Ludwig Rubiner
Maler bauen Barrikaden

[278] Die besseren Deutschen sind ein zufriedenes Volk. Sie sind zufrieden, zu sein. Bedeutendere Schriftsteller sind hier verfeindet um die Meinungsverschiedenheit, ob man aussprechen soll, was »ist« – oder ob man das nicht soll. Ton auf dem »ist«. Niemand fragt nach dem »Was«. Aber die besten Deutschen sind nicht mehr zufrieden, sondern phlegmatisch. Sie tun immer so, als kämen sie nach fürchterlichen Revolutionen einzig überlebend wieder auf die Erde gekrochen. Sie äußern: »Der Kampf ist ausgekämpft.« Oder sie dichten: »O Daseyn!«

Für dieses Volk ist fleißige Tätigkeit und Hervorbringen dasselbe. Hier dichten sie, um zu dichten, malen, um zu malen, und jüngere Bildhauer sagen im dramatischen Halbschlaf: »Gebt mir Ton, zu kneten!« Man nennt das Produktion.

Malerei ist nicht da, um gemalt zu werden. Aber ebensowenig, um von Armen genossen zu werden oder um bei Reichen zu schmücken. Eine wirkliche Ausstellung ist immer eine wirkliche Polemik, und Politik heißt höchste Begabung, höchster Wille, unsere Erstmaligkeit auf der Welt organisch werden zu lassen. Es kommt nicht darauf an, innerhalb der jedesmaligen Vorstellung von Weltgeschichte eine Rolle zu spielen. Es kommt nicht darauf an, zu sein. Es kommt darauf an, vollkommen zu sein und zum erstenmal zu sein: was immer dasselbe ist. Es kommt darauf an, jede Sekunde unseres Lebens mit der Unmittelbarkeit und Unabgenutztheit des ersten Tages zu haben. Dagegen gilt nichts von dieser Welt der Zeitlichkeit, in der eine Sonne und ein Mond immer viel zu lange Tage brauchen, um auf- und unterzugehen. Was sind die Seligkeiten unserer Telephongespräche vor der Umrüttelung durch die Intensität, vor dem Auferstehen des erstes Tags! Dies aus uns Raum werden zu lassen, seinen Raum überhaupt zu finden, ist die immerwährende ungeheure Revolution durch alle Zeiten. Es ist der Umsturz, überall, unter den Völkern, den [278] Dichtern, Musikern. Den Malern. Der Maler: hat diesen geistigen Raum visionär zu schaffen. Das heißt nach der Gestaltungskraft des Auges. Visionär ist Picasso, trotzdem er Akademiker ist. Nicht visionär, sondern nur Illustratoren ihrer Unmittelbarkeitsempfindungen waren Beardsley und Gauguin; illustrativ: heute schon ein Kitsch. Visionär ist Delaunay, trotzdem er Plakate malt (und wer privatim über Rubens so gerührt ist, müßte eigentlich in Delaunay dessen zeitgenössisches Gegenstück erkennen, mit genau demselben Anlaß zum Farbenexperiment). Visionär ist Kokoschka, dessen überzeitliche Gabe mächtig auf Defreggertum gepfropft ist. (Ein berlinischer Maler darf gelassen ein koloriertes Umriß-Compositum aus Delaunay und Kokoschka, eins nach dem andern, herstellen: der augenlose Berliner Kunstmob ist enthusiastisch epatiert.)

Maler, wißt, daß ihr geistige Wesen seid, oder bleibt uns vom Halse! Ihr seid da, um mit Gabe des Auges unser Geistiges, von dem wir alle herkommen, als Raum in die Welt zu setzen. Wer das tut – weniger: wer das nur versucht –, ist so stark, daß er diese Welt um uns, diese Welt des Angeschwemmten, Versandeten, des seelig Breiartigen, des Ruhenden, daß er diese Welt des Daseienden in die Luft sprengt. Immer wieder. Maler, du willst; du stürzest die Welt um; du bist Politiker! oder du bleibst Privatmann.

Ein Uhrmacher interessiert sich natürlich für die Uhren seines Kollegen, auch wenn sie schlecht gehen. Das ist Bereicherung der Technik. Maler kümmern sich mit Recht um die Tatsache, daß gemalt wird. Aber wir? Was geht uns das an? Daß Kunstfreunde sich um die Malerei für die Malerei zu tun machen, ist der alte deutsche Schwindel:immer mit dabeisein. Des weiteren Verschämtheit, Mißverständnis, Schutz vor Unproduktivität. Der Deutsche glaubt, es ist nett, ein Dichter zu sein. Dichter dichten in Bildern. Bilder? Na, beim Malen hat er ja gleich richtige! Oder, Anschaulichkeit die große Mode. Aber beim Maler kann man die Anschaulichkeit sofort mit nach Hause nehmen. Und erst ganz zuletzt kommt ein steinalt Mütterlein:»Wie faß ich dich, unendliche Natur?« Ei, beim Maler, auf dessen Werk sie nimmer welket. Das gibt es, natürlich, auch noch.

[279] So brutal und blödsinnig einfach ist, daß in Deutschland alle besseren Damen und Herren Kunstgeschichte studieren. Deutschland das Land der groben Verwechslungen.

Der Deutsche hat sich ein erstaunlich treffendes Symbol erfunden: den Ruderapparat im Zimmer. Man rudert, rudert und kommt nicht vom Fleck. Man rudert, bis man ganz dumm wird. Man sagt, vom Rudern wird man gesund. Deutsche Verwechslung: vom Dummwerden wird man gesund.

Malen um des Malens willen ist der Ruderapparat im Zimmer.

Kapitalismus ist nicht bloß ein Zustand; es ist auch eine Handlungsweise. Ausbeutung des auf der Welt Vorhandenen, das nicht aus unserm eigenen Organismus kam. In der Kunst verbirgt sich die kapitalistische Handlungsweise hinter den Begriffen »Tradition« und »Stil«. Aber wenn man fort war, und man kommt wieder nach Deutschland, dann sieht man, in dieser Kunst hier herrscht nicht einmal der Großkapitalismus. Das ist ja der lumpigste Zwischenhandel: Dekoration und Imitation! Der dekorative Maler ist der Mann mit der Kellnergesinnung. »Was wünschen der Herr?« – »Schmücke mein Heim!« Der Imitator: »Komme sofort nach Empfang einer Postkarte.«

Aber ich brauche ja den Secessionen nicht mehr erst zu erklären, daß ihr Schutzname bedeuten soll »Abmarsch des Volkes auf den heiligen Berg«. Die Secessio plebis in monteem sacrum kennt jeder aus Sexta oder aus dem Lexikon.

Ich kann aber nichts dafür, wenn sie's vergessen haben. Der heilige Berg hat nichts mit dem zahlenden Publikum zu schaffen. Der Abmarsch nichts mit dem Kunsthandel. Das Volk sind nämlich wir, und die Secessio hat nur Sinn, wenn der Berg, auf den wir gehen, wirklich heilig ist: wenn von ihm aus die Welt der Beziehungen, Gewohnheiten, die Welt des Ausruhens und Genießens, die Welt der Tradition, Dekoration und Imitation erschüttert wird.

Und niemand wird hoffentlich noch albern genug sein zur Entgegnung: das sei eine Sache des Geschmacks. Geschmack gehört zum Kunstgewerbe, ist also eine Angelegenheit der Bequemlichkeit. Über den Geschmack kann man wirklich nicht streiten, denn es verlohnt sich nicht; vernünftigerweise [280] setzt man sich auf ihn oder man trinkt aus ihm.

Die Secessionen haben nichts zu tun mit jüngeren oder älteren Generationen. Sondern einfach mit Durchrüttelung, Umstürzung, Änderung der Welt. Sie haben auch nichts zu tun mit verschiedenen Sehweisen verschiedener Maler, denn »verschiedene Sehweise« bedeutet, daß alle Maler in einem und demselben zeitlichen und zusammenhanglosen Material stecken und jeder einer anderen Ecke verpflichtet ist. Impressionismus, oder »Wie ich es sehe«, ist aber nicht erst eine Erscheinung vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts, sondern gehört zu allen minderwertigen Kunstwerken aller Zeiten; nämlich zu jenen, die mit dem Bereitliegenden, Vorhandenen und Daseienden zufrieden sind und denen es nur noch aufs Sehen ankommt – nicht aufs Schaffen. Jede wirkliche Schöpfung, jedes Raumwerk, jede Spur von der Intensität des Organischen annulliert sofort im Moment der Vollendung die sogenannten Qualitäten der Impressionisten. Aber das sind so bekannte und selbstverständliche Dinge, daß sie nicht zu wiederholen wären. Wenn nicht die deutsche Vieldeutigkeit und die deutsche Gekniffenheit vor dem Scheck – von dem, was ist – wieder es forderten.

Ich habe soeben den fürchterlichen Fall erlebt, daß ein Freund, den ich bisher für den Fähigsten hielt, auch für den wertvollsten Urteiler, daß der Freund gekniffen hat, bloß weil Maler malen und Kunsthändler reiche Leute sind.

Aber Feigheit ist Willenlosigkeit.

Ein willenloses Volk sind die Deutschen.

In Deutschland nennt man einen Milchkeller »Trinkhalle«. Gerad so pompös nennt sich die alte Liebermannsche Secession »Freie Secession«. Sie hat, um nicht ganz zu verfallen, Maler aufgenommen (aus der »Neuen Secession«), die ihr sehr unsympathisch sind. Zwangsweise. Mit demselben Recht könnten sich die Elsässer, welchen man den Polizeiminister Dallwitz vorsetzt, ein freies Volk nennen. Die »Freie Secession« stellt dreihundertvierundvierzig Werke aus. Dreihundert von ihnen zeigen konzentriert die größte Schande, die der Gedanke an Deutschlands Willen, Mut und Geist je vorstellen könnte. Nicht vorzustellen ist, [281] wieviel in Deutschland immer einer hinter dem andern hergemalt hat und wie wenig gearbeitet wurde. Hier muß Einsteins gutes Wort zitiert werden von den Leuten, die »mit den schwierigen Fünden eines bedeutenden Mannes imitatorisch ihre Kleinheit maskieren«. Aber dreihundert Genossen der »Freien Secession« maskieren mit den leichten Fünden unbedeutender Männer. Dreihundert Werke, von denen zu reden man sich schämt, weil mit Recht der für einen Zeitverschwender gehalten wird, der das Wort »Salonmusik« noch verächtlich ausspricht. Genüge die Mitteilung, es sind auch ganz Feine da. Die imitieren, vorgeschrittenerweise, Henri Matisse. Über allem steht symbolisch das einzige Bild, das auf dieser Ausstellung erschüttert, Renoirs großer »Spazierritt«. Es erschüttert, weil es der vollkommenste Ausdruck der Malerei aus dem neunzehnten Jahrhundert ist, hinter der die Ausstellung schleift. Die ungeheuerste Verschwendung von Kraft, Tüchtigkeit, Anständigkeit, Zeit, Farbe und Leinwand, die magisch riesige Projektion der Seele eines vollkommenen, getreuen Porzellanpfeifenkopfmalers von unerreichter Technik in der Porzellanpfeifenkopfmalerei: mit diesen Werken wird der Kunsthandel ewig Geld machen. Rechtens. Da gehören sie auch hin.

Kameraden, ihr sitzt vielleicht in Hildesheim oder in Konstantinopel, ihr liegt vielleicht im Krankenbett, und Ihr werdet mit eigenen Augen diese Ausstellung nicht sehen. Dann denkt an alle Jahrgänge der verschwenderisch gedruckten Zeitschrift »Kunst und Künstler«, so habt ihr sie. Denkt an die Lebenden, die da als Vertreter gestellt werden. Maler Liebermann für ein sogenanntes Können, Maler Beckmann für ein sogenanntes Temperament, und abwechselnd Hodler oder ... Walser für sogenannten Stil. Eine Zeitschrift, die genau wie die Secession plötzlich Bedürfnisse nach einer mystisch »jüngeren Generation« hatte und in verantwortungsloser Feigheit sich Kunst-Meinungen von neueren deutschen Malern schreiben ließ. Und nur von Malern, die eine eifrige Maltätigkeit für Arbeit halten, deren Künstlertum im Nachschreiben angejahrter Redensarten und deren Kunst im musivischen Zusammenhausieren fremder Motive besteht. Diese Zeitschrift voll frecher Unsicherheit wird geleitet von einer patzigen, stumpfen Unfähigkeit [282] namens Karl Scheffler. Einem Mann, der sich immer irrt, wenns aufs Unmittelbare geht. Kleinigkeiten beiseite: wie er vor Jahren zu Kokoschka allerlei von Unkunst eines – – Russen geschwatzt hat (und heute soll Kokoschka auf einmal ganz still als bedeutender Mann wieder einziehen). Wie er gelegentlich Marc Chagall als Nachschmierer alter Miniaturen bezeichnete und dicht daneben einen kleinen, diebischen Graphiker pries. Wie er den unrettbar und vergebens von Abgestandenheit aufgewärmten Privatdruck-Illustrator Pascin seinen verblüfften Bankiers-Lesern als kühnen Versucher darbietet. Beiseite. Unmöglich zu reden von den Büchern dieses Kenners. Unmöglich zu erwähnen die gedunsene Geschwollenheit, das erregungslose Zuchthauswollespinnen in der Schreibart dieses Wortführers. Aber es ist die plumpste Herausforderung, daß dieses Produkt des Kunstkapitalismus, Karl Scheffler, darangehen durfte, über den Schriftsteller Julius Meier-Gräfe linkische Worte, tadelnder Art, durch Druck zu äußern. (Meier-Gräfe übrigens meint von Picasso, aus seinem »Kubismus« sähe überall die eigene Philistervisage hervor; ich halte Picasso für den bedeutendsten Menschen, der heutzutage den Pinsel auf die Leinwand setzt. Über dieser Verschiedenheit von Grund aus stelle ich fest, daß Meier-Gräfe der einzige mutige und unbedingte Mann ist, der seit hundert Jahren in deutscher Sprache zur Kunst spricht.) Karl Scheffler, vieldeutig aus Unbegabtheit, feige also aus Unbegabtheit wie seine Mitarbeiter, verzeiht keinen Mut.

Einige deutsche Maler stehen heut am Anfang. Wie weit sie überhaupt in Deutschland jetzt kommen können, mitten in der Berliner Tiefebene zurückzieherisch sich mästender Genügsamkeit, sieht man in der »Neuen Secession«.

Das Unbedingteste, was heut geschehen kann, sieht man auch hier nicht. Die »Neue Secession« hätte die Pflicht, über private Mißstimmungen, über Personenkombinationen und über Handelsfeindschaft hinwegnur Schöpfungen zu zeigen. Manche der wahrhaft Geistigen, Freundlich in Paris, der Russe Chagall, der Ungar Reith und der junge Düsseldorfer Mense stellen hier nicht aus.

Aber wenn jetzt von Bildern der »Neuen Secession« gesprochen werden soll, so kann das nicht über Lob- und [283] Tadelverteilung geschehen, über Bilderbeschreibung, über technischen Anerkennungen, nicht über zeitgeschichtlichen oder psychologischen Auseinandersetzungen. Denn hier geht es nicht um Ateliergeheimnisse, sondern um das Gerüst des Schaffens. Um den Geist und den Willen. Und alle sollen mit uns verkrachen, die sich bei der Feigheit besser stehen.


Um die »Neue Secession«

In Wahrheit gibt es für die Kunst in Deutschland heute keine Richtung. Es gibt ja auch bei uns keine Richter, die immer das erhabene Bild des Weges im Sinne hätten. Aber es gibt schon den Willen nach alledem, nach Strenge, nach Gewißheit und eindeutigem Handeln: es gibt schon die Gesinnung. Gesinnung, nur durch gefräßige Talentlosigkeit verrufen, ist die Form, in der sich die Leidenschaft der wirklichen Begabungen äußert. Nicht die Anzahl der Lebensjahre, nicht eine Tagesneuheit oder ein Händlertrick hält die Leute von der »Neuen Secession« zusammen. Es eint sie die Leidenschaft. Von allen deutschen Kunstgesellschaften, in denen die Absichten mehrerer bestimmend sind, ist die »Neue Secession« die einzige, dieGesinnung hat.

Gesinnung ist heute bei uns, im Land der ewigen Umfälle und Abfälle, etwas Ungeheures. Es ist das schärfste Scheidende zwischen Wert und Indifferenz, Absolutem und Verbindlichem. So scheidet heute die leidenschaftliche Gesinnung der »Neuen Secession« für ganz Deutschland: Man tritt in ihren Kreis, und sofort fällt ab, was nur zufällig gekommen ist; sofort wird deutlich, was nur zufällig nicht zu ihr gekommen ist und das eigentlich ihr zugehörte. Aber sie hat noch in ganz anderer Beziehung scheidende Kraft. Eine Gruppe wie etwa die »Freie Secession«, am Kurfürstendamm, ist im Innersten auf Verwischung, Vertuschung und Verundeutlichung des wirklichen Schaffens der Zeit gerichtet. Sie hat in sich so viel Nachahmer nicht aus Niedrigkeit, sondern aus der fürchterlichen Angst heraus, ihre Leute möchten weniger leisten als andere. Keiner wagt zu zeigen, worüber er vielleicht herrscht, sondern jeder will beweisen, er könne dasselbe wie drüben. (Das [284] unheimlichste und typische Führerbeispiel: Liebermann, der es durchaus so gut machen mußte wie Manet und durchaus so erfolgreich wie Israels.)

Die »Neue Secession« bringt sehr klar zum Bewußtsein, was die Deutschen heute können und was nicht. Der Willen und der Mut des Bildners, und der ganze Umkreis, Möglichkeit oder Unmöglichkeit sie heute in der Gemeinschaft zu äußern und zu verwirklichen; und umgekehrt die Forderungen der Volksgenossen an den Mut und den Willen des Künstlers: beides hat außerordentliche Wichtigkeit für die zwei Wege der Mitteilung des Künstlers, die Einwirkung auf die Allgemeinheits-Instinkte (Malerei und Plastik) oder die Einwirkung auf den einzelnen (Graphik). Viel innerlicher als nach ethnographischen Differenzen sind die Länder heute danach geschieden.

Die großen Maler leben heute in Frankreich. Diese großen Unbedingten, wunderbar in Kameradschaft; und insgeheim hält einer immer den andern für stümperhaft: der herrliche André Derain, riesengroß und milde, der Initiator der neuen Zeit, früh und männlich wie ein Sienese, lieblich reif wie ein Giorgione des Kubismus, bei ihm ist schon alles, was man später vereinzelt erprobte. – Der Natursänger, der lyrische Gewaltmensch (Echo: Waldmensch) des Kubismus:Braque, bläulichgrün. Picasso, der größte Willensmensch unter den Malern, der Politiker, der asketische Systematiker, das Genie des Pedantismus, die verborgene Urgewalt der Akademie. Le Fauconnier, ein gehetztes Ungetüm, genährt von ekstatischer Mathematik; und wenn man so oft Poussin nennen hörte, ist Le Fauconnier vielleicht der einzige, der mit ihm zu tun hat, denn für ihn besteht die Welt am endgültigsten nicht aus Bewegung, sondern aus Zuständen. Von diesen Ordnenden der Malerei hat er vielleicht am meisten wieder den französischen Ton wiedergefunden.

Robert Delaunay, der auf heutige Art die Moral der unmittelbaren Farbe malt, wie einmal Rubens die Moral der pastosen Farbe. Beide voller tiefer innerer Verwandtschaft; auch Delaunay malt die pure Außerzeitigkeit, doch unsere: eine Anleitung zum Leben, die, schon auf der Leinwand des Bildes, die Häuser, die Entfernungen, die Erde erschüttert. Lieber ist er moralisch als fein. Man hat ihm zuzutrauen, daß er Bescheid weiß; dennoch geht er oft ans [285] Plakatige, nur um zu lehren: »Ihr sollt auch ...!« Das ist höchster Mut: Übereinstimmung des privaten Verhaltens mit dem öffentlichen. (Während bei uns öffentliche Personen, etwa Schriftsteller, ihre geistige Leidenschaft als ein Privatbyjou emsig verschleiern.) In großen Landschaftsformaten so zurückhaltend, daß es in Deutschland sicherlich Heimatkunst geworden wäre, Lhote, bei dem die Gleichzeitigkeit schon nicht mehr Wille, sondern bloß noch geordnete Freude ist. FernandLéger, immenser Techniker, reine Artistik des Kubismus. Jean Metzinger die Ableitung von allen, bereits Schule, trocken doktrinär. Welche Höhe diese Menschen haben, sieht man an dem modernistischen Geschicklichkeits-Salonmaler Kees van Dongen: in Paris Gesellschafts-Kitscher; in Deutschland sozusagen noch ein Genie. Und am Anfang dieser Reihe steht der muffig kleinbürgerliche, dabei unendlich mächtige Erfinder und Entdecker Henri Rousseau, der Douanier, der zum erstenmal wieder in neuen Zeiten Verschiedenheit malte, Willentliches; Lebendes gegen Totes. Das Unorganische nicht symbolhaft, sondern als gliedlose Materie. Und der Mensch, der Mensch als Wille, als Sonderndes Wesen, als Liebender und Hassender: der Mensch als Mitte der Welt. Voreingenommene äußern, Rousseau habe nur nichts gekonnt, und sei wegen »Primitivität« aufgekommen. »Gekonnt« vom Standpunkt des Impressionismus: doch beschaut diese Eindrucksskizzen zu späterer Einheit der überwindenden Willensrichtung: Liebermann müßte auf sie stolzer sein als auf alle »Reiter am Meer«. Und beschaut das »Kind mit der Puppe« – die Puppe hat Knie, das Kind nicht, die Puppe hat Charakterausdruck, das Kind nicht. Welch überlegte Enthaltung: denn das Kind hier ist ein Organismus und ein Willenswesen; die Puppe nicht. Dies aber ist nicht anders zu nennen als: Geistige Kunst.

Die großen Plastiker unserer Zeit mußten nach Frankreich. Manolo, Archipenko, Fiori und Wilhelm Lehmbruck. Lehmbruck, aus Versehen in die »Freie Secession« verschlagen, ragt in schändender Umgebung. Sein »Stehendes junges Weib« ist das Vollkommenste, das die Plastik seit Jahren hervorgebracht hat. Jeder Körperteil in der reinen organischen Bedeutung; eine Wade gibt die absolute Wadenhaftigkeit am Menschen. Jedes Glied für sich geschaffe [286] und eingeformt zum Sinn der Tatsache: menschliche Gestalt. Dieses Werk ist zum Sollen da. Generationen von Frauen müssen nach diesem Körper gebildet entstehen. (Und natürlich benennt gelegentlich Karl Scheffler dieses mächtige Gebilde »Manieriert«, und, natürlich: Berliner Kunstbeteiligte ängsten es ihm nach.)

Dies ist alles in Deutschland nicht möglich. Malerei, Skulptur, Gebilde der Unmittelbarkeit, sind nur möglich in einem Land, dessen Menschen von einem sogenannten Künstler als ursprünglichste Gaben: Mut, Willen, Unbedingtheit, Willen, Mut – fordern.

Ein Zeichen: die »Neue Secession« – angstfreiere Maler als die andern Deutschen – hat einen deutschen Henri Rousseau ausgestellt. Karl Junker; starb vor zwei Jahren unbekannt, sechzigjährig.

Deutsche Rousseaus gibt's nicht. Die Gegenden Frankreich und Deutschland sind nicht nur klimatisch unterschieden, oder dadurch, daß drüben die große Seine, hier die große Weiße fließt. Rousseau wirkt heute so vollkommen wie ein alter Meister. Der Junker hat alte Meister – gemacht. Rousseau wirkt primitiv, er war unmittelbar; Junker macht primitiv, er war ganz abgeleitet. Museumsmensch. Von der karolingischen Elfenbeinschnitzerei bis zu Buchtitelholzschnitten des siebzehnten Jahrhunderts ist nichts Dagewesenes, dem nur historischen Auge Primitives (das es selbst nie war) in diesen sechsundzwanzig Bildern ausgelassen. Liebesgarten-Graphik aus dem vierzehnten Jahrhundert und plumpe Märchenbuchillustration vom Beginn des neunzehnten sind aufgenommen, für Primitivität; von Fremden, Toten – die doch Neuerer waren – genommen aus Angst. Und das ursprünglichste Bild Junkers ruft unweigerlich Erinnerungen an vieldeutiges, verzwickt geheimnisvolles, mysteriös geniertes deutsches Schrifttum herauf. Etwa: »Die Chymische Hochzeit des Christiani Rosenkreuz«, ein Büchlein, das im deutschen Land den Schweiß gegenseitiger Mystifikationen hervorbrechen ließ, zu einer Zeit, da in Frankreich furchtbar und larvenlos Rabelais schuf.

Dagegen steht der wahrhafte Beginn, die starke Erstmaligkeit in den Bildern des Franzosen Raoul Dufy. Wenn der von Henri Rousseau etwas hat, so hat er nichts von ihm genommen; sondern da ist dieselbe Leidenschaft zur Scheidung [287] in Willenswesen und Material. (Die »Freie Secession« hat es nicht versäumt, einen richtigen Rousseau-Imitator auszustellen. Dardel, der in eine, dem Pissaro abgepumpte Landschaft pappene Gestalten kittet, nach äußerem Umriß dem Rousseau abgezapft. Wetten wir, daß die Berliner das »interessant« finden? Na, K. Scheffler!)

Aber wenn Maler sein wirklich geistigen Sinn haben soll, dann sind die Deutschen heute nicht Maler. Sie müssen sich beim Malen immer irgendwohin retten. Unter dem Schutz irgendeines geträumten oder wirklichen Kapitalisten: Dekoration. Oh, so dekorativer César Klein! (dem dabei so schöne Ideen für Farbenordnungen einfallen). Pardon: Fresko (der übliche Einwurf, historisch) ist durchaus nichts Dekoratives. Niemand wird doch behaupten dürfen, daß Giottos Fresken die Kirche Santa Croce »schmücken«! Gar nicht. Die Wand, an der sie sind, hat ihren sachlichen Sinn als Mauer eines Ortes, der derselben Lebensanleitung dient wie die Darstellung, und als allgemeinster, zugänglichster, unverwehrtester, gesehenster Platz für diese Anleitung zum Leben. Man darf nicht vergessen: Dekoration ist doch für die Besinnungslosigkeit da. Aber die Deutschen fallen heut ins Dekorative, weil es von da in die geliebte Monumentalität geht. Die Monumentalität, geliebt wegen Phlegma, Masse und Aufgeschwemmtheit. Wagners Baßtuba. Nie werden die Deutschen diese Symbole des feierlichen Bauchs los.

Die neuen deutschen Maler flüchten auf eine schauerliche Art. Einer mitten hinein zwischen Zille und Gauguin. Noch einer komponiert Motive aller denkbaren Florentiner zusammen, daß es schon in die großen Konzertausstellungen paßt (man nennt das in Berlin, rühmend, »Deutsch-Römer«). Ein anderer benutzt Paris, um Derains Körper in Kulisse zu verwandeln.

Aber es gibt Männer, die wirklich ernstlich da anfangen, wo die deutsche Sackgassenluft sie noch nicht ganz paralysiert. Richter-Berlin ist der erste, der beginnt, die Atmosphäre im Bilde mit sachlichen Konstruktionselementen als Raum aufzubauen. Und Schmidt-Rottluff. Bei ihm wird die Farbe nicht mehr als Material mißbraucht, sondern er treibt sie durch eine körperhafte (noch persönliche) Handschrift hindurch. Die Deutschen, die nach Deutschland gehören,[288] sind heute keine Maler. Aber sie sind außerordentliche Graphiker und viel bessere als die Franzosen. (Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofens. Am Ende so?)

Schmidt-Rottluff im Holzschnitt ein Meister im Enthüllen des vollkommenen organischen Sinns an der menschlichen Gestalt.

Kokoschka, der Zeichner, gehörte in die »Neue Secession«. Vollkommen, als Zeichner, im Aufdecken des Zusammenhangs zwischen menschlichem Körper und Raum.

Und in die »Neue Secession« gehörte das fast unbekannte Radierwerk der kleinen Figuren-Kompositionen Max Oppenheimers (»Das Buch Legrand«; die »Geißelung«), der heut in Deutschland so stark ist als Finder des räumlichen Zusammenhangs menschlicher Gruppen untereinander. Diese drei Dinge: der einzelne Mensch, der Mensch und der Raum, der Mensch und der Mensch – in dem herrlichen, aufstachelnden, allgemeinen Mittel der Graphik, das ist heute nur Deutschen möglich.

Die Monumentalität ist das Unglück der deutschen Künstler. Sie lieben sie, weil in ihr sie sich hinter Massen verstecken können. Anderswo weiß man von der unendlich verpflichtenden Einmaligkeit des Bildes, zu der man Führer, Kamerad, Mutmensch sein muß. Aber wenn die Deutschen allein, jeder gehetzt vom Hasse des andern und verkapselt in seinen Zorn über dem engen Raum des Arbeitstisches sitzen, da ist die deutsche Feigheit vergessen, und in die Augen der Menge wird das kleine graphische Blatt die Spuren von der Leidenschaft des Geistes fetzen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rubiner, Ludwig. Schriften. Maler bauen Barrikaden. Maler bauen Barrikaden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9E7C-C