[26] 9.

Dich auch seh' ich jetzt wieder, du liebes, du freundliches Döbling,
Das ich vor Jahren begrüßt als ein erwünschtes Asyl.
Damals warst du ein Dorf mit stillen, sonnigen Gassen,
Wo sich der Wiener Quirit wohlige Häuser gebaut:
Schmucklos, aber bequem, mit fest gegründeten Mauern,
Lauschigen Gärten, die sich traut in einander verzweigt.
Heute gehörst du zur Stadt und hast dich darnach auch verändert;
Kaum zu erkennen mehr bist du dem nahenden Blick.
[27]
Wo ist die Reihe der Linden, die einst vom Linienwalle,
Kühlend und duftend zugleich, mich dir entgegen geführt?
Wo, zur Rechten, das Feld, das ausgedehnte, umplankte,
D'rin Cyanen und Mohn wallende Aehren geschmückt?
Ach, verschwunden der Reiz des ländlichen Anblicks! Es ragen
Nüchtern, einförmig und hoch neue Gebäude empor.
Baugrund wurde der Acker, und das Geleise des Tramway
Fällte die säuselnde Pracht schattiger Wipfel schon längst.
Aber getröste dich, Herz! Noch weiß ich Gassen zu finden,
Die sich auch heute gewiß, was dich erfreute, bewahrt.
Sieh: da stehen ja schon und grüßen bekanntere Häuser –
Manches darunter, das jetzt holdes Erinnern mir weckt.
Freilich haben dazwischen gedrängt sich putzige Villen,
Thürmchen- und erkerbespickt, wie's die »Moderne« verlangt.
[28]
Hier auch die jüngste der Straßen, geführt durch verwüstete Gärten –
Und, o Himmel, dort spreizt, riesig, sich gar ein Palast!
Aber er stört mich nicht mehr; denn schon gewahr' ich der Kirche
Taubenumflattertes Dach – sehe ein reinliches Haus:
Schimmernd getüncht, mit zwei Stockwerken, die Reihen der Fenster
Jalousienverhüllt gegen den sengenden Strahl.
Ja, ich kenn' es genau. Dort oben in einsamer Stube,
Dürftigem Hausrath gesellt, träumte und sann der Poet;
Sann und blickte dabei auf ein Meer von grünenden Wipfeln
Und auf die Thürme der Stadt, die in der Ferne verschwamm.
Selige Qualen des Schaffens und selige Qualen der Liebe,
Bitterste Tage der Noth – ach, wie erlebt' ich sie hier!
Manches hab' ich erreicht, darnach ich damals gerungen,
Und ich breche mein Brot nicht mehr in Thränen wie einst.
[29]
Aber verblüht ist der Lenz, verglüht das Feuer des Sommers –
Und das fahlere Laub raschelt im herbstlichen Hauch.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. Gedichte. Wiener Elegien. 9. [Dich auch seh' ich jetzt wieder, du liebes, du freundliches Döbling]. 9. [Dich auch seh' ich jetzt wieder, du liebes, du freundliches Döbling]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AD72-E