] niemand darauf verfiel, obgleich man sich allgemein wunderte, daß die Maruschka ganz schmuck und sauber einherging und ihr Vater aus dem Rausch gar nicht mehr herauskam. Aber wissen Sie, Pernett,‹ fuhr der Förster fort, indem er mich streng anblickte, ›wissen Sie, daß wir eigentlich in die Geschichte mit verwickelt sind? Denn raten Sie einmal, wo das saubere Liebespaar seine Zusammenkünfte gehalten? In unserem Revier – oben beim Heger, der ihnen den Unterschlupf im Walde verstattet. Wahrscheinlich hatte ihm der Junge eine Zeitlang Geld zugesteckt, schließlich aber mochte es dem alten Gauner vorteilhafter geschienen haben, das Geheimnis um eine runde Summe zu verraten. Miserabler Lump! Aber da es nun einmal geschehen ist, habe ich im Grunde doch meine Freude daran.‹

Wir waren noch nicht lange zur Ruhe gegangen, als plötzlich die Hunde in ein wütendes Gebell ausbrachen und die Hausklingel mehrmals hintereinander hastig gezogen wurde. Da ich noch nicht schlief, so war ich bald bei meinem Stubenfenster, das dem Tore zunächst lag, und blickte, einen Flügel öffnend, hinaus. Draußen im Dunkel standen zwei Männer. Es waren Arbeiter, die bei einem Neubau außerhalb des Ortes verwendet wurden und, wie sie sagten, in einem offenen Schuppen genächtigt hatten. Von dort aus hätten sie einen starken Feuerschein bemerkt, der aus dem oberen Teil des Waldes gegen den Himmel aufstieg. Sie wären gekommen, uns davon zu benachrichtigen und sich im Falle der Not zur Verfügung zu stellen.

Kaum hatte der Förster, im Bette halb aufgerichtet, diese Kunde vernommen, als er auch schon mit einem Satze auf dem Boden stand. ›Ein Waldbrand?‹ schrie er, indem er mit ungewohnter Schnelligkeit in seine Kleider fuhr. ›Ein Waldbrand? Aber wie ist denn das möglich?‹ setzte er, sich besinnend, hinzu. ›Bei diesem feuchten Nebelwetter? Auch war die Nacht ganz windstill, als ich heimkehrte.‹

[148] ›Das ist sie noch‹, entgegnete ich, neuerdings hinausblickend. ›Meiner Meinung nach könnte höchstens das Hegerhaus brennen.‹

›Sie haben recht; so wird es sein. Und dann hat auch die junge Kratochwil das Feuer gelegt, um sich an dem Manne zu rächen.‹

Mich selbst hatte dieser Gedanke sofort durchzuckt.

›Eilen Sie nur gleich hinauf‹, fuhr der Förster fort, ›und sehen Sie nach. Die Männer können Sie zur Vorsorge mitnehmen; ich folge Ihnen, sobald ich mich wärmer angekleidet habe.‹

›Ich denke, Sie können sich's ganz ersparen‹, sagte ich, mich rasch fertig machend. ›Es kann keine besondere Gefahr dabei sein; das kleine Haus steht ja auf einer ausgedehnten Lichtung. Sie mögen übrigens in Bereitschaft bleiben, und wenn es not tut, sende ich nach Ihnen.‹

Dies leuchtete auch der Försterin ein, die schon die hohen Filzstiefel des Alten hervorgesucht hatte, und dieser stimmte zu, während ich mit den Männern abging. Wir hatten zwei Laternen mitgenommen und schlugen bei Nacht und Nebel gleich den kürzesten, wenn auch beschwerlichsten Weg ein. Es dauerte nicht lange, so verspürten wir bereits leichten Brandgeruch, der immer eindringlicher wurde, und als wir endlich auf die Lichtung hinaustraten, schimmerte uns die rötliche Glut verglimmender Balken, die um das Haus herumlagen, durch die Dunkelheit entgegen. Der Brand war also schon erloschen und keine weitere Gefahr mehr zu besorgen; auch der Schaden erwies sich als nicht sehr bedeutend. Bloß der Dachstuhl war herabgebrannt; die Mauern standen unversehrt; selbst ein kleiner, ganz in der Nähe befindlicher hölzerner Stall war von den Flammen verschont geblieben. Ich fragte die Hegerleute, welche eben beschäftigt waren, einige ins Freie geschaffte Habseligkeiten wieder einzuräumen, auf welche Art das Feuer ausgebrochen sei? Die Frau erwiderte darauf hastig und einigermaßen [149] verwirrt, sie könne nur glauben, daß es böse Menschen gelegt hätten. Es gäbe einige Wilddiebe, die ihrem Manne schon längst Rache geschworen; auch wäre es immerhin möglich – sie blieb plötzlich in ihrer Rede stecken, da ihr der Heger, wie ich bemerkte, einen grimmigen Blick zuwarf. Die Erörterung war ihm offenbar unangenehm, und er sagte jetzt mit einem gewissen Trotz: ›Wir können niemanden anklagen. Die Oktobernächte sind bereits empfindlich kalt, und da haben wir, der Kinder wegen, noch spät am Abend geheizt. Der Ofen aber ist alt und schadhaft – und der trägt wohl die Schuld an dem Brande. Übrigens war der Schrecken, den wir ausgestanden, das Ärgste; alles andere ist kaum der Rede wert. Dachsparren und Schindeln waren ohnehin schon morsch und verwittert, und hätten bald durch neue ersetzt werden müssen.‹

Diese Erklärung, sowie das ganze Benehmen der Leute erschien hinreichend, Maruschka in meinen Augen des Frevels zu entlasten, den ich ihr zugemutet; der Förster jedoch hielt bei meiner Rückkehr mit der ihm eigenen Verbissenheit an seinem Argwohn fest und meinte, der Heger habe wohl seine guten Gründe, die Schuld auf den Ofen zu schieben, damit die Rolle, welche er bei dem Liebeshandel gespielt, nicht weiter zur Sprache käme. Aber nicht bloß der Alte war überzeugt, daß das Mädchen den Brand gelegt: die Kunde verbreitete sich im Orte selbst wie ein Lauffeuer und wurde sofort zur unzweifelhaften Tatsache. Man sprach von nichts anderem und fragte sich entrüstet, wie es denn komme, daß die Verbrecherin noch immer frei und unbehelligt umhergehe. Infolgedessen fand sich auch das Gericht veranlaßt, von der Sache Akt zu nehmen und Maruschka einem strengen Verhöre zu unterziehen. Da diese aber ihre Schuld auf das entschiedenste in Abrede stellte und auch nicht der Schatten eines wirklichen Beweises gegen sie vorgebracht werden konnte, so mußte der Gerichtsleiter, der diesen Ausgang vorhergesehen, alles weitere auf sich beruhen lassen, zeigte sich aber, um die Gemüter zu beruhigen, gerne bereit, den Antrag [150] zu unterstützen, den der Bürgermeister, nunmehr durch die Umstände begünstigt, an die Statthalterei zu richten fest entschlossen war, nämlich: die bereits wegen Einbruchs abgestrafte Marie Kratochwil, welche, in unverbesserlicher Arbeitsscheu verharrend, der öffentlichen Sittlichkeit sowohl, als auch der allgemeinen Sicherheit gefährlich erscheine, möge zur Abgabe in eine Korrektionsanstalt bestimmt werden. Und da nun der Ortsvorstand begreiflicherweise mit vollen Segeln ins Zeug ging, sich nach der Landeshauptstadt begab, um dort persönlich alle Hebel in Bewegung zu setzen, so langte auch bald der Bescheid herab, daß das Mädchen zu einjähriger Zwangsarbeit einzuliefern sei. Maruschka, bis dahin in Gewahrsam gehalten, wurde also eines Tages, ohne daß ich sie mehr zu Gesicht bekommen hätte, unter Gendarmeriebegleitung zur Bahn gebracht und nach Brünn befördert.

Die Frau des Bürgermeisters hatte sich inzwischen mit ihrem Sohne, der, nachdem er sich eine Zeitlang wie ein Wahnsinniger gebärdet, in apathische Schwermut versunken war, zu entfernt lebenden Verwandten begeben, hoffend, daß der Wechsel des Ortes und der Umgebung seinen heilsamen Einfluß auf den Gemütszustand des Burschen nicht verfehlen würde. Dieses Mittel schien aber nicht angeschlagen zu haben; denn man wunderte sich bei seiner Rückkehr, wie schlecht und verfallen er aussah, und wollte seitdem bemerken, daß er ein in sich gekehrtes, heimtückisches Lungerleben führe. Bald hieß es auch, er habe mit dem Bruder der Maruschka Freundschaft geschlossen, treibe sich in dessen Begleitung an entlegenen Orten umher, und beide seien schon des öfteren in einem verrufenen Wirtshause nächst der Landstraße gesehen worden. Ja man behauptete sogar, daß er bei einbrechender Dunkelheit die Familie in ihrer Höhle aufsuche, sie mit Branntwein regaliere und mittrinkend schwöre: er und Maruschka würden doch noch ein Paar werden. Zwar stehe ihm im Frühling die Rekrutierung bevor, aber es wäre ihm, trotz der Absicht seines Vaters, ihn loszukaufen, [151] ganz recht, ein Paar Jahre beim Militär zu dienen. Wenn er dann wieder zurückkehre, sei er majorenn und niemand mehr könne ihm etwas befehlen oder verbieten, selbst seine Eltern nicht, von denen er übrigens glaube, daß sie nicht allzulange am Leben bleiben dürften. So wenigstens erzählte man sich; ich aber gestehe, daß ich stets eine eigentümliche Empfindung hatte, wenn mir der Bursche hin und wieder begegnete, bleich, hohlwangig und mit blöden Augen vor sich hin wie ins Leere stierend.

5.

V.

Das Jahr 66 war herangekommen, und sein Sommer brachte Sorge, Verwirrung und tiefes Leid. Heute sind mehr als zwei Dezennien darüber hingegangen, und die Einsicht, daß jene Ereignisse der Ausgangspunkt des großen Germanischen Reiches gewesen, hat uns alle mit dem Schicksal, das uns damals getroffen, ausgesöhnt, wenn sich auch seither die Deutschen in Österreich, durch den Nationalitätenhader von allen Seiten bedrängt, immer einsamer und verlassener fühlen. Aber ich gerate da in Reflexionen, die nicht zu meiner Geschichte gehören.

Der Krieg hatte auch unsere Provinz gestreift und der Ort vordringende preußische Truppen beherbergt. Als sie nach geschlossenen Friedensverhandlungen abgezogen waren, schien auch wieder die frühere Alltagsstimmung zurückgekehrt zu sein; die so folgenschweren Vorgänge hatten keine äußeren Spuren hinterlassen. Bald aber machte sich viel Schmerzliches geltend. Manche von den Einwohnern hatten ihre Söhne in den blutigen Schlachten verloren, oder sahen sie verstümmelt im elterlichen Hause eintreffen. Zu denen, welche Tote zu beweinen hatten, gehörte auch der Bürgermeister. Der Junge hatte seinen Willen durchgesetzt und sich assentieren lassen, oder viel mehr mochten die Eltern, welche von dem bevorstehenden Kriege keine Ahnung hatten, in einem kurzen Militärdienste ein willkommenes Heilmittel [152] für ihren Sohn vermutet haben. Dieser war also in das einheimische Regiment getreten, wo er auch, dem Schutze eines bekannten Hauptmannes empfohlen, in der Tat einigermaßen aufzuleben schien; der Krieg aber brachte ihm ein rasches Ende. Er war zwar noch bei Königgrätz mit heiler Haut davongekommen, nach dem hastigen und verworrenen Rückzug über die Elbe jedoch wurde er vermißt, und seine Spur blieb für immer verloren; er mußte in den Fluten des Stromes sein Grab gefunden haben. Die beiden Alten lebten, ihrer reichen Habe unfroh, in öder Ergebung dahin und nahmen schließlich eine junge verwaiste Anverwandte an Kindesstatt ins Haus.

Auch in der Troglodytenfamilie hatte sich manches verändert. Der Vater, endlich dem Schicksale des Säufers erliegend, war eines Tages im delirium tremens verendet, und die Mutter hauste nunmehr am Flusse allein mit ihrem jüngsten Sohne. Dieser schien indes in sich gegangen zu sein und hatte wenigstens annäherungsweise einen Beruf ergriffen: er war Gänsehirt geworden. Und dieses Amtes waltete er mit überraschendem Eifer, erstaunlicher Umsicht und ungeahnter Redlichkeit. So kam es, daß ihm nach und nach fast die ganze Gemeinde ihr watschelndes Federvieh anvertraute, das man früher vor den würgerischen Griffen der Kratochwil nicht genug in acht hatte nehmen können. Eine unübersehbare Herde schnatterte nun auf der frisch besämten Hutweide und verlieh der Erdhütte, die sie umweidete, einen höchst idyllischen Charakter. Zwischendurch bewegte sich der mächtig aufgeschossene, rothaarige Junge und trieb mit einer langen, lustig geschwungenen Peitsche seine Schutzbefohlenen zu Paaren, jedes einzelne Stück aus der Schar dem Eigentümer nach heraus erkennend.

So ging das Jahr hin, und wohl nur wenigen kam es in den Sinn, daß die Zeit herannahe, um welche Maruschka aus der Zwangsanstalt würde entlassen werden. In mir selbst war fast jede Erinnerung an sie erloschen; hatte ich doch inzwischen ein schönes, sanftes Mädchen, die Tochter eines benachbarten [153] Försters, kennen gelernt, die auch später meine Frau geworden ist. Ich war also in der Tat höchlich erstaunt, als ich die Zurückgekehrte an einem düsteren, stürmischen Novembertage auf der Brücke stehen sah. Sie lehnte mit dem Rücken am Geländer und blickte mir starr und ausdruckslos entgegen; endlich wendete sie sich langsam ab. Ich aber war erschrocken über die Veränderung, die in ihrem Äußeren vor sich gegangen. Die einst so kräftige, schlanke Gestalt hatte eine ungesunde, formlose Fülle entwickelt, und in dem fahlen, aufgedunsenen Gesicht lag jener unbeschreibliche Zug öden Stumpfsinns, der den meisten Sträflingen eigen ist. Von ihren Haaren war nichts zu sehen, ein schmutziges Kopftuch umhüllte das ganze Haupt bis tief in die Stirn hinein. Ein unsägliches Grauen wandelte mich an, als ich jetzt an ihr vorüberging, und später vermied ich es, auf demselben Wege zurückzukehren.

Es gibt Tage, an welchen alles zusammentrifft, um kein Behagen im Menschen aufkommen zu lassen. Ein solcher Tag war auch der heutige. Schon am frühen Morgen hatte es Zwist und Ärgernis mit den Holzschlägern im Walde gegeben; jetzt, nach der unerfreulichen Begegnung, mußte ich im Auftrage der Herrschaft zu Gericht, eines Treibers wegen, den man auf der Jagd angeschossen; im Forsthause lag der Alte mit seiner Gicht zu Bette, was auch die Försterin um ihre Laune brachte. Nach hastig eingenommenem Mittagessen mußte ich wieder zu den Holzschlägern hinaus, und am Abend stand mir der Abschluß der Forstrechnungen bevor, welches Geschäft ich stets so lange als möglich hinauszuschieben pflegte.

So hatte ich mich denn etwa gegen neun Uhr in meine Stube zurückgezogen, um meine Arbeit in Angriff zu nehmen. Aber ich war zerstreut, unruhig, und die verteufelten schwarzen Zahlen tanzten mir beim Lampenschein vor den Augen. Mein Hund schien sich gleichfalls nicht behaglich zu fühlen; er drehte sich wiederholt unter dem Tische um sich selbst herum und konnte doch keine bequeme Lage finden. Auch das störte mich; ich [154] legte die Feder aus der Hand, brannte mir eine Pfeife an und ging eine Zeitlang auf und nieder. Ich dachte dabei an gar nichts, und doch fühlte ich mich von irgend etwas seltsam in Anspruch genommen. Aber die Zeit drängte, ich setzte mich wieder und indem ich mich gewaltsam zurechtrückte, begann ich zu addieren. Jetzt ging es, und mehr und mehr kam ich in die Arbeit hinein. Auch Stop hatte endlich Ruhe gefunden; er schlief.

Auf diese Art vergingen etwa zwei Stunden. Zuweilen hielt ich inne und lauschte unwillkürlich auf den Novembersturm, der den Wald durchbrauste. Stop schien ihn zu empfinden; er schauerte leicht und schlug hin und wieder im Traume kurz und leise an.

Da war es mir, als geselle sich dem Rauschen mit einem Male ein eigentümlicher Hall. Ich erhob mich und trat dicht an die Scheiben. Horch! War das nicht Glockengeläute? Ich öffnete leise einen Flügel. Jetzt ein eigentümlich langgezogener Ton. Das Feuerhorn! Feuer – Feuer im Ort! So rasch als möglich machte ich mich fertig und verließ, um niemand vorzeitig zu wecken, das Haus durch das niedrig gelegene Fenster; Stop folgte mir mit einem federleichten Satze. Nach einigen hastigen Schritten blickte ich zum Himmel empor; tief schwarz kam er über den Wipfeln der Fichten zum Vorschein, die das Haus nahe umstanden. Also rasch vorwärts, um Ausblick zu gewinnen! Immer deutlicher vernahm ich das dumpfe Glockengetön, während ein geheimnisvoller Weheruf mit dem Sturm zu gehen schien. Nun bräunte sich auch schon das Firmament, dann rötete es sich – und als ich jetzt den Waldrand erreicht hatte, lag der Ort vor mir, taghell beleuchtet von dem Flammengewoge eines brennenden Hauses. Wie ich mich sofort orientierte, war es das des Bürgermeisters; nahebei, nur durch ein anderes, niederes, aber langgestrecktes getrennt, ragte das Gerichtsgebäude, das größte des Ortes, von der prasselnden Lohe angestrahlt, fast blutrot empor. Zum Glück trieb [155] die Windrichtung die Flammen nicht in den Flecken hinein, sondern nach rückwärts, dem freien Felde zu; auch war die Feuerwehr, die sich erst vor kurzem hier gebildet hatte, schon in voller Tätigkeit begriffen.

Eine Minute lang betrachtete ich das furchtbar prächtige Schauspiel, während unten, beim Geheul der angesammelten Menschen, die Spritzen über den Platz rasselten und ihre Wasserstrahlen in die züngelnden Flammen stäuben ließen. Dann überlegte ich, ob ich hinabeilen oder vorerst die gewiß noch ahnungslosen Försterleute in Kenntnis setzen sollte. Dabei machte ich unwillkürlich eine halbe Wendung und gewahrte hinter mir im Gestrüpp eine zusammengekauerte weibliche Gestalt, die ich früher nicht bemerkt hatte. Der Feuerschein umfunkelte ihr Antlitz, sowie die herben roten Früchte eines dürren wilden Rosenstrauches, an welchem sie unmittelbar saß. Es war Maruschka.

›Du!?‹ rief ich aus, während eine plötzliche Gewißheit in mir aufstieg.

›Ja, ich,‹ erwiderte sie ruhig.

›Was tust du hier?‹

›Ich sehe zu. Schon seit zwei Stunden wart' ich, daß es anginge.‹

›Du hast –!‹

›Redet nur aus! Ich hab' das Feuer gelegt.‹

›Elende!‹ stieß ich hervor, indem ich mein Gewehr erhob, unwillkürlich versucht, mit dem Kolben auf ihr Haupt niederzuschmettern.

›Oho!‹ schrie sie, indem sie rasch emporsprang. ›Kommt Ihr mir so! Ich fürcht' Euch nicht samt Eurer Flinte. Denn wenn Ihr mich nicht gleich niederschießt, könnt' es Euch schlecht ergehen!‹ Sie sah mich wild drohend und dabei unsicher auf dem Boden fußend an. Aus der Tasche ihres Kleides blinkte der dünne Hals einer Flasche hervor; sie hatte offenbar Branntwein getrunken. ›Aber was kümmert's denn Euch?‹ fuhr sie, [156] plötzlich einlenkend, fort; ›Euch geschieht ja nichts, denn bis an den Wald kommt das Feuer nicht.‹

›Wer spricht davon? Aber die Leute da unten!‹

›Die Leute da unten? Ihrer wegen hab' ich ja angezündet! Damals tat ich's nicht, als sie mich anklagten. Jetzt sollen sie verbrennen, alle miteinander!‹

›Ruchlose! Aber der Himmel selbst läßt deine Absicht zuschanden werden. Sieh nur, der Wind hat sich gelegt, und das Haus brennt schon schwächer.‹

Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin und sah, daß ich recht hatte. Wie es oft bei heftigem Sturme zu geschehen pflegt, war in der Luft momentane Ruhe eingetreten, und es schien, als wäre man des Feuers bereits Herr geworden.

Sie krallte die Finger ineinander. ›Nun, das Haus wenigstens ist hin!‹ keuchte sie krampfhaft.

›Was tut's? Der Bürgermeister läßt ein neues aufbauen. Und angenommen selbst, daß er schweren Schaden genommen, stand dir eine solche Rache zu? War er nicht ohnehin schon schwer genug bestraft für das Unrecht, das er dir, wie du wohl meinst, angetan? Er hat seinen Sohn verloren. Oder weißt du das nicht?‹

›Wie sollt' ich's nicht wissen!‹ sagte sie verächtlich. ›Aber was hab' ich davon, daß er sich um seinen Jungen härmt? Was kümmert's mich, daß der hin ist!‹

›Du hast ihn doch gern gehabt!‹

›Den? Der Aff' war mir immer zuwider. Ich hab' ihn genommen, weil er mir Geld gab – und weil Ihr mich nicht mochtet!‹

Im selben Augenblicke empfanden wir einen furchtbaren, heißen Windstoß, der uns beide ins Wanken brachte; die Stämme hinter uns ächzten und knarrten, und aus dem erstickenden Brande züngelten neue Flammen.

›Ha! Ha!‹ rief sie mit gellendem Gelächter. ›Seht Ihr, [157] der Himmel meint es gut mit mir! Es brennt wieder – es brennt! Jetzt geht auch das Nachbarhaus an!‹ Sie jauchzte in wilder Freude auf, zog die Flasche hervor und trank gierig mit zurückgeneigtem Haupte und hoch erhobenem Arm. ›Ja, jetzt werden sie braten – alle – alle – die mich ins Arbeitshaus gebracht. O, was hab' ich dort ausgestanden! Ich will nicht arbeiten, ich mag nicht arbeiten, ich kann nicht arbeiten – und wer mich dazu zwingt, der ist mein Feind, den hass' ich und den bring' ich um!‹ Sie begann, eine branntweintrunkene Mänade, mich mit plumpen, häßlichen Sprüngen zu umtanzen.

Ich faßte sie rauh an und zwang sie still zu stehen. ›Du kannst nicht arbeiten?‹ rief ich. ›Nun wirst du's erst recht müssen! Denn auf das hin‹ – ich wies nach dem Feuer – ›bekommst du wenigstens zehn Jahre Zuchthaus. Und dort läßt man die Leute nicht feiern!‹

›Zuchthaus!‹ rief sie mit tollem Gelächter. ›Zuchthaus! Den möcht' ich sehen, der mich ins Zuchthaus bringt!‹

›Was? Glaubst du, man werde nicht sofort auf dich verfallen? Dich nicht vor Gericht stellen?‹

›Wenn man mich hat!‹

›Meinst du zu entkommen? Wo willst du denn hin?‹

Sie breitete die Arme weit auseinander, als wollte sie den unendlichen Raum bezeichnen.

›Die Gendarmen werden dich überall finden!‹

›Meint Ihr? Oder wollt Ihr mich gleich fassen? Tut's! Ihr habt ja auch ein Gewehr!‹ Sie langte rasch darnach, und ich hatte alle Mühe, es ihr zu entringen. ›Schießt mich nieder!‹ heulte sie plötzlich, ›schießt mich nieder!‹ Sie warf sich zu Boden und wand sich mir zu Füßen. ›Oder nein, küßt mich!‹ schrie sie, wieder rasch aufspringend. ›Küßt mich! Meint Ihr, ich weiß nicht, daß ich Euch gefallen habe? Daß Ihr in mich verliebt wart? Ja, verliebt! Damals – erinnert Ihr Euch? Ihr habt Euch nur geschämt, sonst wäret Ihr mir nachgelaufen wie [158] ein Hund, wäret mir um den Hals gefallen. Tut's jetzt, da alles aus ist! Ihr müßt es tun!‹ Gleich einer wilden Katze sprang sie an mir hinauf und umklammerte mich, als wollte sie mich erwürgen, während ihre dunstigen Lippen die meinen suchten. Stop, der erbost zu bellen angefangen, verbiß sich in ihr Kleid und zerrte daran; aber sie beachtete es nicht. ›Komm',‹ keuchte sie, ›komm' mit mir in den Wald hinein! Dort ist es Nacht – kein Mensch sieht uns – komm'! komm'!‹ Sie trachtete, mich in wütender Umklammerung mit sich fortzuziehen.

Ich machte alle Anstrengungen, mich loszumachen – es ging nicht; ich hätte zur äußersten Gewalt schreiten müssen. Und trotz allen Ekels und Abscheus, trotz der Furcht, die ich jetzt vor ihr empfand, fühlte ich doch eine plötzliche Wallung des Blutes, meine Sinne drohten sich zu verwirren; ich befand mich in einer entsetzlichen Lage ....

Doch da erschien die Rettung! Ein näher kommendes Rasseln ertönte; es war die kleine Feuerspritze eines auswärtigen Maierhofes, die dem bedrängten Orte zu Hilfe eilte. Um Zeit zu gewinnen, hatte sie einen breiten Feldweg eingeschlagen, der unten am Walde vorüberführte; sie kam jedoch, des stark ausgefahrenen Geleises wegen, nur langsam vorwärts. Die Bedienungsmannschaft war abgesessen und eilte neben dem holpernden Gefährt einher.

›He, Leute!‹ rief ich mit aller Kraft. ›Hieher, ihr Leute! Hier ist die Mordbrennerin! Faßt sie! Herauf ihr Leute!‹ Doch niemand kehrte sich daran; meine Rufe schienen unvernommen im Winde zu verhallen. Die Trunkene, Wahnwitzige aber schien zur Besinnung zu kommen und Bestürzung zu empfinden. Sie ließ in ihrer Umschlingung nach, und so konnte ich sie beiseite schleudern, die Hähne meines Gewehres spannen und rasch hintereinander beide Läufe in die Luft abfeuern. Das wirkte. Die Männer hielten an und blickten durch das Halbdunkel forschend empor. Maruschka, die Gefahr erkennend, [159] wandte sich eilig zur Flucht und verschwand zwischen den Stämmen.

›Laufe du nur!‹ rief ich ihr, zitternd vor Aufregung, nach. ›Man kennt dich und wird dich zu finden wissen!‹

Aber man fand sie nicht. Alle Nachforschungen, die man unverweilt nach glücklich bewältigtem Brande im Revier sowohl als in der ganzen Gegend anstellte, hatten keinen Erfolg. Sie war und blieb verschwunden. Erst im Frühjahr, als der Schnee längst geschmolzen war, entdeckte man im Wald unter dem Geröll eines schmalen und tiefen Wasserrisses eine weibliche Leiche. Sie war bis zur Unkenntlichkeit entstellt; aber alle Anzeichen sprachen dafür, daß es die der Troglodytin gewesen. Mir selbst blieb der Anblick erspart, denn noch in demselben Winter war ich als Unterförster auf ein Gut versetzt worden, das ein Schwiegersohn des Grafen in Südsteiermark, nahe der kroatischen Grenze, besaß.«

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TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Erzählungen. Novellen aus Österreich. 3. Teil. Die Troglodytin. Die Troglodytin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AE0A-3