[116] Wo?

Nicht einzeln formte Gott die Seelen,
Als er sie sandt' in's Erdenland;
Es gingen, hier sich zu vermählen,
Zwei gleiche stets aus seiner Hand.
Doch das Geschick in seinem Neide,
In seines Hasses Ironie,
Wirft oft den Ocean als Scheide
Und dunkle Schranke zwischen sie.
Dieß Schicksal denk' ich, ist das meine,
Drum breit' ich oft, von Schmerz durchgraut,
Die Arme sehnend aus und weine
Und rufe ungestüm und laut:
[117]
Du Wesen, das in gleichen Tagen
Ein gleicher Gotteshauch belebt,
Deß Pulse wie die meinen schlagen,
Deß Herz so wie das meine bebt!
Das gleiche Wünsche und Gebete
Wie ich entsendet himmelan,
O sage mir, wo ist die Stätte,
Wo ich dich endlich finden kann?
Lebst du an ferner Nordenküste,
Wo eisbedeckt die Ströme zieh'n!
Fliegst du in der arab'schen Wüste
Auf windesschnellem Roß dahin?
Neigst du am schönen Gangesstrande
Vor Lotosblumen still dein Haupt?
Steht an der Andes dunklem Rande
Dein Haus von frischem Grün umlaubt?
Weilst du vielleicht in meiner Nähe
Und schaust mit mir dasselbe Licht,
Und fühlst dasselbe bittre Wehe,
Das mein verzagend Herz umflicht?
[118]
Und suchst mich an jedweder Stelle,
So wie auch ich dich suchen muß,
Und schickest mir durch jede Welle
Durch jedes Lüftchen einen Gruß?
Und klagst wie ich: »was muß ich missen
Dich, meines Geist's erwählte Braut?
Soll sich mein Aug' im Tode schließen,
Eh' es im Leben dich geschaut?« –

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TextGrid Repository (2012). Paoli, Betty. Wo. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-6B4F-5