Ludwig Rubiner
Der Kampf mit dem Engel

[141] Jeder Mensch kennt einmal im Leben das Wissen von seinem ganz Menschlichen: von seinem geistigen Ziel, zu dem er auf der Erde gehen muss, um sein Schicksal als geistiges Wesen zu erfüllen; in das Schicksal wurde er hineingeboren. Alle Menschen kennen in Wahrheit das geistige Ziel des Menschenlebens. Alle Menschen sind beteiligt an dem Ziel, die Erde zu einem himmlischen Reich zu machen, zum wahren Staate Gottes, in dem jede irdische Verrichtung auch einen geistigen Sinn hat; den Sinn da zu sein selbst für den fernsten Nebenmenschen; aber in dem jede geistige Aktion auch eine ganz reale irdische Handlung ist, und nicht mehr fremd und verurteilt zu parasitär okkultem Sonderleben. Von diesem Ziel des geistigen Lebens wissen alle Menschen, aber sie kennen es oft nicht mehr, weil sie es verschüttet haben und vergessen.

Einmal im Leben steht die Offenbarung des Geistes vor jedem Menschen, wie der Engel vor Jakob. Da geschieht: die Menschen entziehen sich dem Engel! Entweder sie flüchten vor ihm, sie bleiben ihm fern, die Trägheit beharrte, und der Mensch wird Untermensch. Oder sie gehen ganz zum Engel über, sie kennen vor seinem Flug nur noch die Engelwelt, sie vergessen ihre Geburt auf der Erde, die Existenz der anderen Menschen, die Vornehmheit siegte, und der Mensch wird Übermensch. Beides ist nur eine Ausflucht. Beides lässt das blutende Dasein und Leiden der Erde unberührt, und in jedem dieser Fälle siegt weder Mensch noch Engel, sondern das losgelassene, dämonische Element der Natur siegt und bricht in chaotischer Zerstörung gegen den Übermenschen und den Untermenschen gleich vernichtend heran. So wird der Kampf mit dem Engel zugleich ein Kampf mit den Gegnern des Menschen sein, mit den Trägen und den Vornehmen.

[141] Wir aber leben auf der Erde, und die Erde ist unsere Aufgabe. Wir können weder Tier noch Engel werden, und wir dürften es auch nicht. Uns ist das Geschick gegeben, Mensch zu sein: Die Mitte der Welt. So bleibt uns nichts übrig, als unablässig zu ringen, dass unsere geistige Welt uns stets als das wahre und erreichbare Ziel der Erdenbahn gegenwärtig bleibe. Wer der Gesegnete des Geistes sein will, muss um den Segen kämpfen. Nicht, um selbst über das Menschliche hinaus zu kommen, müssen wir mit dem Engel kämpfen, sondern nur, um ins kleinste Blutkörperchen hinein das Menschliche ganz erfüllen zu können.

Die Führer und Berater der Menschen wissen das Ziel, zu dem sie führen. Aber ihr Kampf mit dem Engel ist, dass sie unablässig die ganze Erdfülle scheinbar kleiner Realitäten durchzusetzen haben, dass sie, aus dem Geiste, unzählige spliternde Erdhaftigkeiten verwirklichen müssen; dass sie Beamte der Menschheit sind, wo sie ihre Verkünder sein wollen.

Für die Erde, für unsere von Blutkratern zerlöcherte Erde, kämpfen wir mit dem Engel. Aber dass wir bis zuletzt uns nicht entzogen, dass wir uns erhoben zum Aufstand für die Erde, dies schon schliesst die Segnung des Engels ein. Wer das Ringen um das geistige Ziel des Menschen zu Ende kämpft, der findet zuletzt, dass sein Ende kein Ende ist, kein ruhender Abschluss. Sondern jedes seiner Worte, jede seiner Taten, jede seiner Körperhaltungen, jeder Teil seiner geistgeleiteten Gliedmassen geht, als frei und losgelöst von ihm, in die Welt ein, weissflammend und stark unter den Menschen wie tausend neue Engel, die mit tausend neuerweckten Menschen ringen werden.

Marsch zur neuen Zeit

Es ist nötig, im Namen anderer zu sprechen. Jeder muss selbst entscheiden, und von Stunde zu Stunde neu, ob er in [142] einem »Wir« vertreten sein will. Diese Entscheidung, wohin die Menschen gehen wollen, ist gut. Mancher dürfte sich wohl durch eine angemasste und allzu künstliche Entscheidung in seinem Fortkommen gehindert fühlen; bei andern wieder kann unter Umständen die Gemeinschaft da sein, doch keine Sympathie zu ihr. In jedem Fall ist schon das Entscheidenmüssen ein fruchtbarer Akt, der selbst bei getrennten Wegen die gegenseitige Lauterkeit verbürgt. Man ist schliesslich doch nie allein; so fiktiv ist keine Kameradschaft, dass man nicht ganz genau wüsste, wer in der Welt auf uns zählen will! Mit jedem »Wir« und »Uns« wird, trotz allem, für Freunde und Kameraden gesprochen, die wirklich leben, und die eine Partei der geistig Unbedingten bilden, nicht nur in unserer nächsten Nähe. Aber auch nicht unerreichbar oder unsichtbar.

Die Forderung ist: den Kampf mit dem Engel aufnehmen! Die Forderung bedeutet: Wir können gar nicht menschenhaft konsequent genug sein. Aber der Fordernde muss aus seiner Forderung zuerst die Konsequenzen für sich selbst ziehen.

Hyänen heulen ringsum. Wer von uns ins Unbedingte schaut, wird angefallen. Wer ins Unbedingte schaut, selbst durch ein Prisma; wem selbst es nur aufs Farbenspiel des Prismas ankommt, auch der Troubadour noch wird angefallen.

Frondeure, liebe Brüder, wir müssen zusammenhalten. Auch der Mitläufer meint es mit Euch noch besser als die Hyänen. Wir sind eine kleine Karawane, die Wüste ist gross. Sollen wir die Kamele verachten?

Jede Fronde hat Mitkämpfer. Begabte auf fabelhaftem Schreibtischniveau. – Die weithin spiegelnde Glaskugel auf dem Springbrunnenstrahl fällt immer wieder ins Niveau zurück. Unnötig, sie zu stossen. Der Mitläufer springt zu uns herauf, er fürchtet, den Anschluss zu versäumen. Aber er fällt noch im Sprung ab; er begnügt sich mit dem Ruf des Gesprungenseins. [143] Nennt ihn nicht Verräter. Er ist keiner. Er spiegelt ja nur.

Freunde, Ihr habt Recht. Wir können gar nicht endgültig genug, gar nicht äusserst genug sein. Wir können uns das Letzte gar nicht weit genug setzen. Unser aller Ziel, auch das Eure, ist zugestandenermassen eine Fiktion, die wir selbst uns schufen.

Benedetto Croce, der Neapolitaner und ein heutiger Humboldt, in seiner »Historiographie«: »Vergessen wir nie, dass erst wir selbst die Tatsachen schaffen!« Der Ton liegt auf dem schaffen.

Feststellungen allein, auch die profundesten, fördern weder Euch noch uns. Es kommt darauf an, dass wir unser Ziel, unsere Tatsache: unsere Schöpfung! bewusst wirklich vor uns hinsetzen.

Immer müssen wir glauben – und je deutlicher alles um uns sich neigt – immer sicherer, dass nichts uns helfen wird, wenn nicht eine ungeheure Umgrabung des Bewusstseinszustandes des Menschen vorhergeht. Diese Änderung des Bewusstseinszustandes – die »Änderung der Welt'' – aus dem Dumpfen ins Menschliche ist möglich. Also nötig.

Gestehen wir, noch lange nicht haben wir sie mit allen Mitteln vertreten. Zu dieser Änderung können wir nur aus einer ungeheuren, ganz absoluten Liebe kommen, die uns selbst überlegen ist. Jedes Wort, das wir sprechen, dürfte nur das belichtende Transparent einer wirklichen Handlung sein, und müsste eine brennende, doch unendlich selbstverständliche Güte tragen.

Statt dessen findet man nur das Brennen. Man trifft allein die Belichtungen an. Aber: rednerische, schriftstellerische, agitatorische Arbeit ist nichts, das für sich da sein dürfte. Politik der Politik wegen: hat uns bis hieher geführt. – Wir [144] sagen die öffentlichen Worte. O törichte und erdenverfluchte Vornehmheit des Denkers! Wir, die wollen, denken, veröffentlichen: Wir haben das Wollen, Denken, Veröffentlichen den Routiniers, den Dilettanten, den Lumpen überlassen. Wir waren feige. Wir waren fahrlässig, Untätig. Lieblos. Vornehm. Jene wurden verstanden. Wir nicht. Wir haben das gewollt. Diese Clubmen-Feinheit war niedrig von uns. Wenn es eine Sünde gibt – und es gibt sie, – so haben wir sie begangen. Wir haben zu Menschen gesprochen, wir haben mit der Schaufel in der Hand am Weinberg ihres Bewusstseins graben wollen: in eimem unerhört eingewickelten Denk-Chiffernsystem, in einer Philosophengrammatik, die nur Universitätskathedern verständlich ist; in einem Signalfeuer, das voraussetzte, der Empfänger habe seinen eigenen Privatleuchtturm und sei eingestellt auf das Alphabet dieser Raketensprache.

Aber man denke, welche unermessliche Güte dazu gehört: verständlich zu sein, immer wieder geduldig von vorn anzufangen, bis ans Ende lesbar – das heisst doch: menschlich! – zu bleiben.

Also? Als Aufrufer – Ausrufer sein! Welche Güte, welches Entströmen der mächtigen Liebe zum unbekannten Andern kann aus dem Leitartikel kommen.

Man denke daran, und man wird uns mit Recht verwerfen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn uns eines Tages der Journalist beschämt. Wenn einer kommt, menschlicher als wir alle, entschiedener, auf gefährlicherem Posten und mit tieferer Gefährdung seiner Umwelt, mutiger als wir, und darum wirksamer für Anständiges. –


*


In Kritiken, Briefen, Äusserungen vernimmt man stets nur: Die Veröffentlichung ist schön – ist nicht schön. Ist tief– ist flach. Ist realistisch – ist mystisch. Ist harmlos – ist gefährlich. [145] Aber alle diese Urteile sind nur dumpfes Gerede. Würde jemand eine wirkliche Kritik üben wollen, so müsste sie, unter den vielen möglichen Anleitungen, mindestens so aussehen: »Wenn Sie es ernst meinen, dann gehen Sie zu diesen und jenen Erben Treitschkes und reden Sie ihnen zu. Allein die Tatsache Ihres Erscheinens wird die höchste Verblüffung hervorrufen, und Sie haben schon halb gesiegt. Aber nur halb. Wichtig ist, dass Sie stets bewusst sind, der Teil zu sein, welcher die grössere innere Sicherheit hat, und die Gerechtigkeit auf seiner Seite. Nur nie sich durch die wohlstudierte Freundlichkeit des Anderen gewinnen lassen; nie ausgleiten in Anerkennung des angeblichen Auch-Standpunkts des Andern; nie in Mondänität verfallen, wie die Carriere-Sozialisten! Auch nie irgendwelchen spezialistisch sicher hingeschnurrten Antworten ein vermeintlich »höhnisches Schweigen« (das nie wirkt!) entgegensetzen, was nur intrigante Damen tun dürfen, die man im Hauptzimmer abfertigt, und die auf der Hintertreppe Gift spritzen. Vielmehr, wenn Sie den Leuten gegenüberstehen, seien Sie sicher, dass Sie ein neuer, heutiger Typus sind, noch unbedingter, geladener noch mit gutem und bösem Zeitenablauf, noch wissend hingerissener als es ehemals die Urchristen waren. Dass Sie allen Gefahren entgegengehen. Und dass Sie nur eintreten dürfen mit der höchsten Besinnung auf Ihre geistige Berufung. Tun Sie alles, was physisch auf die Menschen wirkt. Reden Sie laut und leise, taktvoll und taktlos. Singen Sie, beten Sie, rutschen Sie auf den Knien durchs Zimmer. Nur zeigen Sie, dass Sie die Person von der Sache nicht trennen!«

Was hat denn Fronde überhaupt für einen Sinn, wenn nicht den, die Menschen zu stellen! Sie zu erinnern, dass sie mindestens so anständige Wesen sind, wie wir selbst. Und dass nur ihre, der anständigen Wesen, Zahl grösser sei als die [146] unsrige. Und dass sie preiswürdiger seien als wir, denn sie wurden einfach durch uns daran erinnert, dass sie geistige Wesen, Söhne Gottes seien. Wir aber mussten uns selbst erinnern.


*


Es gibt, seit Herrschaftsfragen existieren, zwei Ströme des Wollens: Den freiheitlichen, der sich meistens von einer positiven Naturvorstellung tragen lässt, und den konservativen, der fast immer ein göttliches Recht zu Hilfe nimmt. Zuweilen dreht das Verhältnis auch um, wie in neuerer Zeit. Es ergibt sich der immerhin ungewohnte Zustand: Wir Freiheitsmenschen der Fronde berufen uns heute so von Grund aus auf ein göttliches Recht, dass wir als Mittler zwischen uns und Gott nicht einmal die Natur mehr zulassen können. Dagegen die konservativen Elemente unter den Denkern sind so entsetzt über unsere Naturferne, dass sie uns sogar mit spinozistischen Mitteln angreifen. (Ein merkwürdiges Überskreuz-Verhältnis, das nur erweist, wie sehr es dem konservativen Geist lediglich aufs Bewahren eines irgendwann eingebürgerten Denkinhalts ankommt, auch wenn der einmal selbst revolutionär wirkte.)

Missverständnisse sind grober Unfug. Es gibt keine Missverständnisse.

Immer noch kann man sich nicht darüber beruhigen, dass wir der Kunst ihr Primat nahmen. Muss es wiederholt werden? Kunst ist ein Ausdrucksmittel. Es kommt darauf an, was ausgedrückt wird. Müssen Beispiele genannt werden, dass nur Inhalt: Dienst an der Sache, gilt? Dass – übertragen auf unsere, völlig andere und neue Welt – nur der politisch-religiöse Homer, nur der politisch-religiöse Dante bleibt! Dass nur die Kirchenmusik, die wahrhaft dienende, existiert. Dass uns der Zeitgenosse der vorletzten Generation, etwa Richard [147] Strauss, ebenso fernsteht wie sein Cousin Paul Lincke! Nur die grossen Dienenden können Führer sein! Dass uns die ausserordentliche aber indirekte Malerei Manets anödet, aber dass ein neuer Pisaner Maler vom »Triumph des Todes« unser Mann wäre – allein er würde zum Triumph ganz andrerer Zustände als des Todes führen. Wie erst, wenn die grossen Diener in Musik, die Palaestrina, Heinrich Schütz, Bach, wenn sie Heutige wären, neu und erstmalig, und, in unserer Zunge, uns leiteten mit zu neu erstandenem Leben aus dem Geiste auf Erden. Wenn sie uns heute sagten, wie jene Musiker den Ihren: so sollt Ihr Euer Fühlen lenken!

Muss man immer wieder zeigen, dass jene Beispiele unserer Gegner, die hohlköpfig gegen uns darlegen sollen, »Gesinnung allein sei nichts, [angeblich], wenn die künstlerische Fähigkeit mangle«, – dass jene Beispiele falsch sind! Weil Gesinnung sich nie am Unvollkommenen nachweisen lässt, sondern stets nur da, wo sie bis zu Ende spricht.

Man muss es immer wieder zeigen. Und doch ist es nicht sehr wichtig. Wenn wir immer wieder rufen müssen: »Kunst an sich ist nichts. Der Inhalt ist alles!« so bewiese das nur, dass unsere Inhalte dürftig sind.

Wären sie es nicht, dann wäre die Diskrepanz nicht möglich. Dann würde der Wert, das Göttliche, Geistige, Heilige (was eben ja man allein »Inhalt« nennen kann!) schon längst das dienende Ausdrucksmittel, seine bloss variationale Anwendung, deutlich bestimmt haben. Ein ganz selbstverständlicher Vorgang würde das sein. – Aber so musste man erst noch laut rufen. Wonach eigentlich? Nach Herrschaft der Geistigen – oder, nur boshaft, nach Machtlosigkeit der Dienenden?

Indes, wie blind waren unsere Gegner, als sie nicht sahen, dass wir nur schamhaft verschleiert sprachen. Sei es nun enthüllt: Wir, wir gaben der Kunst – indem wir sie aus dem [148] angemassten Inhaltswert vertrieben – erst wieder den Inhalt. Wir gaben ihr, deren Existenzberechtigung wir verneinten, erst wieder neue Existenzmöglichkeit, neue Geburt, neues Sein, neuen Quell, neue Aufgaben. Wir befreiten sie von der Wiederholung, diesem Totgebären, und führten sie zur Schöpfung. Und frage man einen grossen Dichter, einen bedeutenden Musiker, sogar einen Maler von Zwang – sie werden das blosse Tun um der ruhenden Seligkeit des Tuns willen als die sinnlose Behauptung ärmlich leerer Nachahmer erkennen, die überernährte Selbstbetätigungssucht, saturierter Erben, wuchernd an übernommenem Kapital. Den wirklichen Schöpfern sind ihre Künste nur Verständigungszeichen. Doch nicht das Zeichen, selbst nicht die Verständigung ist wichtig. Wichtig ist, worüber man sich verständigt.


Wir sind gegen die Musik – für die Erweckung zur Gemeinschaft.

Wir sind gegen das Gedicht – für die Aufrufung zur Liebe.
Wir sind gegen den Roman – für die Anleitung zum Leben.
Wir sind gegen das Drama – für die Anleitung zum Handeln.

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Wir sind gegen das Bildfür das Vorbild. So weit die kommenden Künstler auch von uns entfernt sein werden, dennoch werden sie nichts ohne uns sein. Sie werden nicht aus eigener Absicht der Person sein können, sondern alles nur aus Inhalt. Und sind sie nur einigermassen Mensch, dann werden sie auch nicht Künstler sein, sondern Mitteiler, inspirierte Geber, Ausrufer der ewigsten Forderungen von [149] Menschensinn. Auch das kleinste Vaudeville wird ohne uns nicht möglich sein!


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Wir sind Wollende und Fordernde. Propheten haben es gut bei uns, weil sie nur unsere Forderungen ins Kommende zu versetzen brauchen. Aber wir selbst sind keine Propheten; wir fänden es unlauter, selbst Prophet zu sein; denn Prophetie, das hiesse: unser Wollen als einen bestehenden Zustand zu betrachten. Wir fänden es unlauter, uns mit der Realität von morgen zu begnügen.

Wir sind keine Beschreiber.

Wir sind, Rationalisten.

Wir sind die Menschen, welche verkünden, dass das Geschlecht dieser Erde ein geistiges Geschlecht ist. Dass wir Wesen aus göttlichem Strahl sind. Und dass wir uns danach zu richten haben. Wir verkünden, dass wir unsere Abkunft von Gott nicht vergessen dürfen. Und wenn wir sie vergessen sollten; selbst wenn uns die Erinnerung an unsere höhere Existenz schwände; auch wenn unsere Geistigkeit – das ist die Sprache der Wesen göttlicher Geburt – uns nur als eine Fiktion erschiene: Noch dann müssen wir die Würde des Geistwesens Mensch als letztes und erstes Ziel des Lebens vor uns setzen.

Das ist Rationalismus.

Zielsetzen ist Rationalismus.

Kein Ziel setzen ist: Sünde.

Man glaube uns doch, dass wir unsere Erdheit, unsere Tierheit, unsere Natürlichkeit ebensogut kennen wie unsere Gegner. Mussten wir nicht tausendmal den Weg durch unser Dasein zurücklegen, hin zu unserm Unbedingten?

Unsere Gegner fordern in lächerlicher Unwissenheit, dass wir bei unserm Dasein verweilen. Dass wir zufrieden seien.

[150] Darum so lächerlich, weil sie, die gegen das Fordern sind, unversehens, selbst fordern, nur unversehens.

Aber wir verstehen uns des Daseins und der Natur, des Bestehenden, des Gegebenen und Seienden besser, als die darin versinken. Denn wir brechen durch im unmittelbaren Aufstand unseres Wesens zum Geist.

Das Ziel selbst nur zu nennen ist schon ein ungeheurer Griff in die Welt.

Allein nie dürfen wir die furchtbarste Mahnung in Vergessenheit fallen lassen: Das Dasein selbst existiert nicht; das Bestehende existiert nicht. Wir machen alles erst!– – – Unsere stärkste Forderung, die der Rationalisten – und welche uns über das Niveau blosser erbärmlicher Rechner erhebt – ist die Forderung: Abkürzung der Qual. Ausschaltung des Bestehenden, das sich an uns breit macht, das nur durch uns geschaffen wurde, durch unsere naive Zubilligung seiner Existenz. Es ist grausigstes Hindernis, In-die-Länge-Zerrung der Leiden, Damm vor unserem Vordringen zum Menschentum. Wir fordern Ausschaltung!


Abschaffung.

*


Wir brauchen die Änderung der Welt. Aber ohne eine Änderung unseres Bewusstseinszustandes aus dem geduldig Dumpfen ins menschenartig Helle wird uns eine einfache formelle Umschiebung der Tatsachen allein nichts helfen. Die Arbeit an der Änderung unseres Bewusstseinsstandes, diese Gigantenarbeit: uns dem Leben im Urzellenstand zu entreissen, und das Leben im Geiste, das Leben zu Gott uns vorzusetzen; das Leben nicht im Relativen, welches uns fesselt, sondern zum Absoluten, welches uns frei macht – – diese erbittertste aller Tiefbohrungen, diese Umwühlung von Ewigkeit her ist


Rationalismus.


[151] Das schöpferische Leben besteht nicht von allein. Wir müssen es erst schaffen.

Rufen wir für uns einen Bruder auf, den unsere Brüder hier über zwei Jahrtausende grüssen werden.Herodot. Er war für uns. Er war für die Menschen da, er war doch wohl, wie wir, Weltverbesserer, Rationalist. Ein Wort Herodots, das in unserm Mund erst Leben und Wirksamkeit haben wird:

»Lasst nichts unversucht. Denn es geschieht nichts von selbst, sondern der Mensch erlangt alles erst durch seine Unternehmungen!«

Die Gegner

Nun,da wir alle so viel durchgemacht haben, darf da noch einer sein, der Menschentum für eine Phrase hielte?

Nun, da Millionen Zufriedener wissen, wie Hunger ist, darf da noch einer sein, der nicht jedes Mittel zur ewigen Beseitigung des Hungers guthiesse?

Geist ist die Äusserungsform Gottes gegenüber dem Menschen, und die darum eine Gemeinsamkeit für alle Menschen bildet. Geistige sind die Menschen, welche durch diese Gemeinsamkeit vor dem Absoluten sich in einer besonders grossen Verantwortlichkeit gegenüber den anderen Menschen verpflichtet fühlen. (Im Gegensatz zu allen modernen Mystikern, die behaupten, ein Privatabkommen mit Gott zu haben, das sie aller handelnden Verantwortung überhebt.)

Man hat gegen die Geistigen alles unternommen. Man hat uns bekämpft, man hat uns denunziert, man hat uns zu sehr – zu wenig – radikal, demokratisch, sozialistisch genannt. Man hat uns Verräter geheissen, man hat uns ignoriert, man hat uns gelesen, verlacht, aufgenommen, benutzt. Nur nicht verwunden.

Aber wie kläglich sind unsere Gegner. Diese Blumentöpfchen [152] von Denkern! Da ist das unsichere Schäfchen, das alles mitmeckert, den Frieden und den Krieg, Volkstum und Dynastie; das sich nie entscheiden kann trotz des historischen Kotelettebärtchens, das an einen alten tapfer unbedingten süddeutschen Landesgenossen demokratisch erinnern soll. Es rettet sich stets in die List, aus purer Angst, vors Gericht des Geistes geladen zu werden und seine Ausflucht ist, wohlwollend die Geistigen längst dagewesen zu finden. Aber jener ahnt gar nicht, wie dagewesen wir erst ein Jahrhundert später sein werden! -– Heran springt der übliche wilde Kriegsindianer, der dem Staat empfiehlt, uns zu füsilieren. – Aufzug, wankend, des umständlichen Stammlers, der zwecks Empfehlung seiner eigenen, heiser vorsichtigen Postillen, undeutlich Erbittertes gegen uns hustet. – Mit forschem Zinnsoldatenschritt marschiert, einer für sich, der Kulturkonservative, von niemandem als seinem eigenen Entschluss zur politischen Repräsentation beauftragt, trocken, intelligent, und vielleicht nur durch massiv kapitalistische Umgebung bei allzu dicker Naivität geblieben. Er findet es gewöhnlich unerhört, die blosse Konstatierung dessen was ist, zu verlassen. Eine Diskussion, die keine ist, denn unser Ziel ist ja gerade die strömende, zeugende Fruchtbarkeit, gegenüber einer Konstatierung des Seienden – welche uns bloss Nehmen, Wucher und Selbstgenuss bedeutete.

Schiefe Köpfe, gute Herzen, achtbare Leute. Sie sind entrüstet. Und selbst wenn sie uns in der Hitze minutenweise den Tod wünschen, so kann man sich immer noch mit ihnen freundlich hinsetzen und ihnen zeigen, wie fahrlässig sie handeln. Wir wissen den Moment, wo sie zusammenbrechen werden und mit stumpfer Miene einsehen, wie sie persönlich fast verbrecherisch gehandelt hätten. Oder seht unseren Gegner, den Erlebnisphilosophen; er denkt begeistert alles mit, wie es [153] auf ihn zustösst, den Krieg, den Frieden, den Waffenstillstand; und er wird sein Lebenswerk schaffen als eine »Philosophie der Conjunctur«, tief ehrlich, immer von neuem aus der Bahn geworfen. Er hält es für gut, das Gegebene – das jedesmal ihm blindlings ohne sein Zutun Gegebene – zu bejahen, und aus dem einen Moment, der eben herrscht, die ganze Welt zu entdecken. Er hält das Erlebnis nicht für die Lehre des Lebens, nicht für den Weg, den wir durchs Material hindurch zum Unbedingten nehmen müssen, sondern für sein Ziel. Er wäre sogar bereit, uns das Erlebnis zu verschaffen – in der Meinung, wir wüssten nichts davon. Die alte schlechte Voraussicht der Nur-Methoden-Menschen, dem andern das Erlebnis verschaffen zu wollen: sie verwirklicht sich im besten Fall als Intrige! – Und herzu lügen sich die letzten Widersacher; der unschöpferische Schreiber, der Phantasielose, der Talentarme; das grobe ungefüge Handgelenk; der ungeistig Geistgelähmte. Der literarische Couleurfriseur im Renommier-Schmiss-Stil. Der gebildete Reisebrief-Lakai der Zeitungen. Gasmaske her vor den Feuilletonrülpsern des vollgeschlemmten Kajütenbauches aus finnigem Ferkelchenmaul. Die religiösen Reiseredner fürs Hapag-Dessert. Die Antithetiker des Lebens: Zionisten aus Judenhass. Imperalisten aus barbarossaschem Humpenrittertum. Der ärmliche Passagierpublizist, der die Erde aufgeteilt hat nach Novellenmotiven, Romanstoffen, Journalbriefen, und zähneknirschend sie zeilenmessend absuchen muss, um amtlich nachweisbar überall seinen Bleistift aufgepflanzt zu haben. Die Exoten-Wippchen der nördlichen und südlichen Halbkugel. Und zuletzt die erlogenen Freunde, die mitgehen nicht für die Sache, nicht für den Geist als Unbedingte; sondern um, gut berechnet in der Gesellschaft der Zukunft gesehen zu werden; um der Gegenwart sich als Vermittlerpöstchen zu empfehlen!

[154] Droschkenkutscher her, Strassenreiniger her, Steinsetzer her, Dienstmädchen her, Waschweiber her; Mob, Unterproletariat, Verzweifelte, Unorganisierte her, die nichts zu verlieren haben; Besitzlose, ganz Besitzlose her! Menschen her! Her zu uns, wir sind für Euch da! Die Zeit geht dem Ende entgegen. Einmal wird der himmlische Horizont wieder an die Erde stossen, und der Umkreis unserer Augen wird wieder den Glauben sehen, das Wissen von göttlichen Werten. Dann werden die, welche in Europa ihren Mund auch nur ein einziges Mal haben das Unrecht sprechen lassen, für immer in der Jauchegrube des Vergessens ersticken. Aber sie sind keine Gegner. Nur Mitläufer der vergangenen Zeit; Mitwürmer der Verwesung; Mitgerüche der Auflösung.

Wo ist unser Gegner, der Gegner? Ich vermisse den Teufel. Warum ist er nicht da? Der Inbegriff des Elementaren, zustossend Erlebnishaften, der geschleuderten Seele, des Isoliertseins! Der Inbegriff der Welt – gegen den Geist! Der Inbegriff des Einzeltums gegen die hohen, südlich lichtbauenden Bogen des Allgemeinen. Wo blieb der Teufel?

Aber der Teufel ist nicht mehr da. Er zerfloss, als wir ihn erkannten, als wir ihn benennen konnten; als wir aussprachen, dass nicht der Sturm, das Getriebene, das dämonische Element, das Wogen der Seele: dass nicht er menschenhaft sei, sondern der Geist. In unserm Kampf mit dem Engel wird zur selben Zeit auch gewirkt die Beschwörung des Teufels. In unserer neuen Zeit des Absoluten ist der Herr des Relativen nicht mehr Feind. Und von ihm blieben nur dünne, erstarrende Blutstropfen zurück: die Tänzer, Sänger, Schauspieler; die Künstler, die Reizbetäuber. Unwissend ihrer selbst, im Absterben. Der matte Bleichblut-Tod einer zusammengefallenen Luxuswelt.


*

[155]

Ihr, die Ihr uns geistig Freund seid, Ihr könnt den Einzelnen nicht trennen von den wenigen Anständigen des heutigen Tages, von Kameraden, mit denen man sich nicht zufällig zusammenfand. Und wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann werden wir Genossen die mitlaufenden Amtskandidaten überreden, das Amt fahren zu lassen, und sich um ihre ewige Seligkeit zu kümmern, die da ist: ihre Haltung vor dem Auge der Ewigkeit. Wenn es aber mit unrechten Dingen zugeht, dann müssen wir versuchen, sie recht zu machen. – Herodot:

»Lasst nichts unversucht!« – Und wenn sich herausstellt, dass jene bei unrechten Dingen verbleibenwollen, dass sie nur die Oberhand suchen, dass ihnen die Sache gleichgültig und nur der Streit wichtig ist; dass ihnen das Vergnügen künstlicher Schlussfolgerungen lieber ist als der Ruf der Menschlichkeit; dass sie nur blosse Themen behandeln (Schriftsteller), und nicht Handlungen vertreten; und dass sie auch nurüber ihre Themen denken, schreiben, drucken, reden, ohne im geringsten ihren persönlichen Leib mit ihren Worten zu identifizieren . . . . . . . . Wenn also sich herausstellt, dass jene nur ruchlose Betrachter sind, anstatt Zeuger zu sein, – dann ist damit nur ein gravierender Beweis gegen uns selbst geliefert. Dann ist der Beweis geliefert, dass wir selbst nur zu vornehm, zu eitel, zu lau waren. Dass wir selbst nichts getan haben, um irgendeinen Menschen von der Würde des geistigen Lebens zu überzeugen. Dass wir nicht überzeugen, weil wir selbst kein Beispiel geben. Dass wir ohne persönliches Beispiel nicht Führer sein können. Und dass nur die Führer das Recht, die Fähigkeit und den Standpunkt zu einem Lebensurteil über andere haben (auch wenn sie darauf verzichten). – Ein Urteil, abgegeben aus Hochmut, ist gar nichts wert, es ändert nichts. Zwingend ist nur ein Urteil aus Liebe.

Die politischen Parteien haben für den Mann, der ihr Programmatiker [156] ist, einen wilden Ausdruck von der Rennbahn: sie nennen ihn »Einpeitscher«. Es kommt aber zuerst nicht darauf an, Meinungen einzupeitschen, sondern sie zu vertreten. Es kommt zuerst darauf an, seine Meinung selbst zu sein. Es gibt nur den öffentlichen Menschen. Entweder wir sind öffentliche Menschen – oder wiederum wird in den hundert Jahren alles niedergestampft, niedergeschossen, niedergebrannt, was wie bisher nur gelernt hat, die Person von der Sache zu trennen. Entweder wir sind öffentliche Menschen – oder wiederum hundert Jahre bleibt das geistige Leben, die Sache – ohne die Person – nur ein Zungenschlag, ein Demutsspiel für alte Damen. Entweder wir sind öffentliche Menschen– oder wir bleiben Suppenesser, Schläfer, Vergnügungsreisende mit verschmitzten Denkreservaten, und schliesslich Gerippe, deren Existenz nie über eine, von Komplikationen begleitete Stoffwechseltätigkeit hinaus gegangen ist.

Glauben wir aber: es gibt schon öffentliche Menschen! Es gibt schon Führer. Also wird es auch in allen Ländern der Erde bald mehr geben. Jeder Mensch ist geschaffen, ein Führer zu sein. Jeder Mensch ist unersetzlich. Der öffentliche Mensch kennt die Unersetzlichkeit des Bruders. Der öffentliche Mensch führt uns zum Leben im Geiste. Aber Leben im Geist ist zuerst Leben auf der Erde, wirkliches Leben, Lebendigsein im Fleisch. Und nur wenn wir zuerst selig sind über die Existenz des Nebenmenschen, werden wir dem Nebenmenschen Führer sein.

Der Führer

Der Führer ist überall von dem grossen, bebenden Völkergeschöpf umgeben, das unaufhörlich seine Gestalt und seine Substanz ändert. Immer liegt es zitternd um ihn.

Er ist kein besonderer Mensch, er denkt einfach, er ist nicht merkwürdig und schön.

[157] Er hat schon den faltigen Schauspielermund, er hat den kurzen, wichtigen Schritt, der über viele Tribünen geht. Er weiss längst, wie er seinen Augen kommandieren kann, und er muss auf neue Register der Erregung sinnen wie der Akrobat auf neue Trapezsprünge. Er merkt bei allem, wie er der Mitmensch seiner Genossen ist, und er ist jede Sekunde darauf gefasst, dass aus der ungeheuren Menge, zu der er spricht: einst ein Bruder aufsteht, der noch zum ersten Male und unabgenutzt den Mund öffnet. Und der ihn zu einem Häuflein Asche verwandelt, weil in seiner Hand die wahren Blitze Gottes ruhen. Doch bis dieser Augenblick eintritt, wird er selbst, mit allen Mitteln, mit der abgenutzten Wahrheit, mit dagewesenen Blitzen und den grossen unermüdlichen Beteuerungen vom Wissen: seine Pflicht tun.

Er weiss sich eine kleine, Störungen unterworfene Blutsäule. Er kennt seine Kleinheit. Um ihn herum liegt die Ewigkeit. Um ihn, überall, steht die Gewissheit so sicher wie die Horizonte, die sein Auge überkreist in der Ferne. Um ihn, über ihn strömen die Saftstrahlen des Absoluten, sie schiessen in eine kristallene Glocke rund über den Erdball hinaus; fern und blass ziehend wie die durchscheinende Milchstrasse schwebt die unbedingte, göttliche Wahrheit um den Menschenball.

Der Führer weiss, wie fern und wiederholt er ist. Er will zur Ewigkeit. Er will, dass sein Schritt mit der Drehung der Erde gehe (der Schritt des Magiers). Er will, dass seine geballte Faust abgestorbene Planeten zu Himmelsstaub drückte. Er will, dass seine Augen, die den Blick der Menschen aufwärts blitzen, eine Strasse wahrhaft ins unbedingt Zukünftige bauen; er will, dass die Worte, die sein Mund als Fackeln auswirft, die zwar flammen aber nur aufs Geratewohl zünden, wahrhaft unabänderlich in die Welt gefallene Tatsachen seien.

[158] Er will nichts anderes als die Ewigkeit. Aber er weiss, dass er ihr namenlos fern ist. Er weiss, dass die Menschen um ihn in einer grauenhaften Ungewissheit leben, und dass er sie nur aufrecht erhält, indem er ihnen von Zeit zu Zeit die Ewigkeit nennt. Aber er, was ist er denn? Ist er anders als jene? Auch er kann sich ja nur der Ewigkeit erinnern. Er kann sie nicht geben.


*


Kein Mensch von uns allen will vollkommen allein auf der Erde sein. Niemand will der Einzige sein – und um sich, unter sich, neben sich die Kugel leer von Menschen. Wussten wir es je, dann gewiss heute, dass es keine Übervölkerung der Erde gibt. Die Freiheit, die jeder Mensch auf der Erde will, heisst keinem, dass es um ihn öde sei. Im Gegenteil. Mit ihr meint man die Kraft: inmitten der Menschen vollkommen den Raum lebendig zu schaffen, in den man geboren wurde. Dies heisst: seinen Platz ausfüllen. Freiheit ist kein Begriff, der mit Moden oder intellektuellen Zeitströmungen kommt und dann wieder alt und wertlos wird. Freiheit ist ein ewiges und absolutes Ziel. Dieses Ziel schliesst als etwas ganz Selbstverständliches das Wissen um die Unersetzlichkeit jedes einzelnen Menschenlebens ein. Nur der sinnlos teuflichste Bureauindustrialismus konnte zu der Entwertungsformel vergangener Jahre kommen: »Kein Mensch ist unersetzlich«. In Wahrheit ist keiner ersetzlich. Denn mit dem Tode jedes Menschen wird jedesmal von neuem eine ungeheure und unausgeschöpfte Möglichkeit zu fleischgewordener Liebe vernichtet. – Aber zur Freiheit, zur Fähigkeit seinen Platz als Bruder des Menschen auszufüllen, gehört das Wissen von der Einmaligkeit dieses Platzes. Wir müssen einmal ihn ganz und allseitig stark sehen; es bleibt uns nichts übrig, als aus allen unseren vorhandenen Kräften einen unsichtbaren Turm zu bauen, von [159] dessen riesenhoher Spitze wir unsere eigene Bestimmung in der Welt schauen, als wäre sie der Liniengang einer kleinen, bewegten Schachfigur. Dies ist das Wunder, an das wir glauben. Es ist nichts anderes, als dass wir in aller unserer gesammelten Energie vor das Absolute treten wollen. In dem Moment, wo wir zu Gott gehen, sehen wir uns selbst.

Aber dieser Augenblick wird uns nicht geschenkt; wir müssen alles selbst tun. Unseren Weg zu Gott wollen wir in einem Nu zurücklegen. Doch die Fähigkeit dazu wäre selbst schon göttlich. Man misstraue den Mystikern, die ihre angebliche Einheit mit Gott bezeugten; sie waren entweder hingerissene Beschreiber von blossen Seelenzuständen, oder sie drückten sich aus Wortmangel falsch aus, oder sie irrten. Wir sind selbst nicht Gott, nicht absolut, sondern Geschöpfe der Absoluten. Wir sind einfach Menschen. Wir sind nicht selbst Geist, sondern wir sind geistige Wesen.

Zwischen dem Absoluten und dem Menschen gibt es Stufen, und sie können dem Menschen helfen, zum Bewusstsein des Absoluten zu kommen. Doch nur, wenn er stets nicht sie erreichen will, sondern das Absolute selbst. Der Mensch muss auch mit der Hilfe kämpfen, die jene Zwischenexistenz ihm gewährt. Der Kampf mit dem Engel ist allein der Weg zu Gott.


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Der Führer befremdet uns immer von neuem ein wenig. Vor uns wird er nie eine gewisse Lächerlichkeit los. Gleich darauf entzückt er uns, weil er von Dingen sprach, die die unsrigen sind. Doch dann bemerken wir, dass die Wege, auf denen er unser Bruder ist, uns lange selbstverständlich sind. Neuer Grund, ihn gering zu schätzen, und wir verurteilen uns, da wir bereits die Nennung eines uns werten Ideenkreises als Teilung des gleichen Interesses nahmen. Wir achten den Führer [160] nicht, weil er nicht unser Leben teilt, und dennoch Führer ist.

Aber wir sind im Irrtum. Es ist der Irrtum der Vornehmheit. Unsere Vornehmheit – die Bequemlichkeit und Feigheit ist –hat das Leben in blosse Themen aufgeteilt. Der Führer befremdet uns, weil ihm nichts Thema ist, sondern alles Idee. Er denkt nicht, wie wir fahrlässig Zurückgezogenen, über eine Idee nach, sondern er denkt in einer Idee. Er scheint uns beschränkt zu sein, doch seine Begrenzung lässt in Wahrheit nur diejenigen unserer Lebensangelegenheiten zu sich, die ihm zu wirklichen Lebensleitern werden. Wir erwarten vergeblich, dass er unsere bequeme Allseitigkeit zum Ausgang des Führertums nehme. Wir erwarten dies darum, weil wir selbst nichts für unsere Angelegenheiten tun, sondern sie nur betrachten wollen. Unsere Vornehmheit kommt daher, dass wir die Tat für uns immer einem Anderen zuschieben wollen. Wir erwarten, dass der Führer unsere Sache tue, die wir selbst noch nicht einmal entschieden haben. Wir schätzen ihn gering, weil ihm unsere Revolten in der Tasche – und die uns selbst nur Ausflüchte sind – nicht am Herzen liegen. Wir wünschen von ihm, dass er unsere Vorstellungen in greifbare Wirklichkeit setze, jetzt gleich, bis heut Mitternacht; unsere Vorstellungen, zu deren Verwirklichung wir selbst keinen Schritt getan haben. Wir wünschen von ihm das »Gleich jetzt!«, und uns selbst gewähren wir ewigen Aufschub.

Dabei vergessen wir: Er ist der Führer! Er führt auch uns.

Aber wohin führt der Führer? Er führt zum Geist. Führer sein, heisst, zum Geist führen. Allein zum Geist. Wer nicht zum Geist führt, kann vielleicht ein begabter Vortänzer sein, aber nie ein Führer.

Er führt uns zum Geist auf allen Wegen, die des Geistes [161] sind: Der Umkreis, den wir Politik nennen, ist seine, Bahn, die Ermöglichung unserer menschlichen Gemeinschaft.

Der Geist ist das Palladium der Gemeinschaft.

Die Materie ist das Abzeichen der Isolation. Man sagt, die Unterscheidung: hier Geist – dort Materie – – sei eine nur schulmässige Bequemlichkeit. Sehr gut! Jene Scheidung ist auch falsch, solange sie nur deskriptiv gemeint ist und behaupten will, sie stelle vollzogene Tatsachen dar. Aber sie ist herrlich: sie ist schöpferisch, wenn sie eine Forderung ist. Nur mit dieser Forderung, allein durch sie, leben wir: Seid geistige Wesen! Stammt von Gott ab!

Wenn unser Leib jetzt am Leben bleibt, so haben wir die Gelegenheit, gerade noch Blicke aus den schmalen Luken eines schauerlich versinkenden Zeitalters hinaus in eine neue Zeit zu tun. Aus dem Zeitalter der sinnlosen Welt – um es genau zu sagen, wie denn eigentlich die »Materie« aussieht:

sie sieht aus wie die Welt, das Sein, das Gegebene, das für uns ewig Gewesene.

Die Welt liegt da vor uns, um von uns geknetet, geformt, gestaltet zu werden, stets von neuem, nach göttlichem Plan, dessen Zeiger wir sind.

Aber wie menschvergessen, wie unsprungs- und gottvergessen ist es, sich von der Welt, der Materie, kneten, formen, gestalten zu lassen. Als sei man selbst Untermaterie. Die Elemente drängen in uns hinein, jene Macht, die man dämonisch nennt. Nur der Ungeistige wird vom Dämonischen übermannt. Alles, was an uns erlebt, das Seelische, das Aussergeistige an uns, ist ungöttlich. O sinnlosestes, chaotisch blutendes Zeitalter, das nun zusammenbricht, Zeitalter des Erlebens, der Seele, des Elementenspieles! Es geschah das grosse Sichpassivmachen. Sichaufteilen als Objekt für Gelegenheiten. Jedes fremde Objekt zwischen sich und Gott treten lassen, ohne dazu [162] etwas zu tun. Das Ereignis – den Accident – den Rohstoff des Lebens, die Natur, wie einen Billardball an sich stossen lassen, und im Anprall erst das Ich vermuten. Zeitalter des ewigen Nehmens! Denn Erlebnis – in rückschlagender Rache ausgesetzt sein dem dämonisch Elementaren – ist: Nehmen. Während doch unter Leben die Liebe ist, und wir zu geben haben, geben, geben, geben, und um so mehr, je geringer die Zahl der Menschen auf der Erde wird, und wir einsamer werden. Das vergehende Zeitalter versuchte, das blosse Bild des Lebens zu geniessen, ohne es selbst zu schaffen. Aber wir haben zu leben, um mit unserem Leben der Welt geben zu können.

Grausamer Millionentod ist die Gipfelung des elementarischen Zeitalters. Heraus aus dem Elementaren, aus der Seele, aus der Vereinzelung! Heraus aus dem Treibenlassen, aus dem Besitz des Gewesenen, aus dem Erlebnis! Seid göttliche Wesen. Geht in die neue Zeit des Geistes. Seid Führer zum Geist.

Wir haben die Erbsünde, sie heisst heute für uns: Isolation. Sie ist Insichsein, Einzelner sein, Seele sein. Nehmender sein.

Wir haben aber auch die Erbliebe. Und die ist: Geben; Schöpfer sein; Genosse, Mitmensch, Kamerad, Bruder sein. Die Erbliebe heisst: Gemeinschaft!

Nichts wird von unserm Kampf mit dem Engel uns erspart. Keine Mythologie steht zu unserer Hilfe mehr da. Zwischen uns und Gott hat nichts Gewesenes mehr Platz.


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Der Mensch machte es sich leicht. Er formte eine Wachspuppe nach seinem Bilde, beweglich, lebensgross mit Vollbart, langem Haar und Schlapphut. Sie steht auf ihrem Wachsfigurenpostament im Fürstensaal des Panoptikums. Der Mensch dreht das Uhrwerk auf, sie hebt mit knackendem Ruck eine [163] Trompete krächzend an den starren Mund, darnach stösst sie dünne, rostige Laute aus, die vorbereiteten Ohren ähnlich klingen wie »Revolution, Revolution!« Eine ungeheure Wachsfigurengebärde schüttelt den Mantel über der Holzschulter zurecht. – Der Mensch steht befriedigt vor seinem Werk. Noch ist er nicht totgeschossen; so geht er höchst angeregt schlafen.

Der Mensch schläft. Kein Führer ist für ihn da, denn er selbst wollte nicht Führer sein. Unterdessen stehen die Führer der Dämonen grinsend bereit, gigantische Metzgergesellen, geschürzten Arms, mächtig mit erdachsengrossen Maschinengewehren, die Fleischfetzen und Totenklumpen bis zu den Sternen hochspritzen werden.


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Die Dinge sind so einfach. Dennoch muss man um sie kämpfen. Was wir wollen, ist gar nicht neu. Es ist nur ewig.

Der Führer will immer wieder alles in der Welt plötzlich, mit einem Ruck und auf einmal ändern. Er sieht, dass dies nicht möglich ist. Aber er sieht auch, dass der sichere Glaube, trotzdem sei es möglich, nötig ist, um auch nur einen kleinen Schritt zurückzulegen. Der Kampf mit dem Engel besteht darin: Nicht zu resignieren.

Resignation ist Vornehmheit.

Nicht vornehm sein!

Immer wieder steht der einfache Mann – auf den wir herabsehen – als Führer da. Immer wieder sind wir die, welche vom Volksmann geführt werden, da wir nicht selber führen!

Der einfache Mann, der Führer, ist weder talentlos, wie wir glauben mögen; noch ungenial, wie wir ihn zwecks verbitterter Karikatur einschätzen; noch ist er absonderlich zufällig. Sein Talent, seine Gabe, sein Genius, seine Notwendigkeit, [164] ist: der vollkommene Mut, sich ganz hinzugeben, nicht Eigener im Besitz einer Seele zu sein; ganz erfüllt noch im letzten Blutstropfen Vertreter des Geistes zu sein. Auch auf rückständig kindlichen Irrtümern noch der gerechte Führer zu Geistigem zu sein. Nichts übrig zu lassen von sich für einen anderen als den öffentlichen Menschen. Kein Privatleben, keine Privatansichten, Privatfreunde, Privatfreuden mehr. Gleichviel was er sonst hätte sein können und wie in einem anderen Leben seine Gemütseinstellung zu uns gewesen wäre (eine Perspektive der Unwirklichkeit, nach der wir ihn fälschlich beurteilen); gleichviel: Er ist der öffentliche Mensch, und das ist er ganz. Dies ist gesehen vom obersten Turm der Menschenschicksale, seine göttliche Stellung in der Welt. Er erfährt oft erst sehr spät, in der höchsten Krisis der Menschheit, dass er göttliche Gesetze ausführt. Er kämpft mit dem Engel, um seine Besitzlosigkeit zu wahren, um nicht abzufallen zu dem Parasitenluxus des Augurentums; um trotz seines Hindurchschlüpfens durch eine neuere und vielverbrannte Haut von Menschenkenntnis, dennoch mit der Unmittelbarkeit des scheinbar Naiven auf das Geistige und Absolute hinzugehen.

Wir sehen nicht, wie er kämpft. Seine Robustheit erschreckt uns, und seinen göttlichen Platz in der Welt erkennen wir erst, wenn er unsere eigenen Unterlassungen vertritt und mit auf sich nimmt. Wenn er laut unsere Sache führt, die Sache des Geistes.

Doch unser eigener Kampf mit dem Engel liegt auf der umgekehrten Bahn. Wir müssen herabsteigen. Jeder Schritt, den wir aus unserer erhaben skeptisch überwissenden Isolation herab in die heilige Vulgarität tun, vollzieht einen Teil unserer Aufgabe in der Welt. Heraus aus unserer Seele! Hinab in die Allgemeinheit! Wir ringen mit dem Engel, weil wir ihn uns einverleiben wollen. – Wir wollen selbst der Engel sein – [165] und können uns nicht entscheiden, ob aus Hoheit oder Trägheit. Aber wir sind, im schönsten Fall, nur einfache Menschen. Wir können nicht aus uns heraus Gesetze diktieren. Uns diktiert sie der Geist, und wir sprechen sie nur gesetzgeberisch aus, in Not, weil kein anderer da ist, der es zeugnishaft und bekennend täte. Aber um Gesetze aussprechen zu können, um führen zu dürfen, müssen wir sie vom Munde unseres Lebensengels ablesen. Ablesen die Gesetze vom Munde des Völkergeschöpfes. Nichts mehr darf an uns bleiben von Überlegenheit. Nur Heiligkeit darf noch bei uns sein; aber mehr noch ist der Weg durch die Gosse. Erst wenn wir freiwillig vor die tiefste Gewöhnlichkeit angekommen sind, erst dann sind wir befugt, Pläne zum geistigen Leben zu zeichnen: Führer zu sein. Zum Engel sprechen: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« ist immer wieder der Akt höchster, hoffnungslosester Verzweiflung, und dennoch muss es immer wieder unternommen werden. Immer ziehen wir im Kampfe mit dem Engel den kürzeren. Der Engel fährt davon, wir behalten blaue Flecke. Aber erst die Wundflecke aus dem Kampfe, erst die ganze Haut ein einziges grosses brennendes Wundmal des Kampfes; erst die ganze Notwendigkeit einer Erneuerung der Haut: Erst da ist die Segnung des Engels.

Erkennen wir: Nicht die einzelne, nur stets unerfüllte Wunschsekunde, sondern der ganze, vielzeitige Umfang und die Gestalt des langen Kampfes erst ist in Wahrheit unser Führertum!


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Nicht eher werden wir unsere neue Erde bauen, als zwischen Gott und uns kein Ding mehr liegt, an dem wir uns zurückhalten können. Wir müssen ganz besitzlos sein. Jeden Besitz müssen wir erkannt haben als unsere Flucht vor dem Menschentum. Aber die letzte Barrikade gegen das Leben im [166] Geiste, gegen die unbedingte Freiheit zu Gott, gegen unseren Weg zum Absoluten: ist die Seele.

Das Denken, der Wille, die Verwirklichung sind untrennbar voneinander. Aber schon das Denken, das nur mit unserem Leibe sich völlig decken muss, um uns zu geistigen Wesen zu machen, errichtet uns Hindernisse auf dem Wege zum Geist. Unsere Feigheit vor dem Verwirklichenmüssen rettet sich zu den niederen Anwendungsarten des Denkens. Die niederen Anwendungsarten des Denkens, da wo es aus seinem Leben als Aktivität des Geistes herabgleitet in ungeistige Surrogatprozesse, sind, auf der Seite der Abstraktion: der Formalismus; auf der Seite des Figürlichen: das Bild, die Vorstellung. Mit dem Formalismus und mit der Vorstellung lassen wir künstlich Naturgegebenes schaffen. Wir stellen das schon Vorhandene noch einmal dar; so erzielt unsere Angst vor der Verwirklichung, dass durch den Mangel an Verwirklichungsursprung die isolierende Schranke – Machtgefühl, Verteidigung des Besitzes – nur noch grösser wird. Aber diese Zwischenfälle können nicht unsere stetig sich erneuende Besinnung auf das geistige Schöpfertum des Denkens, auf seine Menschenformung, aufhalten. Denn so erschöpflich und endlich die Natur ist, so unerschöpflich ist das Denken. Wäre auch die Natur – wie pantheistische Begeisterung besinnungslos behauptet – unerschöpflich, so würde sie der Verwirklichung des Denkens nicht ihre gewöhnlichen, heftig einmaligen Hindernisse bieten, sondern gradweis infinitesimale. Aber das geschieht nicht. Sondern zwischen dem vorangehenden üblichen Auftreten von Hindernissen und ihrem ebenso späteren Nachfolgen tritt jener heilig erhabene Fall auf, in dem die Verwirklichung des Denkens hindernislos ausgeübt wird. Man nennt diesen Fall der hindernislosen Verwirklichung: den Glücksfall. (Die Tatsache des Glücksfalles erweist die Erschöpflichkeit [167] der Natur. Hier sei gleich bemerkt, warum kein Pantheismus uns gestattet ist, selbst im – nicht zutreffenden! – Fall, die Natur wäre hochwertig schöpferisch. Jede Gleichsetzung Gottes mit der Natur und der Welt; jede Repräsentation Gottes; durch einen kosmischen Prozess; jeder solche Determinismus: ist ein Beiseiteschieben des Ethischen.) Aber der Glücksfall ist kein Zufall. Vielmehr, er ist das Wunder. Und jedesmal, wenn der Mensch das Denken ganz mit sich identifiziert, wenn das Geistige so um ihn Sphäre bildet, dass die Natur auf ihre Endlichkeit sich zusammenziehen muss, dann perlen um ihn – unglaubhaft für die bloss elementar naturabhängigen Zuschauer, aber glaubhaft selbstverständlich für die Mithandelnden – die Wunder auf.

Die Welt könnte voller Wunder sein. Aber die Seele hält uns von ihnen zurück. Nicht das Geistige des Menschen, nicht sein wollendes Denken in Wirkung wartet auf das Wunder; das Denken tut das Wunder. Sondern die Seele wartet auf das Wunder. Die Seele wartet auf das Wunder, weil sie von ihm eine Bereicherung erhofft. Bereicherung des Besitzstandes. Die Seele ist vom Denken abgesondert, geflissentlich. Sie ist nicht da, um zu verwirklichen; sogar, sie will nicht verwirklichen. Sie will in sich sein. Die Seele ist ein Zufluchtsort, eine geheime Ecke. Ein Schatz. Ein Besitz. Eine Machtfülle. Ein Überlegenheitsmittel. Ein Gegebenes. Ein Erreichtes. Ein Ausruhplatz.

Es kommt aber darauf an, keine Zuflucht mehr zu haben. Es kommt durauf an, dass wir in die vollkommenste Verzweiflung gehen, wo wir nichts mehr zu retten haben. Kein Geheimnis mehr. Kein Fürsichsein. Kein Privatleben. Es kommt darauf an, zu verwirklichen. Es kommt darauf an, Besitz, Macht, Gegebenheit zu vernichten, um das Bewusstsein von der Existenz Gottes zu erreichen.

Die Seele ist unsere tötendste Ausschweifung. Immer wieder [168] sucht sie uns das Mass der Welt anzulegen, wenn wir die göttliche Unermesslichkeit des Geistes menschenhaft anrufen. Immer wieder, wenn wir schöpferisch für das Menschentum werden, sucht die Seele uns zu Einzelzellen zu machen, stolz auf das Vereinzelungstum ihrer Zelle.

Der Geist ist die Gnade Gottes. Er ist fremd allen unreinen Wesen.

Die Seele steht im Banne des Teufels. Der Kampf mit dem Engel ist auch unser inniger Wille, das weltgebundene Sonderwesen der Seele aufzuheben, und die reine Lichtfortsetzung des Geistes zu werden.

Will man handgreiflich sehen, was die Vertretung des Teufels, die Vermenschlichung der Welt ist? die Seele?

Die Seele kennt nicht Werte. Nicht Recht noch Un recht. Nicht den Ursprung der Handlungen noch ihr Ziel. Sie kennt nur Wirkungen, und sie nimmt alle als gleichen Sinnes an. Sie wird darum stets zur Apotheose der Gewalt bestrahlt, denn die Gewalt beruft sich auf Macht, Geheimnis und inneren Besitz. Gewalt findet stets als ihren dunklen Anwalt die Seele.

Aber der Geist allein leitet, auch in der letzten Bedrängnis noch seiner Blutzeugen und öffentlichen Münder, die Verteidigung des Rechts.

Der Privatmensch gibt sich der Seele hin. Aber für uns gibt es kein Privatleben mehr. Wir, die Öffentlichen, die Geistigen, die Menschen: die Geistesmenschen – wir müssen in unserm Kampf mit dem Engel den Weg durch die Seele nehmen, wie wir den durch die Welt nehmen müssen. Offnen Augs, lichtumflammt vom Geist müssen wir durch das Dunkel. Auch dieser Weg wird uns nicht geschenkt.

Wir erinnern uns, dass wir die Welt geformt haben zu einein Glied des Geistes. Wir Wesen des Geistes.

[169] Nun haben wir alles von uns abgetan, das uns noch band. Wir stehen nackt da, und selbst unser Leib, der mit Wunden aus dem Kampf bedeckt ist, ist uns nur noch wert als Mittel, unser Geistiges durch seinen Raum zu verwirklichen. So sind wir ganz herabgestiegen von unserm Adels-Sockel, wo wir als Vornehmer, als Seele, als Persönlichkeit, als Einzelner standen. Wir stiegen bis zur letzten Tiefe, die uns gerade noch vom Tod trennt. Wir haben nichts mehr von unserm Besitz aufzugeben und zu verlieren, wir sind besitzlos geworden. Wir haben nichts mehr zu bewahren: Nun können wir geben, so unerschöpflich wie der Geist durch uns strahlt. Zum erstenmal sehen wir.

[170] Führer, du fährst auf aus dir, wie ein entflammtes Zündholz, klein. Schwankend dünn im grossen Taglicht-Umkreis.

Vor dir atmet das Völkergeschöpf vorfühlend und rückt die Glieder, in brauner Angsteshaut.

O steh grade, halte die Augen entgegen, streck die Hände! Du siehst die Löcher aus den Augen schaun, die Arme tastend, Leiber hilfegedrängt, die Köpfe bleich und viel, als blicktest du lang in den schmerzenden Spiegel. Sieh dein Gesicht grosswächsern dir entgegen, Das Blut läuft über die Augen vom erdig weissen Haar, Hungerfalten um deinen zerknirschten Mund, der breit aufklappt zum Schrillen. Sieh dein Gesicht weich und rund, rot, fleischig, zahnlos, sanft erschreckt bei der Geburt. Sieh dein Gesicht erstaunt rasend eh du Mann wirst. Sieh dein Gesicht in der Abendstunde der schwesterlichen Nachdenklichkeit. Sieh die Augen spiegelnd über Nasen, die gekrümmt sind in Jahrtausendgestalt,

Sieh die Augen blass ausgelaugt von Verfolgungen, Sieh den Mund, der faltig blieb von den Flammen der Scheiterhaufen, den Mund, der dünn ist von den Überfällen der Truppen, er schloss sich nicht seit den Handschellen der Gerichtsdiener. Führer, sieh dein Ewigkeitsgesicht. Schmal. Brüderlich.

[171] Der Führer steht klein, eine zuckende Blutsäule, auf der schmalen Tribüne. Sein Mund ist eine rundgebogene Armbrust, ein ungeheurer Ruck über ihm schnellt ihn schwingend ab. Gottes Stoss hat die Krummnase dieser schwächlichen Säule in die zitternden Massen geschwungen. Seine Glieder sind helle fliegende Wesen geworden, losgelöst von ihm, unter seinem Wink, die überall unter den Massen auftauchen und bei den Menschen eifern. Seine Ringerarme kreisen weit hinein, überzeugend wie schlanke weisse Leiber, ins feindliche Menschenfeld. Seine Augen werfen im Horizontschwung leuchtende Flügel. Hohl beflügelt schweben seine Ohren rosig auf bleiernem Volksgeschrei, die hellen Flügel tragen den Thron seines Kopfes sanft hoch über Steinwürfe und graue Beleidigungen. Der leuchtende Ball seines Kopfes schwebt gewoben aus verflochtenen Engelswesen durch den blauen Raum, und schüttelt wie Wolkengefieder blitzende Himmelskuppeln auf die Menschenschultern herab. Die Engelswesen der Augen pfeilen zu den schwirrenden Bruderaugen weitum im riesigen Kreis. Die Engel Gliedersäulen, Arme, Zunge und Lippen verschlingen sich wie Zweige im wehenden Baum. Der Führer spricht. Um ihn schweben auf und ab, ins Weite und zurück, ringend verschlungen seine Engel auf kristallenen Bergen. Pfingstflammen fliessen schmallbrennend auf den riesigen Erdwald der Menschenhäupter herab.


Führer, sprich!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rubiner, Ludwig. Schriften. Der Kampf mit dem Engel. Der Kampf mit dem Engel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9E89-C