Joachim Ringelnatz
Die Woge
Marine-Kriegsgeschichten

[103] Die Blockadebrecher

Ein drittes Mehlfaß rollte der Steward zurück, wodurch in dem Stapel von Proviantkisten ein Hohlraum geöffnet wurde. Dann drängte er flüsternd den langen, bartlosen Mann, der in der Haltung eines hilfsbereiten Ratlosen ihm zugeschaut hatte: »Schnell! Es ist schon einer drin.«

Der Lange warf sich ungeachtet seiner gediegenen Kleidung stracks zu Boden und kroch kopfan in das Loch. Das mußte eben nicht viel Platz bieten, denn als er sich zur Hälfte darin befand, blieb er stecken. Der Steward hörte, wie im Innern der Höhle eine zweistimmige Begrüßung in deutscher Sprache stattfand; und da er kein Verständnis für dies Idiom, außerdem Eile hatte, deutete er solches mit der Stiefelspitze auf dem noch sichtbaren Hinterteil des Liegenden an. Ruckweis zogen sich nun auch des Langen Beine in die Öffnung hinein, welche der Schiffskellner unter letzten Ermahnungen wieder mit den schweren Fässern verrammelte. Die Ankerlaterne vom Boden aufhebend, leuchtete er noch einmal das Proviantlager und dessen fensterlose Eisenwände und Schotten ab, fand nichts Verräterisches und begab sich schmunzelnd eine Leiter empor, durch eine Luke an Deck des norwegischen Dampfers, der am nächsten Tage Barcelona verlassen sollte, und über dem jetzt die feuchte Abendluft des 24. Januars 1915 taute.

In der Dunkelheit unter einer doppelten Kistenschicht hockte nun der lange Seemann, die Knie bis ans Kinn eingezogen und Schulter an Schulter mit einem Fremden, der ebenfalls seine Beine nicht auszustrecken vermochte, der sich ebenfalls schlechtweg als deutscher Matrose vorgestellt und auch die Absicht hatte, sich nach Genua zu schmuggeln. Dieser Mann redete anfangs nur auf Befragen, dann knapp sachlich und ziemlich ungemütlich, was sich aber möglicherweise dem Umstand zuschrieb, daß die Unterhaltung im Flüstertone bleiben mußte.

»Wurden auch Sie vom Zollbeamten bemerkt?«

»Ja, aber den wird der Steward bestochen haben.«

»Morgen Mittag soll es in See gehen. Wieviel wird er laufen?«

»Sechs, sieben Meilen. Mehr schaffen diese lütten Fischklepper nicht.«

[103] »Bueno, Kamerad, dann können wir schon nächste Woche deutsche Soldaten sein.«

Der fremde Matrose erwiderte nichts.

»Wo, meinen Sie, daß man uns hinsteckt? Ich wünsche mich auf ein U-Boot, irgendwohin, wo es aufs Ganze geht. O, Deutschland wird siegen! Wissen Sie, wofür ich verdammt zehn Jahre meines Lebens hingeben wollte? Einmal als Sieger über den Trafalgar Square zu bummeln. Glauben Sie nicht auch, daß wir siegen werden?«

»Ich weiß nicht.«

Ein nüchterner Mensch! dachte der lange Matrose, und er stellte sich danach ein. »Teufel, das stinkt hier wie tausend Rattenkadaver! Kommt das aus der Bilsch?«

»Klippfisch«, brummte der andere wegwerfend.

»Der Kasten scheint voll zu sein; die Luken waren dicht. Am Ende nimmt er noch Deckslast. Wenn sie nur nicht morgen das Schiff noch einmal überholen. Ich bin schon zweimal von diesen vermaledeiten französischen Geheimspionen verscheucht.«

Der Stumme gähnte langatmig und dehnte sich in die Breite, wobei er dem Langen versehentlich mit dem Ellbogen in die Zähne schlug. Aber er sagte nichts.

»Halten Sie sich schon lange in Barcelona auf?«

»Sechs Wochen.«

»Sie musterten hier ab?«

»Nein, in Lissabon.«

»Lloyd?«

»Hapag.«

»Von der Westküste ...?«

»Südamerika. Ja.«

»Und reisten per Bahn?«

»Erst nach Madrid, dann nach Bilbao und dann nach hier.«

»Warum nicht gleich direkt?«

»Es waren zuviel Deutsche dort; man ließ uns nicht hinein. Erst mit der Zeit in kleinen Trupps schob man uns nach, wenn wieder andere fort waren.«

»Ja, ja, sie strömen alle herbei, für die Heimat zu kämpfen. – Wann weilten Sie zuletzt in Deutschland?«

»Vor drei Jahren.«

»Drei Jahren? Denken Sie: ich bin seit sieben Jahren fort. – Ob uns die Franzosen unterwegs anhalten werden?«

[104] »– weiß nicht.«

»Indolent!« stieß der Lange geärgert hervor; doch war er überzeugt, daß der andere das Wort nicht verstünde. Er beschloß, fortan gleichfalls stumm zu sein.

So erstarben die Worte in dem geheimen Gelaß, und dafür lebten mancherlei traumwebende Geräusche der Ruhe auf: der ohnmächtig zornige Wellenschlag an der Bordwand, das Nagen einer Maus, zwei schnaufende Atemzüge nebeneinander, zuweilen ein Seufzer, auch ein Kleiderrauschen und Füßescharren, wenn der eine oder andere von den Matrosen seine Lage zu verändern trachtete.

Da füllte sich das auf die Knie gepreßte Ohr des Langen mit einem feinen Klingen, dem Summen eines Moskitos oder jenem Tone ähnlich, der entsteht, wenn man mit feuchtem Finger auf dem geschliffenen Rande eines wenig gefüllten Weinglases kreist.

Mein Ohr klingt, konstatierte der Lange in Gedanken, es denkt jemand an mich. Wahrscheinlich sogar mehrere ... alle ... selbst Vater. Und da das Klingen weiter währte, lauschte der Lange ihm aufmerksamst, zu ergründen, wo es wohl herrührte und was es für eine Bedeutung hätte.

Klingt es nicht wie ein vielfach gedämpfter Schrei? Ernst und gleichsam warnend? Zei ... eit! – Nein, doch irgendein Ruf mit i muß es sein, der ausdrückt: Besinne dich! Die Zeit eilt und kehrt nie – nie ... ie – wieder.

Die sieben Jahre kehren nie wieder. Arm und einsam verrannen sie, überreich an Glück und Liebe konnten sie sein. Er ist doch etwas ungemein Vornehmes an uns, dieser Trotz auf das Ausgesprochene. – Vielleicht klingt in dieser Minute auch Vaters Ohr. – – Unser Trotz wird nicht gebrochen sein, wenn wir uns wieder in die Arme fallen; er wird von beiden Seiten zurückgezogen, um einer höheren Aufgabe willen. – – Eilen sie doch alle, für ihr Blut, für ihr Vaterland einzustehen, auch die, welche die Heimat vergessen wollten oder sie hassen lernten. – – Auch ich werde für alle kämpfen, auch für die Brüder und ebenso für meinen Vater, sogar um die Erde, die Muttern deckt. – – Mein Gott, sich vorzustellen, daß Vater von reuiger Rückkehr sprechen oder an Vorwand – Krieg denken konnte – – nein! Ein deutscher Edelmann und Kaiser und Reich in Gefahr – –! Ich will meinen Schuldteil tilgen, ihn mit Blut abwaschen, und es spreche keiner von romantischer Wahnidee, von falscher Sentimentalität, Phrase oder Pose. – O [105] großes Jahr, da in der Welt das Theatralische zur alltäglichen Wirklichkeit geworden ist! – Zwischen Feuer und Wasser will ich kämpfen, immer dort, wo die Gefahr gipfelt, allen voran, und nur mit dem Kreuz das geliebte Haus wieder betreten. – Gott gebe, daß sie mich nicht für dienstuntauglich erklären. – –

Die blinden Passagiere stöhnten und gähnten immer häufiger, und da sie doch zu sehr aufeinander angewiesen waren, um sich gegenseitig zu ignorieren, so lehnte schließlich der Lange seine rechte Wange gegen die Brust des andern und ruhte ein wenig in dieser Abwechslung aus, bis ihn die linke Hüfte schmerzte. Dann wechselten sie die Rollen. Nicht Licht noch Dämmerung kündeten nach einer Ewigkeit den Morgen, sondern ein Konzert aus Poltern, Rufen und schweren Tritten, das durch Eisen- und Holzwände geschwächt wurde, den erfahrenen, angestrengt lauschenden Seeleuten jedoch wichtige, vertraute Vorgänge verriet.

Der Lange klagte: »Ich habe Hunger wie ein Seeteufel. Wissen Sie, was ich jetzt tue? Ich ziehe mein Messer und untersuche der Reihe nach alle diese Kisten nach Freßbarem.«

»Nein, mußt nicht!« wehrte der andere. »Wir wollen dem Steward keine Schweinereien machen; das scheint ein anständiger Kerl. – Gib mal deine Flosse her – so! Da liegt ein Paket mit Brot und Wurst. Und hier, in dieser Fuge – vorsichtig! Fühlst du's? – Darauf mußt achtgeben; es ist eine Rose darin, die darf nicht geknickt werden.«

Dem Langen gefiel es herzlich und versöhnte ihn, daß jener bezüglich der Kisten so gewissenhaft dachte.

»Was für eine Rose?«

»Eine Rose aus Papageienfedern; ich kaufte sie in Brasilien vom Bumbootsmann für meine Braut.«

»Haben Sie keine Eltern mehr?«

»Nein.«

»Geschwister?«

»Keine. Mein einziger Bruder ist kürzlich mit einem Minensucher in die Luft gegangen.«

»Hm! Traurig und doch schön. Ich habe zwei Brüder im Felde, Dragoner – – –«

»Pst! Still!« zischte Klein. »Hörst du? Draußen ist schlimmes Wetter.«

»Immerzu! Sagen Sie mal: Warum wollen – warum willst du eigentlich nach Deutschland?«

[106] »Was soll ich denn hier? Ich habe meine ganze Heuer, über vierhundertfünfzig Mark, aufgebraucht; die letzten sechzig Peseten gab ich dem Steward. Nun will ich erst mal zu meinem Mädchen nach Ostpreußen, na und dann werden sie mich einkleiden. Seewehr zwo.«

»Freust du dich gar nicht darauf, Soldat zu werden?«

Der andere lachte wie über eine törichte Frage. »Man muß doch. Es dienen jetzt doch alle.«

»Gewiß, gewiß!« Und der Lange tastete die Kisten ab nach dem Paket, das er entfaltete. Er tastete den Umfang des Brotes und der Wurst ab und begann in derben Bissen zu schlingen. Dabei war es ihm nicht einmal möglich, seinen Oberkörper vollständig aufzurichten.

Der norwegische Dampfer tutete. Ein Sirenenheulen wand sich empor. Das Quirlen der Schraube setzte ein und erschütterte den schwimmenden Eisenbau. »Hurra!« jauchzte der Lange, indem er den Nachbar knuffte. »Jetzt sind wir frei.«

»Was hast du dem Steward für die Überfahrt gezahlt?« fragte dieser.

»Hundert Peseten.«

»Ja so, du bist von feinen Eltern.« Das war ohne Spott gesagt.

»Ich besitze nur selbstverdientes Geld, aber ziemlich reichlich, und kann dir daher die weitere Heimreise mit Vergnügen bezahlen.«

»Dazu gibt mir der Konsul in Genua Geld. Auch hier bekam ich täglich Unterstützung. Warst du denn nicht beim deutschen Konsul?«

»Nein.«

»Also hast du wohl auch keinen Paß?«

»Nee.«

»Das ist windig. Ich komme mit meinem Paß durch, aber du darfst dich beim Landen nicht kitschen lassen, sonst schicken sie dich gleich wieder zurück. Wenn wir also morgens einlaufen, dann laß uns ruhig noch bis abends in diesem Loch bleiben, bis die Schauerleute ausscheiden; und dann sehen wir zu, wie wir uns am Wachtmann vorbeikreuzen.«

»Wir«, wiederholte der Lange gerührt; »Landsmann, nichts für ungut; ich habe dich anfangs für unliebenswürdig und gefühllos gehalten, weil du so schweigsam –«

»Ja, ich kann nicht so reden wie du«, fiel ihm der andere ins Wort.

[107] »Du bist ein braver Kerl; laß uns gute Freundschaft halten.«

»Schön!« sagte der Fremde und drückte mit ehernen Fingern die Hand, die nach der seinen tastete. Aus seiner Antwort war zu entnehmen, daß er amüsiert lächelte.

»Wie heißt du eigentlich? – Wie? – Heinrich Klein? – – Ich? Ach, ich! – Ich heiße – mein Name ist Tilger, Rein – Reuhard Tilger.«

In diesem Augenblick legte sich das Schiff stark nach Steuerbord über, so daß sie beide mit den Köpfen gegen die vordere Kistenwand schlugen. Damit fing es an, aufs heftigste zu stampfen und zu rollen. Sie mußten sich mit Rücken, Armen und Zehen feststemmen, um nicht hin und her geworfen zu werden. An Schlaf war vollends nicht mehr zu denken. So kämpften sie stundenlang mit erlahmender Muskelkraft gegen den zunehmenden Seegang an, stöhnten, fluchten, gähnten und schwiegen oder schwatzten eine Weile in schleppenden Sätzen über ihre Seefahrten, ihre nächste und fernere Zukunft, über Kleins ländliche Braut, über Krieg, Engländer und den lieben Gott. Dazwischen rechneten sie und taxierten, wie spät es ungefähr sei, und schwiegen wieder oder jammerten, hin und her rutschend, leise vor sich hin.

Plötzlich brachen sie ein Gespräch ab.

»Nun?« fragte der Lange.

»Die Maschine stoppt?« fragte Klein.

Im ersten Moment hat es für den Dampfermatrosen stets etwas Beängstigendes, wenn der permanente Rhythmus der Maschine unversehens aussetzt, wenn ihr Atem stockt. Für die Deutschen war besonderer Grund vorhanden, besorgt zu sein. Reuhard Tilger sprach es aus: »Die Franzosen!«

»Kriegszone?« meinte Klein unsicher. »Nein, unmöglich.«

Sie horchten verhaltenen Atems, ohne Bestimmteres zu ergründen. »Vielleicht Maschinenschaden.«

»Mann über Bord?« So rieten sie hin und her, bis die Maschine wieder ansprang.

»Lotse!« triumphierte Tilger.

»Nein«, sagte Klein bestimmt.

Wieder stieg und stürzte der Boden unter ihnen und mit ihnen. Schwere Brecher prallten gegen die Bordwand. Irgendwo rollte donnernd ein Balken vorwärts und rückwärts über Eisen. Da verursachte ein Rasseln neue Spannung. In die Finsternis der Höhle Schossen zwei Strahlen gebrochenen Taglichtes, ein feiner und ein [108] stärkerer. Der feine brach seitlich zwischen den Mehlfässern herein, der stärkere fiel aus einem Spalt von oben und traf Heinrich Klein mitten ins Gesicht.

Auf dieses Gesicht warf Reuhard unverzüglich einen raschen, unbescheidenen Blick, dann einen zweiten auf seine Taschenuhr, während er mit kalter Angst vernahm, wie jemand die Leiter herabklomm. Ein Gegenstand wurde durch den oberen Spalt herabgeschoben; eine Stimme rief leise auf Englisch:

»Ein Bissen Speck! He, da unten! Alles klar?«

»Allright«, gab Klein zurück, »warum stoppen wir?«

»Maschine heiß gelaufen. Bleibt und schweigt!«

Damit entfernte sich der Steward wieder, und indem er, an Deck angelangt, die Luke zuschlug, tötete er die zwei Strahlen himmlischen Lichtes.

»Klein, du bist nun bald achtundvierzig Stunden in dieser Box«, sagte Tilger; dann dachte er über das grobe, knochige Gesicht nach. Es hatte durch eine platte Nase, eine senkrechte Stirn, sowie durch struppiges Kinn- und Barthaar etwas Pinscherhaftes. Aber unter den ausgewucherten Brauen blinkten aus weit entblößter Augenweiße blaue Siegel der Ehrlichkeit.

Klein knitterte mit Papier. »Speck und Schokolade!« sagte er trocken. Sie teilten und aßen, während sie immer einen Arm gebrauchten, sich festzuklemmen. Ihre Hände, ihre Haut, ihre Kleider klebten von Schmutz und Schweiß. Ihre Nasenlöcher waren von Staub verstopft. Sie empfanden Schmerzen im Leib, im Genick, im Gesäß, und Klein lamentierte über Wadenkrämpfe. Die Luft in dem Loche verschlechterte sich unerträglich.

Einmal täglich brachte der Steward etwas Nahrung. Am zweiten Tage ließ er eine Tüte voll Wasser durch den Spalt, ihr Inhalt ging jedoch zum größten Teil verloren.

Noch immer schüttelte das Unwetter die Flüchtlinge wie Käfer in einer Schachtel herum; sie leisteten nur mehr schwachen Widerstand.

Auch stoppte die Maschine abermals eines Schadens wegen. Es kletterten zwei Heizer in den Proviantraum und machten sich dort – Klein beobachtete es durch den seitlichen Spalt – mit Schlosserwerkzeug in einem Winkel zu schaffen.

»Wenn das Schiff absäuft«, sagte der Lange nachdenklich, nachdem die ahnungslosen Heizer den Raum wieder verlassen hatten, »würde kein Mensch je erfahren, wo wir abgeblieben sind.«

[109] Der Dampfer nahm seine Fahrt von neuem auf. Ermattet schwiegen die Deutschen. Die Gedanken verschwammen ihnen. Immer gleichgültiger überließen sie sich dem Schiff und dem Schicksal. Mehrmals überfiel sie eine schlafähnliche Schwäche, in der sie für kurze Dauer ihre Schmerzen und ihre Sorgen vergaßen. Allmählich mäßigten sich die Schwankungen des Schiffes.

Es geschah am dritten Tage, daß wiederum die Maschine verstummte und Klein und Tilger aus ihrer Lethargie jäh aufschraken. Ein quietschendes Rollen, dann hohles Aufschlagen an der Bordwand bewies ihnen, daß ein Boot zu Wasser gelassen wurde. Sie rafften alle Energie zusammen, rückten sich so bequem als möglich zurecht; denn nun sollte es gelten, sich nicht um Haaresbreite zu rühren. Ihre Spannung entdeckte und verfolgte rege Schritte, welche kamen und gingen und wieder kamen. Das Kettenschloß an der Luke rasselte, und lebhaftes Sprechen in französischer Sprache drang wie ein Sturmwind gleichzeitig mit blendender Lampenhelle in den Vorratsraum. Klein sah erbebend ein Stück von einem französischen Soldaten auf der Leiter, der ein blitzendes Eisen schwang. Klein drückte seine Lippen an Tilgers Ohr und raunte dem zu: »Lange Dolche! Wen's trifft, bleibt still!« Im Nu hatte er seinen Filzhut wurstförmig zusammengedreht und stieß ihn nun mit gewaltigem Kraftaufwand in die obere Spalte.

Es mußten zwei Soldaten in Begleitung des norwegischen Kapitäns und des Stewards sein, welche das Lager rundum absuchten. Überall stocherten sie mit den Eisenstäben zwischen den Waren herum, und sie näherten sich mehr und mehr dem Versteck. Jetzt schurrten ihre Tritte auf der Kistenschicht über den Köpfen der Deutschen. Die hielten den Atem zurück. Unwillkürlich hatten sie sich gegenseitig gepackt, und jeder fühlte die Knie des andern zittern. Lärmvoll fuhr ein Dolch den oberen Spalt herab, stieß auf den Hut auf, wurde zurückgezogen, wieder herabgestoßen. Diesmal gab der Hut um Zentimeterlänge nach. Aber er fiel nicht heraus. Und die feindliche Patrouille schritt weiter, verließ den Proviantraum, später das Schiff. Endlich fuhr das Schiff. –

Reuhard drückte Heinrichen die Hand. Der Steward erschien, rollte die Mehlfässer ab und ließ seine Schützlinge heraus, damit sie sich an einer duftenden Suppe stärken, sich einmal für eine Viertelstunde strecken möchten.

Sie sahen aschfahl aus. Ihr Anzug war verknüllt. Sie blinzelten [110] mit den Augen, schnitten beim Strecken der Beine schmerzliche Gesichter und konnten zunächst nicht ungestützt stehen. Klein war von untersetzter Gestalt. Er klopfte sich den Mehlstaub von der Kleidung mit seinem entrollten Hute, welcher fünf Löcher von Dolchstichen aufwies. »Schade um die nagelneue cloth«, sagte er, »sie hat mich neunzig Peseten gekostet.«

Es bedurfte strenger Überwindung, sich nochmals in die bisherige Marterlage einzuzwängen. Noch einen halben Tag durchlitten sie dort, bis das Schiff im italienischen Hafen festlag und der Steward sie zu erlösen kam. Der Lange stemmte sich in jubelnder Ungeduld von innen gegen die Mehlfässer. »Au! Au!« schrie er.

»Halt doch das Maul!« zischte Klein. »Willst du zuletzt noch alles verderben?«

Aber Tilger lachte übermütig laut. »Dies verfluchte Faß hat mir einen meterlangen Nagel ins Genick gepiekt.«

Ganz wie Klein angenommen, waren sie morgens in Genua eingetroffen. Nun blieben sie noch volle zwölf Stunden verborgen; es war eine böse, böse Zeit. Immerhin durften sie jetzt wenigstens innerhalb des Proviantraumes frei einherspazieren, und Tilger bestand darauf, daß der Steward Sekt herbeischaffte. Tilger redete unaufhörlich in höchster Begeisterung. Er gestand seinem Kameraden, daß er gar nicht Tilger hieße, und gelobte und bat Heinrichen, daß die Freundschaft zwischen ihnen, die in der Glut der Vaterlandsliebe geschmiedet, in Gefahr gehärtet und schließlich mit Champagner besiegelt wäre, ihr Leben lang bestehen sollte. Dann spann er schillernde Träume aus von ruhmreichen Kampfestaten. Heinrich Klein war sein wortkarger, ungeduldiger und doch gutmütig aufmerkender Zuhörer. Nicht ohne mancherlei Schwierigkeiten stahlen sie sich abends an dem Wachtmann vorbei von Bord.

Sie speisten, becherten und übernachteten an Land in einem geringen deutschen Gasthaus; da gab es einen Schlaf in Betten. Bei nächster Frühe trennten sich die beiden Blockadebrecher in feierlicher Schlichtheit. Der Lange lag noch im Bett. Er wollte sich neue Kleidung beschaffen, bevor er weiterreiste; überdies war sein Hals infolge des Nagelstiches geschwollen. Klein aber war durchaus nicht zu längerem Aufenthalt zu bewegen. Er eilte aufs deutsche Konsulat, wo man ihn mit einer Fahrkarte bis Ala nebst entsprechender Wegzehrung versorgte.

[111] Die Schilderung seiner Flucht machte auf den Bezirksfeldwebel, bei dem er sich in der nächsten deutschen Stadt meldete, wenig Eindruck. Dort trafen täglich viele Blockadebrecher ein. Man befahl Klein, sich unverzüglich nach Kiel zu begeben. Um seine Braut wiederzusehen, möge er später ein Urlaubsgesuch einreichen. Er war sehr aufgebracht darob. Und er fuhr nicht gleich nach Kiel, sondern zunächst nach Ostpreußen. Unterwegs, irgendwo auf einem Bahnhof, begegnete er zufällig einem Musketier, der aus seinem Heimatsdorfe stammte. Sie tauschten wiedersehensfroh ihre Kriegserlebnisse aus, in knappem Umfang. Dann erkundigte sich Klein nach seiner Braut. »Was«, rief der Musketier, »weißt du's noch gar nicht?«

»Was soll ich denn wissen?«

»Mischka ist tot.«

»Tot? Du bist ja verrückt«, sagte Klein ungläubig; aber er wurde blaß.

»Gott verdamme mich! Weißt du gar nicht, wie die Russen bei uns gehaust haben?«

»Die Russen? Die Russen hätten Mischka tot – –« Klein räusperte sich heiser.

»Was ich dir sage«, erwiderte der Musketier, »sie ist tot.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Sie hat sich selbst erhängt – aus Scham – – –«

Wenige Tage, nachdem Klein ihn verlassen hatte, war Tilger in Genua an Blutvergiftung gestorben.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Mit anderen Marinern durch ein feindliches Dorf marschierend, warf Heinrich Klein eines Tages die brasilianische Rose einem flandrischen Mädchen zu.

Die zur See

»Ruhe da! Nicht einsteigen, bevor der Zug hält!« befahl der führende Deckoffizier. Und gleich darauf, ehe noch die einlaufende Eisenbahn zum Stehen gebracht war, hing die blaue Reihe von Matrosen und Maaten laut schreiend an den Coupétüren.

Mich, sowie vier andere Seeleute, lud ein gönnerischer Zufall in ein Frauenabteil zweiter Klasse. Eine alte Dame in Trauerkleidung [112] blickte unserem Einfall mit merkbar zwiespältigem Interesse entgegen. Ihre ehrwürdige Erscheinung goß Eiswasser auf unseren Übermut, indes wir erholten uns bald wieder, bis auf den Matrosen Strohsahl; der blieb stumm. Mehrmals streichelte er ungläubig lächelnd das grüne Plüschpolster, bevor er sich vorsichtig darauf niederließ; dann verharrte er mit eingezogenem Kopf, die Hände symmetrisch auf die Knie gelegt, unbeweglich; nur seine Blicke glitten nimmermüde über den unerhörten Luxus von Mechanik zu Mechanik.

Hein Pänk hatte sein riesiges Fleischgewicht zu der weißhaarigen Dame gesetzt, das heißt: auf derselben Bank, worauf sie am Fenster saß, lehnte er nun in der entgegengesetzten Ecke, und als der Zug wieder in Bewegung geriet, als aus den rädergetragenen Zellen ein tosendes Seemannslied mit eins aufstieg, hing Hein Pänks runder, gesunder Kopf bereits schlummernd über dem Eisernen Kreuz auf seiner Brust.

Ich ließ ein Fenster herab, um mir noch einmal das Bild der leidigen Kasernenstadt einzuprägen. Nach einiger Zeit bat mich die Dame mit weicher, gütevoller Stimme, das Fenster der kalten Zugluft wegen zu schließen. Signalgast Ohlensteevel, der ihr gegenüber saß, holte seine zerkaute Shagpfeife hervor und fing an, dicke Tabakwolken kräftigst auszublasen, welche die gefälligen Rauchringe meiner Zigarette verschlangen. Er starrte ebenso neugierig als beharrlich auf das blasse Frauenantlitz. Mir entging nicht, wie die Dame unter diesen Blicken litt und, wohl um diese abzulenken, ein Gespräch einleitete. »Sie fahren gewiß auf Urlaub?« fragte sie teilnahmsvoll.

Ohlensteevel lachte gell auf. Es ist mir nicht möglich, seine Antwort getreu wiederzugeben, schon weil sie in einem unnachahmlichen Plattdeutsch vorgetragen wurde, aber ungefähr sagte er: »Ja, Spuke von wegen Urlaub! Wir gehen auf ein Himmelfahrtsschiff.«

Ein Maschinistenmaat neben mir, der emsig dem Auskratzen seiner platten Fingernägel oblag, verbesserte die Auskunft: »Wir gehören zur Minenabteilung und sollen in der Nordsee Minen suchen und Minen legen.«

Die alte Dame bewegte schaudernd ihr Haupt. »Minen legen, wie schrecklich! Das ist doch sicher sehr gefährlich?«

»Furchtbar gefährlich«, platzte Ohlensteevel heraus, indem er sein Gesicht in ernste Falten verzog. Die alte Dame seufzte tief. [113] »Ja, ja, eine grausige Zeit, dieses 1914/15. Bedenken Sie einmal: Ich bin nun eine alte Frau und seit sieben Jahren Witwe – –«

»Oha«, nickte Ohlensteevel grinsend, »also Mann über Bord.«

Die Trauernde vollendete nicht, was sie hatte sagen wollen, sondern seufzte nochmals, lehnte sich sodann müde ins Eckpolster zurück und schloß die Augen. In diesem Moment schlug die Toilettentür von innen auf und warf in unsere Stille einen Aufruhr von Harmonikatönen. Ein Kamerad aus dem Nachbarcoupé erschien, uns zu besuchen und musikalisch zu bewirten.

Es war ein ungewöhnlich schöner Bursche, geschmeidig, verwegen, geradeausblickend und – einer von den Menschen, denen man unermüdlich zuschauen könnte, weil sie sich jederzeit mit ungezwungener Zweckmäßigkeit und darum wohlgefällig, schön bewegen. In der Division fürchtete oder kannte man ihn als einen vielbestraften, tollkühnen Matrosen, der sich aus einer schlimmen Vergangenheit zur See geflüchtet haben sollte. Seine Sprache klang rauh und roh.

Dieser Mann hub auf meine Bitte hin ohne Umschweife ein bestimmtes Volkslied zu spielen und zu singen an, mit einer Hingabe, welche der Sentimentalität des Liedes alles Lächerliche entzog.


... Hörst du nicht der Wellen Tosen?
Ihr Gebrause macht mir Schmerz.
Die Gesänge der Matrosen
Die zerreißen mir das Herz ...

Ich glaube, unser aller Augen hingen mit etwas weniger als Liebe und etwas mehr als Wohlgefallen an den seinen, die schwarz und glänzend waren wie sein Haar. Und weiterspielend, nun aber nicht mehr dazu singend, sondern gleichsam spöttisch pfeifend, verließ er uns jedoch unversehens wieder, auf demselben Wege, den er gekommen war. Alles an diesem Burschen übte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich aus, selbst sein Name. Er hieß Wegerich.

Indem nun seine Musik hinter der geheimen Tür verhallte, ward in unserem Frauengemach ein weitausholendes Schnarchen auffällig. Hein Pänk röchelte so, klaffenden Mundes. Sein Oberkörper hatte sich auf der Bank zur Seite geneigt, derart, daß die abgeschliffenste Fläche von Hein Pänks Uniform prall der Witwe zugekehrt wurde. Sie schien das nicht zu bemerken, hingegen mit stillem Vergnügen den Signalgast zu beobachten, der sich angelegentlich [114] damit beschäftigte, aus einem Wust von Zeitungspapieren, der auf seinem Schoße balancierte, die erstaunlichsten Eßwaren herauszuschälen: Brot, Käse, Gurke, Räucherfisch. Das Rütteln des Zuges erschwerte diese Arbeit; Ohlensteevel geriet des öfteren mit seinen granitnen Fingern tief in die Leberwurst, wußte sich indes immer wieder gelegentlich an der Unterkante des grünen Plüschpolsters zu säubern.

Draußen flog derweilen links und rechts unaufhörlich neue Welt an uns vorbei: Wiesen und Flüsse, Brücken und Städtchen, auf die wir herabsahen – Wälder, Dörfer und Landstraßen mit Spaziergängern, die uns frohe Zeichen gaben – Stadtplätze, wo unsertwegen für Augenblicke der Verkehr stockte – zwischen sauber weißen Gardinen Frauen im Morgengewande, die sich unseren ohnmächtigen Blicken dreist und lüstern hingaben – ich sah aus einem Dachauge, welches zu eng war, um einen menschlichen Kopf durchzulassen, zwei Kinderhände winken. Denn überall, für Sekunden, waren wir erwünscht, begehrt, geliebt, willkommen, bewundert, gefeiert, waren wir Helden. Und die Hunderte von Köpfen, welche unser rasselnder Transportzug herausstreckte, schrien und sangen, schrien noch lauter, wenn ein schönes Mädchen vor einem Stalltor ihnen zulächelte, grölten höllisch, wenn ein begegnender Zug ebenso lärmende, feldgraue Kameraden von der Armee donnernd vorüberriß. Und die Bänder der blauen Mützen flappten gegen heißrote Backen.

Abermals, und vermutlich wieder aus Verlegenheitsgründen, hatte sich eine Unterhaltung zwischen unserer Dame und ihrem Gegenüber entwickelt. »Wie sieht denn eigentlich solche Mine aus, und wie funktioniert sie?«

»Ja-a-a – nun –«, erwiderte Ohlensteevel und verschlang ein Stück Gurke, größer als eine Zündholzschachtel, um Zeit zu gewinnen. Solchem Bestreben kam noch zu Hilfe, daß Hein Pänk plötzlich von einem Hustenanfall erschüttert ward, der die verblüffende Wirkung hatte, einen ansehnlichen Bolzen Kautabak aus dem Munde des Schläfers zu befördern, ohne daß dieser darüber erwachte. Nein, er drehte sich noch stärker sägend auf die andere Seite und zog sogar die Füße auf die Bank, so daß das Trauergewand bedroht wurde.

»Eine Mine –«, setzte Ohlensteevel langsam, ernst ein; er beugte sich dabei ganz nahe zu der Dame hin, etwa so, wie man in ein Telephon spricht, auch vergaß er nicht, geräuschvoll weiterzuspeisen. [115] »Eine Mine ist ungefähr so groß wie ein Haus, und sie ist durch und durch mit Pulver gefüllt, und oben sieht sie aus wie eine Insel; da ist sie nämlich wie ein Gebirge geformt und grün angestrichen, und es sind auch richtige Blumen und Palmen dran angebracht. Na, und dann wird sie irgendwo im Meere verankert, und dann fährt das Schiff wieder weg, und nur ein Mann bleibt auf der Insel zurück, wo keine Insel ist, und der ist aber als englischer Matrose verkleidet.«

Gespannt hörte die Dame zu. Strohsahl und ich blickten angestrengt durchs Fenster. Der Maschinistenmaat floh, das halbe Taschentuch im Munde, ins Nebencoupé. Ohlensteevel fuhr langsam, ernst und immer kauend und schlingend in seiner Schilderung fort: »Na, dann kommt meinetwegen ein englisches Schiff und sieht die Insel und denkt, es hat sich verirrt, und kommt näher, und der Matrose winkt und ruft dann hinüber, er habe Schiffbruch erlitten und sich auf die Insel gerettet, und man soll ihn doch an Bord nehmen. Selbstverständlich kommt das Schiff nun heran, weil es sich eben um einen englischen Soldaten handelt. Na, und in demselben Augenblick, wo das Schiff an der Insel anlegt, schlägt der verkleidete Matrose mit einem Hammer mit aller Kraft auf die Pulverinsel, und die ganze Insel mitsamt das Schiff fliegt in die – –«

Die alte Dame schrak zusammen. »Aber, mein Gott, dann ist ja auch der Matrose – –«

Jetzt hielt es der Signalgast selbst nicht länger aus. Seine Lippen platzten unter einem schmetternden Lachen auseinander und sandten der schwarzen Dame einen Sprudel von feuchten Speisekrümeln ins Antlitz. – Ein Kampf zwischen Mitleid und Lachmuskeln verursachte mir Pein. Ich wagte meinen Kameraden gegenüber energischen Protest, zumal Hein Pänk jetzt im Schlafe mit der bedauernswerten Frau wie mit einem überhitzten Bettwärmer verfuhr.

Ich sprach zu ihr, aber sie traute wohl meiner unmaritimen Redeweise nicht recht, denn ihr Lächeln war und blieb vorwurfsvoll und bat um Schonung. Übrigens verabschiedete sich die Dame bald, als wieder einmal der Zug hielt. Wir halfen ihr eifrigst beim Aussteigen. Ohlensteevel hob die zierliche Figur leicht und behutsam wie eine Porzellanterrine aus dem Coupé, und Strohsahl reichte ihr – – – wollte ihr einen Handkoffer herausreichen; es geschah ohne Absicht, daß ihm der Koffer entglitt, weshalb der [116] Maschinistenmaat, um ihn wieder herbeizuschaffen, auf allen vieren unter den Wagen kriechen mußte.

»Alles einsteigen!« – Pfiff – Schwaps; die Tür schlug zu; wir waren unter uns.

»Hu, das war ganz was Vornehmes«, sagte Strohsahl aufatmend.

Der Maschinistenmaat zuckte die Achseln. »Sie sah aus wie ein Ferngefecht an Backbord.«

»Nein«, meinte Ohlensteevel, »wie eine Kohlenschute am Ostersonntag.«

»Ohlensteevel«, rief ich, »du verrotteter Saufisch, wenn die Alte eine Admiralsgroßmutter gewesen ist, wird sie dich hoffentlich für vierzehn dicke Tage in den Tank bringen.«

Ohlensteevel und Strohsahl (beide und auch Wegerich starben zehn Tage später – den Heldentod fürs Vaterland) warfen sich jetzt über Hein Pänk und weckten den mit Püffen und Geschrei. Später wurden die Fenster herabgestoßen. Wir sahen hinaus auf die sonnigen, wechselnden Landschaften. Feldarbeiten – eine Luftschiffhalle – Schulkinder, uns zujubelnd – eine Fabrik, alle Fenster dicht mit Gesichtern besetzt – eine Arbeiterfrau, die ihr Jüngstes hochhob – in einem wohlgepflegten Garten ein stattlicher, weißhaariger Herr, der tief den Hut vor uns zog – wehende Taschentücher –.

»Wenn wir so vorbeisausen«, miaute Hein Pänk gähnend, »sind alle Leute freundlich zu uns, und in der Garnison lassen sie unsereinen ganz außenbords liegen und tun, als ob wir giftig wären.«

Ich sann über diese Beobachtung nach. Es kam mir in Erinnerung, daß ich einmal als gewöhnlicher Bootsmaat auf Urlaub in München einen Hauptmann in der Trambahn militärisch gegrüßt und dieser zu meiner Überraschung mit einer Ehrenbezeugung erwidert hatte, wie man sie sonst nicht Untergebenen sondern Vorgesetzten erweist.

Nordseemorgen 1915

»Wung! Wung!« bellen ferne Kanonen.

Auf der Brücke des kleinen Vorpostenbootes, das in der glanzlosen Helle knapp vor Sonnenaufgang vor Anker hin und her schweut, [117] lehnt gegen das Ruderhaus ein dicker steifer Wachtmantel. Klobige Fausthandschuhe ragen aus ihm heraus und auffallend selbständige Stiefel und ein rotes, nebelfeuchtes Matrosengesicht. Abgesehen von den beiden Augen in diesem Gesicht schläft der Wachtmantel samt Drum und Dran innerhalb der Grenzen seiner Dienstpflicht nach bestem Vermögen. Aber eben diese Augen! Rastlos und unermüdlich kreisen ihre Blicke, den Strahlen der Leuchtboje gleich, welche dort draußen ihr treues Einsiedlerleben vertrotzt.

Die ruhige Stunde entfaltet ihre eigene Pracht. Des Meeres mattgraues Gewand bewegt sich in sanften Tälern und Hügeln, als atmeten darunter tausend Lungen. Und die Strömung führt stetig unterschiedliche, fremde Dinge auf Reisen links oder rechts an dem Dampfer vorbei, der wie ein angekettetes Ungetüm mißtrauisch und schwerfällig an seiner Fessel ruckt: Reisigstücke, verworfen und mißachtet, niemand mag sich erinnern, daß sie einst so viel duftige Schönheit getragen haben; eine offene Blechdose voll Spuren von Putzpomade, immer wieder kippt sich das winzige Ding über die drohenden Kämme der Dünung hinweg. Den gleichen Weg wandert eine hölzerne Bank, die ihre vier Beine naiv gen Himmel streckt; und ein unerkennbarer Gegenstand; einmal auch eine Marinemütze, in ihr Band ist der Name eines berühmten Generals aus dem Befreiungskriege gestickt, und Korkbrocken und Kombüsenabfälle. Möwen umflattern spähend diese Speisereste, umkreisen sie vielmals, ehe sie in anmutigen Kurven herniedergleiten und, dicht, ganz dicht über der hüpfenden Welle mit den weichen Schwingen ihren Flug hemmend, sich einen Bissen erschnappen.

Heute nach tagelangem, gigantischem Wüten gibt sich die See wieder mild und gütig. Sie setzt einen erschöpften Papierstreifen barmherzig auf die Ankerkette des Wachtbootes ab. Und der müde Zettel klammert sich um die kalten Kettenglieder und weint in blauen Strähnen Worte einer Mutter ins Wasser: »– dieser großen, grausamen Zeit. Ich ... Nacht, daß Gott unserem tapferen und ... terlande beistehen und dich ... letzten Sohn erhalten möge. Sei ... und innig umar ... alten schwerbesorgten – –.«

Gleichmütig streifen die Blicke des Postens das Meer und sein Treiben, gleichmütig den ernsten Himmel, wo schon sacht die Morgenröte erblüht. Sie haften wohl einen Moment fragend an einem Maste, der hinter dem weiten Kugelstück aus der Nordsee auftaucht, bis ein buntes Tuch ihnen zuruft: »Wir sind es, [118] Landsleute!« Dann irren sie mit befriedigtem, aus Eifer nahezu verachtungsvollem Ausdruck weiter. Sie bleiben ein andermal vor einem verankerten Panzerkreuzer stehen, dessen Scheinwerfer zu zwinkern anfängt, und lauschen ein Weilchen den Neuigkeiten, welche ein unsichtbarer Bote durch die Luft aus dem Osten gebracht hat. Viertausend Russen gefangen. Schützengräben gestürmt. Luftgefecht zwischen Fliegern. – Lauter Nachrichten, die auf den Brückenausguck nur flüchtigen Eindruck machen. Was dessen Augen suchen, hartnäckig, mit grimmer Sehnsucht suchen, sind Lichter und Flaggen von besonderer Farbe oder Zusammenstellung, sind bestimmte Gegenstände und Zeichen im Wasser, in der Luft und an dem mehr und mehr zurückweichenden Horizont, sind unter anderem jene inzwischen verstummten, fernen Kanonen. England, wo bleibst du?

Bis in die Stille, welche die Brücke umträumt, reicht das Verhallen von Zithermusik. Unten, vor der dienstbereiten Maschine spielt ein Heizer ein Lied seiner Heimat, ein schwermütiges Lied aus den bayrischen Bergen.

Nun richtet sich der Qualm überm Schornstein zu einer schwarzen, wirbelnden Säule in die Höhe und streut feine, warme Ascheteilchen über die Brücke und den Posten, der sich alsbald in schweren, schurrenden Tritten zu rühren beginnt. Im Vorderschiff unter Deck melden schrille Pfeifensignale eine schleppende, brutale Kommandostimme an, die nach verschiedenen Richtungen drei-, viermal wiederholt: »Reise Reise! Ü-berall zurrt Hängematten!« Dann erwachen andere Töne und Geräusche: langes Gähnen in den unanständigsten Variationen, mürrisches Brummen und Schelten, das sich verdichtet zu einem undeutlichen Durcheinanderreden. Etwas später öffnet sich eine Luke und läßt einen nackten Mann und einen Schwall vielartigen Gelächters an Deck schlüpfen. Der Nackte schwinkt ein Messer in der Faust, sein Gesicht ist bis an die buschigen Stirnhaare mit Wolken von Seifenschaum bedeckt, außerdem trägt er eine Briefmarke auf dem Hinterteil. Fröstelnd läuft er auf Holzpantoffeln klapp klapp über die Eisenplatten, um mit dem Fluche: »Gott strafe England!« im Heizraum zu verschwinden. Nach ihm steigen andere, nur mit Hosen und Schuhwerk bekleidete Männer, Seife und Handtuch in Händen aus der Versenkung und schaffen schleunigst Holzpützen herbei. Der Pumpschwengel kreischt und quietscht. Die Seeleute beugen sich prustend über die Eimer und ziehen sich bald wieder zurück, unter [119] Deck. Dort, in dem tabakdunstigen Raume, zwischen Seestiefeln, Blechtellern, Ölröcken und Hängematten, welche ausgestopften Seehunden ähneln, hebt jetzt Caruso, der weltgefeierte Caruso, einen Gesang an. Kaffeekessel überklappern sein »Lache, Bajazzo!« Die Schiffsglocke schlägt. Eine allseitig abgeblendete Laterne schnurrt am Maste herab. Vor der Küche tanzt der Koch mit einem Tiegel einen salonberechtigten Tango und grölt: »Hurra, Jungens, morgen geht's auf Urlaub!«

Auch die See regt sich munterer, trägt ihr Strandgut rascher dahin und stößt es gelegentlich im Vorbei heftig gegen den Bug oder die Bordwände des Dampfers. Jetzt schleppt sich etwas Rundes, Graues daher. Etwas Rundes, Graues. – Die Blicke von der Brücke spießen es auf und lassen es nur unwillig noch einmal los, um ein in ziemlicher Entfernung passierendes Unterseeboot zu fixieren, auf dem jemand mit roten Fähnchen herüberwinkt. Der plumpe Wachtmantel wird erstaunlich behend. Wie denn auch Elefanten überraschend flink sein können. Also der Posten ergreift ebenfalls zwei Fähnchen, klettert geschwind auf das Ruderhaus und gibt seinerseits Zeichen nach dem U-Boote hin. In der Sprache der roten Fähnchen entwickelt sich ein kurzer Dialog. Ein hinzugerufener Maat setzt ein Doppelglas an und kontrolliert.

»Vorpostenboot! Vorpostenboot! hör zu!« ruft das Tauchboot.

»Ich bin ganz Ohr!« erwidert das Wachtboot.

»Wir haben«, berichtet das vorbeifahrende Schiff, »einen Kohlendampfer gekapert –«

»Ich verstehe!« wirft das Wachtschiff ein, und das U-Boot spricht weiter: »Wir wurden verfolgt. Achten Sie auf treibende Mi – –«

Zzank! Hier wurde das Gespräch unterbrochen durch einen furchtbaren Ton. Es klang – ja, wie klang es? Vielleicht so, als habe die ungeheure dröhnende Stimme eines Dämonen kurz und scharf das Wort »Zank« ausgesprochen.

Dem U-Bootmatrosen entfallen die Fähnchen. Er sieht – statt des Dampfers – einen mächtigen, zackigen Eisberg oder ein vieltürmiges, gläsernes Schloß gotischen Stiles, das aus dem Wasser emporgeschossen ist und etwa eine Minute in der Luft steht.

Eine Minute, die einmalige Umdrehung des Sekundenzeigers, welche der Sehnsucht oder Gefahr so lange dauert, wie blitzartig vergeht sie der Verwunderung, dem Staunen.

Es ist wieder verschwunden, das Schloß, zurückgesunken. [120] »Hart Steuerbord!« schreit der Signalgast, »hart Steuerbord!« schreien andere Leute des U-Bootes. Und dieses dreht bei.

Eine flache, mit einem Türmchen versehene Stahlschiene, schlitzt es in äußerster Fahrt die sich bäumenden Wogen. Aber es findet nichts mehr von dem Vorpostenboot. Nur Kohlenstaub und Ölflecken schaukeln an der Stelle, wo das Wachtschiff vor Anker lag, auf dem Wasser in gewissen leichthin aber rhythmisch gerissenen Schlangenlinien, wie sie auf den Vorsatzpapieren alter Bücher zu finden sind; und eine Menge toter Fische treibt umher. Auf einmal geht ein blendendes Flimmern über die See, schillern die Ölflecke und toten Fischleiber heller und bunter in Farben des Regenbogens.

Wärmend und tröstend, mit all ihrem Zauber, steigt die enthüllte Sonne auf. Es ist dieselbe Sonne, welche über Nelson, über Columbus gestrahlt, welche die Wikinger begleitet hat, – die Sonne Homers.

Totentanz

Da blieb es nun abwartend auf dem Grunde des Meeres liegen, das Unterseeboot, und lächelte vor Sicherheit über die feindlichen, armierten Fischdampfer, die dreißig Meter darüber wütend nach ihm ausspähten.

Die Besatzung speiste, erstaunlich viel und erstaunlich gut, dann suchte ein Teil dieser gesundheitsprahlenden Menschen in Bänken, Spinden, in der Wand oder in der Luft ihre Schlafstätten auf. Die übrigen Seeleute, darunter der Kommandant, rückten beinahe familiär am einzigen Tische zusammen, und während ihre geringschätzigen Blicke vergeblich die alles überwuchernde, wunderbar wirre Maschinerie loszulassen trachteten, dachte gewiß jedermann leidend an den Tabak, der nicht geraucht werden durfte.

Darüber entstand der Wunsch, die Zeit irgendwie froh gemeinsam zu vertreiben. Schach? Nein. Skat? Der dritte Mann sägte bereits im Schlafe Tekholz oder so etwas. Heizer Karper schaffte das Grammophon herbei. Matrose Schreyer schleppte das Grammophon sofort wieder weg im stummen Beifall aller. Nur noch eine Platte war gebrauchsfähig, die kreiste täglich zehn- bis zwanzigmal. Man hatte an Bord keinen Respekt mehr vor dem [121] Kammersänger Heinz Lebrun. Man pfiff oder trommelte mit Holzpantoffeln und Tischmessern zu seinem ewigen Liede: Wenn dir ein Mädchen recht gefällt, und sie hat einen andern, dann ist's am besten, in die Welt zu wandern. –

»Soll ich einmal mit euch die russischen Schlachtschiffe durchsprechen?« fragte der Kommandant. Doch dieser Vorschlag erfror und weiteren Vorschlägen erging es nicht besser, ob der Indolenz und einer frivolen Sucht der Mariner, jedwede Sache ins Lächerliche zu zerren. »Ich werde an meine Memeler Berta schreiben«, wandte sich Lüng an den leitenden Ingenieur, »wollen mir Herr Aspirant das nicht mal 'n bisken aufsetzen, von wegen das Göhr, und daß ich mit Felix Pillak losen will, wer der Vater ist?« Der Aspirant grinste. Hammerbruck gähnte. Karper schwankte in Gedanken faul, ob er das fleckige, in Segeltuch gebundene Heft hervorkramen sollte, worein er sich »Tetsches Hochtid«, »Die Negerbraut« und andere eindrucksvolle poetische Stücke gesammelt hatte.

Grössel, der neue Torpedermaat, den man noch nicht anders als einsilbig kannte, hatte sich auf der Steuerbordbank hintenüber gelehnt und die Augen geschlossen, schlief aber offenbar nicht, denn er kaute seiner Gewohnheit nach einen Stengel Vanille zwischen den Zähnen durch. Die andern am Tische machten sich aus Langerweile über ihn lustig. »Piter Grössel zieht seine Sargdeckelvisage.« »Er hat wieder zu tief in die Kömbuttel gepeilt«, spaßte der Olle. Auch unter Seeoffizieren ist es Brauch, sich dann und wann durch unkomplizierte Witzchen populär zu machen.

»Nee, ik glöve, he het's mit de Angst kregen«, krächzte Felix Pillak, »he is bang.« Und Hammerdruck spottete: »He drümt von Ruhm un Ehr und vom isernen Krüz.«

Schreyer fügte in anstrengendem Hochdeutsch und mit besonders schlauem Ausdruck hinzu: »Torpedermaat ist melangscholisch. He denkt an Seemansgrab oder hat Sehnsucht nach sin Fru.«

Solche Bemerkungen lohnte man regelmäßig durch ein tölpliges Gelächter, welches Grösseln feindseliger vorkam, als es war, welches immerhin aber nicht einer gewissen provozierenden Grausamkeit entbehrte.

Der Torpedermaat öffnete die Augen, und die Tischgesellen waren reichlich gespannt auf seine Entgegnung. Denn Grössel hatte ganz speziale Ansichten, so gewählte Ausdrücke und so, und [122] wenn er redete, gab es wenigstens stets Neues zum Belachen. Nun ließ er seine Blicke zugespitzt durch die Runde marschieren und hub dann mit überraschender Ruhe an: »Ihr habt recht. Ich dachte an meine Frau und sann melancholisch über Krieg und Angst und Ruhm und Schrecken nach, und ich habe vordem heimlich Rum getrunken, was ich oft tue, wenn mich die Furcht befällt, ich könnte jemals in unserer Seeinsamkeit so feinfühlig, klugdenkend und wahrheitsliebend werden, als ihr seid. – Laßt euch genauer erklären, was mich soeben beschäftigte; es ist die Geschichte, wie ich mit dem Kreuzer ...«

»Kennen wir!«

»Wissen wir längst! Wie ihr auf die Mine ranntet und du später bewußtlos durch ein V.-boot von einem Scheibenfloß aufgepickt wurdest.«

»Dat hest du all fofftein mal vertellt.«

»Nur das äußere Allgemeine. Doch dahinter steckt mehr, was ich euch gern mitteilen möchte, weil – – hm, wozu ein weil?«

»Na, dann lög mal too!« Die Seeleute am Tisch vereinbarten durch geheime Püffe und Augenzwinkern, die angekündigte, angeblich wahre Historie möglichst zur allgemeinen Belustigung auszubeuten.

»Als die Detonation erfolgte« – Grössel nahm die Vanille aus dem Munde und sah, Wort für Wort mit Überlegung berichtend, fortan über die Köpfe hinweg ins Leere – »befand ich mich mit einem Deckoffizier und dem Matrosen Leske im Zwischendeck an der Kantine ...«

»Er soff also mal wieder!« warf der Aspirant lachend ein.

»Leske, der – er tanzt – ich haßte Lesken. Ich kannte ihn bereits vor dem Kriege. Er hat meine Frau behext.

Er tanzte leidenschaftlich, und meine Frau verehrte den Tanz geradezu inbrünstig. Ich selbst goutiere diese Kunst nicht, weil ich ein ungeschickter Tänzer bin. Aber meiner Frau zu Gefallen führte ich ihr auf einem Vereinsball Herrn Leske zu, der gleich mir den Beruf eines Buchhändlers ausübte und mit dem ich als Kollege früher, allerdings mehr geschäftlich, zu tun gehabt hatte.

Ich schaute zu, als er und meine Frau tanzten. – Es war wie Meeresdünung, wie Möwenflug.

Hatte ich bisher geglaubt, der Tanz sei eitel Übermut und stimmte zur Lustigkeit, so beobachtete ich nun überrascht, daß meine Frau und ihr Partner in einem jener modernisierten [123] exotischen Tänze aneinander geschmiegt, in Haltung und Bewegung gleichsam einander ergänzend, fragend und antwortend, daß sie weder einmal lächelten, noch auch nur eine Silbe mitsammen redeten; daß vielmehr während dieses langwährenden Kreisens, vor dem sich alle anderen Paare wie bewundernd zurückgezogen hatten, ihre Augen mählich einen wunderlichen Glanz von Schwermut annahmen. Das war es wohl, was mich auf die närrische Idee brachte, sie mit zwei vom Strudel Ergriffenen, die treu umschlungen hinaus in die offene See gerissen werden, und mit einem gestorbenen Geschwisterpaar zu vergleichen, das ein Engel auf Fittichen zum Himmel trägt ...«

»He snackt as 'n Fiefgroschenroman«, unterbrach Felix Pillack, und einige von den anderen stießen ein Gelächter auf, welches der Kommandant jedoch durch einen gutmütigen Wink abschnitt.

»Ich sah also den beiden Tanzenden zu, anfangs, sie froh wähnend, mit Freude, später eigenartig ergriffen, aber, bei Gott, durchaus ohne Eifersucht. Die war mir bis dahin fremd geblieben. Ich hatte mit Elsen in einem unbefangenen, ich möchte sagen, durchsichtigen und uferlosen Glücke gelebt; mehr innige Freunde als Gatten. An jenem Festabend ging das entzwei. Felix möchte vielleicht nicht mit Unrecht wieder behaupten, es vernehme sich wie ein Groschenroman, wenn ich ausführen wollte, wie meine Frau seitdem stiller, verschlossener und nach und nach kränklich wurde, wie ihre verweinten Augen mich erschreckten und ich mir über die Ursache ihres uneingestandenen Kummers, die möglicherweise anfangs noch ein unbewußtes Sehnen war, Sorgen machte; wie ich umsonst alles aufbot, Elsen zu beglücken, sie zu heilen, und wie häßlich, drückend sich die Wochen hindehnten, bis ich herausbrachte, daß Leske, der Tänzer, es meiner Frau angetan hatte, er, der keine zehn Worte mit ihr wechselte. Sie bekannte es nie. Aber während wir einst einen Schloßpark querten, brach sie in Schluchzen aus, da sie, auf einen Busch Hortensien deutend, unvermittelt mir zurief: ›So marmorn vornehm bist du! Aber ich – –‹. Und ein andermal flüsterte sie im Schlafe deutlich vernehmbar den Namen Leske.«

Lacht nicht! Die von euch selbst verheiratet sind, mögen sich vergegenwärtigen, welchen Reichtum an Jugendhoffnungen und Idealen, an wonnewilder Männerfreiheit und bunten, lebenstrunkenen Freundschaften wir hingaben, da wir heirateten, und wie eisig uns eines Tages die Erkenntnis anwehen [124] muß, daß wir dieses Unersetzliche für einen Trug opferten.

Als mich solchermaßen jähe, frostige Klarheit überfiel und ich mir augenblicklich die Beobachtung rekonstruierte, Else habe mich seit langem lieblos behandelt, da mischte sich ein harter Groll in meine Liebe zu ihr. Es war, als blickte ich verwünschend und weinend vom abendlichen Ufer einem entschwindenden Segel nach, mit dem ein Seeräuber mein Liebstes entführte.

Ich fing an, diese Frau und unser Töchterlein mit Vorwürfen und Argwohn zu quälen. –

Sie ertrugen's stumm und geduldig; das reizte noch mehr.

Leske ist niemals unser Gast gewesen. Seitdem er auf jenes Fest hin mir eine einfache lobende Artigkeit betreffs der Tanzmeisterschaft meiner Frau geschrieben hatte, sah und hörte ich für Monate nichts mehr von ihm und mied ihn. Heute meine ich, daß er, von seiner Tanzbegeisterung abgesehen, weiter kein Interesse an meiner Gattin nahm. Damals, durchs Prisma der Eifersucht, sah ich anders. Als dann der Krieg mich von Weib und Kind trennte und zufällig zum Vorgesetzten meines vermeintlichen Rivalen machte, da ließ ich einen rohen Haß auf diesen Mann los, indem ich, die mir zu Gebote stehende Macht ausnutzend, ihn schikanierte, drangsalierte, wo immer sich Gelegenheit bot. Oft drohte es meinen Verstand zu zerstören, daß auch dieser Matrose meine Verfolgungen ohne Widerspruch hinnahm, ja, sie gar nicht zu erfassen schien. Derweilen, und bis heute, führte ich mit meiner Frau eine nicht zu umgehende, erquält gefällige, schleppende Korrespondenz. Und doch liebe ich diese Frau. Wie ich sie liebe! – – Ei, wohin gerate ich? – Nun lacht! – Lacht doch! –

Leske konnte so lachen. Immerzu lachen, und singen und tanzen. Ach, wie haßte ich diesen kritik- und gehaltlosen Frohsinn an ihm und den meisten anderen Leuten.

Leske war nie verdrossen. Er wartete, wenn wir einliefen, stets als Erster zur Urlaubsmusterung angetreten, ein schneidig angezogener, sehniger, hoher Bursche, dem ein unbezwingbares Verlangen nach den billigen Landvergnügen der Matrosen aus den Augen blitzte. Dabei doch jederzeit ein eifriger Soldat, ein flinker Seemann. – Hm.

In einer stillen Stunde, am Tage, da wir die englischen Häfen beschossen hatten, – ja, ein winziges Insekt, eine Fliege war es, die meinen Gedankengang zur Reue lenkte, – sah ich meine Ungerechtigkeit ein, bekannte ich vor meinem Gewissen, daß die [125] ausfüllende Freude an den anspruchslosesten Amüsements mich nur deshalb ärgerte, weil ich den Weg zu ihr nicht fand, weil ich Lesken samt seinen Gleichgesinnten darum beneidete. Ich hatte mich in der Zeit vorangeträumt und angenommen, Leske sei in einem Gefecht gefallen. Da dünkte mir auf einmal, sein leichter Frohmut habe etwas kindlich Rührendes, fast Heiliges gehabt.

So tappen wir in den engen Straßen der Stadt an manchem schönen Haus neunundneunzigmal achtlos vorüber, bis wir beim hundertsten Male vom rechten Abstand aus unvermutet gebannt seine Reize erschauen.

Also von da an behandelte ich den Matrosen mit Herzlichkeit. Er nahm solches Wohlwollen mit demselben höflichen Gleichmut auf wie bisher meine Feindseligkeit. – Kurze Zeit nachdem zwang Nebel unser Schiff, abends dicht vorm Hafen noch zu ankern. Ich trat im Zwischendeck an die Kantine heran, um Zwirn zu kaufen, im Wahrsten, um Lesken, der dort im blauen Urlaubsstaat pfeifend auf und ab lief, ein Freundliches zu sagen. Bevor ich jedoch noch hierzu kam, stürzte ein Deckoffizier heran, forderte aufgeräumter Laune einen »Polargestimmten« und rief dem Matrosen zu: »Na, Glückwunsch, Leske! Ihre Paradebüchs hat's Wetter umgestimmt. Die Luft klart sich, wir lichten Anker.«

Leske antwortete nur mit einem glückseligen Wiegen des Oberkörpers, das ein unbeschreibliches, wehes Gefühl in meiner Brust bewirkte. –

Tanz. –

Ich habe das nicht vergessen trotz der folgenden gewaltigen Ereignisse. Denn unmittelbar danach geschah die Explosion. Ein gräßlicher Schlag, ein minutenlanges schauriges Prasseln, Splittern, Krachen und Rauschen.

Sämtliche Lampen waren auf eins verloschen. Der Boden entglitt meinen Füßen, ich bekam in der Finsternis einen Stützen zu fassen, hatte den blitzartigen Gedanken, es sei merkwürdig, daß ein großer Kreuzer auf See genau so umkippe wie ein Spielzeugschiff auf dem Kindertisch. Darauf wurde ich von eisiger Flut eingehüllt, erinnerte mich konzentriert einer Deckschiene, die zum Aufgang des Zwischenraums leiten mußte, ertastete diese Schiene, enterte mich in höchster Anstrengung und Angst, ohne zu atmen, daran entlang – und auf einmal stieg ich, erreichte die Luft. Die göttliche Luft.

Es war auch hohe Zeit, denn schon begann es in den Schläfen zu [126] hämmern. Nun schwamm ich, gerade zu, immer geradezu, vor mir und zu beiden Seiten Nebel und Wasser in einer erbarmungslosen Färbung vermengt. Darin rudernde Arme, rote, keuchende, schreiende Gesichter. Bis ich des Flosses mit der Pängscheibe ansichtig wurde, welches wir für Schießübungen an Bord geführt hatten. An dem eisernen Bügel zog ich mich hinauf. Am anderen Ende hing schon jemand festgekrallt; es mußte der Decksläufer sein, denn er war mit dem Seitengewehr umgürtet. Das bemerkte ich sofort, obwohl ich Mühe hatte, mich selbst auf dem Gebälk zu balancieren, das durch meine Last sich bedenklich unter die Wasserfläche drückte. Meine Sinnenkraft schien verzehnfacht, ich vermochte gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen hin die geringsten Einzelheiten wahrzunehmen.

Wir, das heißt: das Floß und im eng vom Nebel begrenzten Umkreise mehrere Schwimmer, die auf uns zustrebten, wurden von der Strömung langsam davongetragen; zu meinem Schrecken ließen wir ein Geräusch von Ruderschlägen und Kommandostimmen hinter uns zurück.

Der Läufer und ich: wir sprachen uns nicht an, unser Atem war noch zu aufgebracht. Wir hingen an dem Bügel und verfolgten kalten Auges das Schicksal der Menschen im Wasser, die sich auf uns zuarbeiteten, würdelose, krasse Selbstsucht in den Mienen und mit käferhafter Brutalität, wenn sie zusammengerieten. Nun griff der vorderste von ihnen nach dem Floß, und dieses sank mit uns rasch unter. Aber wir tauchten wieder empor, der Läufer und ich noch am Bügel. Der Dritte hatte losgelassen, schwamm neben uns her und versuchte von neuem, die Pängscheibe zu erreichen. Ich wollte abwehren. Das Floß trüge uns drei nicht. Ich blieb vor Kälte stumm und regungslos. –

Könnte ich das angstvolle Gesicht vergessen und die verzweifelte, violette Hand, die nach dem Bügel haschte.

Sie faßte ihn. Aber der Läufer riß im Nu sein Seitengewehr heraus und tat einen entsetzlichen Hieb.

Danach war der dritte Mann nicht mehr da. Seine gekrümmte Hand jedoch, mit blutigem Gelenkstumpf, hing noch mehrere Augenblicke lang am Bügel, bis sie als ein kraftloser Gegenstand herabfiel.

Mittlerweile hatte sich die Zahl der um uns herum im Wasser ringenden Seeleute vermindert; die Strömung oder Kopflosigkeit hatten sie zerstreut, viele mochten erschöpft in die Tiefe gegangen [127] sein, andere verbarg die dicke Luft. Aber während wir mit dem sich sanft um seine Achse drehenden Floß stetig weiterschlichen, zeigten sich neue Bilder des Unglücks und verloren sich wieder im grauen Dunst.

Da trieb ein Hund; er hatte an Bord dem Oberfeuerwerker gehört und uns oft zur Kurzweil gedient. Dieses Tier und ein Leutnant schwammen einander entgegen, ganz nahe von uns, so daß mir deutlich der Ausdruck in beider Augen auffiel: der Leutnant in einer fast tierischen Gier etwas zu packen, was ihn über Wasser hielte, der Hund mit einer herzergreifenden, flehenden Hilflosigkeit. Welche Szenen! Da ruderte der Lotse, der dicke, dreiste Kannebier. Plötzlich hob er die Arme, schrie mit durchdringender Stimme: »Jesus Maria, meine arme Frau!« und sackte ab.

Für das alles hatte ich Augen, ich, der ich fror, schrecklich fror, mit den Zähnen klapperte und nicht wußte, wo wir hinsteuerten, – für mich nur den instinktiven Vorsatz: Halte fest und rühre dich nicht! –

Der Läufer drehte mir den Rücken zu. Noch immer hatten wir kein Wort gesprochen. Es grauste mir vor dem Manne, der den Arm durchschlagen hatte. Er schwang noch die blanke Waffe in der Rechten. ›Laß uns laut schreien‹, rief ich ihn endlich an. Er wandte sich um.

Schauerlich! Offenbar hatte ihn der Wahnsinn befallen. Seine Augen waren herausgequollen, das Gesicht grünlich, und aus seinen Mundwinkeln floß dicker, ekelhafter Schaum.

Er entgegnete, nicht laut, aber in einem unerhört grauenhaften Tone: »Wenn du schreist, stech ich dir das Hirn aus, Brüderchen.« –

Ich war bereits gelähmt von der eisigen Kälte. Ich wollte einen Plan bauen für den Fall, daß mich der Wahnsinnige angriffe, aber meine eigenen Gedanken brachen auseinander.

»Dann oder viel später kam für kurze Frist ein Toter in unseren Sichtbann, ein alter, weißhaariger Heizer, der mit angezogenen Armen und Beinen, mit offenen, glasigen Augen erstarrt auf dem Rücken dahintrieb. Sein Trauring glänzte. – Vielleicht habe ich später zeitweilig das Bewußtsein verloren; ich erzählte euch bereits, daß ich viele Stunden auf dem Floß zugebracht haben muß. Jedenfalls erwachte nach einem apathischen Zustande mein Erkennungsvermögen plötzlich, da ich mich bei klarem Wetter auf weiter, von einer kräftigen Brise gewellten See befand und nicht ohne Genugtuung den Läufer vermißte. Das Floß, dessen Metallstange [128] ich noch immer krampfhaft umklammert hielt, schaukelte lebhaft im Seegang, und in seinem Kielwasser gewahrte ich etwas Neues, etwas Gräßliches; einen toten Matrosen – Lesken. Ohne Zweifel war es Leske. Er hatte einen anderen Mann umschlungen, und in dem erkannte ich jenen weißhaarigen Alten wieder. Er lag über diesem Leichnam und unter ihm, sie drehten sich beide Brust an Brust in der wogenden Strömung umeinander. Auch Leske tot und steif, aber mit geschlossenen Lidern und die Arme wie im Tanze um den anderen Ertrunkenen verschränkt. Sie drehten sich – sie tanzten. Tanzten immerzu. Ich wendete mich ab, sah ein Boot und fiel wohl dann in Ohnmacht ...«

Der Sprecher pausierte und ließ wieder seinen festen, ruhevollen Blick kreisen. Einige der Zuhörer ertrugen diesen, andere senkten den Kopf. »Mir hat«, fuhr Grössel fort, »kürzlich ein Straßenmädel die Karte gelegt, eine fremde, aufgelesene Dirne, die nichts über meine Verhältnisse wissen konnte, ich trage auch keinen Ring; die prophezeite mir unter anderem, ich würde meine Frau nicht wiedersehen. – Nun ...«

Grössel sprach nicht weiter. Die Gesellschaft schwieg ernst, und weil sich eine gewisse Verlegenheit anmeldete, stand der Torpedermaat auf, zog das Grammophon hervor und stellte es an.

Heinz Lebrun sang mit weicher, reiner Stimme:


... Wenn dir ein Mädchen recht gefällt,
Und sie hat einen andern,
Dann ist's am besten,
Aus der Welt zu wandern. –

Bis das Lied ausklang, und darüber hinaus, bewahrten die lauschenden Seeleute eine aufrichtige, andächtige Stille – – dort unten, in dem Boote, dreißig Meter unter dem Meeresspiegel.

Auf der Schaukel des Krieges

»Der Kommandant läßt Ihnen sagen, daß – bitte, zeigen Sie einmal. – Gut, gut! Der Puls ist zahmer geworden – daß er Sie nicht weiter mit maritimen Fragen belästigen würde. Er ehrt Ihre Verschwiegenheit, aber bittet Sie herzlich, ihm, wenn Sie sich wohler fühlen, ein Stündchen Gesellschaft zu leisten und Ihren Mund wenigstens eben so viel zu öffnen, wie notwendig [129] ist, um einen ausgesuchten, neutralen Spaniolenwein durchzulassen.«

»Danke verbindlichst, aber ich bin abstinent.«

»Oh, Mr. Heinemann«, fuhr der englische Arzt fort, »warum so niedergeschlagen? Sie haben nicht kapituliert, Ihr Schiff bis zuletzt nicht verlassen. Es hat Sie verlassen, ist mit der Kriegsflagge an der Gaffel unter Ihren Füßen weggesackt. Wir zogen Sie als ohnmächtigen Schiffbrüchigen an Bord. Wir wollen Ihnen wohl. Es ist unser aufrichtiges Bestreben, Ihre Lage so angenehm als möglich zu gestalten. Sie haben in diesem Kriege als – verzeihen Sie – zweifellos sehr junger Offizier Hervorragendes geleistet und bleiben Ihrem Vaterlande auf ehrenvollste Weise für spätere Dienste erhalten. Freuen Sie sich also, daß Sie gerettet, und vergessen Sie, daß Sie gefangen sind. Ich ersuche Sie höflich, hinsichtlich Ihrer Bequemlichkeit wie auf Ihrem eigenen Schiffe zu befehlen.«

Der zwanzigjährige Führer und einzige Überlebende des torpedierten deutschen Vorpostenbootes erwies sich, obwohl erkenntlich, doch reichlich ungeschickt in der Konversation. Blasierten, fast kindisch ansprechenden Tones erkundigte er sich, ob seine Uniform schon trocken wäre, und äußerte im übrigen nur den einen Wunsch, sich an Deck aufhalten zu dürfen. Der Arzt wandte ein: das Fieber sei noch nicht völlig behoben, der Leutnant bedürfe vorläufig noch der Bettwärme, es wehe ein kalter Nordwest. Später, auf wiederholtes Bitten und nach reiflichem Bedenken, erlaubte man dem Gefangenen, für eine Stunde lang, in warme Decken eingehüllt, an Deck zu sitzen. Dazu wurde für ihn auf das Achterdeck ein weicher Klubsessel getragen, hinter welchem sich in geringer Entfernung ein Matrose aufpflanzte; zur Verfügung des Herrn Leutnants. Außerdem wurde ein zweiter Stuhl und ein weißgedeckter Tisch herbeigeschafft. Bald fand sich der Kommandant des Zerstörers ein. Liebenswürdig unterdrückte er die militärische Ehrenbezeigung des deutschen Offiziers und begann, diesem die Hand schüttelnd, sofort ein Gespräch über Schwimmwesten aus Guttapercha. Leutnant Heinemann beteiligte sich vorwiegend passiv daran. Meist pflichtete er nur den Ansichten des Engländers wortkarg bei und gab sein Lächeln hinzu, wenn dieser, ein imposant hoher und dicker Herr mit Glatze und rasiertem Kugelgesicht, einen Witz einflechtend, erschütternd lachte. Wenn er selbst redete, geschah es mit selbstbewußter Stimme und häufig [130] wie geistesabwesend, konfus. Er schaute dabei auch unausgesetzt mit seinen hellen Augen in der Richtung der Fahrt über das Meer, das grün-grau sich kräuselte unter einem Regen versprechenden Himmel.

Der Kommandant des Zerstörers vermochte nicht ein spöttisches Lächeln zu unterdrücken, als der Deutsche anfangs einmal seine spähenden Blicke rückwärts wendete. »Wir sind schon weit davon weg«, bemerkte er. »Übrigens: es blieb nichts übrig; nicht einmal Kleinholz. Leider! Wir hätten gern etwas Näheres erfahren.«

Nun lächelte der Leutnant über die offenherzige Bemerkung, die wohl ungewollt entschlüpft war.

»Nehmen Sie es nicht übel, Herr Leutnant, aber es war doch eine kuriose Torheit, mit einem Fischdampfer drei Torpedobooten und einem Zerstörer gegenüber Widerstand zu leisten.«

»Solche Torheiten haben Englands Flotte schon empfindlich dezimiert«, näselte der Leutnant. Sein ungeprägtes, einfarbiges Gesicht leuchtete einen Moment auf, aber dann nahm es rasch einen Ausdruck von bekümmerter Unruhe an. »Warum halten Sie immer noch nördlich? Warum bringen Sie mich nicht nach Westen ein?«

Der Engländer blinzelte schlau. »Sie wollen ja mir auch nicht sagen, was Sie veranlaßte, sich so weit ab von Ihrer Flotte in diese Gewässer zu wagen.«

»Aufklärung! Aufklärung! Wir riskieren etwas.«

Ein Steward baute eine Flasche Rotwein mit zwei Gläsern nebst Rauchutensilien auf den Tisch, und trotzdem Heinemann seinerseits entschieden ablehnte, ließ es sich doch der Kommandant nicht nehmen, beide Gläser eigenhändig zu füllen. »Nein«, sprach er, als der Steward sich entfernt hatte, »keine Aufklärung. Ich will es Ihnen auf den Kopf zu besser sagen: Sie hatten Minen an Bord. Nur bin ich mir nicht klar darüber, wo Sie dieselben warfen oder werfen wollten.«

»Sollte denn eine so kleine Mine, wie die meinige, Minen an Bord nehmen?« fragte der Leutnant zerstreut.

Der andere warf einen verdutzten Seitenblick auf das junge, bleiche Gesicht. Aber dem Deutschen entging das. Er stierte konstant an dem Engländer vorbei in eine wild verwirrte Flucht gewundener Qualmschwaden, die sich jetzt von den Schornsteinmündungen aus nach Backbord über das Meer wälzten.

[131] Sekundenlang, immer wieder, trat hinter diesem Rauchvorhang die See mit einigen farbigen, verstreuten Bojen und einem fernen Streifen Land hervor.

»Ihre Minenverankerung taugt nichts«, begann der redselige Kommandant von neuem.

»Ich muß es, wie erwähnt, prinzipiell ablehnen, mich über Militärisches oder Politisches zu äußern.«

»Ganz recht! Ich vergaß. Sagen Sie –: spielen Sie Schach?«

Statt zu antworten, griff der Deutsche auf einmal hastig nach dem vollen Rotweinglas, rief laut: »Mein Kaiser Hurra! Hurra! Hurra!« und leerte es in einem Zuge, um es dann über Bord zu schleudern. Der Engländer war aufgesprungen. Sein Gesicht rötete sich zornig. Aber er schien sich zu besinnen und zu beherrschen und nahm wieder Platz. »Ihr angeborenes deutsches Taktgefühl«, bemerkte er sarkastisch, »wird Sie begreifen lassen, daß ich in diesen Toast nicht einstimme. Aber – hallo, was fehlt Ihnen? Mich deucht, Sie vertragen die Deckluft schlecht.« Der Leutnant war, wie man so sagt, kreideweiß geworden. Sein Mund bewegte sich, als ob er sprechen wollte und es nicht vermöchte. »Jetzt! Gleich!« stieß er endlich hervor.

Der Kommandant pfiff.

»Haben Sie Familie? eine Mutter?« frug ihn Heinemann erregt.

»Ja, ja. Beruhigen Sie sich doch, mein Lieber; es geht vorüber. – Führt den Herrn Leutnant in seine Kabine. Er hat einen Anfall bekommen.«

Aber der Deutsche wies mit einer Armbewegung den Posten und den Steward zurück, die beide ihn wegführen sollten, und rief dem Kommandanten drängend zu: »Beten Sie! Beten Sie! Dort! Die Boje! Wir sind mitten im Minenfeld.«

»Minen?« fragte der Engländer unsicher lächelnd.

»Ja. Ich selbst habe sie geworfen. Beten Sie!« zischte der Deutsche.

»Achtung!« rief er dann plötzlich scharf und klar. Er stand kerzengerade aufgerichtet, die Linke aufs Herz gepreßt. Da hatte sein Gesicht in höchster Schwellung edler Gedanken und energischer Entschlossenheit einen schönen, verklärten Ausdruck. Seine Augen glänzten begeistert und sahen kühn einem roten Seezeichen entgegen, dem sich der Zerstörer näherte.

»Volldampf zurück! Exakt Kielwasser!« schrie der Kommandant [132] aufspringend. Auch er starrte mannhaft fest, aber finster und kalt in die Boje.

Ein schneidender Schrei ertönte. Niemand hatte mehr Entsetzen dafür übrig, daß der Steward über Bord sprang.

Der Matrose hielt sich die Ohren zu, und er wie die beiden Offiziere blieben so für Sekunden ... Sekunden ... Sekunden regungslos, mit weit aufgerissenen Augen, während dicht an der Bordwand ganz langsam die rote Boje vorüberglitt.

Dann taumelte der Deutsche. »Vorbei!« hauchte er tonlos.

Der Kommandant hatte pantomimisch einen Befehl nach der Brücke gegeben. »Verdammter Hund!« brüllte er jetzt und riß einen Revolver hervor ...

Das gab dem Leutnant die Kraft zurück. Er straffte sich wieder und sah dem Feinde blitzend ins Gesicht. Ein einziges Wort: »Deutsch!« sprach er stolz aus. »Verrechnet, Verräter«, knirschte der Engländer, seinen Revolver wieder bergend, und dann mit einem höhnischen, schadenfrohen Grinsen: »Warte! Warte! Ich werde – –«

Da schmetterte die Explosion.

Der Freiwillige

Culassa spuckte von seiner Hängematte herab ein Stück Käserinde aus, traf den Lampenzylinder, der stürzte zerbrochen herab. Die befreite Flamme wurde unruhig, sie richtete einen Rußstreifen nach der gewölbten Decke der Kasematte empor. Diesem Übel schien nicht abgeholfen zu werden, denn Culassa, obwohl er den Schaden bemerkt haben mußte, wälzte sich gleichmütig auf die andere Seite und biß unbekümmert weiter an dem Bruchteil einer roten Sonne aus Edamer Käse. Die Bänke aber um den nur durch Runzeln und Brandflecke bemerkenswerten Tisch standen leer, und aus den Hängematten, die hoch darüber unter der Wölbung hingen, wie fette Fischbäuche, klang variiertes, fallendes oder steigendes Schnarchen. Nun aber turnte aus der links neben Culassa aufgezurrten Hängematte eine lange, auffallend hagere und hohlwangige Gestalt in Strümpfen und Unterkleidung, sammelte etwas unbeholfen die Glasscherben vom Boden auf, trug sie nach dem Mülleimer und kehrte dann zurück an den vorherigen Platz.

[133] Culassa grinste gutmütig. Er brach mit der Hand ein rührendes Stück von der roten Sonne ab und reichte das dem Nachbar hinüber mit den Worten: »Da! – Bist du nicht auch erst seit heute hier?«

»Ja. Mich schleppt man schon seit Wochen von Garnison zu Garnison.«

»Bist du Schiffsjunge?«

»Nein, Kriegsfreiwilliger. – Ich meldete mich im August in Danzig. Nach meiner Ausbildung diente ich sechs Monate lang auf einem Depeschenboote –«

Culassa kniff ein Auge zu. »Aha, verstehe. Das paßte dir nicht, mein Muttersöhnchen. Fixer Seegang? Windstärke zwölf, he? Mit Seestiefeln zur Koje?«

»O«, sagte der Freiwillige blitzend, »das war noch das Beste daran. – Seeleute waren wir! Aber keine Soldaten. – Ich habe mich viermal vergeblich auf U-Boote und jetzt zu den Fliegern gemeldet, aber auch daraus scheint nichts zu werden. –«

»Bengel, du frierst ja!« rief der Ältere plötzlich mit jenem grausamen Spott der Seeleute.

Wirklich, der Freiwillige klapperte mit den Zähnen, wollte es aber nicht zugeben, sondern stammelte etwas von »dummer Angewohnheit« und verwischte diese Entschuldigung und das Vorangegangene wieder durch die Frage: »Woher kommen denn Sie?«

»Von einem Torpedoboot. S 116.«

»Haben Sie schon an einem Gefecht teilgenommen?«

»Hm, viermal. Zuletzt sind wir vor der Weser abgesoffen. Kesselexplosion.«

Der Freiwillige reckte den Kopf so weit in die Höhe, daß eins seiner verhältnismäßig übergroßen Augen den Mann sehen konnte, der an vier Seegefechten teilgenommen und Schiffbruch erlitten hatte. »Da haben Sie sich also ungewöhnliche Erinnerungen fürs ganze Leben gesichert. – Das muß doch sehr interessant gewesen sein?«

»Auf S 116? Das will ich meinen! Alle Tage warmes Abendbrot. Frische Butter, soviel wir wollten. Und ungefähr alle drei Wochen in die Werft. Urlaub bis zwölf.« Die Unterhaltung zog sich infolge häufiger Pausen in die Länge. Der Hagere ließ meist einige Minuten im Schweigen verstreichen, bevor er zu einem neuen Satz ausholte, und dann sprach er unsicher, schüchtern. »Was will man nun hier mit uns – mit mir anfangen? –«

[134] Culassa spie wieder ein Stück Rinde aus und wickelte sich grunzend in seine Decke. – »Ja, wer kennt sich da aus? Das wird alles an den grünen Tischen ausgeknobelt. Unsereins kann nix dazu tun, als das Maul halten, bis es heißt: die zum Sterben abgeteilten Leute antreten zum Särgeempfang! oder so was Ähnliches. Und dann gehen wir, wohin man uns schickt. Nach der Türkei oder nach Belgien. Rekruten drillen oder englische Dampfer kapern, in die Fourierstube oder als Kanonenfutter. Aber sei man nicht bang, mein Junge, vorläufig wollen wir uns hier erst mal eine Zeitlang mästen, bis sie eine Verwendung für uns haben, und bis dahin ist dann hoffentlich auch schon Frieden.«

Zwei aus Trunkenheit polternde Stimmen näherten sich der Kasematte. »Das sind die beiden mit dem Eisernen Kreuz«, meinte Culassa unter der Decke hervor, »der eine hat bei Helgoland ein Auge verloren.« Der Freiwillige beobachtete, wie zwei bezechte Matrosen hereinstolperten. Sie redeten mit den Armen und mit Worten aufeinander ein, so laut, als hielte jeder von ihnen den anderen für schwerhörig, und beide redeten gleichzeitig. Nachdem sie ihre Plätze gefunden hatten, brachten sie es mit Anstrengung und Lärm dahin, ihre Spinde zu öffnen.

Der eine Matrose trug tatsächlich ein Glasauge, das er nicht mit dem Lide darüber zu verdecken imstande war. Fürchterlich sah er überhaupt aus. Sein Gesicht war von Brandwunden bedeckt, der Hals mit einem Verband umwickelt, und sein rotes Haar hing struppig über die Stirn. »Ein Weib!« schrie er wiederholt, sich die Kleidungsstücke vom Leibe reißend, um sie, Exerzierkragen, seidenes Tuch, Mütze, eins nach dem anderen auf den Fußboden zu werfen, »ein Weib! Junge, ich sage dir: ein Galaweib! So ein Busen! Und einen Achterpanzer! Und in Dreß wie eine Fürstin!«

Der andere Betrunkene wies gerade eine Vorahnung von Erbrechen zurück. »Nun setz man einen Stopper auf«, lallte er, »so ein Weib geht doch nicht mit einem Kuli, der nur ein Auge hat.«

»Ha, du Schlammroß, es sind eben nicht alle solche Mistspoken, wie du eine bist. Meinst du, ich würde nicht auch mit dem Mädchen gehen, wenn sie nur einen halben Busen hätte?«

Die Tür ward aufgestoßen, und eine militärische Stimme fragte herein: »Hilderling?«

»Hier, das bin ich«, meldete sich der Hagere laut und gierig.

»Morgen früh sieben Uhr vor dem Pulverschuppen antreten!« Die Ordonnanz aus der Schreibstube wollte sich entfernen. »Was [135] soll's denn werden?« rief der Freiwillige drängend; er war ganz bleich im Gesicht geworden, und seine Zähne klapperten wieder hörbar aufeinander. Aber seine großen Augen zeigten einen sonderlichen Glanz von Frohsein.

»Arbeitskommando«, schnarrte die Ordonnanz kurz angebunden und schlug die Tür von außen zu.

Aus verschiedenen Seiten der Kasematte her brach ein gellendes Gelächter. Hilderling beteiligte sich daran, ungeschickt, wie er alles anfing. »Arbeitskommando? Was ist denn das?«

Culassa knurrte, schon halb im Schlaf, einige Andeutungen: »Kohlen schaufeln. Deckwaschen. Messing putzen. Strohsäcke stopfen.«

In der nächsten Frühe hallte die holter polter gepflasterte Straße, welche nach dem Wasser führt, von Schritten einer Abteilung Soldaten wider, die sich lustig genug ausnahm. Denn sie bestand aus fünfzehn Marinern, die in unförmig bauschige Takelbüchsen gekleidet waren und je einen Besen wie ein Gewehr geschultert hatten, dabei Pfeife rauchten und mit nichts und jedem ihre Posse trieben. Torpedermaat Bärtel, der zugführende Unteroffizier, nahm an dem Witzeln nicht teil, aber es kostete ihm Mühe, sein Gesicht dauernd in dem strengen, bärbeißigen Ausdruck zu erhalten, auf dem das ganze Ansehen seiner Charge balancierte. Ihn amüsierte nur der dürre Flügelmann der ersten Gruppe, weil dieser im Gegensatz zu den übrigen Soldaten mit aufrichtigem Ernst, ja mit einer unverkennbaren Begeisterung und durch Gedanken entrückt im Glied marschierte, außerdem zum Takte des Marschtempos ein Lied leise, doch so andauernd vor sich hin sang, daß sein Atem darüber in Erregung geraten war. Der Rhythmus der Melodie klang wie geschaffen für die zögernde Gangart, welche die Arbeitsgruppen sich anmaßen, außerdem kannte Bärtel so etwas vom Wortlaut des Liedes. So kam es, daß er dasselbe schließlich selbst mitbrummte.


Es geht bei gedämpfter Trommel Klang.
Wie weit noch die Stätt! Der Weg, wie lang!
O wär er zur Ruhe und alles vorbei.
Ich glaube, es bricht mir das Herz noch entzwei! ...

Indes, als Bärtels Zug sein Ziel erreichte, dies war eine vor der äußersten Mole verankerte Hulk, ein abgetakeltes, ehemaliges Schulschiff, schlug der Unteroffizier einen ganz anderen Ton an, indem er seinen Soldaten befahl, das Deck zu fegen, Wasser [136] aufzuschlagen, herumliegende Enden aufzuschießen und anderes. Zu dieser Anweisung bediente er sich der gröbsten, unflätigsten Ausdrücke, deren er sich besinnen konnte, und errötete, als ihm solche wider Willen nur zaghaft und sanft über die Lippen kamen, daher auch statt Furcht oder Eifer nur lächelnde Heiterkeit hervorriefen. Bald danach entschwand Torpedermaat vom Deck wie ein Nebel. Seine Leute zerstreuten sich behaglich unter der stillen Vereinbarung, ihre Arbeiten möglichst in die Länge zu ziehen. Sie wanderten selbzweit oder -dritt durch alle Räume und Gänge des Schiffes, das jetzt zur Aufbewahrung von Kriegsmaterial diente, besprachen, verglichen, belächelten überlegen oder priesen übertreibend die veralteten Einrichtungen und Maschinen und schonten die Besen. Ein Oberheizer, der von Bord S.M.S. Wittelsbach abkommandiert war, gesellte sich zu Hilderling und kicherte, sich die Hände reibend: »Na, hier sind wir fürs nächste gut aufgehoben. Wir wollen diesen angefaulten Schiffskadaver nicht mit Schweißtropfen verunreinigen.« Hilderling nickte. »Ja, es ist ein unverständlicher, komplizierter Apparat, der uns buntgemischtes Volk aus allen Winkeln Deutschlands, gerade uns hierher versetzt, um in dem ungeheuren Weltkrieg 1915 einen alten Schiffsrumpf abzuschrubben. – Doch, wer weiß, übermorgen segeln wir vielleicht durch Granatenhagel.« »Und nächstes Jahr« – fiel der von der Wittelsbach ein – »gibt dir ein hübsches Mädel einen Korb oder einen Sechser, weil dir der rechte Arm fehlt und weil Krüppel eben Krüppel bleibt, mag er seine Knochen nun am Geschütz oder an der Dreschmaschine verloren haben.«

Hilderling blickte nicht den Heizer an, sondern über ihn und die Reling hinweg. »Schau! Schau!« rief er, »dort fährt eins von den neuen Tauchbooten! – Nicht wahr, ein Oberleutnant führt solch ein Boot? – Vielleicht wird er Großes leisten, wie Weddigen.« –

»Und zugrunde gehen wie Weddigen?« kicherte der Oberheizer.

»Ja, wie Weddigen!« wiederholte Hilderling, und seine Augen blitzten einen Moment. Dann fuhr er versonnen fort: »Ich habe Weddigen gekannt. – Er sah aus, wie die meisten unserer Seeoffiziere aussehen: jung, schneidig, frisch, hell. – Und nach hundert Jahren wird er aussehen wie – – was weißt du vom Admiral Kortenaer von Helst. – Aber von Störtebecker hast du gehört. – Kamerad, es verhält sich vielleicht so: In der Küche schmeckt nichts. Abstand! Abstand!« Damit ließ der Freiwillige [137] den Oberheizer kopfschüttelnd stehen. Er schlenderte über Deck, zog sich träge eine eiserne Treppe empor und fand auf der Back einen zur Drückebergerei verlockenden Platz, wo er sich der Länge nach auf das saubere Holzdeck hinstreckte.

Das stellte sich als eine gute Wahl heraus. Ganz vorn, dicht am Bug, nach achtern zu durch die Schanze verborgen, auf dem Rücken liegend, den Nacken gegen das Fundament einer Kanone gestützt, überschaute er bequem einen Streifen des Meeres, mit Panzerschiffen, Torpedobootszerstörern, Netzsperren, einem Leuchtturm und mannigfachen Spezialfahrzeugen, und darüber freien, weiten, frohen Himmel. Hoch in der Bläue kreiste ein Flugzeug. Das Surren des Propellers klang an Hilderlings Ohr, auch Sirenensignale und von der Werft her ein tausendfaches Hämmern.

Es war der erste rechte Frühlingstag nach dem Winter. Die Sonne durchwärmte den jungen Matrosen und versprach, sein blasses, schmales Gesicht zu bräunen, während die leichte Brise eine köstliche, feuchte Salzluft über seine Stirn strich. Und er dehnte sich glücklich. Seine großen Augen hatten den Glanz der Sehnsucht angenommen und verrieten auf irgendwelche Weise, wie der Ruhende über das, was er sah, tief nachdachte.

Plötzlich, wohlwissend, daß er ein kleines militärisches Verbrechen beging, schleuderte er den Besen mit einem ungelenken, doch kräftigen Stoß über Bord und schloß dann lächelnd die Augen, während er zu sich selber sprach: »Aber auch der Ruhm steht nicht fest; es gehören wenigstens zwei Menschen dazu, ihn zu halten.« Und nach etwa einer halben Stunde sprach er abermals Worte laut aus. Er sagte: »Nun kommt wieder der Mai mit Käferchen und Krokus.«

»Liegt hier Hilderling?« Eine dienstliche Stimme warf abends diese Frage in die Kasematte 14 hinein. Dort saßen noch drei Leute beim Skat; die gaben zunächst keine Antwort. Culassa starrte mit gelassener Siegesgewißheit auf seine unentschlossenen Gegner. Endlich stellte er ohne aufzublicken die Gegenfrage: »Was soll er denn?«

»Morgen früh auf ein Unterseeboot.«

Culassa gewann das Spiel. Er strich die Karten ein und sagte, so auf seine Art langsam in Einem weg: »Gott verdamme Amerika! Mit eins, aus der Hand zwei, Schneider drei. Hilderling ist tot. Den haben sie heute Nachmittag tot auf der Hulk gefunden. Sonnenstich [138] oder Herzschlag oder Gott weiß was. Armer Bengel! Wenn du mit Karo-Aß gestochen hättest, wär alles anders gekommen.«

Aus dem Dunkel

»Die Weiber sind billig hier, jetzt während des Krieges.«

»Ja, – unter pari, Herr Aufsichtsrat.«

»Sie machen sich wohl gern über mich lustig, Herr – Kunstmaler?«

»Nein, ungern. – Übrigens betrachten Sie einmal diese Fülle von Seegras. Liegt es nicht da wie nasses Frauenhaar?«

»Frauenhaar?«

»Nun ja, abgeschnittenes, beträntes Witwenhaar, vom Meere mit dem Rufe ›Wohlfeil‹ ans Ufer geworfen.«

»Sauerkraut sieht auch so aus. Das sind Künstlermeinungen. Besteht die Hauptaufgabe der Kunst darin, alle Dinge zu verwechseln? Eine Träne für eine Perle, eine Perle für eine Träne anzusehen, ein Orgelspiel für Meeresbrausen – – ahh! In gelber Seide! Die Dame mit dem Echo!«

»Sie geht zu Jantzen, – soupieren.«

»Steigen wir ihr nach. Wollen wir ein wenig schlemmen, Herr Künstler?«

»Gut, um uns in vertauschten Rollen zu präsentieren. Auf denn! Es dunkelt schon. Aber auf die Gelbe zählen Sie nicht. Ihr Herz klopft lediglich für die Marine.«

»Weiß wohl; sie leidet am Blauen-Tuch-Koller. Heute ein Kapitän, morgen ein ganz gemeiner Matrose und als neuestes sogar eine Strandpromenade mit dem Herrn Admiraaal.«

»Warum lassen Sie sich nicht ebenfalls blaue Knöpfeaufnähen?«

»Um später als Krüppel vollständig außer Konkurrenz gestellt zu sein, danke.«

»Ich habe einen Verdacht auf die Echodame – übrigens: warum nennt man sie so?«

»Weil ihre Stimme ...«

Damit hatte sich das Gespräch hörweit von dem leergewordenen Strandkorb entfernt. In dessen unmittelbarer Nähe hinter einem der von Kindern gebauten Sandkrater, die dem Strande das Aussehen einer Mondlandschaft leihen, richtete sich nun mit einem[139] schwachen Seufzen oder Räuspern ein Matrose vom abendfeuchten Boden auf. Unbeholfen erhob er sich, trat in der Dämmerung vorsichtig drei Schritte vorwärts und blieb, die hohe Brust und das Gesicht nach der See gerichtet, etwa eine halbe Stunde unbeweglich stehen.

Er wandte sich auch dann nicht, als zwei späte Spaziergänger, junge, aus gelangweiltem Frohsinn kichernde und tuschelnde Damen, im Gleichschritt heranmarschierten, die, umschlungen, sich auf den Laufplanken von Seite zu Seite drängten und schließlich hinter dem Seemann einen Korb besetzten.

»Friedel, schau mal den!«

»Hui, ein schneidiger Kerl. Welche Heldenbrust.«

»Und der Wuchs; wie eine Statue. Das ist das echte Prototyp eines Matrosen. Deutschland zur See, übers Meer Ausschau haltend. – Gelt, die Marineuniform ist doch schön? – Ich könnte solche Idealgestalt ...«

»Willst du dich etwa verlieben, Mirzl?«

»Hab schon – – o Gott! ...«

»Pfui. Deine Idealgestalt kratzt sich. Und schau nur! Schau nur! Wie steif er sich niederläßt ...«

»Lach doch nicht so – das hängt vielleicht – ha ha – mit dem Kratzen zusammen.«

»Pst! er hört alles. Komm, wollen ihn mal fragen, was das dort für ein Schiff sei.« –

»Verzeihen Sie. Können Sie uns wohl sagen, was das dort für ein rotes Licht ist?«

Er stand nicht auf vor den Damen. Die begeisterte Meinung der zum Lachen geneigten Freundinnen sank ein wenig und gleich darauf bedeutend, als der deutsche Seemann gutmütig bieder zurückfragte: »Das Lichd? Uff'n Wasser dord? Das rode Lichd?«

»Ja.«

»Das is' ä Dorbedopoot.«

»So, ein Torpedoboot.« Mirzl stieß heimlich Friedin an. »Ich glaubte, es sei die Fähre.«

»Nee, ä Dorbedopoot.«

»Sie sind gewiß auch auf einem Dorbedo ...« Mirzls Frage blieb in einem Lachausbruch stecken.

»Ich war. Jetz bin ich zor Erholunk hier.«

»Aber Mirzl, nu meckere doch nicht in einem fort über die alte Geschichte. – Meine Freundin hat nämlich so was Komisches [140] erlebt. – Also zur Erholung? Dann haben Sie wohl schon Seegefechte mitgemacht?« –

»Eens, ä kleenes.«

»Das muß furchtbar sein. Erzählen Sie uns doch davon. Auf welchem Schiff waren Sie denn? – – Sie erlauben wohl, daß wir uns auf einen Moment hierhin gießen? ...«

»Nu nadierlich. Aber 's ist feichd. Wolln Se sich nich uff meene Jagge setzen?«

»Nein, danke bestens.«

Mirzl zögerte noch. Es schien ihr doch ein bedenklich kühnes Abenteuer, sich im Finstern neben einem fremden Matrosen zu lagern. Jedoch im Grunde fühlte sie sich über seinen Charakter im Klaren.

»D'n Namen von dem Schiff darf ich nich verraden. Das Gefächd war ooch egendlich gee Gefächd. Ä Greizer dauchde bletzlich uff un warf ä baar Granaden an Bord ...«

»Nein, ist so was möglich?«

»Ja. Gerade middags in d'n Hammelgohl.«

»Sie speisten also zu der Zeit? Haben Sie denn die Schüsse erwidert?«

»Ja, wir feierden ooch riewer, aber der Greizer rikde aus.«

»Aber Friedl, da ist doch nichts Lächerliches bei. Stelle dir einmal vor, du müßtest im Granatenhagel mit solcher donnernden Kanone hantieren.«

»Ach, das is garnich so schlimm wie mer dengd. Iwrichens hawe ich gar nich mid geschossen.«

»Sie waren jedenfalls unten an der Maschine beschäftigt?«

»Nee, ich bin Schduard; ich ging gerade mid vier Dellern Hammelgohl über Deck.«

»Nun, das ist ja alles eins – Mirzl, nimm dich endlich einmal zusammen; jeder tut dort seine Pflicht, wo er hinpostiert wird. Und die Gefahr droht allen.«

»Na ä'm. Bei der Marine gann mer sich de Arweed nich aussuchen.«

»Nein, das meinte ich auch. Sie konnten ebenso leicht getroffen werden wie die Leute an den Kanonen.«

»Mich had's ooch erwischd. Ä Granadschblidder haude mir alle vier Deller um die Nase ...«

»Still! Mirzl, da kommt jemand. Wir sind also nicht die einzigen Nachtschwärmer.«

[141] »Das is ä Landoffizier mid der Echodame; mer heerd's.«

»Wie? Kennen Sie die auch?«

»Nur vom anheeren. Ich genne se alle; ich sitze hier alle Awende.«

»Aber in bezug auf das rote Licht haben Sie sich doch geirrt; es ist die Fähre von Dänemark.«

»Ach ja, de Fähre von Dänemark; das deischd manchmal.«

In der anspruchslosen Frohlaune, worin sich die Damen befanden, blieb ihnen die Unterhaltung mit dem Sachsen noch länger amüsant. Nur bedauerten sie, daß die Dunkelheit sein Gesicht verbarg.

»Rauchen Sie nie? Rauchen Sie uns doch bitte was vor.«

»Nee, ich rooche jetz nich.«

»Sie haben gewiß schon das Eiserne Kreuz?«

»Ja, das is ooch bei mir hängen gebliem.«

»O bitte, zeigen Sie doch mal!«

»Das gann mer jetz nich sehen.«

»Warten Sie, wir haben Feuerzeug. Friedl!«

»Nee nee, lassen Se man. Machen Se lieber geen Lichd. Ich darf nämlich, offen geschdanden, nach acht Uhr nich mehr an d'n Schdrand. Das is fier Soldaten ...«

»Verboten. Richtig, richtig.« –

»Hm, wo nur Emil heide bleibd?«

»Erwarten Sie jemanden?«

»Ja, mei Freund wolde mich abholen.«

Das gemahnte an die vorgerückte Stunde. Die Damen empfahlen sich mit freundlichen Wünschen für den Matrosen.

»Freileins«, rief der ihnen nach, da sie einige Schritte gegangen waren. Sie blieben stehen. »Wie?«

»Nu, 's is schon kud, kude Nachd!«

»Gute Nacht!« »Gute Nacht!«

»Ooder hm – wenn Se vielleichd – ...«

»Was will er noch?« »Ja? – Herr Fritsche?«

»Mei Freind scheint nämlich nich mehr zu gomm ...«

»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?«

»Ja, wenn Se so giedlich sein wolln und de Freindlichgeet hädden, mich bloß ä Schdickchen, bloß ans Geländer om zu bringen; ich bin nämlich ä Bißchen malado uff de Oochen.«

»Was sind Sie?« – »Ach so, Sie – Sie sehen nicht gut. [142] Selbstverständlich. Friedl, gib mal dein Feuerzeug. Seien Sie unbesorgt, es bemerkt Sie niemand.«

Durch die Nacht tönte das Rackern des Rädchens am Feuerstein. Beim aufflammenden Lichte blinzelten die Mädchen neugierig nach dem Matrosen hin, der sich halb erhoben hatte, so daß er nun vor ihnen kniete. Ihre übereinstimmenden Blicke begegneten einander. Friedl sagte leise zu Mirzln, aus trockener Kehle heraus: »Er ist blind.«

»Das wollen wir schon kriegen, lieber Fritsche. Geben Sie mir mal Ihren Arm. Friedl, geh auf die andere Seite. So. – Jedenfalls waren wir recht gemütlich beisammen. Gelt, Herr Fritsche? Ich heiße Mirzl Schwesterling und meine Freundin Friedl Mahler. – Wollen Sie nicht ein Butterbrot bei uns – ach, Sie haben keinen Urlaub? Schade. Dann bringen wir Sie jetzt in Ihr Quartier und morgen abend treffen wir uns hier wieder.« – –

Andern Tages, im Hotel, beim Kaffee teilte Mirzl ihr Erlebnis dem Admiral und seiner Tischnachbarin, der Frau van Huissen – (mit dem Echo) mit. Der Admiral bemerkte nichts dazu, sondern eilte nach einer korrekten Verbeugung fort. Er hatte heute noch eine Bootsdivision und ein Lazarett zu inspizieren, eine Rekrutenvereidigung zu leiten und einer Gerichtsverhandlung in der Stadt beizuwohnen, ferner ein Gutachten abzugeben und den Erlaß betr. Butterzulagen für die F.P.K. zu prüfen. Außerdem mußte er sich den neuen Flugmotor vorführen lassen und abends eine Rede halten – abgesehen von den laufenden Geschäften. Dagegen äußerte die Echodame starkes Mitleid für den Sachsen. »Wenn Sie gestatten, schließe ich mich abends Ihnen an, Fräulein Schwesterling, und bringe ihm eine Tafel Schokolade mit.«

Sie fanden Herrn Fritsche zur Dämmerzeit am alten Platze, ohne Zweifel über ihren Besuch höchst erfreut. Friedl Mahler war allerdings nicht erschienen und ließ nur herzliche Grüße nebst einer Schachtel Zigaretten durch Mirzln übergeben. Der Sachse lehnte jedoch sowohl die Zigaretten als auch die Schokolade der Echodame ab. Er fing an, nach seiner Weise sehr aufgeräumt zu plaudern. Das teilnahmsvolle Interesse der Echodame für alles Maritime und Mirzls Lachlust rissen ihn zu ausführlichen, oft mit reichlich derben Anekdoten ausgeschmückten Schilderungen hin, und er gab auch ungeniert über seine persönlichen Verhältnisse Auskunft.

[143] Man hatte den sechsundzwanzigjährigen Matrosen, nachdem er wochenlang im Lazarett gelegen, zur Erholung ins Seebad geschickt, wo er mit einem zu seinem Beistand abkommandierten Sanitätsgast verweilen sollte, bis die Fragen seiner endgültigen Entlassung, seiner Pensionsansprüche usw. geregelt wären. Und es war für ihn von militärischer wie von zivilbehördlicher, außerdem noch von privater Seite wohlwollend und ausreichend gesorgt. Über seine bereits unterrichtete Frau äußerte Fritsche, sie würde ihm auch ferner treu bleiben, und »im Dunkeln is gerade kud munkeln«. Er spricht heiter, bescheiden, ohne Sentimentalität von der Zukunft und mit hübscher Begeisterung von seinem bisherigen Marineleben. Es ist sein heißer Wunsch und er hofft, »ooch ohne de Oochen noch ämal was fiersch Vaderland zu machen«. Der Prinz hat allerdings zu ihm gesagt: »Fritsche, Se ham Ihre Schuldichgeet gedahn.«

Während der Unterhaltung horcht der Sachse auf alle nahen und fernen Geräusche und erklärt sie laut. Sein Unterscheidungsvermögen setzt die Damen in Erstaunen. »Das sin ungefähr zwanzich Infandrisden« – »Das wird Haubdmann Brunner uff seiner Fuchsschdude sein« – »Ja, meine Freileins, wir Blinden hamm ä'm die Oochen in d'n Ohren.« –

Es will aber Mirzln doch bedünken, als ob der Sachse sich nicht so unbefangen gäbe wie tags zuvor. Auch wird er nach und nach wortkarger. Dann unterhalten sie ihn, lustig, vertraulich, jede auffällige Schonung vermeidend; und er hört zu.

Bis spät. Bis Fräulein Schwesterling sich verabschieden muß. Frau van Huissen wird noch bei Herrn Fritsche bleiben und ihn auch heimgeleiten. Sie dringt, als Mirzl fort ist, nochmals in ihn, den kleinen Schokoladenspaß nicht zurückzuweisen. »Nee, ich nähme geene Geschenke nich.«

Sie bittet den Sachsen, ihr einmal genauer solch großes, neues Torpedoboot zu beschreiben. Jedoch er lenkt ab und scheint ihr ernster – traurig geworden. So erzählt sie ihm von Offizieren, die sie im Seebad kennengelernt hat, und von anderem und reizt ihn dabei manchmal zu Gegenbemerkungen. Aber seine Antworten klingen jetzt müde oder zerstreut. An seinem Atem oder irgendworan erkennt sie, daß er noch immer wie erwartungsvoll in die Umgebung lauscht.

Und auf einmal streicht ihre kleine, mit Sammetleder bekleidete Hand über seine Wange, und die berühmte, anmutige Stimme mit [144] dem unbeschreiblichen, glockenhaften Nachhall fragt: »Wissen Sie denn auch, Herr Fritsche, daß ich eine schöne und reiche Dame bin?«

»Ja«, erwidert er trocken und wehrt unhöflich ihre Hand ab.

»Gommd da nich ä Offizier? Ä Soldat?«

»Es ist dunkel, Herr Fritsche. Wenn er die Laterne passiert, wird sich's herausstellen. Aber haben Sie keine Furcht. Niemand bemerkt Sie hier und – ja, es ist Leutnant Daniel.«

»Gä'm Se mir mal Ihre Hand«, flüstert der Sachse. Er ist lächerlich ängstlich erregt.

»Pfui, wie kann ein Soldat solche Angst haben. – Au! Au! Was machen Sie denn? Sie tun mir doch weh!«

Er hat ihr Handgelenk mit seinen zehn groben Fingern schmerzhaft fest umklammert und an sich gezogen.

»Lassen Sie doch los! Au! Lassen Sie los, oder ich schreie!«

Er sagt kein Wort. Er hält krampfhaft fest.

»Au! Ich werde um Hilfe schreien. Ich schreie!« – Er hält fest.

»Fritsche! – Robert! Sei lieb zu mir!« – Er hält eisern fest. Sie schlägt ihn mit der freien Hand ins Gesicht. »Hilfe! Hilfe!« Sekunden danach reißt der Schein einer Taschenlampe die Gruppe aus dem Dunkel.

»Um Gottes willen, befreien Sie mich von dem Menschen.«

»Was ist denn los? Wollen Sie sofort die Dame loslassen, Kerl!«

»Nee, Herr Leidnand«, schreit Fritsche laut. Sein Sächsisch wirkt in dieser Stärke abscheulich roh, »nee, ich lasse nich los. Die Frau is eene Schbionin; ich habe de Beweise.«

»Was bin ich? Er ist wahnsinnig. Ich setzte mich zu ihm, weil er blind ist – au! au! Helfen ...«

»Lassen Sie augenblicklich los, frecher Bursche! Ich kenne die Dame ...«

»Nee, se muß uff de Wache, se darf nich endwischen ...«

»Herr Leutnant, bitte hei ... au ... Hilfe! Hilfe!«

»Was fällt Ihnen ein? Ich befehle Ihnen – ich bürge – lassen Sie los, oder ich ...« Er läßt los. Mehrere andere Personen sind inzwischen herbeigeeilt.

»Gnädige Frau, wie peinlich! Ich werde den Kerl exemplarisch bestrafen. Ich bin natürlich überzeugt; ich kenne Sie doch genau – aber – meine Pflicht als Soldat – vergeben Sie! – die Form –. Wir werden das auf der Wache im Nu klarstellen. Der Kerl wird eingesperrt –.«

[145] »Pardon, Herr Leutnant«, sagt ein Herr in Zivil, »Kunstmaler Eckers. Ich bitte, die Denunziation dieses mir fremden Matrosen unterstützen zu dürfen.« – –

»... Betreten des Strandes ... nach acht Uhr ausdrücklich – – khä – verboten, und Sie wußten, daß Sie vorläufig noch den Militärgesetzen – khä unterstehen ...« Der Admiral hat eine schweratmige, rauhe, sozusagen satte Sprache, die nach Sachlichkeit ringend immer vier, fünf Worte zusammenrafft und dann einen Moment innehält. Da der Admiral heute, wie stets, von Dienstgeschäften gedrängt wird, fällt seine Ansprache kurz aus. »Ich bestrafe Sie also ... in Anbetracht Ihrer bisherigen ... khä ordentlichen Führung nach dem Mindestmaß ... mit einem strengen Verweis ... Es hat sich also herausgestellt, ... daß Sie in dem Spionage – khä Affäre ... gut aufgepaßt haben ... Wie Sie das – khä angedreht haben ... bleibt mir freilich ...«

»Nu, Herr Admiral, wir Blinden hamm ä'm de Oochen in d'n Ohren.«

»Reden Sie nich, wenn Sie nicht gefragt sind ... khä – Sie haben das Glück gehabt ... Gelegenheit zu haben, Ihre Pflicht zu tun ... und durch Opfer dem Vaterlande ... khä gute Dienste zu erweisen; ... Ich beneide Sie darum ... Bilden Sie sich aber nichts drauf ein! ... khä Seine Königliche Hoheit hat geruht ...«

Flaggenparade

Spät hatte V 133 angelegt. Es schickte sich zum Schlafen an, wurde still und klappte ein Auge nach dem anderen zu, das heißt: seine farbigen Lichter erloschen nacheinander. Nur am Fallreep pendelte nunmehr eine weiße Lampe. Als noch ein Urlauber an Land eilte, musterte ihn der Posten im Scheine dieser Laterne etwas neidisch, doch nicht ohne aufrichtige Bewunderung. »Ah, Bootsmaat Dauke. Schlenk – Kulani – Scharfmacherstrümpfe. Selbstverständlich Kurs: Chausseekrug.«

Ja, ihr Aktiven, ihr habt den Bogen raus. Alle tragen sie diesen Kulani aus seidigem Stoff, Handschuhe in der Flosse, in der Mütze den gewissen Kniff, und alles an ihnen hat Schmiß, was sie »schlenk« nennen. Lauter junge, blühende Burschen; aber im Dienste jederzeit fix auf Posten, verteufelte Draufgänger. Und[146] wenn sie an Land gehen, laufen ihnen die Weiber zu wie das Deckwasser dem Speigatt. – Da dockt er sich nun jede Freizeit im Krug ein und legt einen bigwonschen Speech bei der dicken Alma an und klönt und klönt. Na, und sie ist ein sauberes Weibstück, und der Alte hat Koks. Dabei seine treuherzige Art – ich wette zwei Dekaden –

Willy Dauke rief ein leeres Privatgefährt an, das gleicher Richtung fuhr, und erhielt Erlaubnis, mit aufzusitzen. »Mein Herr ist auch im Krug mit noch einem; die haben heute einen Abstecher gemacht, ich bin auf sieben Uhr hinbestellt. – Was hast du in dem Tuch; das lebt ja?«

»Einen Aal, für Bades Alma.«

»Aha, der Dicken. Da willst du also mit dem Aal nach der Speckseite werfen?«

»Nix zu wollen.« Dauke winkte ernstlich unwillig ab. »Das ist ein anständiges Mädchen; wir sind so halbwegs verlobt.« –

Zahnarzt Dr. Welke und sein Freund Emmerich waren angenehmst überrascht, in dem abgelegenen Chausseehaus so vorzüglichen Wein anzutreffen. Sie hatten die Tochter der Wirtin an den Tisch und in eine Unterhaltung genötigt, die sich rasch amüsant und zutraulich gestaltete. Alma Bade besaß die Unbefangenheit und den gesellschaftlichen Halbschliff, welche simple Wirtsleute im Verkehr mit den Gästen sich aneignen, außerdem trotz ihrer auffälligen Korpulenz eine natürliche, kokette Grazie, und ihre gesunde, häusliche Heiterkeit tat den Lebemännern wohl. War auch dem kränklichen Emmerich sein Behagen nicht recht anzumerken, so blieb der Doktor dafür mit den launigsten Einfällen auf der schiefen Ebene.

Obwohl beide das Mädchen gern nahmen, wie es war, versagten sie sich doch nicht hin und wieder das eitle, billige Vergnügen, ihr zu imponieren, etwa durch die deplacierte Anrede »Gnädiges Fräulein« oder durch irgendeine Galanterie aus höherer Etikette.

»Ich hatte einmal Petrusen einen hohlen Zahn gezogen. Aus Dankbarkeit trug er mich in den Himmel, ergriff eine riesige Zange und ließ hunderttausend bildhübsche Frauenzimmer antreten. ›Betrachte sie!‹ sagte er. ›Welche Nase gefällt dir am besten?‹ Ich deutete auf ein edel geschnittenes Näschen. Sofort knipste Petrus die Nase mit der Zange ab. ›Welche Augen gefallen dir am besten?‹ Ich suchte zwei entzückende dunkle Augen aus. Knips! hatte Petrus sie abgezwackt und jener Nase beigefügt. So hieß er mich [147] eins ums andere, Stirn, Haare, Ohren und alle Gliedmaßen auswählen, knipste sie ab und baute daraus eine berauschende ideale Venusgestalt. Die stellte er auf eine silberne Platte und reichte sie mir mit den Worten: ›Nimm sie zur dauernden Freundin, zeige ihr die Wunder der Wissenschaft, lehre sie die heiligen Künste verehren, führe sie in die hohe Gesellschaft; sie werde eine Königin.‹ Aber – sei es, daß der Präsentierteller etwas schlüpfrig war – kurz: das holde Wesen klitschte herab und fiel aus dem Himmel. Ich ließ mich sogleich zur Erde tragen und suchte meine Venus, in Berlin und in London, in Paris und Taschkent. Und was meinen Sie, Gnädige, wo ich sie endlich fand?«

»Nun, in Ihrer Frau.« Alma freute sich, die Pointe der Geschichte versperrt zu haben.

Man hörte draußen einen Wagen knirschen und Menschenstimmen. »Das ist dein Wagen, Doktor.«

»Meinetwegen. Ich bleibe hier, bis Tokio Vorstadt von Rostock oder bis Berlin englisch wird.«

»Sie müssen etwas ganz besonderes Freudiges erlebt haben, da Sie so vergnügt sind. Oder freuen Sie sich so, daß Sie nicht Soldat zu spielen brauchen?«

»Es ist nicht meine Schuld, wenn ich's nicht spielen darf«, sagte Welke, jählings ernst, resigniert. Herr Emmerich fiel rasch ein: »Er hat heute höchst feudal bei einem dicken Botschafter gegessen und getrunken.«

Der Doktor nickte, wieder lächelnd, klang sein Glas an dasjenige Almas und sah ihr lange, begehrlich in die Augen. »Lauter Speisen, die einen göttlich anlachten, Weine, die wie Sonnenschein schmeckten.«

»Ja, Sie haben es gut.«

»Gewiß, ich habe es gut, und ich schäme mich deswegen nicht. Denn bei mir geht's Gott sei Dank ohne unlautere Geschichten – sogar besser als im Frieden. Da kann man sich schon hier und da eine Schlemmerei leisten. Heute bin ich besonders gut aufgelegt. Nur zweierlei fehlt mir noch, mein Glück komplett zu machen ...«

Polterig sprang die Tür auf. Ein adrett gekleideter, heißwangiger Matrose, das schwarzweiße Band im Knopfloch, trat wohlgemut mit lautem »Guten Abend« ein; es klang wie: »Was kostet die Welt?«

»Guten Abend!« »Guten Abend!«

[148] »Wie? Du?« fragte Alma mit wenig schmeichelhaftem Erstaunen. »Ist hundertdreiunddreißig schon eingelaufen?«

»Jawoll! – Fang auf!« Der Matrose warf dem Mädchen etwas zu, was sie erhaschte, aber sofort mit einem Schrei des Entsetzens wieder fallen ließ. Auf dem Tische, zwischen den Weingläsern ringelte sich ein Aal, dessen blutendes Maul das saubere Linnen rot befleckte.

»Pfui! So ein richtiger, gemeiner Matrosenwitz«, schalt Alma empört.

»Der beißt nicht.« Der harmlose Dauke lachte tüchtig. Er nahm rechts neben Alma Platz, und als der links von ihr sitzende Doktor sowohl als auch Herr Emmerich sich verbeugend Namen nannten, nickte der Maat nur flüchtig verlegen, wohl weil ihm das Gefühl kam, irgendeine Höflichkeit versäumt zu haben. »Einen steifen Rum, Almchen. Ich mußte bis an die Knie ins Wasser waten, weil das Biest die Schnur zerrissen hatte.«

»Dürfen wir Sie einladen?« Herr Welke tippte an die Flasche. »Bitte noch ein Glas, gnädiges Fräulein, und etwas für den Appetit.«

Emmerich betrachtete den Aal. »Machen Sie ihn doch tot; er hat ja noch den Angelhaken im Maul. Abscheuliche Quälerei.« Und Emmerich stand auf, um den auf der Schwelle wartenden Kutscher zu sprechen.

»Willy, hörst du denn nicht? Du sollst den Aal schlachten. Aber in der Küche.«

»So ein Vieh hat kein Gefühl wie unsereins«, meinte Dauke; aber er trug den Aal hinaus. Alma folgte ihm, um neuen Wein zu holen.

Die zurückbleibenden Freunde wechselten Blicke. »Er ist ihr Galan«, flüsterte Emmerich, an den Tisch zurückkehrend.

»So? – Wir wollen ihn einmal aufpumpen.«

Sie traktierten ihn mit allen käuflichen Genüssen, und er ließ sich nicht lange zureden, fing auch alsbald über seine Vorpostenfahrten zu plaudern an. Ein dänischer Dampfer voll Bannware gekapert. Beinahe auf Minen geraten. Sturm. Mit Vorliebe hielt er sich bei Anekdoten und Schilderungen auf, die Essen und Trinken betrafen, nicht merkend, wie gerade das übrige die feinen Herren interessierte und fesselte. Es störte ihn auch nicht sonderlich, daß seine Freundin für seine Erzählungen wenig übrig hatte; ihr wurden täglich Bordneuigkeiten von Marinern überbracht. Der [149] übermütige Doktor wußte zudem auf geschickte Weise jeglicher Auseinandersetzung zwischen Fräulein Bade und Herrn Dauke vorzubeugen.

Aber doch rückte er geflissentlich seine blasse, mit einem Funkelring geschmückte Hand neben die grobe, blaurote Tatze des arglosen Seemanns. Als dieser mehr und mehr weinbegeistert das Flaggenlied mit Mandolinenbegleitung freimütig zum besten gegeben hatte, öffnete der Zahnarzt das Klavier und trug raffiniert Chopins Fantasie Impromtu und die Lisztsche Rhapsodie vor. Es entging ihm nicht, wie Almas Blicke beobachteten und verglichen. Nur zu oft fing er diese Blicke auf, anscheinend bescheiden, aber gleichzeitig schürend und verheißend.

Bei aller Trunkenheit doch der Urlaubsgrenze eingedenk, erhob sich Dauke endlich. Die zwei Zivilisten bestanden darauf, ihn im Wagen bis an sein Schiff zu fahren. – – –

Bei nächstem Sonnenuntergang qualmten vier Torpedoboote im Hafen. Vier ausgefranste deutsche Heckflaggen flatterten westwärts aus. Nun stieg zwischen den Masten auch noch ein gelber Wimpel in den Wind. Und ein Kommando erscholl weithin vernehmbar: »Zurrr Flaggenparade!«

Von der Chaussee her näherten sich armverschlungen ein Herr und eine Dame. Die betrachteten aus bequemer Entfernung die grauen, von Ruß und Kohlenstaub entstellten Schiffe, ihre finsteren Maschinen und das arbeitsame Treiben der Matrosen an Bord.

»Dort!« Die Dame deutete auf einen Mann, der auf dem Achterdeck des vordersten Bootes aus Leibeskräften einen geschützverschluß abschmirgelte. Dauke. Er, der sich am Abend zuvor so schneidig präsentiert hatte, steckte nun in einer schmierigen, schlotternden Takelkleidung.

Dr. Welke lächelte, Alma lachte. Der Matrose schaute auf, erkannte die beiden und wollte sich, offenbar beschämt, abwenden. In diesem Moment ertönte, schreckend wie eine Himmelsstimme, ein zweites Kommando: »Nieder!«

Nun auf allen Fahrzeugen gleichzeitig die Flagge niedergeholt wurde und alle Leute an Deck von da aus, wo sie sich gerade befanden, ihr stramm salutierten, nahm auch Dauke vor der sinkenden Flagge seines Schiffes eine straffe, militärische Haltung an. Und nun das glutige Gefolge der Sonne seine trotzige Miene und seinen schmutzigen Anzug vergoldete, meinte Welke, nie ein [150] treueres und ergreifenderes Soldatengesicht geschaut zu haben. –

Alma begriff nicht, warum der Doktor auf dem Rückwege mit eins so verstimmt war, warum er sie, im Krug angelangt, mehr abgab, als daß er sich von ihr verabschiedete.

Ohne ein Wiedersehen mit ihr vereinbart zu haben, wanderte er nach kurzem Gruß den fast doppelstündigen, einsamen Weg zur Stadt.

Nach zwei Jahren

»Mohammed ist ausgegangen«, sagte der Kantinier bedauernd.

»Hm, Mohammed ist ausgegangen«, wiederholte ich brummig und dachte mich dabei orientalisch. Ich nahm irgendwelchen Ersatz, der aber nichts taugte. Gestern zum Abendbrot hatte ich einen Ersatz für Leberwurst genossen, der wie Wolle schmeckte.

Bis Zapfenstreich spielte ich Schach oder schlug Fliegen tot mit einer lächerlichen, aus einer Brandsohle und einem Stück Kleiderbügel hergestellten Klatsche. Krieg und kein Ende.

Denke Dir: Eine Hoffnung tat sich mir auf, endlich aus diesem trostlosen Mauerleben hinter der Front zu einer, wie wir's nennen, »dicken Sache« zu gelangen, zu einer schön gefährlichen Unternehmung. Selbstverständlich G.G. (ganz geheim). Aber ungefähr galt es, hier ins Meer zu springen, im Londoner Hafen plötzlich aufzutauchen, dem Lordmayor den Hut vom Kopfe zu reißen und damit wieder zu verschwinden. Ich meldete mich als Erster, diesmal direkt beim Kompanieführer. Der wies mich mit dem faden, gewiß schwer zu widerlegenden Kriegsschlagwort ab: Jeder hat da seine Pflicht zu erfüllen, wo er hingestellt wird. Seitdem verfolge ich diesen nüchternen, trockenen Offizier im geheimen mit Haß und Verachtung, wobei ich etwa die Rolle eines Mannes spiele, der ein loderndes Brandbündel vorstreckend gegen den Wind angeht.

Ach, ich bin voller Bitterkeit und Überdruß und ruhelos. Ich renne mit einem bösen Gesicht die hallenden Korridore entlang, reiße jede Tür auf und werfe sie wieder zu, ohne die Schwelle überschritten zu haben, weil mir nichts einfällt, was ich dort suchen könnte. An Sonntagen irre ich im Park von Ritzebüttel umher, lagere mich an einem buschüberhangenen Teich, worin [151] Goldkarpfen als zinnoberrote Striche durch Binsengrün streifen. Aber meine Sinne gleiten ab von den Märchenbildern. Ich habe kein Herz mehr, ich habe eine Kasernenuhr in der Brust – Herzersatz. Wirre, windelweiche Gedanken entziehen mich der Ruhe wie der Arbeit, vornehmlich vier Erinnerungen, die gleich Windmühlenflügeln mir immer von neuem vorbeisteigen. Das sind die Brüsseler Bibliothek und eine Schar Kinder. Und ich habe einmal die Feier eines kleinen Friedens miterlebt, in Boston in England. Da umarmten sich öffentlich Menschen, die einander fremd waren, und tanzten auf dem Pflaster; musizierende Banden querten die Stadt, Gassenbuben krakerten allerwärts mit Feuerwerk – die Ziegelsteine sangen vor Glück.

Und besinnst Du Dich, ich meine so schwärmerisch wie ich, auf unser Außerweltsein bei den gesprächigen Frühstücken in Borkes Garten? Auf die Austern und Kürbisse? Auf das komisch feige Hühnervolk mit den kinoartigen Bewegungen?

Übrigens, damit ich's nicht vergesse: Sollte in Breslau noch Seifenpulver ohne Karte zu kaufen sein, so besorge mir bitte ein Postpaket davon. Füge auch neue Lektüre bei (Detektivgeschichten – einen billigen Faust).

Kurz aber überschwenglich teilte ich bereits mit, daß ich zwei Tage voriger Woche dienstlich in Brüssel weilte, einer Stadt, wo man noch heute tanzt und lacht und läuft wie Anno 1913 in Breslau – oh nein, in Paris.

Habe ich das genossen! Bruxelles! Dort rauschte zwischen schroffen, imponierenden Ufern der Strom modernen Menschenvertragens. Lustwandelnde und Geschäftsgänger, Wallonen, Deutsche und Flamen, Zeitungsschreier; im Gewoge treibend eine lange, hübsche oder aparte Girlande von unbestreitbar berückenden Kokotten; und, über das Ganze verteilt, die straffen, grauen, bescheidenen Sieger. Meine blaue goldstrotzende Obermaatenjacke wirkte über die Maßen auffallend. Ich schwelgte in dem Ansehen, das sie mir lieh, und betrug mich in allen Situationen ausgesucht chevaleresk, aus Eitelkeit, darein sich ein Quäntchen Triumphgefühl mengte, einem tückischen Feinde gegenüber, der auch bezwungen noch unsere Rücksicht mißbraucht, hinterm Rücken unserer Offiziere höhnt und mich mehrmals durch vorsätzlich falsche Auskünfte fehlwies.

Von meinem Abenteuer am Gare du Nord, von herrlichen Bauten, die ich geschaut, mag unser nächstes Wiedersehen, so Gott [152] es gibt, behaglich plaudern. Du hättest dabei sein sollen, wie ich mit umgeschnallter Pistole und Entermesser mich als deutsche Marineessenz der Rue Neuve zeigte. Ich trank auch, mich gegen Brüsseler Zauber zu feien, braven Pfälzer, auf Deine Gesundheit. Und zu anderer Stunde in einem stockbelgischen Restaurant beobachtete ich im sanften Lichte eines teuren Chablis, wie die Besten die Schande ihres Landes tragen. –

Duftige Schauläden, seltenen Blumenbeeten vergleichbar, hatten mich vom Place Royal in das Spitzenviertel gelockt, unversehens befand ich mich der Bibliothek gegenüber. Du nickst lächelnd – ja, ich stieg wie tausendmal im Heimatlichen vom Vestibül über steinerne Stufen zum Lesesaal empor. Oben zögerte ich einen Moment, weil ich bemerkte, daß ein Angestellter Einlaßkarten abforderte. Nun tat es mir wohl, als dieser belgische Beamte, meine Unschlüssigkeit erratend, mir durch eine ernste aber ungemein höfliche Verbeugung Einlaß gewährte. Warum es mich doch so seltsam verwundern konnte, alles wie bei uns zu finden?! Ein andächtiger, lichter Saal, ringsum die Repositorien voll ewiger Früchte, auf den Bänken, über die Tische gebeugt, still nach Wahrheit oder Klarheit grabende Männer, viele interessante Köpfe darunter. Einige dieser Arbeiter blickten nach mir auf, vertieften sich aber unverzüglich wieder in ihre Bücher. Und ich, auf Zehen leise rundum schreitend, empfand auf einmal, daß meine Uniform dort nicht hingehörte, daß ich in ein wirklich neutrales Land geraten war, denn Du weißt, es gibt keine neutrale Schweiz, sondern eine deutsche und eine französische Schweiz, ein deutsches Dänemark und ein feindliches. Verlegen blätterte ich kurze Zeit in einem der Nachschlagewerke, dann stahl ich mich davon.

Kleinlaut, verstimmt, fuhr ich mit der »Schokoladen«-Bahn nach dem Bois, wo mir ein zweites, ebenso nachgehendes Erlebnis begegnete.

Ich erkor mir eine Bank unter Bäumen. Vor mir auf einer Wiese trieben flämische und französische Kinder ein drolliges Wesen. Sie spielten »Hund«, auf allen vieren durchs Gras hüpfend und bellend. Dann wollte jedes der Beschnüffelte und keines der beschnüffelnde Teil sein, daß ich ob solcher naiven Belustigung abwechselnd gerührt war und wieder hell auflachen mußte.

Da kam Mignon hinzu. Mignon, sorglos, weiß und wehend im Glockenrock und in zierlichen Lackstiefelchen mit ganz hohen, schlanken Absätzen – schlug, mein goldenes Vließ anstaunend, die [153] Hände überm Kopf zusammen und rief in allerliebst heiterer Zutraulichkeit: »Ah, comme un domestique du prince!«

Ich dankte mit heiklem Lächeln. Sie nahm an meiner Seite Platz; und wir plauderten mitsammen artig, auch nicht ganz töricht. Indes blieb ich mit Blicken und Gedanken doch mehr bei meinen Kindern, was die ungeduldig werdende Modepuppe schließlich zu einem näherbringenden Witzwort benutzte. »Dies«, erwiderte ich, auf die kleinen Spieler deutend, »ist eine Welt für sich, ist ebenfalls ein neutrales Gebiet.«

Mein Französisch geht auf Erbsen. Mignon verstand nicht recht. »Deutsch oder Belgisch, mir gilt beides gleichviel«, beteuerte sie. Mignon mochte gern ins Café Mocca geführt sein, jedoch ich vertröstete sie auf ein andermal, erfrug deswegen ihre Adresse. »Ihr paßt Euch nur an!« sagte ich bei einem Händedruck zum Abschied. »Ihr seid nicht abseits, wie dieses Kinderland, an dessen Ufern die Kriegswoge umkehrt.« –

Liebling, schilt oder spotte; vielleicht kuriert's mich. Denn ich bin krank. Die Zeitung, die Tagesgespräche der Kameraden, alles, was den Krieg betrifft, ekelt mich an.

Ich werde einsam nachher wieder in den Park flüchten, dort ist es doch noch am erträglichsten.

In der Jugend dünkt uns das Heimatland zu eng; später wird es uns Genuß, durch schöne Anlagen zu wandeln, und das Alter bescheidet sich gar dankbar mit einem grünen Eckchen. So macht uns die Zeit genügsam. Denke an Großmuttern, die sich im Rollstuhl allabendlich ans Fenster fahren ließ, wie sich die Alte den ganzen Tag über auf diese eine Stunde Sonne freute!

Weißt Du, was ich mir innigst wünsche, mir öfters während des Dienstes oder in wachen Nächten sehnsüchtig ausmale? Ich möchte wieder einmal in einem Dorfgarten, wo allerlei bunte Blumen mit Kraut und Rüben durcheinander leben, bei gutem, starken Bohnenkaffee und richtigen Buttersemmeln mit Dir ...

– – – –

Bis hierher hatte ich mittags geschrieben. Der Kompanieführer ließ mich rufen. Er ist doch ein Prachtmensch! Das mit dem Untertauchen wird nix, aber er sagte, er hätte eine andere dicke Sache für mich (»obwohl Sie's nicht verdienen«). Soll mich noch heute klarmachen. Tausend eilige Grüße! Morgen an Bord! Hurra!!

[154] Lichter im Schnee

»Spuren des russischen Rückzugs«, sagte Keltermann und stieß einen morschen Sattel wie einen Fußball vom Boden empor.

Unauffällig in ihrem Feldgrau zogen die acht dahin. Der Boden, bald Moos, bald Heide oder Nadelwaldgrund und wieder Sumpfwiese, bog sich teppichweich und leise. Nur das ausgedörrte, rostbraune Gezweig, das, durch die Axt oder durch Geschosse vom Stamm geschlagen, allenthalben umherlag, knisterte und knackte unter den benagelten Stiefeln, und wo die Sonne die Karabiner traf, blitzte stechend der Stahl auf.

»Sechzehn Kilometer vor den äußersten Stellungen.«

Die kleinen, jämmerlich abgemagerten Russengäule vor einer passierenden Gulaschkanone wurden belacht; nur Leibgeris sprach ernst mit seiner Grabesstimme eine neue Kriegsbeobachtung aus, auf die ihn das Quietschen der Räder brachte: »Auch an Schmiere mangelt's.«

Sie blickten die vereinzelten Infanteristen, Jäger oder Artilleristen, die ihnen begegneten, unternehmungsstolz und ebenso wissensdurstig an, wie sie selber als Mariner in dieser Gegend betrachtet wurden. Aber jedesmal glitten, wenn solch ein Tschaßki auftauchte, die Karabiner von den Schultern. Denn ob diese acht Männer sich auch auf deutschem – deutsch besetztem Gebiet befanden, so deuchte ihnen doch Vorsicht geboten. Märsche durch unbekanntes Terrain unmittelber hinter der Kampflinie waren ihnen etwas Neuartiges.

Das Neuartige speiste ihre Phantasie, ihr verwegenes Wohlbehagen und ihre Furcht, obwohl das keiner dem anderen eingestand; äußerlich, in Sprache und Miene, wahrten sie eine gewisse eingeführte Verkehrsform, die schlapp und unehrlich war.

Als zwei Reiter sich näherten, wie sich ergab: ein Major mit seinem Burschen, lief ihnen Bootsmaat Olyphant entgegen und meldete stramm dem Offizier:

»Zwei Unteroffiziere und sechs Mann vom Sonderkommando 213 der zwoten Matrosendivision auf dem Wege nach Goflaz.«

»Marine hier? Was wollt ihr den in Goflaz?«

»Quartiere suchen.«

[155] »Und was hat Ihr Kommando vor?«

»Darüber darf ich nicht reden, Herr Major.«

Der Offizier machte eine unwillige Geste, fand indessen die Antwort korrekt und trabte dankend weiter.

Abermals ließen sich Kanonenschläge von weit her vernehmen, dann minutenlang ein Geräusch, wie es ähnlich ein Spaziergänger erzeugt, der seinen Stecken an einem Gartenzaun streifen läßt.

»Das sin russ'sche Maschinengewähre, unsre deitschen dack'n viel schneller.«

»Ach, Schnack! Du hast gar keinen Savi von solchen Sachen.«

»Villeichd mehr als du, griener Regrud. Du bisd ja noch nich mal droggen hinder de Ohren.«

»Leicht möglich, weil ich mich öfters wasche, während gewisse andere Leute seit – – –«

»Was du so waschen nennst: in de Lufd geschbuggd und drunder weggesausd –«

Die Kameraden nahmen durch Gelächter oder hämische Glossen Partei. Inzwischen war auch unter den beiden vorausschreitenden Unteroffizieren Hader ausgebrochen. Obermaat Glomsda behauptete, ihm, als dem Dienstälteren, hätte die Meldung an den Major zugestanden. Berthold Olyphant hingegen berief sich darauf, daß er aktiv sei und daß der Kapitän ihn als Transportführer bestimmt, solches auch nicht widerrufen habe, als noch im letzten Augenblick der Obermaat zu der Gruppe hinzukam. Der unerquickliche Streit grub allerlei kleinlichste Nebensachen und Vorwürfe aus.

Ein breites Rauschen schlich sich in die Ohren ein. »Die See«, sagte Glomsda, »wir wollen dem Strande folgen, es ist der sicherste und der hellere Weg.«

In der Tat beugte sich Olyphant doch meist der größeren Erfahrung und der nüchternen Entschlußfertigkeit des Obermaaten.

Das Gelände ward zunehmend sandiger und damit anstrengender. Wagenräder und abscheulich unsaubere Kleidungsstücke lagen am Wege – auch ein abgenutzter Kinderschuh und (der Tsingtauschorsch griff es auf, alle bestaunten das an sich unscheinbare, ausgezackte Eisenstück) ein Granatsplitter. »Wer das in de Fresse grichd, der gann sich nachher de Visasche mid d'r Debbichsauchmaschine zusammsuchen.«

Ein Pionier schloß sich ihnen an, der einen Postsack nach einem [156] Unterstand bringen sollte. Sie frugen ihn aus, heiß neugierig, und er gab wichtig Auskunft, mit Erfundenem flickend, wenn seine Kenntnisse aussetzten. »Noch sechs Kilometer bis Goflaz ... dort liegen Dragoner, Artillerie ... fünfzehn Zentimeter und zwanzigeinhalb ... jeden Abend funken die Russen, aber an ein Vorwärtskommen durch den Sumpf ist vorläufig beiderseits nicht zu denken ... Spione erschossen ... Nein, diese Post ist für Pioniere ...«

»Ein Sack voll Speck und Tränen aus aller Welt«, bemerkte Olyphant, nur um als Teilnehmer an der Unterhaltung zu gelten.

»Bekomm ju regelmäßig Post?« ... »... Urlaub ... Entlausung ...«

»Seid ihr alle geimpft?« ... »Wie schdehd's denn mid der Verflägung? Mer gann sich hier wohl geene Schwielen in'n Bauch fressen?«

Bald wußten sie alles oder stellten doch, von Neuigkeiten gesättigt, das Fragen ein.

Schier unerträglich drückte der Ranzen, das Koppelzeug mit Spaten und Patronen.

Da tat sich eine überraschende, weite Helle auf. Vor der tiefstehenden Sonne blendeten und glitzerten die Dünen, deren Flächen vom Wind in starre Wellchen gemustert, streckenweise von Fußspuren sowie verstreutem, vielartigem Gerät und Abfall gestört waren. Auf einem Hügelkamme stand vor feurig ausgestrichenem Gewölk eine anmutige Silhouette. Zwei Lanzenreiter –»Dragonerpatrouille« – neben einer abnormen Kiefer.

Müde stapften die Maate und Matrosen hügelan, hügelab, bis das Meer, ihr Meer sie mit wildem Spiel aufweckte. Weiße Schaumungeheuer fauchten über das dunkle Gewoge, glitten ein Stück von rechts nach links und versanken jäh, und immer neue kamen und schwanden.

»Die Landzunge ist noch von den Russen besetzt.«

Immer noch donnerten die Kanonen.

»Setzt die Karabiner – zusammen!« Die Tornister fielen herab, überschlugen sich. Es war ein süßes Atmen ohne diese Bürde. Es war eine Wonne, sich nun auf unbemessenem, sauberem Boden lang zu strecken.

Waschkuhn durchkämmte mit gepreizten Fingern den Rieselsand. »Kik mol, du Krät, dat es enn Collerabakzille; ek glow, dat hebbe de krätsche Russe akratz för uns hengeschmäte.«

[157] Der Mann mit dem gelben Bande der Rettungsmedaille ereiferte sich: »Blödsinn! Eine Bazille ist so lütt, daß man sie ohne Brille überhaupt nicht sehen kann.«

»Soll das wahr sin, daß das Ubood im Schußfeld unserer Badderien liechd?«

»Selbstverständlich, sonst würden es doch die Russen sich zurückholen.« Der Tsingtauschorsch schleuderte einen halben Pferdeschädel nach dem Sachsen. Daraus entstand neuer Zwist. Auch die Unteroffiziere bissen sich noch eine Weile. Dann war wieder Waschkuhns Stimme oben: »Mensch, mog di man nich so breet!«

»Was willst du denn immer von mir, du schwammiges Aas?«

»Ik war di oldbaksche Gesell glik eent ver'n Frät gewe, schon von wegen dat mit de Collerabakzillen –«

»Na, willst du mir vielleicht was über Bazillen weismachen? Wo ich acht Monate lang auf Lübeck Sanitätsgast – – –.« Der Disput ward allgemein.

Glomsda entschied: »Ein Cholerabazillus ist nur durchs Mikroskop erkennbar.«

»Aber Herr Obermaat! Wo ich doch neun Monate lang Sanitätsgast war, wo wir jeden Morgen die Gonokokken und Bazillen haufenweise mit dem Haarbesen wegfegen mußten – – –«

»Ein Bolera – – – ein Cholerabaktizillus ist ein Wurm!«

»Jawohl! So eine Art Tausendfuß.«

»Sag doch lieber gleich ein Singvogel.«

»Ruhig mal, ich will's euch genau erklären. Ein Bazill ist kein richtiges Vieh und auch keine richtige Blume – – –« ...

»Quatsch nicht, Rindvieh!« ... »Au! Du ver ...«

»Pst! Ruhe! Keine Bolzereien hier.«

Keltermann begann: »Das ist doch eigentlich sonderbar, daß wir nun plötzlich in Rußland sind, so ganz weit weg von Zuhaus.«

»Ja Ja!« fiel Olyphant lebhaft und herzlich ein; er hatte zuvor lange schweigsam eine Hummel mit einem rostigen Hufeisen schikaniert. »Daß wir einst mit fremdländischen Mädchen tanzten und nun schon zwei Jahre Krieg erleben, leben, daß Dichter und Maler töten, und heute Bilder und Verse nicht viel mehr als wie Spielzeug gelten; daß gerade ich hier bin, – – – wie sehr sonderbar!«

»Jawohl, Bootsmaat«, mengte Leibgeris bei, »und daß das Russenschiff hier auf den Schlick gelaufen ist und wir das heimlich nachts wieder flott machen sollen ...«

Berthold winkte ab, als wollte er sagen: du verstehst mich nicht [158] recht, und fuhr fort: »Dies Land, wo wir sind, ist schön und ergreifend wie ein trauriges Kindermärchen. Und wir zanken hier und hassen einander, als könnte nicht morgen, heute noch der eine oder andere von uns hops gehen –«

In Glomsdas Gehirn setzte sich auf einmal der Gedanke fest, Bootsmaat Olyphant würde nicht lebend heimkehren. Deshalb fragte er versöhnlichen Tones: »Sie kennen doch die Gegend von Friedenszeiten her?«

»Ja, ich verlebte zwei Jahre in der Nähe von Goflaz.«

»Liebet eure Feinde!« zitierte Keltermann auf das Frühergesagte bezüglich.

»Lieben? De Russen? De Grädze winsche ich den Ludern und Blutblasen an de Finger, damid se sich nich gradzen genn.«

»Ich liebe zwei Feinde«, sagte Olyphant betonend, »Mußrussen – Russinnen.« Es hörte sich an, als ob er mit eins in eine glückliche Stimmung versetzt wäre. »Heute ist der 11. Dezember 1910. (Alle sahen den Bootsmaaten verblüfft an.) Hier auf den Dünen am Strand liegt Schnee, hoher Schnee. Ich bin ich. Sie, Glomsda, sind Wanjka, und du, Leibgeris, bist Fanjka. Wir drei treue Freunde, wir drei freie, arme, junge Künstler lagern hier im Schnee beisammen, wie Geschwister. Du, Wanjka, ziehst drei Lichter hervor, entzündest sie und steckst sie in den Schnee. Und du sagst: ›So, Berthold, nun laß uns feiern, heute ist bei euch Weihnachten –‹«

»Ho!« »Da bollern sie jetzt auch.«

Alle starrten nach der Landzunge. Dort, fast an der äußersten Spitze, zerging ein weißes Wölkchen und erschien gleich darauf ein zweites, rundes Wölkchen.

Niemand wußte zu Olyphants Worten etwas zu äußern.

Der Mann mit dem gelben Bande seufzte: »Jetzt ein gebratenes Filetstück mit Knochenmark und Zwiebeln ...«

»Und mit drei fetten Cholerabazillen darauf«, stichelte der Tsingtauschorsch.

»Lichter im Schnee«, murmelte Berthold. Ein sausendes, schneidendes Heulen unterbrach ihn.

»Krietzschlag! Nu ward et Tid, dat wie ons vertörn.«

»An die Karabiner!«

»De Golera – – –« Da brach ein fürchterlicher Schreck ein. –

»Himmlischer Vater, was war das?« fragte jemand leise, entsetzt. Dann sprachen alle gleichzeitig los. Doch nicht alle; drei von den acht sprachen nicht mehr, nie mehr.

[159] Fahrensleute

»Nein, zur Abwechslung«, erwiderte der Stückmeister, »du solltest eine Seemannskneipe kennen lernen. Ich dachte ein paar schwerhinwandelnde, tolle Janmaate anzutreffen, deren Gesichtshaut in Sonne, Salz und Wind zu Krokodilsleder verschrumpft ist, old sailors, die durch zwei, drei Jahrzehnte round the world gegangen sind.«

Die Dame mit den fünf Leberfleckchen am Halse unterbrach den Deckoffizier: »Es fehlte dir außerdem heute an Geld. Du glaubtest in diesem Wirtshaus billiger davonzukommen, als in den noblen Cafés, wo wir bisher unsere gemeinsamen Abende verbrachten. Ei, Rolf, dein Erröten in diesem Augenblicke magcum grano salis gelten. – Nun erklärt sich mir auch, weshalb du so mißmutig dreinschaust.«

»Ja, auch das war einer von meinen Gründen. Aber vor allem bin ich durch diese schäbige Kneipe enttäuscht und vor dir beschämt. Ich hatte gebeten, du möchtest heute abend Tabakrauch, Schnapsgeruch, Lärm und unanständige Lieder mit in den Kauf nehmen, um einmal in das naiv rohe, grotesk verbildete, hausbacken kosmopolitische Leben der Seefahrer zu horchen. Doch nun ist weder vom einen noch vom andern etwas zu spüren. Denn diesen Mehlsäcken dort am Tisch muß das Maul vernäht sein; sie glotzen uns an, als wären wir aus Himbeersaft geschnitzt. – Komm, mein Liebling, laß uns weiterziehen.«

»Nein, Rolf, mir gefallen deine Mariner. Es sind imposante oder amüsierende Männer dazwischen, zum Beispiel der griesgrämige Alte, dessen Glatze wie Afrika aussieht. – Welche schöne Kraft spricht aus ihren Händen, welche Einfachheit der Seele aus ihren Tätowierungen.«

Acht Matrosen und Heizer lümmelten sich am großen Kreistisch. Einige meinten ihrer salopp gehaltenen, schmutzigen Dienstuniform gemäß eine herausfordernd ordinäre Miene aufsetzen zu müssen. Andere, im Urlaubsanzug, mit jener gewissenhaften Regelmäßigkeit gekleidet und frisiert, welche die Bauern des Sonntags beobachten, vergaßen ihre Blicke zurückzuziehen, die sie [160] an den Stückmeister und die zierliche, vornehme Dame gehängt hatten.

Beinahe störend selten und dann im Flüsterton fiel eine Bemerkung, und einige simple Übungen in partieller Selbstreinigung vollzogen sich geräuschlos. Dem Bier ward so verzögert und mäßig zugesprochen, daß die dicke Wirtin, die nicht minder schläfrig hinterm Büfett Gläser spülte, vorwurfsgrimmige Blicke auf die Blauen entsandte, was denn, allerdings aus abweichenden Ursachen, auch Herr Bindebein tat. Eine unter der Decke pendelnde Fischmißgeburt erbrach aus gräßlichem Rachen ein traniges Licht in die Wirtsstube, wo kein Gegenstand, weder die Möbel, die Tapete oder die Ziehharmonika noch die ausgestopften Vögel und Pelztiere an den Wänden, sich zu einer bestimmbaren Farbe bekannten. Und weil die Mißgeburt sich wie ebenfalls gelangweilt hin und her drehte, blieben alle Schatten in nervöser Unruhe. Über der Tür prangte in einem Glaskasten eine stattliche Viermastbark, bis in die niedlichsten Details ausgearbeitet und freundlich bemalt; die getönte Rückwand des Kastens gab ihr den Hintergrund, einen kobaltblauen Himmel.

»Fische auf dem Trocknen«, murmelte Herr Bindebein verdrossen, und dann fuhr er laut zu seiner Braut fort: »Der Seemann an Land, wenn er sich nicht unter seinesgleichen weiß, blamiert sich immer. Ungeschickt, unmanierlich, zügellos, brutal benimmt er sich, verlogen, läppisch oder schamlos.«

»Aber seine harten und einsamen Pflichten auf dem Meere«, entgegnete Muky warm, »heischen viel Vergeben.«

»Wache um Wache. Arbeit, Essen, Schlaf; freilich, solche Monotonie läßt vertieren.«

»Rolf, erzähltest du mir nie aus deinen Seefahrtsjahren von den ungewöhnlichsten, Mut und Geistesgegenwart fordernden Erlebnissen, von mannigfachen Momenten, da sich einem das Herz zusammenschnüre, und von langewährenden, frostigen, nüchternen Gefahren? Du sprachst von zusammenstürzenden und emporstoßenden Wassergebirgen, vom Tanz auf einer pfeilschnell abrollenden, donnernden Ankerkette. Und diese weit zurückgelegenen Jahre hast du wie Begebenheiten und Zustände von tags zuvor geschildert mit der fortreißenden Kraft tiefsten Ergriffenseins.«

»Es ist wahr, Muky«, der Stückmeister legte seine Hand auf ihr Knie, »diese Zeiten rührten mein Innerstes auf. Nun hat mich der [161] Krieg aus dem stilleren Beamtenstand unversehens (und, gebe Gott, für nicht mehr allzulange Dauer) wieder in ein Stück Seemannstum gesetzt. Aber es hätte nicht erst dessen bedurft, um mich immer von neuem dankbar empfinden zu lassen, daß ich der Nachtwachen in vereisten Mastkörben ledig bin und der Streitigkeiten mit zehn, fünfzehn einzigen, niedrigen, beschränktesten Seelen, inmitten der chaotischen Trostlosigkeit der Hochsee. Wenn mich jemals schlimme Träume foltern, so vollzieht sich das nie anders, als daß sie mich entweder in meine Schulzeit oder eben in jene Jahre der Seefahrt einsperren.« –

Neue Gäste, ebenfalls Mariner, traten auf. Herr Bindebein erklärte ihre Charge, ihre Funktion. »Der aufgedunsene Matrose ist ein Taucher.« Ferner: ein Koch von einem Torpedoboot und ein aktiver Funker, der sich bei der Flotte einen Tropenkoller angelegt hat. Diese Neuen blieben zur gegenseitigen Bequemlichkeit vor der Wirtin, am Schanktisch, stehen. Dort versuchten sie mit ihrer noch gelinden Bezechtheit zu theatern. Der Funker gab so laut, als gälte es gegen einen Taifun anzusprechen, die Erinnerung zum besten, wie er einmal im Rausch zwei Tuben verwechselt und sich die Zähne mit Sardellenbutter anstatt mit Pebecco geputzt habe. Der Taucher trat überzeugender als Freßvirtuose auf; er verzehrte fünf Neunaugen mit Haut und Haar und verschluckte, als ihm solches Beifall einbrachte, noch obendrein Bindfaden und Zündhölzer. Im Vorübergehen hatte nur der Funker vor dem Deckoffizier salutiert. Diesem entging es nicht, wie seine Braut durch solche Ehrenbezeugung für den jungen Mann eingenommen wurde, und er äußerte lächelnd: »In dem steckt vermutlich ein anständiger Mensch, ein guter Soldat und ein schlechter Seemann. Denn die echtesten Kauffahrteier, jene, die mit einem Priem zur Koje gehen und ein Lot Petroleum nicht aus der Suppe herausschmecken, die nehmen es mit dem Militärischen nicht so genau, und man sieht's ihnen nach. Die Vielseitigkeit des Schiffsdienstes und die Verantwortlichkeit des einzelnen dabei bringen es mit sich, daß auf See oft der Soldat hinter den Seemann zurücktritt, zuweilen sogar über diesem in Vergessenheit gerät.« –


Ein stolzes Schiff am Bollwerk lag.
Ein junger Matrose zum Mädchen sprach:
»Ei, wohin denn du stolze Kleine?
Du sollst heute nacht meine Beischläfrin sein,
Denn ich schlafe so ganz alleine.«
[162]
»Deine Beischläfrin sein, das kann ich nicht.
Meine Mutter hat mich ausgeschickt.
Einen Taler hat sie mir gegeben,
Ich soll einkaufen, was zum Haushalt nötig ist,
Ich soll gleich wiederkehren.«
Er nahm das Mädchen an seiner Hand
Und führte sie an des Schiffes Rand.
Und sie schliefen so fröhlich beisammen,
Bis daß der helle Tag anbrach,
Und der Steuermann kam gegangen.

Auf, auf, Matrosen! Der Wind steht gut ...


Die am Schanktisch brüllten das Lied. Am großen Tisch fiel ein Matrose ein, dem die halbe Nase fehlte. Herr Bindebein zog die Uhr. »Wollen wir nicht aufbrechen?«

Die Dame mit den Leberfleckchen griff statt zu antworten stumm fragend nach einer goldenen Kugel, die mit ebensolcher Schnur an die Uhrkette geknüpft war.

»Ein Talisman. Kapitän Ramox schenkte ihn mir. Er sagte: Wenn ich einmal im tiefsten Herzbunker einen Wunsch hätte, dann möchte ich nur dies Appendix über Stag gehen lassen, d.h. beseitigen, und mein Wunsch werde sich alsbald erfüllen.« Herr Bindebein zerlegte die Kugel mittels einer fein versteckten Mechanik in mehrere kantige Glieder, deren jedes zierlich gravierte, hermetische Zeichen aufwies. »Ramox war ein abergläubischer, ostfriesischer Schipper, rotbärtig und sparsam, auf dem Wasser zu Hause, gottesfürchtig und fluchte wie zwanzig Spanier mal dreißig Türken. Aber ein ganzer Kerl. Und solche Kerle, Muky, mögen auch unter diesen stumpfen und stieren Burschen sein, es käme nur darauf an, sie herauszulocken. O, man muß sie belauschen, wenn sie günstig beisammen sind und von ihren Reisen berichten. Dann wachsen die Palmen vor einem aus der Tischplatte, und man hört den Mississippi rauschen. Erzitternd sieht man den nächtlichen Umrissen eines treibenden Eisberges entgegen, oder man klammert sich unwillkürlich, fiebernd an die Unterkanten des Stuhles, über der Schilderung eines exotischen Nackttanzes. Da man doch zur gleichen Zeit über die komischsten Prellereien, Prügelszenen und Schmuggelgeschichten, noch mehr über die Art und Weise, wie sie vorgetragen werden, herzlich lacht.«

Muky strich mit den Fingern durch Rolfs Haar. »Ein wenig hängst du noch an dem, was Seefahrt heißt und angeht?«

[163] »Ja! Manchmal packt mich eine feuchte Sehnsucht; so, wenn ich ein Seilergeschäft betrete und auf einmal den Duft von Hanf, Manila oder Braunteer einatme. – Hallo, noch zwei Grog, Frau Wirtin!« –

Mittlerweile waren auch die Leute am Kreistisch in ein beständiges, allerdings sehr unerquickliches Gespräch gekommen, das alle Übelstände des Krieges herauszerrte und kleinlich beleuchtete, über gesteigerte Lebensmittelpreise, über Tote, Verwundete und Vermißte klagte, ohne den gewaltigen deutschen Erfolgen gerecht zu werden. Nun waren Rolf und seine Braut in die Rolle der schweigsamen Zuhörer verfallen. – Krieg, – Krieg –. Und nimmer Friede.

Der widerliche Geruch des Grogs verbreitete sich. Die Tabaksschwaden blieben wenig über Mannshöhe in der Luft stehen.

Es gingen Gäste, und neue traten ein, darunter auch Zivilisten, Werftarbeiter, deren einer die Neuigkeit verteilte: Simon Fels sei gestorben. Muky wollte ihren zusehends in Mißlaune zurücksinkenden Bräutigam zerstreuen. Sie sagte: »Simon Fels war der Werftdirektor. Eine jener genialen, rührigen und zielbewußt rücksichtslosen Naturen, die in irgendein Unternehmen gesetzt, ganz gleich, ob es ein Restaurant, eine Fabrik oder ein Staatswesen sei, unfehlbar eines Tages an die Spitze gelangen und von da ab das Unternehmen emporbringen. Just so, wie ein Stein, den man an einem Band befestigt und mit diesem zusammen in die Luft wirft, alsbald das Band in seine leitende Gewalt bringen und weiterführen wird. Dieser Fels fing als Kesselklopfer an und zuletzt –«

»O ich kenne Simon Felsens Werdegang. Seine Verdienste in diesem Kriege wird man schwerlich überschätzen.« Nach einer Weile fügte Herr Bindebein ohne aufzusehen hinzu: »Ich kann mir sein Ende vorstellen. In einem Lehnstuhl, in einem sehr hohen, mit Panzerschiffsmodellen und prächtigen Palmen schwer und vornehm geschmückten Saal – – und die Familie sowie einige feierlich gekleidete Herren sind versammelt. Im letzten Kampf, als dem fiebernden Greis schon die Sprache schwindet, richtet er sich auf und bewegt die Arme, als ob er mit gewaltigen Händen etwas formen, etwas Kolossales, Massiges zusammenballen wolle. Dann kommt noch ein letztes Stammeln von seinen Lippen: ›Eisen – – viel Eisen.‹ Und das letzte Bulletin geht in die Welt. – – Muky, das ist das große Sterben.« Wieder blieb der Stückmeister eine Weile sinnend.

[164] »Denke dir: als ich gestern abend meine Wohnung verlasse, begegne ich auf der Treppe zwei streitenden Weibern und fange gerade auf, wie die eine sich verteidigend ungefähr folgendes sagte: ›Jedermann weiß, wie pünktlich ich sonst die Wäsche erledigt habe. Aber diesmal war ich lange bei meiner Schwägerin; da ist die elfjährige Tochter gestorben und ...‹ ›So?‹ höre ich das andere Weib fragen, ›woran denn? ...‹ ›An Gehirnentzündung; sie hat acht Tage lang mit dem Tode gerungen ...‹ Darauf schwatzten die beiden weiter von ihrer Wäsche. Aber seitdem muß ich gar oft an das elfjährige, bleiche Mädchen denken, an das stille Leiden und Entschlafen, das vor dem Weltenwaffenlärm unbeachtet sich bei Tagelöhnern in der Vorstadt vollzieht, – abseits.«

Die junge Dame nickte ergriffen. »Das ist das kleine Sterben«, sagte sie endlich.

»Ja, ja.«

»Ja. – Eine traurige, niedrige, armselige, verlogene Zeit herrscht in der Welt.«

Rolf summte vor sich hin: »Auf, auf, Matrosen, der Wind steht gut«, und als er sich dessen bewußt ward, brach er die Melodie rasch ab und deutete auf den Glaskasten über der Tür: »Weißt du wohl, Liebling, was ich jetzt möchte? Mit dir auf dieser Viermastbark – mit vollen Lappen, wie sie dort fährt – davonsegeln, weit, weit hinaus aus all dem Kriegsjammer in die alles lösende, friedliche Ferne, wo die Seeleute ihre glückliche Zeit haben, weil vor dem ruhigen Atem des Passates die Schiffe beinahe keiner Aufsicht mehr bedürfen; in die lichte Abgeschiedenheit, wo sich der tropische Atlantik in feierlichen, saphirblauen Schollen wiegt und von oben ein gütiger Himmel aus unzähligen blauen Augen auf uns herablächelt; wo über den elementarsten Wonnen kein Wunsch mehr bleibt.« Herr Bindebein sprang plötzlich energisch auf, bat seine Braut, ihn für Minuten zu beurlauben und verließ, der Wirtin heimlich zuwinkend, ohne Mütze das Lokal.

Obschon Muky erfahrungsgemäß irgendeine liebenswürdige Torheit ihres Geliebten befürchtete, war sie doch alsbald entschlossen, eine solche mit- und möglichst wiedergutzumachen. Befriedigt darüber, ihren Bräutigam froh zu wissen, wandte sie sich während dessen Abwesenheit behaglich wieder der übrigen Marinegesellschaft zu, der sie mit frauenhafter Unauffälligkeit und Schärfe bereits genügend zugehört und zugesehen hatte, um an der Weiterentwicklung Interesse zu nehmen.

[165] Der Taucher und seine Kumpane hatten sich zu den Seeleuten am Kreistisch gesellt und denen ein Teil von ihrer weitgediehenen Betrunkenheit aufsuggeriert und eine gewisse Lebhaftigkeit entzündet. Da fingen sich aus einer an sich schwer verständlichen Sprache, die mit imponierender Dreistigkeit vom deutschen Platt bald hierhin, bald dorthin ins Fremdländische griff, allerlei Bezeichnungen in Mukys Ohr, mit denen sie wenig anzufangen wußte, wie Hellegatt, Taljereepen oder »von Ida Grün in Dwarslinie aufrücken«. Aber die aus Liebe aufmerksame Dame wurde dadurch doch dem wirklichen Bilde der Seefahrt um ein beträchtliches näher gebracht. Und weil sie ihren wohlerzogenen Schwärmer Rolf damit in Gedankenverbindung brachte, ward auch sie zunehmend trübsinniger.

Nun erschien er wieder, der Stückmeister, zugleich mit der Wirtin, beide schwer bepackt. Sie hasteten in gläserner Angst auf den großen Tisch zu, um dort eine Anzahl Flaschen, einen umfangreichen Kupferkessel, zwei gewichtige Stücke Hutzucker und eine blanke Ofenzange abzuladen.

Jetzt hielten es die Matrosen und Heizer doch für geraten, vor dem Deckoffizier eine militärische Haltung anzunehmen.

»Never mind that! Heute sind wir auf du und du, vor dem Mast, das heißt, diese Dame ausgenommen; sie ist eine Prinzessin. Wir laden euch ein. Wer etwas Savi von einer Feuerzangenbowle hat, der helfe sie brauen und lensen. – Komm heran, Muky. Laß uns diese Nachtung bis zur Neige auskosten; wir haben uns heute auf dem Elegischen festgefahren. Wollen wieder flott werden. – Heda, ein bißchen fixer, Boys! Man merkt doch gleich, daß ihr keine echten sailors seid. Wäret ihr jemals über die Linie gekommen – –«

Der Mann mit Afrika auf dem Kopf wandte sich gekränkt nach Herrn Bindebein um, und, dem angebotenen Du nicht recht trauend, zischte er giftig: »Ick glöw, Herr Stückmeister swapperten noch in witten Büxen ümmer, as ik all teihnmal ümme Hoorn seihlt wier.«

Die andern Matrosen und Heizer unterstützten ihren Kameraden lachend und spottend, dabei halfen sie aber eifrigst die Fürknieptangbowle fördern. Das Kupferbecken wurde zu zwei Dritteln mit Rotwein gefüllt, auf die quer darüber gelegte Zange eins von den Zuckerstückchen gesetzt und dieses mit Jamaika begossen, dann angezündet.

Ein langer, nur durch einen Ohrring auffallender Mann knipste [166] das elektrische Licht ab und rief heiser: »Herr Stückmeister, Se hämm dat hier nich mit Schippsjungens tau dauhn!« Zum Erstaunen wie zur Besorgnis seiner Braut fuhr indes Herr Bindebein fort, die Leute durch Beleidigungen aufzureizen. »Was seid ihr denn anders? Süßwasserjungen, die keinen Langspliß zuwege bringen, keine Logleine aufschießen und eine Backspiere nicht von einer Handspake unterscheiden können.« –

Bläulich beleuchtete, zornige Gesichter schauten abwechselnd bald drohend nach dem Deckoffizier, bald neugierig auf den Zucker, der in flammenden Tropfen herabschmolz, aufzischend in der blutfarbenen Flüssigkeit unterging.

Zwei Heizer stahlen sich davon, um eventuellen Tätlichkeiten auszuweichen. Aber Rolf Bindebein lenkte rechtzeitig zum Guten ein: »Skol, Jungens! Ich wollte nur erst mal die Lage peilen. Nun, ihr seid ehrliche Fahrensleute. Sakramente, pumpt euch die Klüsen voll.«

»Prosit Janmaate!« schrie Muky. Da klangen die Gläser.

»Sie sind alle schon einmal bei Wera Iwanowna in Odessa zu Gast gewesen, Muky. Sie segeln nach Melbourne, wie du nach dem Briefkasten läufst. – Das ist recht, Schmut, give us a song!«

Der Torpedokoch nahm die Ziehharmonika auf den Schoß: »Yankeeships come down the river – –«

»Was haben Sie da für einen seltsamen Goldring?«

»Das ist ein Afrikaner, Fräulein Prinzessin, – – bitte. Ich schenke Sie den Ring.«

»Der alte Ramox, Muky, –«

»Ramox?« fuhr der Halbnäsige auf, »Kapitän Ramox? Mit dem bin ich acht Monate Chinaküste gefahren. Das war einer. Wenn böses Wetter aufkam, dann stülpte er seinen riesigen Kalabreser auf und ging selbst ans Ruder. Dann fegte der Wind den Kalabreser über Bord; und Ramox ließ beidrehen und lavierte bei Tod-und-Teufel-See so lange hin und her, bis der schäbige Filzdeckel wieder aufgepickt war.« –

Es baute sich eine Einmütigkeit zusammen, die ihresgleichen suchen mochte. Jeder meinte ersticken zu müssen, wenn er einmal länger als eine Minute nicht zu Worte kam. An das traurige Samoalied reihte man ohne Pause den lächerlichen Negertanz Just because you made them googoo eyes.

Als das zweite Stück Zucker seine Sternschnuppen in frische Weinmengen träufelte, rauchte Muky eine abscheuliche Pfeife [167] aus dem Munde des täppisch karessierenden Tauchers zu Ende.

Später zog der griesgrämige Alte ohne jegliche Veranlassung und Vernunft seine Seestiefel aus und schleuderte sie schweigend aus dem Fenster.

Draußen hub gerade die Turmuhr zu schlagen an. »Zwölf Uhr«, sagte Rolf und langte zwecks Kontrolle seine Uhr hervor, an deren Kette kein Appendix mehr hing.

»Nein, acht Glasen«, sagte der Funker ernst und horchte. Die sonderbare Wahrnehmung, daß die Kirchuhr in der Tat diesmal vier Doppelschläge tönen ließ, verursachte eine vorübergehende Bestürzung. Muky am Klavier: Auf, Matrosen, die Anker gelichtet ...

Der Halbnäsige hob, ohne auf das Gezeter der Wirtin zu achten, den Glaskasten von der Wand herab und stellte ihn mitten auf den Fußboden so heftig nieder, daß die gläsernen Wände in Scherben auseinander brachen.

Hierauf – und ausdrücklich bemerkt: in der vierten Minute des 29. Novembers 1915 – geschah es, daß die kleine Viermastbark sich zu dehnen begann, daß sie nach wenigen Sekunden die Größe einer Badewanne und in nochmal soviel Zeit den Umfang einer Dampfpinasse erreichte.

»Alle Mann an Bord!« Es entstand eine Panik. Angstlaute, Pfiffe, Kommandos, gegenseitiges Aneinanderprallen, – die Wirtin schrie nach Bezahlung. Aber die meisten Seeleute stürzten zunächst in ein und demselben Gedanken zum Klavier: Muky. Sie trugen das mutig lächelnde Mädchen trotz der drängenden Gefahr behutsamst auf den Segler. Dann schifften sie sich selbst ein; und jeder begab sich wie verabredet auf einen besonderen Posten, an die Brassen, in die Wanten hoch, auf Ausguck, ans Ruder, der Torpedokoch in die Kombüse, Herr Bindebein – Kapitän Bindebein aufs Achterdeck.

Unterdessen wuchs die Bark weiter in die Länge, Höhe und Breite, die Stühle, die beladenen Tische mit Getöse umkippend und beiseite schiebend. Schon stießen die Masten in die Decke, daß Kalkstücke herabprasselten. Der Besan hatte die Mißgeburt gespießt. Jetzt zerbrachen die schwellenden Schiffsplanken das Möblement an den Stubenwänden und preßten die dicke, quietschende Wirtin fest, platt. Ein Zivilist entging nur knapp dem gleichen Schicksal, indem er noch im kritischsten Moment aus der Tür schlüpfte. Als diese aufgerissen ward, brach ein ungeheurer [168] Windstoß herein und ließ die Segel knattern, bis sie sich auf einmal zum Bersten voll steiften. Das Schiff kam in Fahrt. Die Raanocken zertrümmerten vorbeistreifend Fenster, Spiegel und Bilder und hauten die ausgestopften Tiere von den Wänden. So rammte der Viermaster wuchtig die nächste Wand ein, daß die Ziegel geborsten auseinander stoben, schoß quer über den Kirchplatz, auf der anderen Seite wieder in ein Haus hinein und durch dasselbe hindurch, nur einen Schutthaufen zurücklassend, und schlitterte nun die grausam gepflasterte John-Brinkmannstraße längs, wo der letzte Werftarbeiter, den man mitleidig mit an Deck gezogen hatte, verzweifelt seekrank wurde und kopfan über die Reling sprang. »Südwest zum Westen!«

»Heiß Großstengstagseil!« – »Zwei Strich Backbord!« – »Ahoi!«

Das rasende Schiff überrannte schreiende Menschen und durchgehende Pferde, teilte zermalmend eine Marschkolonne wahnsinnig erschrockener Trainsoldaten, jumpte über die Kaimauer platschend ins Wasser und lief nun mit verdoppelter Geschwindigkeit aus dem Hafen. Lief rücksichtslos, frech an signalisierenden oder schießenden Wachtschiffen vorbei, durchbrach unbeschadet ein entsetzlich krachendes Minenfeld und sonstige Hafensperren, jagte – immer mit vollen Segeln – quer durch eine Seeschlacht und von dannen, weit fort in die warme, blaue Ferne des Hochatlantiks, wohin kein Kanonendonner reicht, und wo wir alle einmal gewesen sind, in den süßesten Stunden unbewußter Kindheit.

Dort saß nun die Dame mit den fünf Leberfleckchen auf einem Teppich auf dem Achterdeck in der milden Sonne, und weil die Matrosen es nicht zuließen, daß ihre feinen Hände irgendwelche Schiffsarbeit anrührten, sie jedoch nicht müßig bleiben wollte, so zog sie ein Strickzeug hervor, um Strümpfe für die Seeleute zu fertigen. Rolf aber nahm ihr im Vorbeigehen die Wolle fort, und indem er diese ins Meer warf, sagte er glücklich: »Das einzige, was ihr zu geben vermögt, wonach sie sich sehnen, weil sie's entbehren, ist Liebe.«

[169] Die Zeit

Dreißig Maate und Matrosen marschierten wir einen Weg, der uns bis zum einzelnen Pflasterstein vertraut war, da er seit Wochen täglich zweimal von uns zurückgelegt wurde.

Seeleute sind schlecht zu Fuß, und die gewitterschwangere Luft flimmerte wie über einem Holzkohlenfeuer. In einer Brandung von Staub zogen wir schlapp, durstig und verstummt dahin, im Gleichschritt: eins, zwei, Schritt, Schritt, Scheritt, Scheritt –

Für die dürftigen Begebenheiten auf den Fußsteigen links und rechts hatte niemand von uns Aufmerksamkeit. Jeder verfolgte mit Augen, die aus Müdigkeit und vor dem stechenden Mittagshimmel halb geschlossen waren, die Hacken des Vordermannes, die Fußspitzen des Nebenmannes.

Ich bildete den linken Flügel des letzten Gliedes. Vor mir bewegte sich unheimlich gleichbleibend, wie die einem Pendel gehorchenden Reklamefiguren in den Schauläden, ein Bild, das ich hundertmal so stundenlang vor mir gehabt hatte, dem ich nicht das geringste Neue mehr abzugewinnen vermochte: Lauter gleiche Ledergurte, jeder mit dem gleichen Lichtfleck an der gleichen Stelle. Lauter gleiche Seitengewehre, die im selben Moment leise an linke Schenkel anklirrten. Prall ausgefüllte Hosenböden mit einer einzigen, sich verzerrenden Falte, die ihnen den Anschein gab, als ob sie Gesichter schnitten. Gleichmäßig vor- und rückschwingende rechte Arme mit flachen schmutzigen Händen, gleiche linke Oberarme. Rechts von mir, hintereinander, wie auf einer Schnur aufgereiht, rosa Nasenspitzen. Und über den dreißig blauen Mützen ein wanderndes Spalier von Gewehrläufen, die in einer Bewegung zwischen Schwanken und Wippen den Rhythmus der groben Soldatentritte nachäfften.

Diese Tritte werden für Sekunden laut und drohend, wenn die Holzbrücke hinter dem Fort überschritten wird. Dann biegt die Straße in scharfer Kurve ab und führt an dem Milchgeschäft vorbei, wo die dicke Hedwig mit Kannen klappert und einen Matrosenwitz provoziert. Dann ein gewundener Wiesenweg, welcher in das von der Zivilbevölkerung gemiedene, tote Viertel am Strande, hinter dem Depot mündet.

[170] Dort – ich bemerkte es flüchtig – saß diesmal auf einer Bank unter den Kastanien, bequem vornüber geneigt, mit den Ellbogen auf die Schenkel gestützt, ein alter, schneeweißbärtiger Herr. Er blickte gleichsam ausruhend zu Boden und hielt zwischen gefalteten Händen einen Stock; damit zog er, in dem Augenblicke als ich passierte, eine leichte, spielerische Linie in den Sand. Er schaute nicht auf bei unserem Vorbeimarsch.

Er hat nicht einmal nach uns geblickt, da wir im treuen Gleichschritt vorüberzogen: dreißig Maate und Matrosen, die eventuell morgen, mitten auf dem Meere, weitab vom blutwarmen Lande in einem Backofen verbrennen oder in die stumme, ewige Nacht der platten Fische versinken; vielleicht – mag das immerhin als Pose geschehen – im Sterben noch ihr Flaggenlied schreien.

Ich, selbst Soldat und dieses Standes reichlich überdrüssig, muß noch immer wie beim ersten Male hinstarren, wenn sie nahen mit Trommeln und Pfeifen, mit Staub und Schweißgeruch, singend und blumengeschmückt oder schweigend und blaß. Alles Söhne, denke ich dann, alles Brüder, Väter, Gatten, alles Kugeln, alles Kegel, alles Helden, alles Gerippe; Dumme, Kluge, Arme, Reiche, Junge, Alte, – alle für die gleiche Idee feldgrau, marineblau. Und der Alte schaut nicht einmal auf. Verstehe einer die!

»Avanzadora, ich sah einmal tief in den russischen Wäldern etwa hundert deutsche Feldgraue ruhen. Die hockten, von den glühenden Fetzen des Abendhimmels beleuchtet, in langer Reihe in einem Graben, das Gewehr wie ein Kind in den Armen, den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen und den Mund weit offen, bis auf zwei wortlos wandelnde Posten.«

»Die Ärmsten!« entgegnet Avanzadora. »Gewiß hatten sie einen anstrengenden Marsch hinter sich. Der Osten fordert viel von den Beinen, und wo Breitenbach der Atem ausgeht, beginnt Hindenburg zu laufen.«

»Avanza, was hältst du von dem Matrosen dort, der das Pferd striegelt?«

»Der Kleine? Nun: lustig, gutmütig, pomadig und nicht gerade sonderlich intelligent.«

»Wohl! Du hast einen findigen Blick für Leute aus dem Volk. Ich wünschte, du könntest dich selbst so beurteilen. Nehmen wir an, der Matrose sei in Zivil Stallbursche oder Fensterputzer, denn ich kenne ihn nicht. – Höre, Avanza, vielleicht hat dieser Mann während des Krieges einmal, vom englischen Kanal aus, in [171] Minutenfrist – durch einen einzigen kurzen Druck mit seiner Hand – tausend Frauen im fernen Indien zu Witwen gemacht.«

Meine Freundin lächelt. »Hm, die Möglichkeit existiert. Er kann jedoch möglicherweise von seiner Einberufung an bis heute als Verwalter Speck, Würste und Margarine behütet haben.«

»Zugegeben. Oder er mag manchmal, in wimmernden Nächten – während ihr in warmen, hellen Stuben schlemmtet – gar nicht auf unserer Erdkugel gewesen sein, sondern tausend Meter darüber, an den Rücken eines schnaubenden Riesenkäfers geklammert, in der grausigen Haltlosigkeit der Wolken voll Angst und Mut wider Tod und Teufel gekämpft haben.«

»Hellen Zimmern schlemmtet?« wiederholt Avanzadora kokett. Sie unterbricht kurz eine Häkelarbeit (Leibwärmer für die Marine), um eine Falte ihres modischen Trauerkleides zu ordnen. »Weißt du nicht, daß ein Pfund Butter jetzt drei Mark dreißig kostet, für das ich früher Eins Sechzig, nein –« sie besinnt sich, »Eins Vierzig zahlte; und wie rar Petroleum –.«

»Doch, ich weiß. Das heißt, ich fühle es, aber nicht wie du im Magen oder am Geldbeutel; und ich vergesse mich darüber. Ich entdecke, daß aus Kohle Gold und aus Gold Papier geworden ist, und eile, solche Wandlung nicht begreifend, zu dir, um mein Staunen an dem deinigen zu stützen, und du? Du kochst Pflaumen zu Mus ein und erzählst dabei ein komisches Erlebnis mit einem gefangenen Belgier, den du im Lazarett pflegtest. Meine stets hilfsbereite und umsichtige Kameradin, wer möchte dir warmes Herz und hellen Kopf absprechen! Aber ich glaube: Wenn du eines Tages mit liebevollem Eifer daran wärest, einen Rosenstrauch zu beschneiden und säubern, und dieser Rosenstrauch sich unversehens in einen Pudel verwandelte, du würdest keinen Moment deinen freudigen Fleiß verlieren, die Schere nicht aus der Hand legen, sondern unbekümmert, als sei nichts vorgefallen, nun den Pudel scheren und herausputzen. Überlege dir doch: Es liegt noch keine zwei Jahre zurück, daß wir die Spatzen mit Semmeln aus Weizenmehl fütterten und uns Gäste aus fremden Ländern ins Haus luden. Die verschwören sich über Nacht, uns verhungern zu lassen. – – Nun, sie haben unser Menu umgestoßen, aber gelt, uns schmeckt auch die Hausmannskost? Wir füttern unsere Russen fett. – Um sie später am Spieß zu braten. Deine Backen, Avanza, sind noch rot, deine Augen blitzen heller denn je, daß sich die stones und aires und inis und kows wütend verwundern. Es ist, als hätten [172] neidische Nachbarn mit eins dem Gebäude Deutschland alles, woran es sich lehnte, worauf es gebaut hatte, tückisch entzogen, um es zusammenbrechen zu sehen. Jedoch dies Deutschland stürzt nicht und wankt nicht, sondern befreit vom trügerischen Gerüst zeigt es sich, ein vollendeter, granitner Bau, fest auf eigenen Fundamenten, erst jetzt recht in seiner imposanten Größe, und das zertrümmerte Gebälk herum begräbt die Zerstörer.«

»Wie findest du das?«

»Großartig.«

»Ach was, großartig. Du sagst das so, wie man es vor einem Sonnenaufgang sagt.«

Sie lächelt wieder, ihr häufiges, impertinentes Lächeln, das zum Zorn reizt und dem ich doch nicht beizukommen vermag, weil ihm eine gewisse, unerklärliche Sicherheit anhaftet, wie sie eigentlich nur ein tief geklärtes, gutes Gewissen verleiht.

»Ach, Avanzadora, für dich hat die Gegenwart kein Wunder.«

»Alles ist Wunder«, erwidert sie, »und kein Wort dessen wert. Kommst du mit zu Markt, Kartoffeln einkaufen?«

Ich gehe neben ihr her, beobachte sie böse von der Seite, derweilen ich doch innerlich ein schönes Vergnügen daran habe, wie sie emsig und klug ihre Einkäufe und vielartigen Geschäfte besorgt. Sie ist eine reizvolle, gesunde Frau, die allem vorbaut und dort, wo ihre Gedanken weilen, sogleich ihre Hände hinsteckt. Aber ob sie auch dabei unaufhörlich mit den Leuten über die neuesten Heeresberichte und über ihre gefallenen oder kämpfenden Söhne schwatzt, über Demissionen und französische Niederlagen, über Türkensiege und schwarzgelbe Erfolge; ob sie auch bisweilen zwischen heiteren oder rührenden Feldanekdoten einmal klagt oder seufzt, – scheint doch ihre Seele weder das erhebende, herrliche Ereignis Krieg, noch den unheimlichen, tilgenden Zustand Krieg als Ganzes zu erfassen.

»Avanzadora, Völker, Rassen, Weltanschauungen erheben sich Riesen gleich, um Entscheidung zu ringen. Menschen überlisten sich gegenseitig wie die Zauberer der Sagen auf und in der Erde, unter Wasser und in den Lüften. Sie blicken, horchen, sprechen und töten auf Meilenweite und hauchen blutlosen Dingen schaffendes oder vernichtendes Leben ein.

Spürst du auch niemals das Berauschende des Fortschrittes? Lähmt dich nie ein dumpfes Grauen, quälst du dich nicht mit Zweifeln vor dem sinnreichen Wirrsal des Alls, da du auch liest, [173] daß Grausamkeiten wieder schreiend sich ergehen, die wir tief unterm Asphalt vermodert wähnten; daß der Mord wieder in Fürstensold steht und Menschen mit Schild und Keule gegen Menschen ziehen, mit Steinwürfen töten –?

Die Erde ward zu einer schwarzen Insel zwischen Meeren von Blut und Tränen. Darüber liegt der giftige Dunst der Weltlüge, den Donner erstickend und das Glockenläuten. Und aus diesem Chaos türmt die Wahrheit gigantische Zahlen des Schreckens und des Ruhmes für die Ewigkeit.

Sieh mal, liebe Freundin, hier diese bunte Landkarte im Schaufenster. Siehst du das große rote Gebiet? Das ist das neueste, das jüngste Deutschland!«

Aber Avanzadora gibt mir einen Nasenstüber und zieht mich weiter. »Wer staunt, bleibt stehen«, bemerkt sie. »Ich will noch zur Bank, Kriegsanleihe zeichnen, und abends ins Konzert zum Besten – –« Ich höre sie nicht weiter an; ich laufe empört davon, und ich will sie nie wiedersehen. Wer ist dieses Weib, daß ich mich ihretwegen tausendmal ärgern soll? Ich habe sie auf der Straße kennengelernt, und sie schweigt über ihr Woher und Wohin. Auch läßt sie sich doch nicht von mir beeinflussen. Ihr Wesen ist dirnenhaft.

Wenn ich das walzertrommelnde Kaffeehaus betrete und einem der losen Mädchen von Seeschlachten, von 70000 gefangenen Russen berichte, dann ruft sie wohl zum Schluß: »Aber Liebling, wie sitzt dein Scheitel heute schief.« Und wenn ich ihr erzähle: »Weißt du das Neueste über die beiden Söhne deiner Freundin? Der eine ist gefallen, der andere hat sich verlobt.« So wird sie gleich fragen: »Mit wem denn?« Und sie nennt den Krieg dumm, langweilig, weil das Tanzen, das Nachtschwärmen, das Kartenlegen, das Reisen und die Straßenbeleuchtung verboten oder beschränkt sind. – – Aber nein – Avanzadora ist anders; nein, nein, ich tue dieser braven, soliden Frau unrecht.

Die Art, wie sie den mächtigen Geschehnissen des Krieges begegnet, wie sie sich den außergewöhnlichen Verhältnissen anpaßt, hat nichts gemein mit der Leichtfertigkeit der Kokotten. Nur verstehe ich sie wohl nicht. Vielleicht lebt Avanza doch nach einer höheren Weltweisheit als ich. – Alles ist Wunder. – Unbestreitbar liegt etwas Superiores in ihrem Wesen, mich immer wieder anlockend. Ich weiß, ich würde einsam und ruhelos werden, wenn ich mich von ihr lossagte. Es würde sein, als ob ich eine [174] Mutter, eine Schwester und eine Braut zugleich verloren hätte. Denn wir sind freie Freunde, die jedes dem andern ihr Bestes schenken. Wir haben uns aneinander gewöhnt und gebildet; und wie lange ist's her, daß wir in friedlichen Stunden des Frohsinns, der Kunst und der Liebe – –

»Achtung! Au-gen rrrrechts!«

Dieses scharf ausgestoßene Kommando riß meinen Kopf herum und die Köpfe all der andern, die mit mir geschlossen marschierten, Scheritt, Scheritt. Im Nu waren unsere Muskeln gestrafft. Unsere Beine schlugen in klappenden Paradeschritten das Pflaster: wir salutierten vor einem Leutnant.

Aber etwas Seltsames war vorgefallen, ohne Zweifel empfanden es alle, obschon es weder damals noch später ausgesprochen wurde. Es war, als ob wir dreißig Maate und Matrosen während des Marsches plötzlich alle gleichzeitig eingeschlafen wären und ohne Bewußtsein doch, wie mechanische Puppen, unseren Weg fortgesetzt hätten. Nun waren wir alle gleichzeitig erwacht. Gewiß hatten wir eine lange Strecke in diesem Zustande –

Ich schaute mich um. Da saß noch, unweit hinter uns, der würdige Greis unter den Kastanien.

Und wiederum ziemlich gleichzeitig, wie von ein und demselben Gefühl getrieben, fingen wir nun an, gesprächig zu werden.

Es kam eine lebhafte, stolze und zuversichtliche Unterhaltung in Gang über kriegstechnische Neuheiten und über Deutschlands Zukunft. Aber zwischendurch, im stillen, nistete sich ein Gedanke in mein Gehirn ein. Eine fixe Idee mag Avanza es nennen. Ich werde es nicht mehr los.

Ich bildete mir ein, jener alte Herr mit dem wallenden Schneebart sei der liebe – der große – sei das große Gott gewesen, und die leichte Furche, die sein Stock im Sande zog, habe die Zeit dargestellt.


Notes
Erstdruck: München (Albert Langen) 1922.
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TextGrid Repository (2012). Ringelnatz, Joachim. Die Woge. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9776-A