[298] Melinde

Nach einer Gessnerischen Idylle.


Linz im Herbstmond 1788.


»Wohin verirrt in dieser Wildniss sich
Mein wunder Fuss durch dornige Gesträuche?
Ein schauerndes Gefühl durchströmet mich;
Denn schwermuthsvoll steigt rings um mich der Eiche
Bemooster Stamm aus dem Gebüsch hervor,
Und wölbt ein Dach von dunklem Laub empor.
Sey mir gegrüsst, o stiller Zufluchtsort
Des düstern Grams, wo nichts sich regt, als Bienen,
Die, aufgebläht von Honig, sumsend dort
Der Buche nahn, und ein im Lenz mit ihnen
Erzeugter West, den dieser Hain erzog,
Und der noch nie um schöne Busen flog!
[299]
Hier, wo das Laub kein Sonnenstrahl durchdringt,
Wo um und um mit dichtverwebten Netzen
Der Epheu fest den hohlen Stamm umschlingt,
Hier will ich mich auf welke Blätter setzen:
Doch nein, dort wälzt durch wildverschlungnes Grün
Und Wurzeln sich ein rascher Bergquell hin.
Er wird vielleicht zu ödern Wüsteneyn
Mein Führer seyn: drum folg' ich seinen Wellen ...
Ha! welch ein Glanz bebt plötzlich durch den Hain!
Sieh! hier beginnt das Laub sich aufzuhellen,
Und staunend blickt von dieses Felsens Saum
Mein Auge tief in eines Thales Raum.
Hier, wo der Bach hoch von der steilen Wand
Mit dumpfem Laut, wie ferne Donner tönen,
Sich stäubend stürzt, hier an des Abgrunds Rand
Will ich mich hin an diese Klippe lehnen,
Die (wie das Haar auf Timons Stirne wild
Herniederhängt) ein dürrer Strauch umhüllt.
[300]
Sey meinem Gram willkommen, öder Wald!
Dich wähl' ich mir zum Zeugen meiner Klagen:
Fern von der Welt im dunkeln Aufenthalt
Des scheuen Wilds will ich der Lieb' entsagen.
Leb' ewig wohl, o Amor! mein Elpin
Liebt mich nicht mehr: ach! Doris fesselt ihn.«
So sang, versenkt in tiefe Traurigkeit,
Indess ein Schwarm gelinder Abendwinde
Allmählich schon ihr nymphenhaftes Kleid
Umflatterte, die reitzende Melinde,
Als ihr Elpin, der heimlich sie belauscht,
Dicht hinter ihr aus dem Gebüsche rauscht.
Ein liebend Paar versöhnt sich leicht. Zwar dreht
Melinde sich, als sie Elpinen siehet,
Hinweg, und flieht, doch wie im Blumenbeet
Vor Zephyrs Kuss die junge Rose fliehet,
Die, wenn sie kaum von ihm sich weggeneigt,
Sich doppelt schnell dem Kuss entgegenbeugt.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Ratschky, Joseph Franz. Gedichte. Gedichte. Melinde. Melinde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8C53-4