Henriette von Paalzow
Ste. Roche
Von der Verfasserin von Godwie-Castle

[1] Erster Theil

Der junge Marquis d'Anville hatte sich in seine Bibliothek zurückgezogen, und wir finden ihn in einer frühen Morgenstunde, wie es scheint, mit sehr ernsten Angelegenheiten beschäftigt. Bestäubte Aktenstücke, deren vergelbtes Pergament und in Kapseln daran niederhängende Siegel auf wichtige Dokumente schließen lassen, liegen um ihn her auf Stühlen und Tischen, und werden abwechselnd verglichen und geprüft mit Briefen und Papieren, welche einen neueren Ursprung verrathen und zu Notizen veranlassen, die der junge Mann alsdann nachdenkend in ein kleines Buch verzeichnet. Sichtlich sind ernste, fast schwermüthige Gedanken dabei in ihm angeregt, denn die Stirn, die sonst der Wohnsitz der Heiterkeit zu sein scheint, ist umwölkt und trägt die Furchen tiefen Nachdenkens. – Hinter seinem Rücken hat sich indessen die Thür geöffnet, und es naht sich ihm der holdeste Feind trübsinnigen Nachdenkens, seine junge und schöne Gemahlin, deren leichter Schritt sie ihm noch nicht verkündet, während sie selbst mit jugendlicher Schüchternheit zu zagen scheint, und ungewiß, ob sie es wagen darf, ihm zu nahen, sich von dem Ernste seiner Beschäftigungen und dem Ausdruck seiner seitwärts belauschten Züge imponiren läßt. Gern sähe sie sich von ihm bemerkt und herbeigerufen, aber ihre beredten Augen bleiben natürlich, wenn auch auf ihn gerichtet, dennoch geräuschlos, und sie muß sich entschließen, sich selbst anzukündigen. »Ich bin unbescheiden, Dich zu stören,« hebt sie an – »aber ich wußte nicht, daß Du so ernst beschäftigt warst.« Bei dem Klange dieser lieben Stimme richtet der junge Marquis das [1] Antlitz der Redenden entgegen, und als ob ein Sonnenstrahl den Wolkenschleier durchbräche, so leuchtet das entzückte Lächeln der Liebe daraus hervor.

»O, Lücile!« ruft er, ihr die Hand entgegenstreckend, »stets ersehnt, stets erwünscht und zur rechten Stunde, ist nur Deine Entfernung eine Störung für mich.«

»Auch wollte ich mich nur als Botin des Frühlings bei Dir melden,« antwortete nun, in völlig sichere Heiterkeit zurückgekehrt, die junge Marquise. »Diese Veilchen, die ihr sehnsüchtiges Herz, der Sonne entgegen, unter dem leichten Reife des alten Mooses hervordrängen, sie tragen in ihrem süßen Dufte das ganze Paradies des Frühlings, sie erinnern mich an ihre Schwestern in der Provence, an die knospenden Buchengänge von Arconville.«

»Geliebtes Wesen!« rief ihr Gemahl – »es liegt zwischen der schönen Wiege unserer ersten glücklichen Tage ein weit abführender Weg, der hier aus diesem Aktenwuste unabweisbar sich entwickelt. Mahnung an den Frühling kömmt mir aber zur rechten Zeit; er giebt mir Muth, Dir eine Reise vorzuschlagen, die Dich schon jetzt den Freuden des glänzenden Hoflebens entführen wird.«

»Wie!« rief die junge Frau – »verstehe ich Sie recht, Herr Marquis? Sie schlagen mir vor, den Hof inmitten seiner größten Freuden zu verlassen? Haben Sie die Liste übersehen, die man gestern in den Zimmern der Königin herumzeigte, die uns wenigstens noch zwölf Bälle, ein Caroussel und einen Maskenscherz von einigen Tagen verspricht? Haben Sie die prachtvollen Roben und Ballkleider vergessen, mit welchen Sie Ihre Gemahlin beschenkt, und die noch nicht zur Hälfte den Neid meiner schönen Rivalinnen erregt haben? Wollen Sie, daß die Juwelen, um deren Besitz Sie die alte und neue Welt geplündert, die Perlen, nach denen die Wellen des Meeres noch jetzt[2] seufzend am Strande niederstürzen – wollen Sie, daß dieß Alles umsonst für den ersten Debüt Ihrer Gemahlin verwendet ward? Wissen Sie nicht überdies, daß wir das Taubenpaar aus der Provence heißen, und daß ich dem tugendhaften Versailler Hofe das nie gesehne Schauspiel gab, ein Jahr nach der Hochzeit noch von meinem Gemahle geliebt zu sein? Wollen Sie, daß ich all' diesen Triumphen entsage, die mein junges Herz berauschen – und was wollen Sie mir zum Ersatze bieten?«

»Nichts, Lücile,« rief ihr Gemahl mit dem vollen Ausdrucke entzückter Sicherheit – »nichts, als mich – entweder sehr wenig, oder – Alles? Laß Deine Roben und Juwelen zurück – ich schenke Dir einen Strohut und pflücke Dir selbst die Blumen darauf!«

Die Marquise wandte sich leicht von ihm ab – er folgte dem lieblichen Gesichte – ihre Augen standen in Thränen – aller neckende Muthwille war daraus verschwunden. Als sie schüchtern zu ihm aufblickte, sagte sie mit dem frommen Ernst einer Betenden: »Bin ich nicht zu glücklich?«

»Laß uns dankbar sein und Gott ehren durch ein lebendiges Gefühl unseres Glücks,« sagte der Marquis – »es scheint mir ein schöner Gottesdienst, ein glückliches freudiges Herz sich zu erhalten und sich des Geschenks seines Lebens zu erfreun! Ich fürchte nicht, daß mir die Kraft darin erlahmen wird, ihm gehorsam und getrost zu bleiben, wenn trübe Tage kommen; denn ein tugendhaftes Glück läßt die Gaben des Herzens und Geistes unverkümmert empor wachsen.«

»Ich fürchte wenigstens für Dich nicht, mein Armand,« sagte die Marquise mit jenem Lächeln der Bewunderung, das die Blüte des schönsten weiblichen Glücks, nur die höchste Achtung in der hingebensten Liebe, giebt – »doch laß' mich erfahren, wo Du mir die Blumen für meinen Strohhut zu pflücken gedenkst, denn es scheint, in den Wäldern von Arconville wird es nicht sein!« –

[3] »Für die nächste Zeit wenigstens nicht, liebe Lücile! Meine Gegenwart wird unvermeidlich auf unsern neuen Besitzungen in Languedoc verlangt – ich kann die persönliche Uebernahme dieser Güter nicht länger verschieben, denn obwohl sie mir seit drei Jahren gehören, lehnte ich bis jetzt diesen mir widerstrebenden Akt noch immer von mir ab; doch sehe ich ein, daß mein Anwalt Recht hat, der mir die Verwirrungen vorstellt, die nothwendig daraus entstehen müssen.«

»Sind das die Güter, die Du von dem Grafen Crecy, dem alten finstern Bruder Deiner Mutter erbtest?« frug die Marquise.

»Sie sind's,« erwiederte ihr Gemahl – »und selten ist wohl eine Erbschaft, die eine halbe Million betragen mag, mit schwererem Herzen angetreten worden, als diese – ja, ich gestehe Dir, daß ich mich noch nie der Revenüen, die daher kommen, zu einer Erweiterung unseres Etats habe bedienen mögen, daß ich mich mehr als den Verwalter dieser schönen Güter, als den Besitzer ansehe, und ziemlich zu ihrer Verbesserung diese Summen wieder verwendet habe, da die lange trübselige Vernachläßigung derselben dies auch nöthig erscheinen ließ.«

»Ich habe Dich noch nie von diesen Besitzungen sprechen hören,« sagte die junge Frau – »obwohl ich wußte, daß sie Dir gehörten, und ein Umstand mich für sie interessirte, nämlich die Nähe von Ardoise, dem Schlosse meiner geliebten Tante Franciska. Doch sage mir, darf ich erfahren, warum sie diesen seltsamen Eindruck auf Dich machen?«

»Es gehörte viel Zeit dazu, Dir den ganzen Inhalt dieses Gefühls zu erklären,« erwiederte der Marquis. »Ich brachte das letzte Jahr seines Lebens bei diesem alten unglücklichen Oheim zu, und er hat vor mir in seinen langen schlaflosen Nächten die Geschichte seines trüben und schuldigen Lebens mit einer Klarheit der Erinnerung, mit einer Schärfe der Combination[4] entwickelt, die die Fähigkeit hohen Alters zu übersteigen schien, und nur dem krankhaften, stets lebendigen Reize seines gequälten Gewissens zuzuschreiben war. Er sah mich allerdings als seinen nächsten Erben an, und darum wünschte er mich in der letzten Zeit seines Lebens, dessen Ablauf er erkannte, um sich zu haben – aber in diesem Wunsche, dessen Erfüllung die Welt nur als die Pflicht des natürlichen Erben nahm, lag weit mehr die Absicht des Unglücklichen, diesen unbestrittenen Erben empfänglich zu machen für den Gedanken eines möglichen Verlustes dieser Erbschaft; denn der Hauptinhalt dessen, was ich mir vorbehalte, Dir später ausführlich mitzutheilen, ist, daß die Möglichkeit vorhanden, es lebe noch Einer, der nähere Rechte auf diese Besitzungen habe.«

»Mein Gott,« rief die Marquise, »wie seltsam ist das! wie spannst Du meine Neugierde! und sage, hat sich nach dem Tode des alten Herrn keine Entdeckung machen lassen? dauert Deine Ungewißheit ohne alle Muthmaßungen fort?«

»Die letzten Anzeichen verlieren sich an der nördlichen Küste von Frankreich,« erwiderte der Marquis – »aber trotz dem, daß ich nach dem Tode des Unglücklichen die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen ließ, hat bisher keine auf eine Spur leiten wollen, die irgend eine Entdeckung verspräche; dessen ungeachtet begreifst Du, daß ich diese Versuche fortsetzen lasse und bisher kein Eigenthums-Gefühl zu diesen Besitzungen haben konnte. Ueberdies sind noch die Erzählungen von den traurigen und finsteren Dingen, von denen die Hauptbesitzung der Schauplatz war, mir zu gegenwärtig, um es wünschenswerth zu machen, mir dort als anerkanntem Besitzer huldigen zu lassen. Und« – setzte er lächelnd hinzu – »wie findet mich meine junge Gemahlin, daß ich grade dorthin ihr den Weg vorschlagen will, und wahrlich ihr keinen andern Aufenthalt anzubieten weiß, als eben jenes alte verwünschte Schloß von Ste. Roche, von dem [5] mehr Spuck- und Gräuelgeschichten die Gegend durchlaufen, als wir in einem Jahre anzuhören vermöchten.«

»Nun,« rief Lücile – »ich bin nicht abgeneigt, mich ein wenig zu grauen, wenn ich nur recht vollständig dabei in Sicherheit bin und nicht den ganzen Tag daran zu denken brauche.« –

»Auch schreibt mir mein Verwalter, er habe den rechten Flügel des Schlosses, der überhaupt ein neuerer Anbau ist, und eine freiere Aussicht und lichtere Räume gewährt, so viel dies bei der Abneigung der Arbeiter, das Schloß zu betreten, gehn wollte, etwas aufräumen lassen – wogegen Dir zum Grauen jedoch noch genug Veranlassung bleiben wird, da ich aufs Bestimmteste verboten habe, den übrigen Theil des Schlosses anzurühren – bis auf die äußeren Reparaturen der Dächer, Thüren und Fenster. Den linken Flügel mußte ich bis auf Dachbefestigungen auch hiervon ausnehmen, denn dieser steht unter einer besonderen Autorität, die ich zu respektiren habe angeloben müssen in dem ganzen Umfange, wie dies mein Oheim zu thun sich gelobt hatte. Diese Autorität ist eine alte Frau, welche ihr Leben in diesem Schlosse, und seit einigen fünfzig Jahren in diesem Flügel, oder vielmehr in einer kleinen Behausung vor demselben zubringt, welche Niemand den Einlaß gestattet und von Niemand dazu gezwungen werden kann, – so daß von allen, die dort leben, sich Niemand rühmen darf, das Innere dieses geheimnißvollen Ortes betreten zu haben. Bevor ich die Güter übernahm, hauste sie und ein alter Kastellan in diesem Schlosse, und es war die höchste Zeit, daß eine andere Macht dort einschritt, da das alte Schloß, so fest und fast unverwüstbar es auch erbaut ist, doch bei der gänzlichen Vernachläßigung, die es, wie alle übrigen Besitzungen, erleiden mußte, allgemach immer baufälliger zu werden begann.«

»O, wie sehne ich mich nach Ste. Roche!« rief die junge Marquise – »und wie will ich um das Herz der alten Pförtnerin [6] mich bemühen, daß sie mir Einlaß gewährt in diese geheimnißvollen Gemächer. Doch sage mir nur noch mit einem Worte, ob Du die Geschichte derselben kennst?«

»Ich kenne sie,« erwiederte ihr Gemahl – »doch dringe vorerst nicht in mich, sie Dir mitzutheilen; es schmerzt mich, diesen Mißlaut in Deine reine Seele zu spielen! Wie entzückt mich der Gedanke, wenn ich Deinen Zauber empfinde, daß das Böse für Dich nur eine allgemeine inhaltlose Existenz unter den Erscheinungen hat, dessen Dasein Du kennst, ohne daß Dich seine Bedeutung erreichen konnte. Gönne mir das Glück, Dich zu behüten und zu bewahren – laß mich der Engel mit dem feurigen Schwerte sein, der das Paradies Deiner unschuldigen Gedanken bewahrt.«

»O, mein Geliebter,« rief die junge Frau – »welch' ein Wohllaut des Himmels liegt darin, Dir so anzugehören, daß selbst meine Gedanken Deines Schutzes genießen! Glaubst Du, daß es eine Neugierde gäbe, die stärker wäre, als dies Gefühl?«

»Nein,« erwiederte er ernst und gerührt – »ich weiß es, die Deinige wenigstens nicht – auch denke ich daran, Dir den Inhalt dieser unglücklichen Geschichte später auf eine Weise mitzutheilen, die Dich weniger verletzt.« –

»Bis dahin also will ich Gednld haben, die mir leichter noch durch die Aussicht wird, dies schauerliche Geheimniß in seiner Oertlichkeit zu sehen.« –

»Doch sieh' da – Leonce!« rief der Marquis und eilte seinem Bruder entgegen, der mit der freundlichsten Eilfertigkeit in das Zimmer trat. »Willkommen in Paris, Theurer, Lieber! Seit wann bist Du zurück?«

»Erst seit diesem Augenblick,« rief der junge Mann und begrüßte herzlich seine liebenswürdige Schwägerin.

»Nun in Wahrheit,« rief Lücile, – »lieber Leonce, Sie kommen zur rechten Zeit, mich gegen meinen Gemahl in Schutz [7] zu nehmen; denken Sie nur, er verlangt, daß ich Paris verlassen soll, da noch Niemand daran denkt, sich auf seinen Gütern zu langweilen, und Paris in der vollen Blüte seiner auserlesenen Freuden steht. – Haben Sie ein ähnliches Anerbieten schon jemals gehört? und was meinen Sie, daß ich thun oder nur antworten soll?«

»Was Sie bereits gethan oder geantwortethaben,« rief Leonce mit dem Ausdrucke inniger Verehrung; »denn das Rechte war es gewiß, und ich will es blos wissen, um Sie aufs Neue zu bewundern.« –

»Gottlob,« rief die heitere junge Frau – »unser Bruder ist mit vollständig liebenswürdigen Manieren zurückgekehrt! Glaubt mir, ich erkannte Euch nicht, als Ihr damals von Euren Reisen wiederkamet – auch nicht ein Zug von meinem liebenswürdigen Spielkameraden war geblieben – eine düstere, blasse, seufzende Kreatur war zurückgekehrt, und ich ward entmuthigt, froh zu bleiben, wenn Ihr so still und einsylbig an meiner Seite saßet.«

Sichtlich traf die Rede den jungen Mann tiefer, als die sorglose Heiterkeit seiner Schwägerin ahnete – es brach aus den Augen des Jünglings eine so melankolische Glut, er schloß die Lippen so schmerzlich zusammen, daß der Marquis, überrascht von der plötzlichen Veränderung seines Brudes, ihm schnell einige Fragen über die zurückgelegte Reise und den vorgefundenen Zustand seiner Güter that.

Leonce arbeitete sich mit sichtlicher Anstrengung aus der Stimmung heraus, die durch die unschuldigen Worte seiner Schwägerin angeregt war, und versicherte seinem Bruder, er habe Alles wohl arrangirt gefunden, könne nicht anders, als seine Verwalter loben und habe für längere Zeit ihre Vollmachten bestätigt.

»Aha!« fiel die Marquise ein – »für lange bestätigt; das heißt so viel, als: wir haben uns auf lange Zeit von der [8] eigenen Verwaltung losgemacht und sind nicht gesonnen, den alten Ahnenbildern und den Schäferspielen der Gobelin-Tapeten auf dem alten Schlosse Gesellschaft zu leisten.«

Leonce lachte. »Es ist wahr, schöne Spötterin, ich muthete mir eine Einsamkeit in so großartiger, aber dennoch melankolischer Umgebung nicht zu – ich bin noch zu jung, sie suchen zu dürfen, ich muß sie sogar fürchten, da ich ihren Zauber nicht lange genießen dürfte, ohne ihm zu unterliegen. Dagegen hilft nur ein sehr muthiges Erfassen des Lebens – ich denke Dienste zu nehmen, oder noch eine weitere längere Reise zu machen – vielleicht,« setzte er hinzu, »nach England.«

»Nun, dazu gebe ich nimmermehr meine Erlaubniß!« rief die junge Marquise. – »Nach England wollt Ihr? wo die Sonne nie klar, voll und warm Euch bescheint, wo die Stürme des Meeres Euer Gehirn austrocknen, und Eure Empfindungen zum Schweigen verdammt sind vor dem melankolischen Gespräch der Wellen. Niemals,« rief sie mit komischem Pathos, »gebe ich dazu meine Erlaubniß, und diese müßt Ihr doch wohl haben; da ich das einzige weibliche Haupt dieser, Eurer Familie bin?«

Beide Männer lächelten der guten Laune der liebenswürdigen Frau Beifall zu, der Marquis aber umfaßte zärtlich seinen Bruder. »Du siehst, mein Lieber, welcher Herrschaft wir beide dienstbar sind, ergieb Dich und willige in meinen Vorschlag, Dich uns anzuschließen. Sieh', die Reise, die ich vorhabe, wird mir herzlich schwer – ich gehe nach Ste. Roche, und übernehme endlich nach langem Sträuben diese mir fast verhaßten Besitzungen. Lücile hat eingewilligt, mich zu begleiten; ich möchte ihr zum Lohn für so viel Nachgiebigkeit gern ihren alten Spielkameraden mitführen, denn meine Angelegenheiten werden meine Zeit mehr in Anspruch nehmen, als ihr lieb sein wird.«

»Thut das, Leonce,« sagte Lücile – »und ich will schon dafür sorgen, daß Euch die trübseligen Gedanken vergehen, [9] wenn wir uns auch nicht viel auf äußere Hülfsmittel werden verlassen dürfen, da wir in ein wahres altes Gespensterhaus einziehen.«

Leonce schwieg noch immer, und der Ausdruck seiner Züge veränderte sich wieder bis zur Düsterheit; er schien kaum die liebevollen Worte zu verstehen, eigene Gedanken mußten dazwischen getreten sein.

»Gieb es auf, Armand,« sagte die Marquise – »auf diesem Gesichte steht kein Ja! Das ist die Miene, die ich mehr fürchte, als Dein Geisterschloß – und kann er uns nur mit ihr begleiten, so behüte mich Gott, daß ich ihn mitnehme, er zöge die Geister wie mit Magneten an sich, anstatt er mir helfen soll, sie abzuwehren.«

»Leonce,« sagte der Marquis zärtlich besorgt, »Du bist wirklich seltsam!«

»Vergebt mir,« rief Leonce, sich jetzt emporraffend – »ich habe sehr Unrecht! Gewiß, Ihr habt Ursache mir zu zürnen, mich thöricht und undankbar zu schelten – aber glaubt mir, auch für mich ist eine wichtige Zeit gekommen – ich stehe auf dem Punkte, auf welchem man sich fürs folgende Leben eine Richtung geben oder ihrer für immer entbehren muß. Ich bedarf der Thätigkeit, um mich zu zerstreuen – Zerstreuung soll hier nicht Zeit-Tödtung heißen, ich fände sie sonst wohl in Paris – sie soll das Anbauen, Anranken, Durchdringen des Kerns des höheren Lebens bezeichnen, und kann ich dann nicht glücklich, will ich doch eines besseren Schicksals werth sein.« – Er war wieder blaß geworden bei diesen Worten, und von der tiefsten Bewegung ergriffen, drückte er sich einen Augenblick in die Arme des Marquis. »Es scheint mir, ich habe keine Zeit zu verlieren«, fuhr er ruhiger fort; »daher blieb ich bei Eurem Vorschlage zweifelhaft, und das Nachdenken, worin er mich versetzte, ist mir nachtheilig.«

[10] »Und jetzt müßt Ihr mit, Leonce!« rief die Marquise munter dazwischen – »eben habe ich es entschieden. Ueber Lebenspfade, höhere Richtungen und wie Ihr das alles nennt, entscheidet man am besten auf Reisen – nicht auf so hastigen und ungestümen Reisen, als junge Männer machen, wenn sie allein sind, sondern auf solchen, wo man, in bequeme Kutschenkissen gedrückt, an der Seite irgend einer guten, geschwätzigen, launenhaften, lustigen Frau, dahin rollt – außer Thätigkeit gesetzt, doch dem Zwecke gemäß sich verhält, also ohne Gewissensbisse zum müßigen Nachdenken übergehen kann, wenn die Nachbarin sich müde geschwatzt, oder über ihre Reisekleider nachdenkt, oder ihre Sieste hält – da, mein lieber Leonce, tritt der Moment ein, wo uns große Gedanken kommen – Lebensrichtungen sich von selbst offenbaren, und ohne den schwerfälligen Wust, den Stadt- und Zimmerluft umhängen; vielmehr wird da Alles klar, hell und heiter, wie die Luft, die uns umströmt, wir vergessen nicht, daß das Leben, das wir mit mystischer Spekulation ergründen wollen, vor allen Dingen schön ist, und es keine sanftere Wiege giebt, als in den Mutterarmen der Natur – und in diese Wiege sollt Ihr, Leonce, und diese Hand legt Euch hinein, trotz des Mißverhältnisses der Größe – denn Euch fehlt etwas – Gott weiß, was! – das muß erst heil werden, ehe Ihr entscheidende Schritte thut.«

Mit innigem Wohlgefallen betrachtete der Marquis seine holde Gemahlin, die ihm so ganz aus dem eigenen Herzen gesprochen hatte. Freundlich drückte er ihre deklamirenden Hände. – »Ich danke Dir, Lücile, daß Du ihm Alles gesagt, was ich dachte; laß' mich hinzufügen,« fuhr er gegen Leonce fort, »daß Dich jetzt in dieser Stimmung zu verlassen, mir fast unmöglich sein würde, und da ich doch kaum bleiben könnte, es mein einziger Trost ist, Dich mit mir zu führen. Rechne darauf, daß Du mit Deinen direktesten Freunden reisest, die Dir ganz allein [11] überlassen werden, was Du für nöthig halten wirst, ihnen mitzutheilen.«

»Abgerechnet,« lachte Lücile, »was ich ihm gelegentlich ablocke oder ablausche.«

»So bleibt mir denn keine Wahl,« rief Leonce, und sein tragischer Ton verhieß noch wenig Sinn für die heitereren Anklänge seiner jungen Beschützerin. »So will ich denken, Ihr seid mein Schicksal; nehmt mich mit Nachsicht hin, ich will Eurer Liebe ganz vertrauen – ja, ich folge Euch! Aber versprecht mir, daß Ihr mich nicht aufhalten wollt, wenn ich Euch später doch sage, daß ich fort muß.«

»Ich verspreche nichts, als mich jetzt zur Reise zu rüsten,« rief die Marquise, »und Eures Winkes gewärtig zu sein. Richtet jetzt Alles zu meinem Wohlgefallen ein; denn ich will mir einen Vorrath von Einfällen und Capricen sammeln, an denen Ihr beide genug zu thun haben sollt.«

Hold grüßend entschlüpfte sie den Brüdern. Als die Thüre sich hinter ihr schloß, warf sich Leonce stürmisch in die Arme seines Bruders. »Glücklicher, Glücklicher!« rief er – »Dir haben die Engel in der Wiege gelacht, als sie Deiner Zukunft dies Geschenk verhießen! Dich trennten keine Vorurtheile, keine Launen des Zufalls von dem einzigen und höchsten Wunsche Deines Herzens!«

»So ist es, Leonce,« sagte der Marquis fast verlegen über diese Rede – »und ich hoffe, wir sind beide unter guten Zeichen geboren; auch Du wirst glücklich werden.«

Leonce schüttelte leise den Kopf. Beide trennten sich zu den nöthigen Anordnungen der Abreise.


[12] Die Strahlen der Frühlingssonne erhellten die keimende, knospende Erde, und schienen das Geschäft ihrer Entwickelung mit dem Eifer eines Gebers zu betreiben, der sich seines Reichthums bewußt ist und das Glück, womit er den Bedürftigen überschüttet, zu sehen trachtet. Fast hätte man von Stunde zu Stunde die Blätter und Halme zählen können, die sich aus ihren warmen Strahlen zu erschaffen schienen, und ein Tag verhieß schon für den nächsten die süßesten Wunder.

Wir finden ein Auge in dem Bereiche, dem wir uns nahen, das mit besonders theilnehmendem Ausdrucke diesem Naturtreiben zusah, und Geist und Herz daran zu erquicken trachtete.

In einem von der Sonne erwärmten Gartensaale saß in der offenen Thüre Franciska, Gräfin d'Aubaine, in friedlicher Stille und Einsamkeit.

Die breiten Buchen- und Lindenwege, die Ardoise zieren und den Park mit dem kleinen Flecken, der dazu gehört, durchschneiden, gaben mit ihren durchsichtigen hellgrünen Blättchen schon eine feine Schattenlinie auf die dazwischen durchblickenden Wiesen und Rasenplätze, die vom Schlosse aus durch jene phantastisch geschnittenen Hecken unterbrochen waren, welche die Architektur fortzupflanzen trachten, den wirklichen Gestaltungen der Natur entgegen tretend.

Das alte Herrenhaus von Ardoise lehnte seinen Rücken gegen die wildreichen Wälder dieser schönen Besitzungen, und trennte und schützte es gegen die an seinen Grenzen hinlaufende Landstraße. Es hatte daher den doppelten Vorzug einer ungestörten Einsamkeit und einer leicht zu unterhaltenden Kommunikation mit den nahe liegenden Ortschaften und Nachbargütern.

Die Gräfin d'Aubaine wußte jetzt beide Vorzüge wohl zu schätzen, wenn in früheren Jahren eine bestimmte Richtung ihres Innern ihr den ersteren als den vorherrschendsten bei der Wahl ihres Aufenthaltes hatte erscheinen lassen. Bis zum Tode ihrer [13] Aeltern hatte sie abwechselnd hier und auf deren Stammschlosse Mont Réal gelebt. Dies war ihrem Bruder zugefallen, und nachdem sich auch ihre jüngste Schwester, die Mutter der Marquise d'Anville, an den Grafen Maurepas vermählt hatte und dessen Güter bewohnte, zog die Gräfin Franciska vor, in Ardoise ihren Wohnsitz zu nehmen.

Sie war unvermählt geblieben – und ohne, daß über die Erlebnisse ihrer Jugend etwas Bestimmtes bekannt gewesen wäre, genoß sie von Aeltern, Geschwistern und Freunden die stille ehrende Schonung, mit der man das unverschuldete Mißgeschick betrachtet, und die Fügsamkeit in ihren Willen, die man so gern den kleinen Rettungsmitteln widmet, womit ein blutendes, aus dem natürlichen Kreise des Lebens verschlagenes, Herz sich zu schützen sucht. – Auch war die Rücksicht, die sie unaufgefordert ihren Angehörigen auferlegte, keine schwer zu leistende. Ihre Seele war durch das Erlebte den schönen Gang einer wahren Resignation gegangen; losgelöst von eignen Hoffnungen und Wünschen, suchte sie sich in keiner äußeren Erscheinung mehr, und war um so hingebender und theilnehmender für die Zustände um sich her. – Selbst ihr vorherrschendstes Bedürfniß: Ruhe, befriedigte sie nie auf Unkosten einer freundlichen Hingebung an die gelegentlichen Anforderungen, sich gesellig zu erweisen – und die ganze tiefe umfassende Erfahrung des Unglücks, die ihr geworden, diente ihr nur, ähnlichen Zuständen mit Rath und Theilnahme zu begegnen. Sie kannte keine größere Wohlthat, als den Anblick glücklicher Menschen, sie nannte sich scherzend darin eine Epicuräerin, und ließ nicht ahnen, wie sie das Unglück aufsuchte und sich ihm hinzugeben verstand, wenn um sie her in dem weitläufigen Schlosse der Frohsinn zu herrschen schien, den sie sowohl zu wecken und zu unterhalten verstand. Ihre eigene, frühzeitig von Kummer gezeichnete Gestalt konnte nicht mehr das zeigen, was sie gern bei Andern sah. [14] In der Mitte des Lebensalters, trug sie doch das Ansehn einer Matrone; nur ihre hohe Gestalt war fein und schlank und von dem edelsten Anstande getragen. – Die einst so schönen braunen Locken waren schon in Silbergrau verwandelt und bildeten den Uebergang zu dem völlig erblaßten stillen Angesichte, dessen tiefgedrückte Augenbrauen und niedergezogene Mundwinkel die rührenden Züge eines Kummers darstellten, der Zeit gehabt hatte, die reichste Schönheit zu seiner Repräsentantin umzuwandeln. Sie trug immer einfache schwarze Kleidung, und die Mode ging unbeachtet an ihr hin, wie sie es unbeachtet zuließ, daß ihre alte Kammerfrau von Zeit zu Zeit in nicht störenden Anordnungen ihr nachzukommen suchte. Angebetet von ihren Dienstleuten, war sie das Kleinod der Familie, und wie man einen kostbaren Schmuck wohlverwahrt läßt, seinen täglichen Genuß nicht wagend, sich des schönen Besitzes sicher wissend, so unterbrachen alle die heilige Ruhe der Tante nur selten, des erwärmenden Gefühls gewiß, daß sie ihnen lebe, sich ihnen nie zu entziehen strebe.

Diese stille Abgeschiedenheit sollte jedoch eben an dem Tage, wo wir uns in Ardoise einführen, eine kleine Umwandlung erleiden, denn die Gräfin d'Aubaine war in Erwartung einer jungen Gefährtin ihrer künftigen Tage.

Der frühe Abend hatte sie in ihre oberen Gemächer geführt, wo die leichte Glut eines Kaminfeuers und der helle Schein der Kerzen noch die Beschäftigungen des Winters zurückrief.

Einige Stunden später fuhr ein verschlossener Reisewagen mit den Livreen der Gräfin durch die nun völlig in Dunkel gehüllten Wege des Waldes dem Schlosse zu. Die Thorwächter öffneten die eisernen Gitter, die den Hofraum umschlossen, und der Wagen fuhr in den Portikus des Hauses.

»Ist die Frau Gräfin noch zu sprechen?« fragte St. Blace, der alte Kammerdiener derselben, und hob sich langsam aus dem bequemen Bocksitze.

[15] »Sie haben befohlen, sogleich die junge Herrschaft einzuführen,« antwortete Mr. Lorint, der Haushofmeister, »und sind besorgt um ihr langes Ausbleiben.«

»Nicht meine Schuld, nicht meine Schuld, Mr. Lorint!« rief St. Blace, »wir haben keinen Mondschein, und die Wege im Walde sind noch feucht und aufgeweicht von der Regenzeit – wir konnten nur langsam vordringen.«

Indem nahten sich Beide dem Wagenschlage, und ihn öffnend, hob sich ihnen zuerst die alte Kammerfrau der Gräfin, Madame Sulpice, entgegen und ließ sich, in ihre Pelze und Mäntel gewickelt, von ihren beiden Kameraden über den Tritt der Kutsche ziehen.

»Ah, Mr. Lorint!« rief sie freundlich – »ich hoffe, wir finden Alles wohl auf in Ardoise und kommen zur gesegneten Stunde.«

»Ihro Gnaden wenigstens führten ein leidliches Wohlbefinden, und sonst fiel seit zwei Tagen nichts zu vermelden vor.«

»Desto besser, Mr. Lorint – keine Neuigkeiten besser als trübe,« erwiederte Mad. Sulpice. – »Darf man Euer Gnaden ersuchen, auszusteigen?« fuhr sie, gegen den Wagen zurückgewandt, fort.

Voll Neugierde beeilte sich jetzt Mr. Lorint der Angekommenen Hülfe zu leisten. Alle Bewohner Ardoise's sahen auf die Veränderung in dem Leben ihrer Gebieterin, die ihr nach so langer Einsamkeit eine stete Begleitung, eine Lebensgefährtin, wie sie sich selbst darüber ausdrückte, geben sollte, mit einem Erstaunen und einer Erwartung, die man wenigstens durch die Erscheinung des Gegenstandes selbst gerechtfertigt zu sehen hoffte.

Mit der Leichtigkeit der Jugend betrat jetzt den Kutschentritt eine schlanke feine Gestalt, welche den Flor der Haube so über die Stirn gezogen trug, daß nur das blendend weiße Kinn und der schöne Mund sichtbar waren. So getäuscht sich [16] Mr. Lorint hierdurch fand, schloß er doch gleich mit sich ab – hier eine junge Schönheit zu sehen, und als sie den Boden betrat und mit dem reinsten französischen Accent ihn anredete, beschloß er, sie des Vorzugs, den sie eben einzunehmen im Begriff war, würdig zu erklären.

»Und werde ich die Gräfin d'Aubaine diesen Abend noch sehen?« frug die junge Dame mit einem sanften Tone der Sprache.

»Ich eile, Euer Gnaden zu melden,« erwiederte Lorint, »und bitte unterthänigst mir zu folgen.«

Die Fremde nahm mit einigen dankbaren Worten von ihren beiden Reisegefährten Abschied und stieg hinter Lorint die heitere breite Treppe hinan, die, gastlich erhellt, den schönen Marmor der Wände mit seinen kunstreichen Verzierungen zeigte. – Lorint öffnete einen Vorsaal und beurlaubte sich dann, in eine Nebenthüre verschwindend. Kaum sah sich die Fremde allein, als ihr Herz von der tiefen Bewegung überfloß, welche sie zu beherrschen getrachtet hatte. Die heißesten Thränen stürzten aus ihren Augen, und sie verhüllte das Gesicht, dem Schmerze ihres Herzens sich hingebend. Einige Augenblicke hatte sie so den Tribut gezahlt, den eine plötzliche und vollständige Umänderung aller bisher gekannten und lieb gewesenen Verhältnisse dem jungen Herzen abnöthigten, als sie durch den Gedanken, im nächsten Augenblicke derjenigen gegenüber zu stehen, die sich mit allen Beweisen von Liebe und Theilnahme ihr schon in weiter Ferne bis zum gegenwärtigen Tage genaht hatte – ihre Thränen versiegen machte und ein neues Bemühen herauf rief, ihre schmerzliche Aufregung zu beherrschen. Sie trocknete ihre Augen, und ihren Mantel ablegend, gewahrte sie nun erst die Schönheit des Raumes, in dem sie sich befand, der von zwei Kaminen und vielen geschickt vertheilten Kerzen, die ihr Licht von hell polirten Wänden und Fußböden wiedergaben, [17] erleuchtet wurde. Ihre Aufmerksamkeit ward sogleich durch einige lebensgroße Bilder in Anspruch genommen, Personen aus der Familie darstellend, welche die Fremde in den Kreis einzuführen schienen, dem sie künftig angehören sollte. Es waren schöne, edle Gestalten, und ihr Auge blieb mit besonderer Theilnahme an den Zügen einer Dame hängen, welche, im Brautschmucke gemalt, mit so unbeschreiblich anziehenden Mienen auf die junge Beschauerin niedersah, als wolle sie ihr Muth und Lebenshoffnung einreden.

»Ach,« seufzte sie leise, »wären das die Züge der Gräfin d'Aubaine, wenn auch von der Zeit der jugendlichen Schönheit beraubt! – Wie unbeschreiblich wohl wird mir in Deinem Lächeln – als hätte ich Dich längst gekannt, als wüßtest Du Alles, was in meinem Herzen vorgeht!«

Indem öffnete Lorint die Flügelthüren und lud das Fräulein zum Nähertreten ein. Durch mehrere Gemächer, welche alle, erhellt und vom Kaminfeuer belebt, den Hauch des Geistes trugen, der nur im steten Gebrauche ihnen ihr ansprechendes Dasein einflößt – erreichte die Fremde ein Kabinet, das die Zimmerreihe schloß, und, mit grünen, seidenen Vorhängen rings umhängt, wie Waldeinsamkeit und Stille den Wohnenden umfing. An der Schwelle stand plötzlich die hohe Gestalt der Gräfin d'Aubaine. Es waren zwar nicht die Züge, die aus jenem Bilde lächelten, aber wer hätte der sanft verklärten Dulderin in die milden blassen Züge blicken können, ohne zu glauben, er habe gefunden, was er suche.

»O Elmerice,« rief die Gräfin, das schnell zu ihren Füßen gesunkene Mädchen mit beiden Armen umfassend, »suchst Du keinen andern Platz bei Deiner zweiten Mutter?«

Unfähig zu sprechen, sank Elmerice an ihren Busen. Die Gräfin, welche jede allzugroße Erweichung scheute, rang sichtlich mit ihren Gefühlen, das liebe Wesen, welches sie [18] innig an sich gedrückt hielt, in der natürlich großen Bewegung zu stützen.

»Blicke auf, mein Kind, und sei getrost! Du hasteine Mutter, ich die Freundin meiner Seele verloren! Ach, glaube mir: Du bist mir ein heiliges, über Alles theures Vermächtniß, und daß sie mit dieser letzten Gabe ihres Lebens mich noch beglücken und ehren wollte, das ist ein Zeugniß ihrer Liebe, woran ich Dich erinnere, daß Du fühlst, wie sie mich hochhielt, und daran Dein Vertrauen zu mir knüpfest.«

»Ach, Frau Gräfin,« rief Elmerice, »wie könnte ich jetzt erst Gefühle anknüpfen wollen, bei denen ich groß gezogen ward – meine Aeltern, so lang ich sie beide besaß, wetteiferten, Euch zu lieben!«

Elmerice zärtlich umschlingend und sie zu sich in das Ruhebette niederziehend, sagte die Gräfin: »wie rührt mich so viel Liebe, wenn sie, auch unverdient, nur den Geber ziert. Wie rührt es mich, daß Deine Mutter so das Herz Deines Vaters bestimmte, ihm für die nie Gesehene, Ungekannte, eine so warme Theilnahme einzuflößen!«

»Mein Vater kannte Euch nicht?« rief hier Elmerice überrascht, – »wie ist dies möglich? Er muß Euch gekannt haben, denn von ihm erbat ich es oft mir, Euch und Ardoise zu schildern.«

»Und that er das?« frug lächelnd und überrascht die Gräfin.

»O hättet Ihr es gehört! Wie ich die Treppe hinauf stieg, erkannte ich Ardoise nach dieser Beschreibung sogleich wieder – und je länger ich Euch betrachte, jemehr erkenne ich das Bild, das er von Euch entwarf, tragt Ihr freilich auch nicht mehr Eure Lieblingsfarbe, das schöne Himmelblau, die weißen Rosen im Haare, worin Ihr den Engeln glichet.«

»Seltsam!« sagte die Gräfin, leicht erröthend vor sich niederblickend – »doch glaube mir, ich sah ihn nie, aus den Erzählungen Deiner Mutter kannte er dies; sie schmückte mich [19] zuerst bei ihrem Aufenthalte in Ardoise an dem Namenstage meiner Mutter, so wie Dir gesagt ward. Viele Jahre trug ich so am liebsten mich, schwere verhängnißvolle Erinnerungen sind an dies Kleid geknüpft, und da man es oft als zu meinem Leben gehörend erwähnt hat, wird es auch so Dein Vater erfahren haben.«

Elmerice schwieg, aber das gesenkte Angesicht zeigte, wie unbegreiflich ihr diese Annahme schien. – »Mein Vater war aber in Frankreich, er ist in Paris erzogen,« fuhr sie endlich fort, fragend in das Antlitz der Gräfin blickend, denn ihr schien jetzt nichts mehr recht sicher, da dies Eine, woran sie so bestimmt geglaubt, ihr in Abrede gestellt ward.

»So hörte ich von Deiner Mutter, liebste Elmerice. Herr Eton, Dein Großvater, gehörte zu den selten gebildeten englischen Geistlichen, die ihren Kindern keinen größern Vorzug mitzugeben trachten, als eine ausgezeichnete Erziehung. Dein Vater muß eine vollendete Bildung erhalten haben.«

»Wie könnt' ich bestimmen,« rief Elmerice mit Enthusiasmus, »auf welcher Höhe der stand, welcher um sich her die Hoheit und die Würde jeder menschlichen Tugend verbreitete? Er war selten heiter, und ich habe Menschen gekannt, die dies zu tadeln suchten – aber wie hätten wir uns ihn anders denken können, wie glauben, er könne die gewöhnliche Gabe des Frohsinns besitzen, so erhaben wie er vor uns stand! O, er war ja nie finster, nie unfreundlich – und gab es etwas, was sich mit seiner Freundlichkeit hätte vergleichen können? Ich, sein glückliches Kind, an das er seine ernstesten Blicke in Huld und Güte umwandelte, wie war ich bezaubert von diesem Lächeln! – Wenn er plötzlich eintrat, wo ich mich befand, und nur mein Arm, meine Hand nachläßig danieder hing – ich fühlte es als einen Vorwurf und rückte mich beschämt zurecht, und wagte nicht, kühn zu ihm aufzublicken, nicht laut zu sprechen, wenn er still [20] und sinnend in langen, stummen, innern Anschauungen da saß und seine bloße geräuschlose Gegenwart uns beherrschte, als ob ein König unter uns wäre. Man spricht von Menschen wie von Fabeln, die durch die Gewalt ihrer Augen ihre Mitgeschöpfe beherrschten; so war mein Vater! Ich habe ihn, statt Worte zu sagen, anblicken sehn, und die Macht der erschütterndsten Rede hätte nicht siegender wirken können – der ausgelassenste Uebermuth sank vor diesen Augen zusammen. – Zu ihm kamen die ausgezeichnetsten Menschen und forderten Rath; seine Gesellschaft, seine gelegentliche Unterhaltung mit Einem oder dem Andern war eine hohe Ehre, dessen sich die Besten rühmten und stolz darauf waren. Sein Tod brachte die Grafschaft in Bewegung, ein Jeder eilte herbei, ihn noch ein Mal zu sehen.« – Hier schwieg Elmerice plötzlich – ihr kindlicher Enthusiasmus hatte sie so nach Außen gedrängt, daß sie sich selbst ganz aus den Augen verloren; die Erwähnung seines Todes aber weckte ihr eigenes Gefühl; der Schmerz, belebt durch das Bild seiner Vorzüge, das sie in Liebe glühend heraufgerufen, durchzuckte sie jetzt mit dem Gefühle seines Verlustes – große Thränen fielen wie Perlen aus den Augen – sie vermochte nicht weiter zu sprechen.

Die Gräfin d'Aubaine hatte dies fast vorausgesehen – freundlich war sie beeilt, sie zu unterbrechen: »Ich wollte, Du hättest Recht, Elmerice, und ich hätte Deinen Vater gekannt, den Du so lebhaft vor meine Seele führst. Wohl hatte mir Deine Mutter stets seinen hohen Werth gerühmt, und ich hielt ihn so in meinen Gedanken fest; doch hast Du mit Deiner kindlichen Liebe ihn noch schöner, bedeutender gezeichnet, als die stets bescheidene Freundin, die sich eines solchen Glücks kaum zu rühmen wagte und mich über tausend Dinge, die mir wichtig schienen, zu erfahren, und eben Deinen Vater angingen, in Ungewißheit erhielt. Die Liebe eines solchen Mannes gewonnen [21] zu haben, wollte sie nie einräumen, so daß es demjenigen, welcher nicht, wie ich, ihr bescheidenes Herz kannte, fast hätte scheinen können, sie nur sei die Liebende gewesen, unberechtigt, von solchem Mann eine Erwiederung zu erwarten.«

»Ja,« rief Elmerice lebhaft, »Ihr sprecht es aus, wie es auch mir oft, doch nicht so klar ausgedacht, erschien – ich glaube selbst, meine Mutter hielt es für unmöglich, von solchem Manne geliebt zu sein! So wunderbar schön stand sie ihm zur Seite, als wolle sie ihm blos abwehren, was ihn verletzen könne. Ach, Frau Gräfin, Ihr werdet das Alles besser wissen, als ich Euch sagen könnte – aber große Leiden muß mein Vater erlebt haben, bevor er sich in die Einsamkeit begrub, wohin ihm meine Mutter folgte. Oft machte sie Andeutungen, die mich ahnen ließen, daß seltene und ungemein harte Verfolgungen ihn trafen.«

»Nein, mein theures Kind,« antwortete die Gräfin, »ich bin davon nicht unterrichtet. Wie ich Dir sagte, beobachtete Deine Mutter die größte Schüchternheit in Mittheilungen hinsichtlich ihres häuslichen Lebens, so innig auch sonst der Austausch unserer Seelen war. Von ihrer Liebe zu Deinem Vater erfuhr ich nur, als sie ihm bereits ihre Hand zugesagt. Diese Zurückhaltung überstieg fast das Maaß eines liebenden Mädchens, es trug etwas Geheimnißvolles an sich, und ich gestehe Dir aufrichtig, daß sie sich bemüht, mich glauben zu machen, nur sie liebe ihren Gemahl, sie genieße blos seine Achtung, seine Freundschaft. Du weißt, daß Deine Mutter die Cousine Deines Vaters war – er lernte sie bei seinem Vater kennen, sie verließ mit ihm gleich nach ihrer Vermählung Yorkshire, und Herr Eton, Dein Vater, kaufte sich in Schottland an, wo Du geboren und erzogen wurdest. Wenn ich nicht irre, grenzte dies Besitzthum an das Schloß Leithmorin, das dem intimsten Freunde Deines Vaters, dem Lord Duncan, gehörte.« –

[22] »Ja,« sprach Elmerice, sich schnell entfärbend, »der kleine Garten unseres Hauses stieß mit dem Parke des Lord Duncan zusammen; wir haben wieEine Familie gelebt – nur getrennt, wenn auf dem Schlosse Besuch einkehrte, denn hieran Theil zu nehmen, konnte meinen Vater selbst seine Liebe zu Lord Duncan nicht bewegen; doch sah er es gern, wenn ich unter der Aufsicht der ehrwürdigen Lady Duncan die Freuden der Geselligkeit kennen lernte.«

»Lord Duncan war jedoch bedeutend älter, als Dein Vater,« hob die Gräfin wieder an, der die schnelle Verlegenheit des jungen Mädchens nicht entgangen war; »er mußte erwachsene Kinder haben.«

»Der älteste Sohn von Mylord,« erwiederte Elmerice, »ist bereits seit zwei Jahren vermählt – er hatte noch einen erwachsenen Sohn, Lord Astolf, und Lady Marie, meine liebe Freundin, zwei Jahre älter als ich.«

»Mein armes Kind,« rief die Gräfin, vvn einer plötzlichen Ahnung berührt – »so viel liebe Freunde, eine so glückliche Lage mußtest Du in Deinem Vaterlande verlassen, um zu einer alten melankolischen Frau zu gehen, die keine andere Anziehungskraft für Dich haben kann, als die Liebe Deiner Aeltern? Kaum begreife ich Lady Duncan, daß sie Dich zu mir entließ, kaum das grenzenlose Vertrauen Deiner Mutter, Dich dem gewohnten Kreise zu entziehen, und einem Dir sogar bis auf Land und Sprache fremden hinzugeben.«

Elmerice schwieg – ihr Köpfchen hing bewegt auf ihrer Brust, unverkennbar lag auf diesen weichen jugendlichen Zügen das feine Lineament des ersten Kummers. – Die Gräfin glaubte sich nach diesem stummen Augenblicke in das Geheimniß ihres Schützlings eingeweiht, und von tiefer Theilnahme ergriffen, drückte sie sanft ihre Hand zwischen den ihrigen. – Elmerice blickte auf – und ihr Schweigen mit dem bittenden Lächeln [23] der Unschuld vertretend, drückte sie schnell die lieben Hände an ihre Lippen.

»O, scheltet mich nicht undankbar,« hob sie schüchtern an, »wenn ich nicht schnell Eure Zweifel beantwortete. Nicht verlegen war ich, Euch meine Meinung zu verbergen, nur wie ich sie Euch verständlich ausdrücken sollte, machte mich verstummen. – Nicht unerwartet,« fuhr sie fort, »kam mir diese liebe Bestimmung meiner Aeltern. Mein Vater, der Euch und Ardoise immer im Sinne trug, hatte meiner Mutter das Versprechen abgenommen, mit mir nach Frankreich und in Eure Nähe zurückzukehren, sobald der Tod, den er sich immer nahe glaubte, ihn abgerufen haben würde. Meine ganze Erziehung war darauf eingerichtet, in einem Lande nicht fremd mich zu fühlen, worin er mich später lebend wünschte. Er war der Sprache vollkommen mächtig, die ich durch ihn lernte; seine Erzählungen beabsichtigten, mich mit Sitten und Gebräuchen dieses von ihm so geliebten Frankreichs, wie mit dessen Geschichte mich so vertraut zu machen, als mit der meines Vaterlandes. Meine Mutter, die seinen Willen in allen Dingen heilig hielt, hätte ihm unfehlbar diesen Wunsch erfüllt, hätte sie es vermocht. Ihr wißt es,« fuhr sie mit bebender Stimme fort, »wie schnell sich ihre körperliche Hülle auflöste, der Sehnsucht folgend, die sie meinem Vater nachzog. Da hatte sie nur Einen Gedanken, nur Eine Sorge, die, mich Euch zu übergeben – und auch ich theilte nur das Verlangen, diesen ihren letzten Wunsch erfüllt zu sehen, und fühlte bei Euren günstigen Antworten die Beruhigung, die sie selbst empfand, wenn mich auch der Schmerz ihres nahen Verlustes ziemlich gleich gültig gegen meine Zukunft machte – was Ihr wohl natürlich finden werdet.«

»O mein theures Kind, wie vermöchte ich es anders!« rief die Gräfin – »aber dennoch, selbst so vorbereitet, ward es Dir sicher nur zu schwer, Leithmorin zu verlassen – und Deine [24] arme junge Freundin Marie. – Was habe ich damals gelitten, als ich mich von Deiner Mutter trennen mußte, die über zwei Jahre in unserer Familie lebte, und deren Platz nie mehr in meinem Herzen ersetzt werden konnte! – Aber obwohl sie sich so glücklich bei uns fühlte, sie sehnte sich doch zurück, und außerdem war ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit so groß, daß mein Bruder, der damals in das älterliche Haus zurückgekehrt war, sie nicht sehen konnte, ohne eine Neigung für sie zu fassen, der sie durch Entfernung zu entgehen dachte. Deine Mutter gehörte einer jüngern Linie eines sehr geachteten Hauses in England an – aber mein Bruder durfte sich nur mit einem ebenbürtigen Fräulein vermählen, wenn er Ansprüche auf die Titel des Namens d'Aubaine und auf die damit zusammenhängenden reichen Besitzungen behalten wollte. Seine Leidenschaft beherrschte ihn jedoch so, daß es ihm möglich schien, dem zu entsagen, und er mit allen Ueberredungsmitteln in unsere Aeltern drang, ihm die Bewerbung um Miß Eton zu gestatten. Da erfuhr das edle Mädchen durch meine Mutter selbst die peinliche Lage meiner Aeltern, und ihr Entschluß war sogleich gefaßt. Mein Vater entfernte meinen Bruder auf einige Tage, und unterdessen reiste Deine Mutter unter sicherer Begleitung durch Frankreich bis nach Calais, wo sie von Deinem Oheim, ihrem Bruder, empfangen ward und so nach England zurückkehrte. Ich habe sie nie mehr gesehen, obwohl wir uns nur mit der Hoffnung des Wiedersehens beim Abschiede trösteten; sie aber hatte durch ihre edle Aufopferung eine ganze Familie gegen die traurigsten Verwirrungen geschützt – freilich« – setzte die Gräfin nachdenklich hinzu, »sie liebte meinen Bruder nicht.«

»Ach,« rief Elmerice – »so war ihr das Härteste nicht auferlegt! O, wie beruhigt mich diese Versicherung! Wie könnte es mich noch heute, obwohl alle Leiden der Welt längst hinter ihr liegen, schmerzen, wenn sie die hätte durchkämpfen [25] müssen, die das Herz erleiden mag, so im Gedränge zwischen ernsten Pflichten und einer reinen Liebe, der heiligsten Empfindung des Herzens! – Doch,« fuhr sie nach einer Pause fort, da die Gräfin im Nachdenken verblieb, – »es geschieht wohl oft, daß auf diese Weise Menschen getrennt werden, die von der Natur bestimmt schienen, einander anzugehören, und Frankreich vor Allen scheint mir durch seine alten Familienverträge in dem Falle, so harte Verhältnisse herbei zu führen. Mein Vater sagte mir oft davon – es war während seiner Anwesenheit daselbst, denke ich, Mehreres geschehen, was ihn darauf hinwies.«

»Allerdings;« sagte die Gräfin, – »dies Land hat ganz die Formen behalten, die zu einer Zeit herrschen mußten, wo es nöthig schien, die entstehenden Familien durch solche Verträge gegen Verbindungen mit dem roheren Theile des Volkes zu schützen. Nicht, wie jetzt, war Bildung und Sitte ein Gemeingut der Nation, sie fing erst in den Kreisen sich zu entwickeln an, die durch größeres Grundeigenthum eine gesicherte, ruhigere Existenz gewonnen, und, über die Anstrengungen für den Erwerb des Lebens hinaus, Zeit und Gedanken für eine höhere geistige Entwickelung behielten. Die Geistlichkeit, als Hüter des schon vorhandenen Bildungsschatzes, wußte die Kreise, die so der höhern Sitte empfänglicher wurden, bald zu erkennen, und sie selbst half Verträge erdenken und stiften, welche die nöthige Absicht beförderten, solche Familien unter einander zu verbinden und durch Gesetze von dem roheren Haufen der noch unter dieser Bildung Stehenden abzusondern. Hierdurch ward der erste zarte Keim der Volksentwickelung geschützt und genährt; in diesen Kreisen wuchs sie auf und erstarkte, bis sie, dieselben überschreitend, in einer rechtmäßig organischen Entwickelung sich über die entgegen reifenden niederen Klassen ausbreitete, und die Idee einer Bevorrechtung des Individuums nach gerade in leere Einbildung zerfallen machte.«

[26] »Und dennoch hält man diese Formen fest,« sprach Elmerice, »die ihrer früheren Bedeutung leer geworden sind; und so viel gebrochene Herzen, so viel zerstörtes Lebensglück machte noch Niemand aufmerksam auf den wahren Inhalt dieser alt gewordenen Verträge?«

»Mein theures Kind,« sagte die Gräfin sanft, »wir können hier, wie überall, den Gang beobachten, den in ihrer Entstehung wohlthätige und nöthige Einrichtungen durch den Wechsel der Zeit, den sie mit bewirken halfen, erleiden. Vielleicht sind in diesem Augenblicke nur noch Wenige in Frankreich, die im Stande wären, unsere Unterhaltung nicht mit Staunen, vielleicht mit Unwillen zu hören – ja, es ist noch nicht lange, daß ich selbst mich von diesen Ansichten, mit denen ich auferzogen, beherrscht fühlte und ohne Widerrede geneigt war, ihnen jedes Opfer zu bringen. Erfahrungen, Einsamkeit und Lectüre, gewiß aber und vor Allem, daß ich mit vielen und ausgezeichneten Menschen lebte, die, wenigstens nicht erstarrt in dieser Form, schon die Zeit ahnend herauf dämmern sahen, die sich den gewohnten Ansichten entgegenstämmen wird, machte mich zu einer Entwickelung bereiter, der ich mich jetzt nicht mehr entziehen kann. Je mehr aber ein innerer Verfall, um sich greifend, das lang Bestandene zu bedrohen scheint, je mehr werden wir finden, daß die Form festgehalten und der Irrthum genährt wird; daß sie es ist, um deren Behauptung es sich handelt, das sinkende Ansehn vor der sich auflehnenden Weltordnung zu schützen. Auch gehört sicher eine große Selbstüberwindung dazu, der schwächsten Seite dieser Sache, eben ihres lang behaupteten Rechts, nicht zugleich als eines Vorzugs gedenken zu sollen, da allerdings etwas Schmeichelhaftes darin liegt, sich der Kaste angehörend zu wissen, die am längsten sich des Besitzes geistiger und sittlicher Vorzüge rühmen darf, und auf eine dadurch mit sich geführte Veredlung des Blutes des ganzen Individuums[27] bauen durfte. – Du denkst mit Stolz und Enthusiasmus Deines vortrefflichen Vaters! Das schönste Gefühl der menschlichen Brust, das Gefühl kindlicher Liebe, wird vielleicht, wenn Dich das Leben versuchen sollte, eine Waffe dagegen. Den Namen eines Vaters tragend, den Du so hoch stellst, willst Du sein würdig handeln, Du glaubst von so edlem Ursprunge höhere Anforderungen an Dich – laß' mich hinzusetzen, an die Anerkennung Anderer machen zu können; und so entwickelt sich naturgemäß in jeder edel strebenden Brust ein ähnliches Gefühl, als die Kaste des Adels sich gewöhnt hat zu nähren, jetzt freilich mit dem bedeutenden Unterschiede: ihre Handlungsweise nicht mehr solchen Erinnerungen getreu zu behüten, sondern in den alten Ansprüchen sich zugleich befähigt zu ihrem Besitz haltend. Ludwig der Vierzehnte, der eifrigste Beschützer der alten Adelsvorrechte, hat ihnen doch, vielleicht ahnungslos und in anderer Richtung strebend, durch die geistvolle Weise, wie er Künsten und Wissenschaften einen Platz um seinen Thron einräumte, den Todesstoß gegeben. Die Aufklärung, welche ihre Blüten, Künste und Wissenschaften, gedeihen läßt, ist auf diesen Punkt gestiegen, nicht mehr als Eigenthum höherer Stände, von ihnen ausschließlich fest gehalten, zu denken. – Es sind die Quellen des Nils, die das Flußbett, worin sie eingefangen wurden, in eigner Fülle und Kraft anschwellend überschreiten, und ein ganzes Land befruchtend überziehen; wer einmal die Erndte nach ihrem Säen kennen lernte, blickt Zeit des Lebens aus nach dem seltenen Sämann, der nicht frägt, ob der Boden, den er bestreut, dem bevorrechteten oder belasteten Bürger der Erde gehört.«

»Die Zeit ist also erst im Entstehen,« sagte Elmerice sinnend, »die ein freies Wirken und Schaffen unter Gleichgesinnten herauf führen wird – vorerst hat das reichere geistige Individuum keine Freiheit zu hoffen, als eben die innere, durch edles Streben selbst geschaffene.«

[28] Die Gräfin fühlte mit wehmüthiger Theilnahme, wie dies schöne liebenswürdige Wesen, aus den Wegen allgemeiner Anschauung stets zu sich selbst abzulenken wußte, und das eigene Interesse an diesem Standpunkte prüfte. Da England und Schottland, besonders die alten Familien, zu denen Lord Duncan Leithmorin gehörte, ganz in denselben Vorurtheilen befangen waren, zweifelte sie nicht, daß Lord Astolph die Veranlassung zu den schwermüthigen Betrachtungen war, mit denen ihr holder Schützling den Standpunkt der Zeit beleuchtete.

Diese Gedanken wurden durch das Erscheinen von Lorint unterbrochen, welcher die Abendtafel anmeldete, und die Gräfin d'Aubaine erhob sich, ihre junge Freundin mit sich führend. Die kleine Tafel war in dem Boiseriezimmer bereitet, welches zuerst durch seine interessanten Portraits die Aufmerksamkeit der Miß Eton gefesselt hatte. Auch jetzt – der Dame im Brautschmucke gegenüber sitzend, lächelte diese mit einer Fülle von Liebe und Trost auf sie nieder, daß sie fast die Blicke nicht abzuwenden vermochte und damit die Aufmerksamkeit der Gräfin d'Aubaine auf sich zog.

Nachdem sie sich umgewendet und das Bild erkannt, lobte sie die Schönheit desselben. – »Es war eine Jugendfreundin meiner Mutter,« fügte sie hinzu – »sie ließ sich in dem Brautkleide malen, welches sie bei ihrer Vermählung mit dem Marquis d'Anville trug, und worin meine Mutter sie so schön fand, daß sie so ihr Bild sich zu erhalten wünschte.«

»Die Marquise d'Anville!« rief Elmerice mit einer Ueberraschung, die ihr ganzes Gesicht in Purpur tauchte.

»Hörtest Du von ihr?« fragte die Gräfin.

»Ja, ja,« erwiederte Elmerice, »ich hörte von ihr« – doch plötzlich schwieg sie, und die Gräfin, die ihre sichtliche Bestürzung nicht durch Fragen vermehren wollte, war bemüht, durch ruhig einlenkende Gespräche das heftig erschütterte junge [29] Mädchen aus ihrer peinlichen Stimmung zu ziehen. Elmerice strebte dieser liebreichen Absicht zu begegnen, doch wagte sie nicht wieder die Augen zu dem wunderbar schönen Bilde zu erheben.

Als die Tafel vorüber war, führte die Gräfin d'Aubaine Miß Eton selbst nach ihren Zimmern, die in der freigebigsten Ausstattung Alles enthielten, was dem Reichthume der Gräfin zu geben gebührte und mit den Ansprüchen der Bildung zusammen hing, zu denen sie ihren Schützling berechtigt hielt. Geschickt wußte sie sie zugleich mit den ehrenvollen Verhältnissen, die sie ihr zugestand, bekannt zu machen und ihr die Revenuen ihres elterlichen Vermögens, welche durch ihre, als der Vormünderin, Hände gingen, zur freien Disposition zu stellen.

Beide Frauen trennten sich dann für die Nacht, mit gegenseitig angenehm belebten Hoffnungen für ein ferneres Beisammenleben.


Es zeigte sich bald, wie leicht sich die beiden Frauen neben einander einwohnen sollten. An regelmäßige Zeiteintheilung gewöhnt, trennten sie ihre Beschäftigungen, und führten sie zusammen, in so ungesuchter Ordnung, mit so wachsendem Interesse für einander, daß man die Stirn der Gräfin d'Aubaine nie so unumwölkt gesehen, seit lange das Herz der Miß Eton nicht in so ruhigem Takte geschlagen hatte.

Die vorschreitende Jahreszeit, die geschmackvollen Gärten, noch mehr aber die schönen, daran gränzenden Wälder von Ardoise boten die genußreichsten Spaziergänge, und Miß Eton, die nach Art der Engländerinnen diese zu ihren täglichen Beschäftigungen zählte, fühlte sich ungemein dadurch angezogen und unterhalten.

[30] Ihre Erscheinung war den Bewohnern von Ardoise bekannt und lieb geworden. Die Kinder erwarteten das Schloßfräulein um die Stunde ihrer Promenaden, und vertraten ihr mit der schüchternen Hoffnung ihres Grußes oder Scherzes den Weg, ihr zartes grünes Laub oder eine frühzeitig emporgesproßte Wiesenblume überreichend; die jungen Mädchen ergötzten sich an der Schönheit und vornehmen Kleidung und dem immer gleich freundlichen Wesen – während die älteren Leute des Dorfes, die Leidenden, die Kranken oder von Verlusten Getroffenen, ihren sanften Zuspruch genossen und aus ihren Händen die reichen Gaben empfingen, die zu spenden ihre Lage ihr erlaubte, oder welche die Gräfin d'Aubaine durch sie austheilen zu können sich freute.

Sie fühlte so nach gerade in den Umgebungen von Ardoise eine Sicherheit, die sie ihre Wanderungen immer weiter ausdehnen ließ, da auch hier bekannte Förster vollkommenen Schutz zu gewähren schienen.

An einem schönen Nachmittage hatte sie ihren Weg bis zu einem verlassenen Steinbruche ausgedehnt, dessen höchst romantische Lage sie anzog, und wo sie niedersitzend eine lange Zeit in den tiefen Grund blickte, der, mit schlanken Edeltannen bewachsen, nur einzelne niedergestürzte Steinmassen blicken ließ und ein kleines Thal bildete, dessen saftig grüner Moosgrund immerfort bespült ward von einem silberhellen Bächlein, das, tief aus den Steinbrüchen sich hervorarbeitend, seinen lustigen Lauf über grün bemooste Steine durch den schmalen Thalweg verfolgte. Längst schon hatte sich Elmerice gewünscht, bis zu ihm niedersteigen zu können, aber vergeblich nach einem Wege ausgesehen; die pyramidenartig emporsteigenden Tannenwipfel allein, die, schräg herablaufend, nur einen sehr steilen Abhang annehmen ließen, zeigten sich ihren Blicken.

Abermals durchspähte sie in allen Richtungen den Waldgrund, als sie sich gegenüber einen Jäger er blickte, der, auf [31] einem jäh vorspringenden Felsblocke sitzend, seine ganze Aufmerksamkeit, wie es schien, ihr zugewendet hatte. Ueberzeugt, einen der vielen Jäger zu erkennen, die ihr bereits bekannt waren, winkte sie ihn zu sich herüber in der Hoffnung, von ihm Aufschluß über einen möglichen Weg zu erhalten. Die Gestalt blieb aber ohne Bewegung sitzen, sie immerfort anstarrend, ihre Winke, wie es außer Zweifel war, gewahrend, ohne Lust, wie es schien, ihnen zu folgen. Miß Eton fühlte plötzlich ein fast unerklärliches Grauen, und schnell von ihrem Platze aufstehend, beschloß sie den Rückweg anzutreten, als sie, von unwillkürlicher Besorgniß getrieben noch ein Mal umsah und nun die plötzlich belebt gewordene Gestalt des Jägers gewahrte, der mit der Schnelligkeit einer Gemse, oben an dem äußersten Rande des Steinbruchs entlang, ihr entgegen lief. Miß Eton mußte gleichfalls, um den Rückweg zu erreichen, einen kaum bemerkbaren Fußsteig an diesem Rande der Höhe zurücklegen – und indem sie hastig vorschritt, in der Hoffnung, dem unheimlichen Waidmanne zu entgehen, sah sie bald die Unmöglichkeit davon ein, da er bereits den Punkt überschritten hatte, wo sie hätte einlenken können, so daß jetzt ein Begegnen auf dem schmalen Pfade unausbleiblich ward. – Diese Ueberzeugung ließ sie einsehen, daß sie ihre Unruhe beherrschen müsse, und sie blieb einen Augenblick stehen, um Athem zu schöpfen. Der Jäger eilte noch einige Schritte vor, dann blieb er ebenfalls stehen und schaute sie, auf sein Gewehr gestützt, vorgebogen aus hohlen Augen an.

Miß Eton hatte Zeit, die wunderliche Erscheinung zu prüfen, und mit Grauen drängte sich ihr ein Bild auf, das an Wildheit und Sonderbarkeit alles Andere überbot.

Sein todtenbleiches Gesicht war fast überwachsen von dem starken schwarzen Haare, das Kopf, Kinn und Mund bedeckte – die farblosen großen Augen starrten mit einem trüben Wasserglanze [32] hervor und waren so fürchterlich anzuschauen, daß Elmerice davon wie erstarrt ward. Seine starke Gestalt von mittler Größe zeigte noch jetzt in ihrer traurigen Vernachläßigung von ehemaliger Schönheit, und die abgetragene, zum Theil zerrissene Kleidung von früherer Sorgfalt und Wohlhabenheit. – Er hatte einen flachen Hut mit breiter Krempe und einer alten zerbrochenen Feder auf dem Kopfe, woran ein Strauß gemachter Blumen mit Goldblättchen und Perlen hing, überdeckt mit einem halbzerrissenen Streifen schwarzen Flors. – Ohne die Lippen zu öffnen oder eine Bewegung zu machen, schaute er sie grauenhaft neugierig an. Auch Elmerice glaubte das Blut an ihrem Herzen stocken zu fühlen, denn vorüber schien er sie nicht lassen zu wollen; ja, der Weg war so schmal, daß sie nur, wenn er umkehrte, hinter ihm hergehend, weiter zu kommen hoffen konnte. Eines neuen Gedankens unfähig, ergriff sie der bei seinem ersten Anblicke gefaßte, ihn um Nachricht über den Weg zum Thal hinab zu fragen, und von der Qual des Schweigens getrieben, rief sie mit wankender Stimme: »Wißt Ihr nicht den Weg hinab von dieser Höhe in das Thal?«

Sein Schweigen dauerte fort – er bog sich noch mehr vor und schien, indem er jetzt die Augen zur Erde niederschlug, über das Gehörte nachzudenken.

So wie sich seine grauenhaften Augen von ihr abwandten, faßte Miß Eton neuen Muth – »ich frug Euch, guter Freund,« hob sie mit ruhigerer Stimme an – »ob Ihr den Weg in das Thal hinab kennt?«

Jetzt fuhr die Gestalt zusammen, und mit einer konvulsivischen Bewegung in sein Haar greifend, rief er, indem er sie aufs Neue anblickte: »Lebst Du denn, Jenny? Und sprichst mit mir? Und das war nicht Dein Geist auf dem Felsensitz? – Bei diesen Worten schlich er furchtsam vorgebeugt näher und hatte jetzt das Fräulein fast erreicht. Miß Eton fühlte ihre [33] Kniee beben – sie übersah schnell, daß der, welcher diese Worte mit dem sanftesten, schwermüthigsten Tone der Stimme sprach, kein Räuber, aber eben so schrecklich, ein Wahnsinniger sei.«

»Ihr irrt Euch,« stammelte sie, den Stamm einer jungen Fichte umfassend, »ich heiße nicht Jenny! ich gehöre in das Schloß der Gräfin d'Aubaine, führt mich dahin, oder – ich bitte Euch – haltet meinen Weg nicht auf, die Gräfin erwartet mich.«

»Ach, warum sagst Du mir das Alles, was ich ja weiß! Wohl wird Dich die Gräfin erwarten – aber wo warst Du? – Du hast sie so lange schon warten lassen, daß sie Dich nicht mehr erwarten wird – aber mich? mich? warum hast Du denn auch mich warten lassen? so lange, so vergeblich?« Hier verzog ein konvulsivisches Weinen sein zum tiefsten Schmerze ausgeprägtes Angesicht.

»Armer Unglücklicher,« sprach Miß Eton, deren Rührung über ihre Angst zu siegen begann – »Du bist wohl recht traurig und leidest wohl großen Schmerz? Doch kann ich Dir Deinen Kummer nicht lindern, denn ich bin nicht, wofür Du mich hältst – aber ich bitte Dich, da Du unglücklich bist, habe Mitleid mit mir und laß' mich jetzt ungehindert weiter gehen!«

»Ich Dich gehen lassen?« rief der Jäger dagegen in wilder Hast, »ich soll Dich aufs Neue verlieren?« – Eine fürchterliche wilde Angst brach aus seinen Zügen und verwandelte die Todtenbleiche seiner Farbe in Purpurglut. »Niemals! Niemals!« rief er mit solcher Heftigkeit, daß Elmerice, die Besinnung verlierend, fast bewußtlos gegen den Abgrund zustürzte. Da fühlte sie sich mit einer Gewalt ergriffen, als ob eine Riesenhand sie umspannte, und sie sah sich nun gänzlich in die Macht des Wahnsinns gegeben. – »Willst Du wieder hinabstürzen, willst Du nicht warten, bis ich Dir den schönen ebenen Weg gezeigt, den ich ja für Dich schon fertig gemacht hatte, ehe [34] Du Dir selbst den steilen, rauhen hier suchtest. Ach, hättest Du noch einen Tag gewartet, so hätte ich ihn Dir gezeigt! – Sie sagen,« fuhr er fort, ganz zerstreut mit der Hand an seine Stirn fahrend, indem er die zitternde Elmerice aus seinen Armen ließ – »Du seist hinab gestürzt, als Du in der Finsterniß nach Ardoise zurück wolltest, hier unten hätten Deine blutigen Gebeine gelegen – da habe ich sie gesehen – da!« fuhr er fort und starrte vor sich hin – »ganz in Blut! Dein Köpfchen geknickt daneben, Deine lieben Arme zerrissen – warst Du das?« – Er fing still und bitterlich an zu weinen. – »Hätte ich Deinen Wunsch erfüllt und Dich den Tag vor unserer Hochzeit hinab geführt, dann könnte ich doch schlafen, wie Du, aber so, – wer konnte auch denken, Du würdest Wort halten und hinabsteigen!« Er schien Elmerice ganz vergessen zu haben, die Vergangenheit trat mit allen ihren schmerzenden Bildern ihm nah'; Miß Eton raffte aufs Neue ihren Muth zusammen und versuchte zurück zu kehren – da hörte er ihr Gewand rauschen, er blickte um, er sah sie und schrie krampfhaft auf. »Jenny, Jenny, Du willst doch fort?« rief er, sich ihr nachstürzend; – »nein, nein, geh' nicht, ich bitte Dich, geh' nicht! oder es geschieht, was die Leute sagen, und ich verliere den Verstand!«

Miß Eton blieb stehen, unfähig zu gehen, aber wohl fühlend, daß jeder Versuch, ihn zu verlassen, ihre Lage bedenklicher machte, rief sie schnell entschlossen: »Nun wohl, ich will Euch nicht verlassen – aber bringt mich selbst nach Ardoise zurück – ich bitte Euch, thut das!«

»Ja!« sagte er sanft und freundlich, »das will ich gewiß, aber erst muß ich Dir den schönen Waldweg zeigen, den ich für Dich gemacht, und von da aus führe ich Dich durch den Steinbruch einen Weg, den Niemand kennt, nach Ardoise; dort bei unserer Hütte, in der wir uns immer trafen – weißt Du noch, liebe, liebe Jenny? O, Du hast doch nichts vergessen? [35] Denn es ist lange her, wie sie Dich begruben – dazwischen war Winter – da hatten sie mich eingesperrt – nun ist die Zeit unserer Hochzeit wieder da! und nun kommst Du auch, und bist so schön, so schön! Du bist wohl noch schöner geworden, weil Du ein Engel geworden bist.«

Miß Eton hörte trotz ihrer Angst mit Rührung und Interesse die Klagen des Armen, dessen Schicksal sie aus seinen Andeutungen hinreichend errathen konnte, aber sie wußte ihm nichts mehr zu antworten; sie zitterte eben so sehr vor seiner Begleitung, als vor dem Zustande, worin ihn ihre Weigerung versetzte. – »Laßt uns ein anderes Mal diesen Weg versuchen,« sprach sie schüchtern, »ich bin heute ermüdet, kann so weit nicht mehr gehen.«

»Ermüdet bist Du? – da müssen wir uns erst ausruhen. O gehe nur wenige Schritte weiter, so will ich Dir einen schönen Moossitz zeigen, wo Du ausruhen kannst, und dann steigen wir hinab – oder ich trage Dich bis dahin.«

»Um Gottes Willen, nein!« rief Miß Eton und eilte, so schnell sie vermochte, voran – sie fühlte, daß ihr nichts übrig blieb, als sich ohne Widerstand in seine Gedanken zu fügen, sie hoffte ihn so sanft zu erhalten – vielleicht traf sie auf dem Wege einen Schutz, vielleicht leitete er sie selbst, in dem Wahne, die Geliebte zu führen, sicher nach Ardoise zurück.

»Nein,« rief er und schob sie sanft zurück, »Du mußt mich voran lassen! ich zeige Dir den Weg.« Dies war in der That nöthig, denn eben bog der Fußsteig, den sie bisher verfolgt, auf eine Art ab, die ihn fast verschwinden ließ. Abermals blieb Miß Eton schaudernd stehen, gewiß, er glaube nur in seinem Wahnsinn an einen hier vorhandenen Weg – aber nur noch wenige Schritte, und sie sah ihren Irrthum ein – eine kleine Wendung zeigte ihr den Moossitz, von dem aus eine mühsam behauene Treppe mit kleinem Holzgeländer nieder stieg. Er bat [36] sie nun, auszuruhen; geduldig nahm Miß Eton den Sitz ein, und hart zu ihren Füßen setzte sich der Unglückliche auf die Treppe vor ihr nieder.

Obgleich die Umstände, unter denen Elmerice hier ausruhen mußte, wenig geeignet waren, einen Antheil an Naturschönheit zuzulassen, mußte sie doch wahrnehmen, wie ausgezeichnet dieser Punkt gewählt war. Die Fichtenwand war hier von Oben nach Unten durchbrochen, und in diesem schmalen schwarzen Vorgrunde schloß sich, wie in einem Rahmen, die blaue Ferne ein, die in dem gebrochenen Lichte der in Nebel gehüllten Abendsonne wie ein unabsehbares Meer ausgebreitet lag, und das Auge nach den kolossalen Steinwänden zurückzog, die, halb mit Moos überwachsen, halb ihre eigenthümliche gelbrothe Farbe zeigend, den Mittelgrund bildeten, während unten das helle Grün des Thales mit dem silbernen Streifen des kleinen Baches heraufleuchtete. – Schweigend starrte der Unglückliche gleichfalls in die Gegend, und wie es schien, wirkte das Außerordentliche dieses Anblicks auf ihn: denn Stille, müde Ruhe verbreitete sich auf seinem Antlitz und schien ihn in ein glückliches Selbstvergessen einzuhüllen.

Miß Eton, immer den Gedanken verfolgend, ihn in Güte zu entfernen, und wahrhaft über den Weg in Sorge, den sie vor sich jäh in den Abgrund steigen sah, von dem nahenden Abend doppelt besorgt gemacht, erhob sich wieder und sagte, so ruhig sie vermochte: »Die Treppe ist zu steil für mich – ich will den Weg zurückgehen, den ich gekommen, und bitte Euch, daß Ihr mir folgt.«

Der Jäger sprang auf und schien Alles vergessen zu haben, seinen Wahn, seine Hoffnungen. »Laßt mich,« rief er ängstlich, »folgt mir nicht! Niemand soll diese Treppe betreten, als Jenny – und sie ist todt, längst todt! und Alles ist umsonst – Alles vergeblich! Ach, Alles! Alles!«

[37] Aufs Neue fühlte sich Miß Eton erschüttert von diesem Schmerzenstone, von dem Unglück des armen Wahnsinnigen gerührt – aber die Hoffnung, ihm jetzt vielleicht entschlüpfen zu können, überstieg doch jedes andere Gefühl. Sie eilte daher hinter ihm fort, den eben verlassenen Weg zurück. Der Jäger blieb noch einige Augenblicke in Gedanken stehen – als er, sich plötzlich umwendend, Miß Eton wieder erblickte. »Jenny, theure Jenny!« rief er, sich ihr nachstürzend – »jetzt, jetzt eile Dich! Es ist heut' unser Hochzeittag – Du weißt, wir müssen uns noch putzen, und dann nach Ardoise zur Gräfin gehen.«

»Ja,« sagte Miß Eton – »aber ich bitte Euch, laßt uns diesen Weg gehen!«

»Nein!« rief er mit ausbrechender Heftigkeit – »diesen sollst Du gehen – diesen will ich Dich führen, damit Du nicht wieder Deinen eigenen fürchterlichen Weg gehst, in den Abgrund hinein!« – Wild umfaßte er das Fräulein und riß sie gegen die Treppe.

Ein lauter Schrei entpreßte sich ihrem Munde – bebend, aber mit aller Kraft, die ihr noch blieb, entriß sie sich ihm, und nun überzeugt, nur williges Nachgeben könne sie retten, folgte sie, ihm ihre Hand überlassend, ein Paar Stufen in den Abgrund hinab. Aber was sie befürchtet, bestätigte sich nur zu sehr: nachdem sie wenige Stufen hinunter gegangen, sah sie, daß die Treppe etwas weiter plötzlich aufhörte und sich nur in einem schroffen jähen Abhange mit einzelnen weitliegenden Steinen fortsetzte. »Ihr wollt mich umbringen!« rief sie angstvoll – »die Treppe hört hier auf! O, um Gottes Willen erbarmt Euch und laßt mich umkehren – hier muß ich in den Abgrund stürzen – seht, gleich hören die Stufen auf, und dann bin ich verloren!«

»Nein!« sagte er heftig – »hier ist der Weg, den ich für Dich behauen habe, Keiner hat ihn seitdem betreten dürfen, er [38] muß noch haltbar sein! Habe ich darum die langen Nächte ihn bewacht und selbst dem Wilde mit dem Laufe dieser Flinte den Weg darüber gehindert, daß Du jetzt ihn verachten willst? Nein, Du mußt hinab! Ich werde Dir helfen.« – Er streckte wieder die Arme aus – Elmerice stieß abermals einen Angstschrei aus und drängte sich jetzt selbst in verzweifelter Hast einige Stufen herunter – doch jetzt hatte sie nur noch vier Stufen vor sich, jede wankte unter ihrem Fuße, und sie sah mit Entsetzen, wie er diese Schwierigkeit nicht bemerkte, nicht ahnete. – Sie blieb stehen und ihr Auge schweifte verzweifelnd umher. Da war es ihr, als sähe sie seitwärts, höher als sie selbst eben stand, eine männliche Gestalt gegen das Gebüsch sich bewegen. Augenblicklich lebte die Hoffnung in ihr auf – mit allem Muthe, den sie noch in sich trug, riß sie sich los, lief die Treppe zurück und rief mit größter Anstrengung nach Hülfe, während ihr Auge an der Steinwand hängen blieb, an der sich ihrem Rufe entgegen die Gestalt zu bewegen anfing und den Weg zu suchen schien, der hinüber führen könnte. Aber in demselben Augenblicke brach, durch den erfahrnen Widerstand gereizt, die volle Wuth des Wahnsinnigen hervor – er stürmte ihr nach, Verwünschungen brachen aus seinem Munde, er ergriff sie und versuchte sie die Treppe aufs Neue hinab zu ziehen, weil Miß Eton halb ohnmächtig vor Schreck sie nicht mehr zu steigen vermochte. Da hörte sie einen Schuß, einen wilden Schrei ihres Verfolgers, und fühlte, wie seine Arme nachließen und er, zur Erde sinkend, sie niederzog – noch ein Mal richtete sie sich mit der geringen Kraft, die ihr nach so vielen Erschütterungen geblieben war, empor und wehrte sich gegen das drohende Hinabstürzen, indem sie krampfhaft das kleine Geländer der Treppe ergriff. So mußte sie sich erhalten, bis sie einige Besinnung gesammelt. Ihre Lage hatte sich nur wenig gebessert – zu ihren Füßen war der Unglückliche niedergesunken, der, mit Blut bedeckt, zwar die [39] Kraft verloren hatte, sich mit ihr in den Abgrund zu stürzen, aber, auf ihren Füßen liegend, ihren Shawl krampfhaft zwischen seiner zusammengeballten Hand haltend, in den unruhigsten Bewegungen, mit dem Bestreben, sich aufzurichten, jeden Augenblick das schwankende, zitternde Fräulein in den Abgrund zu reißen vermochte. Der Schuß, der als schnell nöthiges Rettungsmittel von ihrem unbekannten und jetzt ganz verschwundenen Wohlthäter abgefeuert ward, das niederströmende Blut, von dem sie ihr weißes Gewand bald gefärbt sah, die entsetzliche Vorstellung, vielleicht den Tod dieses Unglücklichen veranlaßt zu haben, dies Alles machte ihr eine nöthige Fassung, um die Umstände zu ihrer Flucht zu benutzen, fast unmöglich. Entzog sie ihren Shawl seiner Hand oder wickelte sie sich selbst davon los, so verlor er seinen einzigen Anhalt und mußte ohne Rettung in den Abgrund stürzen, da sie ihm, wenn auch nur schwach, doch als Stützpunkt diente. Es war ihr unmöglich, eine andere Auskunft zu entdecken – und eben so unmöglich, ihre Rettung um solchen Preis zu bewirken. Da hörte sie ein fernes Anrufen – bald wieder, und näher schon – sie faßte Hoffnung, es konnte Hülfe nahen – sie rief zurück und erhielt eine schnelle Antwort, obwohl die Bewegungen ihres Peinigers durch dieses Rufen noch heftiger wurden, und ihre Lage mit jedem Augenblicke gefahrvoller. Jetzt glaubte sie das Gebüsch durchbrechen zu hören, und plötzlich stand eine hohe Männergestalt am Rande der Treppe, die, ihre entsetzliche Lage schnell übersehend, rasch und geschickt hinabstieg, und in demselben Augenblicke neben dem Fräulein stehend, auch den Arm des Unglücklichen ergriffen hatte und, indem er ihn empor riß, dem Fräulein Freiheit gab, sich zu bewegen. So wie sie die Last von ihren Füßen gehoben fühlte, versuchte sie die Stufen hinan zu steigen, aber ihre Kräfte ließen mit jedem Schritte mehr nach, und auf der obersten angelangt, sank sie willenlos auf den Boden nieder.

[40] Der Fremde hatte indessen den Verwundeten erfaßt und schleppte ihn sich nach, bei dem Anblicke des Fräuleins ihn auf sicheren Boden niederlegend und zu ihrer Hülfe herbeieilend. – Er hob sie vom Boden empor und lehnte sich in den Steinsitz, indem er ihr den Hut abnahm, um ihr Luft zu verschaffen. Das Fräulein schlug die Augen auf – Beide blickten sich an und fuhren mit dem lebhaftesten Ausdrucke der Ueberraschung zurück.

»Um Gottes Willen – Fräulein Eton!« rief der Fremde – »in welcher Lage finde ich Euch! welch' ein entsetzlicher Augenblick macht mich so glücklich, Euch nützlich sein zu können!«

Das Fräulein stand auf – die Gemüthsbewegung, die ihr der Anblick des Fremden sichtlich in anderer Richtung gegeben, schien ihre geschwächte Kraft zurück zu rufen. – »Ich bin Euch großen Dank schuldig,« sagte sie hastig – »erlaubt, daß ich jetzt die mir wohlbekannten Wege durch diesen Wald nach Ardoise eile, diesem Unglücklichen von dort aus Hülfe zu senden.«

»Das heißt so viel,« entgegnete der Fremde mit vorwurfsvollem Ton, »ich eile, mich Eurem Schutze, Eurer Hülfe so schnell, als möglich, zu entziehen. – Ja, Elmerice, ich ahnete, daß Ihr hier sein würdet – und der Freund, der, von seinem sehnsüchtigen Herzen getrieben, den Weg bis hieher fand, verdient er kein anderes Willkommen, als den Wunsch, seiner wieder los zu werden?«

»Ich habe nicht das Recht, Euch aufmerksam zu machen, ob Ihr diesen Weg finden durftet – Ihr werdet eben so wenig vergessen, was Ihr Euch schuldig seid, als es mir nicht entfiel, was mir zusteht. – Seid jedoch sicher,« setzte sie mit bebender Stimme hinzu, »ich werde es ewig dankbar bewahren, was ich Euch in dieser Stunde schuldig ward, mögen Eure übrigen Handlungen so bleiben, daß ich Euch dieses Gefühl ohne Beimischung erhalten kann.«

[41] »O, Elmerice,« rief hier der Fremde mit dem tiefsten Ausdrucke zärtlichen Schmerzes – »seid Ihr wirklich so hart, als Eure Worte? In das dürre Gebiet der Dankbarkeit verweist Ihr jedes Gefühl für mich, und auch dies stellt Ihr noch unter Bedingungen, die den Zweck haben, von mir das Einzige zu fordern, wogegen sich mein Herz mit allen seinen Kräften auflehnt! Denkt Ihr, es gäbe eine Gewalt, gegen die ausreichend, die aus einem wahrhaft liebenden Herzen dringt? O, Elmerice, wie wenig müßt Ihr die Gefühle kennen, von denen mein Herz durchdrungen ist, eine Rettung, eine Auskunft in der Trennung zu hoffen! Sie ist es, die uns lehrt, welchen Werth das übrige Leben behält, wenn uns das geraubt wird, wodurch wir erst zur Fähigkeit gelangten, es zu lieben.«

»Haltet ein;« rief Miß Eton, mit neuem Versuche, den Rückweg anzutreten – »vergeßt Euch nicht selbst! – vergeßt nicht, was Ihr mir schuldig seid, und wie wenig diese Sprache für uns gehört, ja, wie beleidigend ich sie finden müßte, wüßte ich nicht, daß Ihr dies nicht beabsichtigt. Aber laßt meine einfache dringende Bitte etwas gelten und schont meine Ruhe, indem Ihr zurückkehrt und Euch an den Gedanken zu gewöhnen sucht, daß ich Euch nur eine entfernt bleibende Freundin sein kann! Ich bitte Euch,« unterbrach sie ihn zitternd, als er ihr antworten wollte – »haltet mich jetzt nicht länger auf – wir dürfen den Unglücklichen nicht vergessen, der dort unserer Hülfe benöthigt ist – ich selbst,« fuhr sie fort, »bedarf der Ruhe, und meine Kleidung, die mit seinem Blute gefärbt ist, erfüllt mich mit Schauder.«

Dies entschied bei dem Fremden, der augenblicklich zurück trat; und Miß Eton eilte nun einige Schritte auf dem Fußpfade vor, der sie, an einem kleinen Vorsprunge vorüber, auf eine gesicherte Stelle führte.

»Lebt denn wohl!« sagte hinter ihr eine zitternde Stimme – Miß Eton blickte schüchtern um und gewahrte, wie der [42] Fremde ihr noch einige Schritte gefolgt, jetzt an einen Baum gelehnt, ihr nachblickte – sein Angesicht war todtenblaß, und der linke Arm hing wunderbar schlaff an ihm nieder. – Einen Augenblick schien das Fräulein den schmerzlichsten Kampf zu kämpfen, dann eilte sie, zurückgrüßend, so schnell es ihre Kräfte zuließen, den Weg nach Ardoise zurück.

Am Eingange des Waldes stieß sie auf die Leute der Gräfin d'Aubaine, welche diese, über ihr langes Ausbleiben höchlichst beunruhigt, ihr entgegen geschickt hatte. Der Anblick des Fräuleins, ihre in Blut getränkten Kleider, ihr blasses, erschöpftes Ansehn, erfüllte Alle mit Schrecken. In wenigen Worten erläuterte sie Ihnen das Vorgefallene, und jede Hülfe von sich ablehnend, bat sie vor Allem, zu dem Unglücklichen zu eilen, den sie nur mit dem tiefsten Entsetzen sterbend zu denken vermochte. Sie selbst eilte, sich so unbemerkt, als möglich, nach dem Schlosse zu schleichen, um durch ihren Anblick die gütige Freundin nicht zu erschrecken. Umgekleidet eilte sie alsdann zur Gräfin d'Aubaine, durch ihren Anblick die Mittheilungen zu mildern, die so viel Erschreckendes hatten.

»Aber, mein theures Kind,« fuhr die Gräfin fort, nachdem sie an ihre Freude über die glückliche Rettung ihres Lieblings manchen zärtlichen Vorwurf über die dreisten Wanderungen angeknüpft – »wären wir doch nur so glücklich, den Fremden wieder zu finden, der uns einen so unschätzbaren Dienst leistete! Du kanntest ihn also nicht?« fuhr sie fort, als das Fräulein schwieg – »aber vielleicht gehört er doch zu meinen Nachbarn, und wir können ihn ausforschen und unsere Dankbarkeit ihm bezeigen.«

»Ich glaube nicht« – sagte das Fräulein rasch und unruhig – »es war gewiß ein Fremder – ja, ich erinnere mich genau, daß es ein Fremder war – er wird abgereist sein – wir werden ihn nicht auffinden.«

[43] »Sagte er Dir dies?« fragte die Gräfin, das Gespannte und Aengstliche in diesen Worten fühlend.

»Ich glaube, ja!« – seufzte Miß Eton, »aber ich weiß es nicht genau zu sagen.«

»Ich aber,« sagte die Gräfin und erhob sich lächelnd – »weiß sehr genau, daß mein liebes Kind mich sogleich verlassen wird, und ihren Gehorsam mir zeigen, indem es sich niederlegt und so viel Schrecknisse durch Ruhe auszugleichen sucht.«

Miß Eton zeigte sehr gern den verlangten Gehorsam, und eilte, die Ruhe ihres Lagers zu suchen, wenn wir uns auch nicht dafür verbürgen wollen, daß sie dieselbe, nach so vielen Erschütterungen ihrer Seele, fand. –

Die Gräfin d'Aubaine empfing Miß Eton am andern Morgen, als die Frühstücksstunde die beiden Damen wieder zusammenführte, mit der Nachricht, daß sie gestern Briefe von ihrer Nichte, der Marquise d'Anville, aus Paris empfangen habe, welche deren Besuch ihr angemeldet, und äußerte ihre Freude, diese liebenswürdige Nichte mit Miß Eton bekannt machen zu können, da sie über das Wohlgefallen Beider an einander keinen Zweifel trug. »Meine Nichte wird fürs Erste ohne ihren Gemahl hier sein,« fuhr sie fort, »da derselbe Güter übernimmt, welche er seit längerer Zeit besitzt, ohne sie zu kennen; dann wird er uns auch auf einige Zeit seine liebe Gegenwart schenken, und später mit seiner Gemahlin das Hauptgut in Besitz nehmen, welches die Neugierde der jungen Frau zu reizen scheint.«

Miß Eton wünschte der Gräfin Glück zu dieser angenehmen Aussicht, und schien lebhaft von dem Gedanken dieser neuen Bekanntschaft erregt zu sein – dann bat sie die Gräfin um Auskunft über den Unglücklichen, der sie gestern in so große Gefahr gebracht, und um einige Nachrichten über sein Schicksal.

[44] »Fürs Erste,« erwiederte die Gräfin, »kann ich Dir die Versicherung geben, daß seine Wunde nicht tödtlich ist: die Kugel ist aus der Schulter herausgelöst, und der starke Blutverlust macht seinen ganzen Zustand selbst bei dem unvermeidlichen Wundfieber milde und ohne die sonst gewöhnliche Gemüthsstimmung. Sein Schicksal wirst Du zum Theil aus seinen wahnsinnigen Reden errathen haben – doch wenige Worte werden Dir noch sagen, wie er zu den besten und ausgezeichnetsten Jünglingen in Ardoise gehörte. Leider hatte ihm die Natur ein allzuweiches, feinfühlendes Herz gegeben, und so unterlag er dem ersten großen Schmerze seines Lebens, der allerdings durch eine schreckliche Katastrophe über ihn herbeigeführt ward.

Robert diente mir als Jäger im Schlosse – er war der Sohn des Kastellans. – Durch Tüchtigkeit und Brauchbarkeit erwarb er sich die zunächst aufgekommene Försterei von Ardoise, und entdeckte mir seine Liebe zu Jenny, einem sehr schönen jungen Mädchen, das unter der Aufsicht meiner guten Sulpice trefflich herangewachsen war. Da ihre Neigung gegenseitig, so freute ich mich der glücklichen Wahl, und als Robert die Försterei bezogen, setzte ich den Tag ihrer Hochzeit an.

Jenny hatte wahrscheinlich auf seine Bitten eingewilligt, ohne Wissen ihrer mütterlichen Freundin Sulpice, ihren Bräutigam öfter im Walde beim Steinbruche zu sehen, und war, sich verspätend, dann besorgt und eilend den gefährlichen Weg zurückgekehrt. Ihr Wunsch, in das Thal hinabzusteigen, war stets von Robert verweigert worden, der sie mit einem bequemen Wege zu überraschen vorhatte.

Dies sind alles nachher ausgeforschte Umstände, theils aus dem wahnsinnigen, sich um diese Punkte anklagenden Vorwürfen Roberts – theils aus nachher gemachten Entdeckungen anderer Dienstleute. Jenny versprach ihrem Geliebten den Tag vor der Hochzeit eine Zusammenkunft – Beide, durch Geschäfte [45] aufgehalten, trafen sich erst spät; Robert erwartete den Abend seine Aeltern in der Försterei, Jenny mußte zur bestimmten Stunde bei Sulpice sein. Sie trennten sich daher, ohne daß Robert, wie gewöhnlich, sie begleiten konnte. Es war schon dunkler, wie gewöhnlich, der Weg glatt von einem Gewitterregen – die näheren Umstände werden nie zu unserer Kenntniß gelangen – Jenny traf nicht ein – sie blieb auch die Nacht aus – und nun gerieth Alles in Unruhe. Man schickte nach dem Forsthause, sie aufzufinden, und da sie auch dort nicht war, wurden auf allen Wegen Nachsuchungen angestellt. Der unglückliche Jüngling, starr vor Angst und Besorgniß, gab endlich der entsetzlichen Ahnung nach, die ihn nach dem Steinbruche zog. Er hatte sich nicht geirrt; als man sich der schroffen Stelle näherte – sah man sie zerschmettert in der Tiefe des Thales liegen. Hier auf ihrer Leiche verlor der unglückliche Jüngling seinen Verstand. – Die erste Zeit brachte er in den gefährlichsten Zuständen der Raserei in unserm Krankenhause zu, später milderte sich das Leiden bis zur tiefsten Melankolie, die ihn aber unschädlich machte. – Man gab ihm, gewöhnt an seinen gefahrlosen Zustand, die Freiheit wieder, wonach er sich unablässig sehnte, und der Steinbruch ist nun sein Ruheplatz, von wo aus er des Nachts ruhig nach dem Krankenhause zurückkehrt. Ich bin übrigens durch ihn aufmerksam gemacht worden und kann nicht läugnen, daß der Unglückliche nicht ganz Unrecht hatte, Dich mit seiner schönen Jenny zu vergleichen, denn allerdings gleichst Du ihr in Größe, Gestalt und Farbe.«

Miß Eton war sehr bewegt von dieser Mittheilung, und beide Frauen machten an einander die Beobachtung, sich besonders traurig zu finden. Die Gräfin las noch ein Mal den Brief ihrer Nichte und versank dann in tiefes Nachdenken – Miß Eton lehnte mit großer Schüchternheit jeden Spaziergang, [46] auch unter der sichersten Begleitung, ab, und nicht, wie sonst, floß die Unterhaltung in ununterbrochenem Reichthume dahin.

Endlich hob die Gräfin lächelnd an: »So wirst Du denn den ältesten Sohn Deiner Freundin im Bilde kennen lernen – der Marquis d'Anville ist der Sohn dieser schönen Braut.«

Tief erröthend blickte Miß Eton vor sich nieder – kaum hörbar fragend, ob er ihr ähnlich sähe.

»Nein,« antwortete die Gräfin, – »er gleicht seinem Vater – ähnlich sieht ihr der zweite Sohn, der Graf Leonce, den sie vorzüglich liebte, und dieser wird seine Schwägerin auch hierher begleiten.«

Die Unterhaltung stockte wieder – und Miß Eton schien nicht bedacht, zu deren Wiederanknüpfung viel beitragen zu wollen, denn sie hatte ihre Knöpfel ergriffen und schien der entstehenden Spitzenweberei alle Aufmerksamkeit zu widmen.

»Ich halte diesen Besuch gerade jetzt für sehr willkommen, da Du, mein armes Mädchen, wahrlich einer Zerstreuung bedarst – das böse Ereigniß hat Dich mehr erschüttert, als Du Wort haben willst und meine eigene trübe Nähe gut zu machen vermöchte.«

»O, sagt das nicht!« rief Miß Eton, und die Arbeit entsank ihrer Hand, als wäre sie gänzlich erschöpft – »Eure theure Nähe wäre es allein, die mich mit mir selbst ins Gleichgewicht bringen könnte! – Doch, ich muß es eingestehen, daß mich ein Gefühl anderer Art bewegt – ich hatte einen Wunsch, eine Bitte, die ich zaghaft bin, vor Euch auszusprechen.«

»Und womit habe ich das verdient?« sprach die Gräfin fast wehmüthig, die Hand nach Elmerice hin über streckend.

Elmerice kniete in demselben Augenblicke auf dem kleinen Fußschemel der Gräfin, und zärtlich ihre Hand fassend, barg sie das bewegte Angesicht in ihren Schooß.

»Sprich,« sagte die Gräfin – »und sei der Gewährung im Voraus gewiß.«

[47] »Theure Gräfin,« hob Elmerice an, »die Ankunft so lieber Gäste, die Sicherheit, Euch damit so angenehm und erheiternd umgeben zu wissen, giebt mir Kraft, Euch gerade jetzt auf einige Zeit verlassen zu wollen, und somit ein Versprechen an meine geliebte selige Mutter zu erfüllen, dem ich mich vielleicht schon zu lange entzogen habe, da es mir so schwer ward, mich von Euch zu trennen.«

»Wie, Elmerice,« rief die Gräfin erstaunt, »Du willst mich verlassen?«

»Ihr werdet Euch der Jugendfreundin meiner Mutter erinnern,« fuhr Miß Eton fort, den Vorwurf der Gräfin nur mit einem zärtlichen Handkusse beantwortend – »Miß Gray, die meine Mutter damals auf ihrer Reise nach Frankreich begleitete und zurückblieb, ihre Verbindung mit Herrn St. Albans feiernd. Diese Freundin aufzusuchen, habe ich geloben müssen, und vor einiger Zeit Briefe erhalten, worin Madame St. Albans mich dringend auffordert, sie in der Abtei Tabor zu besuchen – dort lebt sie seit ihrer Verheirathung, da Herr Albans die Ländereien der großen Abtei in Pacht genommen hat.«

»Ich weiß dies, mein liebes Kind,« sagte die Gräfin, und ein wehmüthig ernster Blick schaute in die Ferne, in der Erinnerung die nie vergessenen Bilder aufsuchend – »aber laß' mich Dir gestehen, ich sehe diese Verpflichtung, die ich anerkennen muß, nicht ohne Besorgniß. Madame St. Albans ist eine brave, thätige Frau, die auf ihrem Platze alle Anerkennung verdient, aber sie ist kein Umgang für Dich, und ihr Haus kein Ort, wo Du Dich nur einigermaßen wohl fühlen wirst.«

»Und doch,« sagte Elmerice muthig, »habe ich ihr einen längeren Besuch zusagen müssen, und ihre große Liebe zu meiner geliebten Mutter hat mir früher dies Versprechen so leicht erscheinen lassen.«

[48] »Diese war unbezweifelt rührend,« antwortete die Gräfin, – »und so vollständig als schön; denn obwohl sie Herrn Albans liebte, schien ihr die Trennung von Deiner Mutter so unerträglich, daß sie fast ihrer Liebe entsagt hätte, dieser nach England folgen zu können.«

»Um so auffallender,« rief Elmerice, – »da, wenn ich nicht irre, Miß Gray hier ihre Mutter wieder fand, welche doch ein großes Band an Frankreich werden mußte!«

»Daß es dies nicht ward,« erwiederte die Gräfin, »will ich ihr nicht anrechnen, denn die alte Mistreß Gray hatte sich schon lange vor Ankunft ihrer Tochter von aller menschlichen Gesellschaft zurückgezogen; sie sah ihre Tochter nur selten und fast ungern; Miß Gray konnte keinen Anhalt an ihr haben. – Es ist nun lange her,« fuhr sie fort, »daß ich Madame St. Albans sah, die eine Reise benutzte, mich zu besuchen; sie ist brav und steht eben, wie ihr Gatte, im besten Rufe, aber – was Deine Mutter einst mit ihr bis zur Freundschaft verbinden konnte, lag wohl nur in der Jugend beider, in der zärtlichen Liebe der guten Miß Gray zu Deiner Mutter.«

»Laßt es mich dennoch versuchen,« rief Elmerice, »und gebt mir die Aufgabe, auch in Verhältnissen, die mir nicht zusagen, mich bewegen, mich Eurer würdig zeigen zu können – ich würde jetzt, ohne Madame St. Albans zu kränken, mein Wort nicht zurücknehmen können – und das möchte ich der Jugendfreundin meiner Mutter nicht zu Leide thun.«

»Und ich Dich nicht dazu veranlassen,« sagte freundlich lächelnd die Gräfin, »nur gebe ich gerade jetzt meine Einwilligung dazu fast ungern – ich sah Dich schon im Geiste mit der holden Lücile in Freundschaft verbunden, und freute mich gerade darauf, wie die lange trübe Einsamkeit Dir so angenehm unterbrochen werden sollte durch diese lieben Gäste! Auch willige ich nur ein, wenn Du mir versprichst, dort Deinen Besuch [49] abzukürzen, wo ich dann hoffen darf, Du triffst hier noch mit meiner Nichte und ihren Verwandten wieder zusammen.«

Mehr höflich, als aufrichtig legte Miß Eton die Bestimmung hierüber ganz in die Hände ihrer Wohlthäterin, und Beide wurden darüber einig, daß Miß Eton am andern Morgen ihre Reise unter dem Schutz ihrer Dienerschaft antreten sollte.


Am Abende des andern Tages bog der Wagen der Miß Eton, einen dichten, noch unbelaubten Buchenwald verlassend, in einen breiten Thalweg ein, der bald die fruchtbaren Felder und Wiesen von beiden Seiten zeigte, die, zur Abtei Tabor gehörend, eine lachende, heitere Ansicht gewährten.

Der höchstmögliche Standpunkt der Kultur war überall auffallend. Die Wege mit ihren Abzugsgräben, die wohlerhaltenen Verbindungsbrücken und Plankenzäune, die Felder in ihrer regelmäßigen Eintheilung, die Wiesengründe mit den schönsten Heerden, die schlanken, wohlgehegten Stämme junger Obstbäume, die mit ihren, schon in weißer Blütenpracht stehenden, runden Kronen wie Perlenschnüre als Saum sich überall zeigten, die kleinen Gehöfte, die, dazwischen zerstreut, in ihrer wohlhabenden Ausdehnung um sich her den Bedarf des Lebens sich geschaffen zu haben schienen, die kräftigen Gestalten der Männer und Frauen, die rothwangigen Kinder, die endlich diesem Gemälde als Staffage dienten – Alles zeigte das wohlthuendste Bild des Fleißes und der Wohlhabenheit. Miß Eton fühlte sich wunderbar dadurch erleichtert, und abgezogen von sich selbst, schien sie ihre schweren und melankolischen Gedanken in den düsteren Wegen der Wälder, die sie durchreist war, zurück lassen zu müssen. Sie fühlte, sie war hier in eine andere Sphäre versetzt, eine neue Auffassung des Lebens trat ihr entgegen; [50] und häufig ist dies allein schon hinreichend, uns selbst zu einer Thätigkeit zu wecken, die uns unserm gewohnten Ideenkreise klarer und ruhiger gegenüber stellt. Sie konnte mit Vergnügen an den mäßigen Lebensstandpunkt denken, dem sie entgegen ging, und ohne Furcht vor geistigen Entbehrungen, wollte sie gern das Leben von dieser leichten und materiellen Seite kennen lernen.

Doch konnte sie kaum ein Lächeln unterdrücken, als sie gewahrte, wie die Gegend fast immer schmuck-und geschmackloser in ihren Anlagen ward, je näher sie dem Wohnorte der Madame St. Albans kam. Ueberall war der Nutzen erstrebt und erreicht – aber keine Anlage, die neben dieser irgend eine andere Absicht errathen ließ.

Noch hoffte sie, die Abtei Tabor, die sich noch immer nicht zeigte, werde irgend eine schönere Ansicht gewähren, und Gartenanlagen sich damit verbinden, aber bald hörte sie auf ihre Anfrage, daß die Abtei mehrere Meilen von dem Wohnsitze des Herrn St. Albans entfernt wäre, und dieser nur ein Vorwerk gleichen Namens bewohne, welches mehr in dem Mittelpunkte der Länderein, die er von der Abtei in Pacht hatte, und daher seinen ökonomischen Zwecken passender läge.

Endlich verkündete eine Reihe steinerner Häuser, welche regellos neben einander gelagert waren, die Wohnung des Herrn St. Albans, und bald zeigte der größere Verkehr von Arbeitern und Wagen, daß man sich dem Mittelpunkte einer größeren Betriebsamkeit nahe. Es war noch ziemlich früh am Abend, und alle Vorübereilenden schienen mit dem Tageslichte zu geizen und, ganz in ihre Geschäfte vertieft, nur des bequemen, festen Weges sich bewußt zu sein, der, immer vortrefflicher werdend, den leichtesten Verkehr sicherte. Von diesem regen Leben umgeben, fuhr man endlich an einer langen Mauer entlang und bog dann durch ein offenes Thor in den Hof.

[51] Er war in einer großen Ausdehnung von sämmtlichen Scheunen, Ställen und Wirthschaftsgebänden des Amtes umgeben, und das Wohnhaus unterschied sich nur wenig an Höhe und Außenseite, und ward nur als solches durch eine steil nach der Eingangsthür hinauf führende Treppe und zwei Reihen niedriger Fenster bezeichnet.

Auf diesem großen Hofe zeigte sich kein Baum, kein Rasen, kein Zeichen der Vegetation. Ein Bassin, roh ummauert, diente dem Nutzen der Ställe, was seine trübe, mit Stroh und Heu bedeckte Oberfläche deutlich verrieth.

Niemand eilte der Miß Eton zum Willkommen entgegen, obwohl die Thür des Hauses von herauseilenden Mädchen und Knechten oft geöffnet ward. – Monsieur Lorint, der Kammerdiener, über die ihm ziemlich fremde Art dieser Hauseinrichtung nicht wenig erstaunt, nahte sich nun der Wagenthür und fragte, ob er die Ehre haben solle, das gnädige Fräulein zu melden.

»Laßt das,« sagte Miß Eton lachend – »ich will selbst aussteigen und mein Willkommen mir suchen, denn diese fleißigen Leute haben keine Zeit zu dergleichen.«

Leicht und von dem alten Diener gefolgt, der, im komischen Gegensatze zu diesem Naturzustande, fast noch förmlicher und devoter ward, seine eigene Würde schützend gegen den Andrang dieser Unkultur – eilte Miß Eton die schmale steinerne Treppe hinauf und flog bei'm Oeffnen der Thüre in die Arme eines jungen, heiter lachenden Landmädchens, das eben so schnell heraus, als Miß Eton hinein wollte.

»Ah, Madame,« rief die erschreckte Schöne, schnell zurückspringend – »ich bitte um Vergebung – ich war so eilig!«

»Und doch werde ich Dich aufhalten müssen, mein liebes Kind,« lächelte Miß Eton, »denn Du mußt mich durchaus bei Madame St. Albans melden, deren Gast ich zu werden denke.«

[52] Ein holdseliger Blitz von Freundlichkeit aus den dunkeln Augen des rothwangigen Kindes schien Elmerice ein recht anmuthiger Willkommgruß; und sie schritt nun mit ihrer jungen Begleiterin in den mittlern Raum des Hauses vor, der ein Speisesaal zu sein schien, die ganze Tiefe des Hauses durchmaß und seine Fenster nach der andern Seite hinaus hatte. Hier bat das junge Mädchen das Fräulein, zu warten – und flog nun leichten Sprunges durch eine der sechs Thüren, die sich in diesem großen Vorsaal öffneten. Miß Eton näherte sich indessen einem der Fenster und sah, daß sich hier gleichfalls kein Baum, keine Gartenanlage zeigte, sondern an einem frisch bestellten Gemüsegärtchen, mit Plankenzaun umhegt, sich ein ziemlich bedeutender Weideplatz anschloß, der aber nur dem kranken, von der entfernteren Weide zurückbleibenden Viehe zur Benutzung diente; seitwärts war eine kleine Anpflanzung von Nußbäumen, und auf diese richtete Elmerice, von den wenig befriedigenden Aussichten sich abwendend, mit einiger Hoffnung ihre Blicke.

Lautes, anordnendes Sprechen nahte indessen dem Salon, bald flog die mittlere Thüre auf, und eine starke, muntere Frau in tüchtiger häuslicher Kleidung, mit Schürze und rasselndem Schlüsselbunde trat mit geschäftiger Eile herein und nahte sich dem ihr gleichfalls entgegeneilenden Fräulein.

»Seid Ihr denn wirklich Miß Eton? meiner lieben Margarith Tochter?« rief sie mit lauter, klingender Stimme und drückte, innig davon überzeugt, zwei derbe Küsse auf Elmerice's Wange. – »Nun,« sagte sie, ohne die Antwort abzuwarten, und indem ihre Stimme plötzlich in Thränen brach, »so hat Gott meinen Wunsch erhört – denn seht, der Wunsch, sie selbst, oder ihr Kind, oder ihren Lieblingshund, oder ihre Katze, oder ihr Kleid, oder seht nur, so viel als ich auf diesem Nagel halten könnte, von ihr zu sehen – der hat mich nie verlassen obwohl ich wenig Zeit zu solchen Gedanken habe; denn seht, [53] hier ist ein großes lästiges Hauswesen, Alles geht durch mich, wo ich nicht bin, gelingt's nicht, was ich nicht thue, unterbleibt, wonach ich nicht frage, vergessen ist es in den andern Köpfen. Aber seht, mein Kind, dazu behielt ich Zeit, und war's während des Tischgebets – Gott sei mir gnädig! – oder zwischen Niederlegen und Einschlafen – nach Margarith mich zu sehnen, behielt ich immer Zeit!« Wieder kam ein kurzer Anfall von Weinen, den sie jedoch eben so schnell bekämpfte, und nun führte sie Elmerice in ein nach der Weide hinaus gehendes Zimmer. Hier setzte sie sich, zwei Stühle gegenüber rückend, schnell vor ihren jungen Gast, den sie auf einen derselben niedergezogen hatte, und blickte nun mit zwei großen unruhigen Augen das Fräulein an. – »Keinen Zug von Ihrer Mutter!« rief sie nach dieser scharfen Prüfung – »weiß Gott – fremd, liebes Kind, bis auf die Fingerspitzen! Großer Gott, hatte ich mich doch so gefreut, ein Ebenbild meiner Margarith zu sehen! Und doch seid Ihr Miß Eton, die Tochter meiner Margarith.«

»Gewiß,« sagte Elmerice, sanft und gerührt – »ich bin die Tochter der Freundin, der Ihr ein so ehrendes Andenken bewahrt, und ihr letzter Wille, der mich bestimmte, in Frankreich zu leben, schloß auch den Befehl ein, Euch aufzusuchen, Euch der innigen Liebe meiner Mutter zu versichern.«

»O Gott, Miß!« rief Madame St. Albans weinend, – »sagt, that sie das? Gedachte sie mein mit gleicher Liebe, hat sie mich nicht vergessen? Also Ihr solltet mir ihre Grüße bringen, ihr Kind unterrichtete sie von ihrer Liebe zu mir! – Ja, ja, darin erkenne ich sie wieder! – obwohl, Miß Elmerice, es mich schmerzte, als ich hörte, nicht mir, sondern ihrer vornehmeren Freundin, der Gräfin d'Aubaine, habe sie Euch vermacht.«

»Zürnt deshalb nicht, liebe Madame St. Albans – wohl kenne ich die Gründe zu dieser Bestimmung nicht, aber sicher beruhten sie nicht in verringerter Liebe gegen Euch!«

[54] »Ja, ja, ich will es glauben, gern glauben, liebes Kind! denn ich glaube gern an ihre Liebe. Die Gräfin ist eine Heilige – von hoher Geistesart – sehr erhaben über ihr ganzes Geschlecht. Da reiche ich armer Erdenwurm nicht heran – sie schmückt die Kirche – ich Haus und Hof. Seht, es läßt sich leicht der Heil'gen-Schein festhalten, und die feinen Ausdrücke, wenn man nichts weiter zu thun hat, als darauf zu passen, daß einem nichts Unebnes entschlüpft – aber hier, wo ich an Alles selbst Hand anlegen muß, mit lauter rohen, dummen Leuten verkehren, bei denen sich übler Wille und Faulheit zu Leichtsinn und Thorheit gesellen, da müssen die Worte breit aus dem Munde fließen, und man wird darum nicht schlechter in so großer Berufsthätigkeit, als solche erhabene Geister, die auf uns herab sehen.«

Etwas beschämt von der Rede ihrer neuen Bekannten, schlug Elmerice den Blick zur Erde nieder, um den seltsam heftigen Ausdruck in den sonst trüben Augen der Redenden zu vermeiden.

»Glaubt nicht, verehrte Frau,« sprach Elmerice – »daß die Gräfin d'Aubaine eingebildet auf ihre Vorzüge ist, sie schätzt Jeden nach seiner Weise, und die ihrige ist sehr still und zurückgezogen, denn sie ist wohl nie glücklich gewesen, und sehr kränklich und oft recht leidend.«

»Ist sie das?« rief Madame St. Albans. – »O seht, das beklage ich. Ja, das arme Ding! wahrlich, wenig Freude hat sie gehabt – Gott richte es! – und wohl ist sie zu bedauern, und es thut mir herzlich leid, wenn sie kränkelt. Sagt, ist es so? muß sie viel leiden?«

Elmerice fühlte sich ganz erquickt und erleichtert von der kindlichen Gutmüthigkeit, die in dieser Rede die Oberhand gewann, und war nur bemüht, ihr ein Bild der stillen Geduld zu entwerfen, mit der die Gräfin ihr Leben ertrüge.

[55] Mehrere Male wischte sich Madame St. Albans die Augen und sagte dann ganz kläglich: »Gottlob, daß meine gute Margarith, Deine Mutter, sie so leidend nicht mehr sah – denn wahrlich, das hätte ihr das Herz gebrochen. – Aber sieh', mein Kind, immer und immer habe ich es Deiner Mutter gesagt: wir beide werden glücklich in der Welt werden, die Franziska aber nie – das geht Allen so, die von Jugend auf immer über den Wolken schweben, und überspannt sind und voll thörichter Schwärmereien; die machen nicht glücklich und werden nicht glücklich, das ist eine ausgemachte Sache!«

»Gewiß,« erwiederte Elmerice schüchtern – »finden reich begabte Wesen, mit einem höheren und vielseitigeren Bedürfnisse, schwerer den Standpunkt, wo sie sich in ihrem ganzen Reichthum entfalten können, aber es ist ihnen doch nicht als Vorwurf anzurechnen, wenn wir sie selten zu ihrer vollen Wirksamkeit entwickelt sehen; wo sie sie erreichten, sehen wir sie allen Pflichten gewachsen, sie Alle anerkennend.«

Ein sonderbar aufmerksamer Blick streifte hier das Fräulein; in dem Augenblicke faßte Madame St. Albans den Verdacht, daß ihr junger Gast wohl ebenfalls zu dieser Kaste gehören möchte, und sie stand, sichtlich davon gestört, auf, und indem sie Elmerice bei der Hand faßte, um sie wegzuführen, sagte sie mit dem Tone völlig abgeschlossener Ansichten: »Ja, ja, ich kenne das, mein Schatz! solche Reden hörte ich oft, aber ich sah auch die zahllos unglücklichen Ehen, die solche Mädchen erlebten, die ewige Hinfälligkeit von Leib und Seele, und weiß, was es eigentlich für Frauenzimmer auf der Welt zu thun giebt, statt so schwierige Forderungen sich anzukünsteln.«

Elmerice fühlte sich, hierauf zu erwiedern, nicht geneigt; noch übersah sie den Charakter dieser Frau nicht, ihre Bescheidenheit und die Furcht, ihr anmaßend zu erscheinen, ließ sie lieber schweigen, da es ihr überdies schien, daß sie beide von [56] ganz verschiedenen Dingen gesprochen hatten, die neben einander jedes wohl ihr gutes Recht behalten konnten, aber einander doch so unähnlich waren, daß an eine Ausgleichung nicht zu denken war.

»Ich will Euch jetzt Euer Zimmer anweisen und für Euer Gepäck sorgen,« sagte Madame St. Albans – »denn seht, liebe Miß, ich muß überall selbst die Augen haben, auf die Leute ist kein Verlaß. Doch fürchte ich,« fuhr sie fort, indem ein empfindlicher Ausdruck von Mißtrauen auf ihrem Gesichte erschien, »Ihr werdet großen Abstand finden. Das schöne Schloß von Ardoise findet Ihr hier nicht; wir sind stille, bescheidene Leute, die auch so Haus und Hof eingerichtet haben;« und nun suchte sie durch vermehrte Höflichkeit sich selbst über die Unsicherheit zu täuschen, die ihr die Gesinnungen der jungen Dame eingeflößt.

Elmerice konnte dies nur zu leicht wahrnehmen, und bemühte sich, fast auf Kosten ihres sonst so ruhigen und natürlichen Wesens, ihre Anerkennung und ihr Vergnügen über Alles, wie sie es vorfand, an den Tag zu legen; auch war zum Mißfallen nirgends Veranlassung. Eine kleine Treppe, die gleichfalls hinter einer der sechs Saalthüren lag, führte in die obere Etage, und hier fand Elmerice ein so hübsch eingerichtetes Zimmer, in so glänzender Reinlichkeit strahlend, daß es ihr nicht schwer ward, Vergnügen darüber zu bezeigen. – Doch hörte Madame St. Albans nicht auf, Alles entschuldigend und selbst herabsetzend zu besprechen, unter dem oft wiederholten Zusatze: »Aber wir sind stille, bescheidene Leute,« ohne Ahnung, wie die Beilegung zweier solcher Tugenden wenigstens das Prädikat der Bescheidenheit verdächtigte. Bald aber verließ sie ihren Gast, um sich den Anordnungen zur Abendmahlzeit zu unterziehen, und Elmerice fühlte einen Anflug von Erschöpfung und Abspannung, wie er uns am häufigsten kömmt, wenn wir [57] uns einer fremden, in ihrer Art und Weise sicher gewordenen Natur gegenüber fühlen, die wir nicht durch das Hervortreten unserer abweichenden Gesinnungen zu verletzen wünschen, weil wir fühlen, daß wir ihre Eigenthümlichkeit wohl verstehen und achten können, aber überzeugt sind, die unsrige unverstanden und gemißbilligt zu wissen.

Elmerice hatte mehr Worte, mehr Höflichkeit in der kurzen Zeit verbraucht, als ihr sonst irgend zu Gebote war. Die leicht hervortretende Heftigkeit der guten Frau hatte sie erschreckt und nur daran denken lassen, sie in milder Stimmung zu erhalten; sie fühlte im Augenblicke des Alleinseins, daß sie sich angestrengt habe, und sie wußte nicht, ob sie zufrieden oder unzufrieden mit sich sein sollte. Doch bestrebt, mit sich ins Klare zu kommen, hielt sie die Erinnerung an den Zügen von Gutmüthigkeit fest, die ihr unverkennbar aus dem Gespräche mit Madame St. Albans hervorgetreten waren, und beschloß nichts Anderes, als diese, sehen und hören zu wollen.

Zur Ruhe gekommen durch diesen Beschluß, richtete sie sich jetzt in ihrem neuen Zimmer ein, und schrieb einige Zeilen an ihre Wohlthäterin, da die Equipage und die Diener anderen Tages nach Ardoise zurückkehren sollten. Diese Zeilen hatten sie in eine größere Gemüthsbewegung versetzt, als anscheinend Grund dazu vorhanden war, und dies wohl fühlend, eilte sie ihre trähnenden Augen an dem geöffneten Fenster zu kühlen. Sie überblickte von hier aus in weiterer Ausdehnung die Gegend und gewahrte bald, daß der Benutzung des Bodens zum Erwerbe jede Annehmlichkeit aufgeopfert war; nirgend zeigte sich eine Baumanlage, ausgenommen einige dürftige Kastanienstämmchen, die auch den Zweck haben mußten, krankes Vieh darunter zu bergen, denn sie sah ein Pferd, an einen Pfahl gebunden, auf dem Boden liegen. Ordnung, Fleiß und Wohlhabenheit war dagegen der unverkennbare Stempel, der allen Gegenständen[58] aufgedrückt war, und ganz dazu geschaffen, Elmerice angenehm und achtend gegen ihre neuen Freunde zu stimmen. Sie bestärkte sich daher darin, dieser zärtlichen Freundin ihrer Mutter achtend und freundlich entgegen zu treten, und beeilte sich, da die Stunde herangekommen war, zum Abendessen hinunter zu steigen.

Der große Saal, oder vielmehr der Hausflur, da er zugleich der Eingang vom Hofe aus war und mit seinen sechs Thüren fast zu allen Räumen des Hauses führte, war mit Fliesen getäfelt, die Wände weißgetüncht und mit einigen Versuchen von Stuckatur versehen. – In der Nähe der Fenster stand ein großer eichener Eßtisch, mit eben so massiven, hochlehnigen Stühlen umstellt, auf deren Sitze Madame St. Albans eben beschäftigt war, rothe damastene Kissen zu legen, offenbar ihrem Gaste zu Ehren, denn Marylone, die junge Magd, die Miß Eton zuerst begrüßt hatte, stand damit bis unter das Kinn bepackt, und wurde nur durch das hastige Zugreifen ihrer Gebieterin nach und nach von ihrer Last befreit.

»Ah, seht doch, da seid Ihr schon, Miß Eton;« sagte Madame St. Albans, offenbar von dem zu frühen Erscheinen derselben gestört – »nun, Ihr seid nicht ungesellig, wie ich sehe, und das freut mich, obwohl meine Zeit mir wenig eigentliche Ruhe gönnt.«

»Wenn ich mich wohl in Eurem Hause fühlen soll,« sagte Elmerice, »müßt Ihr, liebe Madame St. Albans, vor allen Dinge nie auf mich Rücksicht nehmen. Ich hoffe, daß Ihr mir gestatten werdet, Euch durch Haus und Hof zu begleiten, um Eure vortreffliche Haushaltung kennen zu lernen – so werde ich in Eurer Gesellschaft sein, ohne Euch hinderlich zu werden.«

Diese wohlgemeinte Rede verfehlte jedoch ganz ihren Zweck. Madame St. Albans war von Natur mißtrauisch und hatte immer Furcht, man wolle ihre Art und Weise tadeln, oder sie [59] lächerlich machen; gegen Miß Eton hatte sie den Verdacht einer höheren Geistesrichtung gefaßt, und wie ihr unbegreiflich war, wie sich damit das Interesse für Häuslichkeit und wirthschaftliche Thätigkeit vereinigen könne, so schien ihr die Rede des Fräuleins reine Verstellung, hochmüthige Herablassung oder Spott sogar.

Sie lachte daher ziemlich höhnisch auf und sagte dann, wie sie hoffte, ihre Meinung verständlich machend: »Behüte mich Gott, daß ich ein so zartes, hochgebildetes Fräulein so beleidigen sollte, sie mit Wirthschaftssachen zu belästigen! Nein, mein gutes Kind, so viel Bildung haben wir gerade auch noch, um zu wissen, wie solche feine Dämchen behandelt werden müssen. Ihr gehört mit Euren zarten Händchen und feinem Gesichtchen in die Stube; ich aber habe in meinem Berufe weder Gesicht, noch Hände schonen können, sie sind jetzt nichts Anderes mehr werth, als weiter fort zu schaffen, was sie nicht ohne Erfolg, wie ich hoffe, bis jetzt geleistet haben.«

»Wollt Ihr mich denn glauben machen,« erwiederte freundlich nahend Elmerice, diese Antwort verschmerzend, »daß Bildung so heilige Interessen, als das Wohl des Hauses für eine Frau sein muß, ausschließe? Ich dachte gerade, Bildung lehre uns erst recht, den Werth und den Genuß solcher Pflichten verstehen, und dies muß auch gewiß Eure Meinung sein.«

»Was so eine gewöhnliche Frau denkt, wie ich, Miß Eton, darauf kömmt wenig an, ich habe nur so meinen schlichten Menschenverstand, mein Bischen gesunde Vernunft, von hoher Bildung aber weiß ich nichts – das müßt Ihr verzeihen, wenn ich Euch damit nicht dienen kann.« –

Während dessen waren die Stühle alle mit festgebundenen Polstern versehen, und jetzt flogen sie auf einen Wink der selbst angreifenden Hausfrau aus einander, und mit Hülfe der pfeilschnellen, kräftigen Marylone breitete sich ein schöner kleiner [60] Teppich darunter aus, welches Alles dem Gaste zu Ehren geschah, und allerdings das Plätzchen um Vieles wohnlicher und ansprechender machte.

Als dies zur Zufriedenheit der Madame St. Albans beendigt war, ordnete sie nun mit Marylone das Decken des Tisches selbst an, indem sie fast immer in dem Augenblicke, als das geschickte und flinke Mädchen die Geschirre auf ihren bestimmten Platz stellen wollte, ihr dieselben aus der Hand riß und mit den Worten: »Sieh' Dich doch vor, hierher kömmt das!« es selbst an seinen Platz setzte. Zwischen dieser Thätigkeit war sie noch von einer andern Unruhe, über das lange Ausbleiben ihres Mannes, geplagt. Alle fünf Minuten eilte sie nach der Hausthüre, riß sie auf und kehrte getäuscht mit den Worten zurück: »Unbegreiflich, wie Herr St. Albans sich heute so verspätet.« Dies Ausbleiben nahm endlich alle ihre Gedanken ein, der Tisch war gedeckt, Marylone entfernt, und ihr blieb nichts übrig, als sich in ruhiger Erwartung, ihrem Gaste gegenüber, an den gedeckten Tisch zu setzen; aber dadurch steigerte sich ihre Unruhe um dies Ausbleiben bis zur übeln Laune und gelegentlichen Ausbrüchen von Heftigkeit, die Elmerice nicht zu nähren wünschte, und die sie endlich verstummen ließen.

Da schlugen alle Hunde zugleich bellend im Hofe an, und augenblicklich sprang Madame St. Albans von ihrem Sitze auf und lief nach der Thür, sie in dem Momente öffnend, als ihr Gemahl ihr darin entgegen trat. Beide begrüßten sich mit ungemeiner Herzlichkeit, die aber dies Mal von Seiten der lebhaften Frau unterbrochen ward, indem sie ihn vorführte, ihn vor Elmerice hinstellte und mit vollkommen wiedergekehrter guter Laune ihn frug: ob er ahne, wer dies sei?

Herr St. Albans richtete seine freundlichen Augen auf die Vorgestellte, und verneigte sich dann mit auffallend gutem Anstande: »Ich zweifle nicht, unser sehnlicher Wunsch ist in Erfüllung [61] gegangen und wir genießen das Glück, Miß Eton unsern Gast zu nennen.«

»Errathen!« rief die kleine Frau, lebhaft in die Hände schlagend – »meiner Margarith einzige, liebe Tochter!«

»Glaubt, Miß Eton,« sprach St. Albans, »meine gute Frau weiß Euch keinen höhern und liebern Rang beizulegen, als den eben genannten. Erlaubt mir auch meinerseits das herzlichste Willkommen.«

»Da hast Du recht, mein lieber Mann,« sagte Madame St. Albans, »Alles, was sich auf meine Margarith bezieht, ist mir heilig.«

Tief gerührt dankte Miß Eton beiden Eheleuten, und konnte nicht ohne einiges Erstaunen die ungemein vortheilhafte Persönlichkeit des Hausherrn betrachten. Seine Frau überschüttete ihn mit Fragen und Aufmerksamkeiten jeder Art, und er hatte eine immer freundlich anerkennende Höflichkeit für ihre sich selbst genugthuende Dienstlichkeit, und doch behielt er eine Ruhe und Aufmerksamkeit für seine Umgebungen, die von wahrer Herzensgüte und einer höheren Geistesrichtung zeigte.

In seiner Gegenwart fühlte Elmerice zuerst sich etwas aus dem gespannten Zustande erlöst, den sie beim Alleinsein mit Madame St. Albans empfunden hatte; sie durfte wagen, sich ihrer eigenen Stimmung hinzugeben, denn in der Gegenwart ihres Mannes blieb jeder Andere für diese zärtliche Frau ziemlich unbeachtet, und sie hing nur an seinem Munde, um sich für ihre eigenen Gedanken Auskunft zu verschaffen. Auch hierbei blieb sie sich völlig gleich; ihre unverkennbare Zärtlichkeit ging doch sogleich in empfindliche oder mißlaunige Aeußerungen über, wenn die des Herrn St. Albans im Geringsten von den ihrigen abzuweichen schienen, und sie legte auch gegen ihn ein gewisses mißtrauisches und heftiges Wesen nicht ab. Dessen ungeachtet war ihr ganzer Zustand jetzt freier und leichter, und die feine [62] Haltung ihres Mannes wußte immer geschickt sie selbst zu einem feinen Betragen zurückzuführen, was sie anzunehmen allerdings ganz wohl verstand. Einige Unterverwalter nahmen die übrigen leeren Plätze bei Tische ein, und es herrschte bald eine ziemlich ruhige, unbefangene Unterhaltung, die Herr St. Albans mit vielem Geschick auch für seinen jungen Gast zugänglich zu machen wußte, während seine Frau in unruhiger Thätigkeit mit dem Vorlegen und Anbieten der übrigens vortrefflich zubereiteten Speisen beschäftigt war.


Es würde schwer sein, in dem Verlauf einer Woche, die wir nach dem erwähnten Abend als beendigt erklären müssen, eine bedeutende Mannigfaltigkeit in dem Leben auf der Abtei Tabor angeben zu können. Miß Eton hatte nach einigen mißglückten Versuchen, aus sich heraus in die Ansichten der reizbaren Hausfrau übergehen zu wollen, sich mehr auf sich selbst zurückgezogen – ihre Zeit nach der Ordnung des Hauses eingetheilt und sich Spaziergänge gesucht, die freilich bei ihrer Einförmigkeit und der ganz allein auf den Nutzen gerichteten Einrichtung des ganzen Gutes nur sehr wenig Genuß gewähren konnten. Doch das Frühjahr schritt vor, das Wetter ward warm, der Himmel heiter und blau, die Felder und Wiesen grünten in seltener Ueppigkeit, und es fehlte nicht an Veranlassung, ein unbefangenes Gemüth zu erfreuen. Und doch sehen wir Miß Eton oft stundenlang mit gesenktem Haupte und tief athmender Brust in einer Theilnahmlosigkeit daher wandeln, daß uns scheinen möchte, ihr Geist sei abwärts in trübem Schmerze verloren.

Ihre Wohlthäterin versäumte nicht, ihr nach einiger Zeit die Nachricht von der Ankunft ihrer Gäste in Ardoise zu melden, mit dem Zusatze, wie lebhaft sie jetzt in dieser Freude ihren [63] Liebling vermisse, wie sie sich sehne, daß er bald zu ihr zurückkehren möge.

»Und doch,« rief Elmerice nach Lesung dieses Briefes, »wirst Du mich in diesem schönen Kreise nicht willkommen heißen, dennoch verbannt mich mein Geschick von dem Aufenthalte, der allein jetzt auf der Welt noch Reiz für mich hatte!« Ein Strom von Thränen erleichterte ein Herz, was von den bittersten Schmerzen der Jugend belastet war, und mit einer Ergebung, aber auch mit einer Trostlosigkeit, die nur ein Schmerz, wie Elmerice ihn fühlte, zu geben vermag, wiederholte sie sich das schwere Gelübde, den Gästen auf Ardoise um jeden Preis zu entfliehen.

Ein heftiges Gewitter hielt Miß Eton auf ihrem Zimmer fest, so sehr sie sich sehnte, im Freien der beklommenen Brust neue Kraft einzusammeln. Der Regen, mit Schlossen vermischt, stürzte verfinsternd herab, und der Sturm peitschte die Regenströme im Wirbel gegen die klirrenden Fenster. Elmerice blickte ruhig, ja, mit einer Art von Genuß in diesen wilden Aufruhr der Natur. Wer tiefe Seelenangst empfindet, den lebenstödtenden Kummer, der die Schönheit der Erde uns wie einen Vorwurf fühlen läßt, da wir uns nicht theilnehmend daran zu erfreuen vermögen, der wird fast getröstet von einem Zustande der Natur, der keine Anforderungen an unser Gefühl macht oder in seiner wilden Aufregung zu überbieten scheint, was an Qual und Unruhe unsere Seele verletzt.

Heftig stürzte jedoch, dies schmerzliche Nachdenken unterbrechend, Jemand die Treppe herauf, und Marylone flog blaß wie der Tod auf Miß Eton zu. »Helft! helft, Miß Eton! um Gotteswillen, helft! sie stirbt uns unter den Händen! wir wissen uns nicht zu helfen, nicht zu retten!« –

»Um Gotteswillen, was hast Du?« rief Miß Eton – »was ist geschehen?« –

[64] »Kommt, kommt! unsere Frau stirbt! – Madame St. Albans! o kommt uns zu Hülfe!« –

Schon flog Elmerice die Treppe hinab und über den Saal dem kläglichen Angstgeschrei entgegen, das ihr aus einem der untern Zimmer zu Ohren drang.

Der erste Augenblick raubte ihr jedoch fast selbst die Fassung, denn sie sah hier Madame St. Albans wie eine Leiche auf der Erde liegen; das Gesicht war verzogen und blau – die Hände, Füße, der ganze Körper krampfhaft zusammen gepreßt.

In bangem Geschrei, aber ohne alle Hülfleistung lagen die Mädchen des Hauses um sie her, und Elmerice wußte freilich für den Augenblick auch nichts Anderes zu thun, als sich neben der Sterbenden oder Todten nieder zu werfen; aber hier entdeckte sie bei flüchtiger Berührung, daß die unglückliche Frau in völlig durchnäßten Kleidern da liege, und auf ihre schnellen Fragen erfuhr sie nun, daß Madame St. Albans das heftige Gewitter im Freien überrascht, und dies einem großen häuslichen Ungewitter gefolgt war, welches sie noch in der größten Aufregung und Erhitzung hinausgetrieben hatte. Jetzt war der Zustand allerdings erklärt, aber nicht weniger bedenklich; doch Elmerice hatte ihre ganze Besonnenheit wieder erlangt und ließ aufs Schnellste die unglückliche Frau nach ihrem Schlafgemach tragen, wo sie bald in trockene Wäsche und in ihr Bett eingehüllt, und unter Elmerice's Anleitung mit warmen Tüchern gerieben ward, während ein Bote abgesandt wurde, Herrn St. Albans zu suchen, und ein anderer nach der eigentlichen Abtei Tabor, den Arzt der Mönche herbei zu rufen.

Bis tief in die Nacht blieben die vereinigten Bemühungen der Herbeigerufenen fast erfolglos, es zeigte sich kein Zeichen des Lebens, und schon sank den Bemühten der Muth, als plötzlich ein Ausbruch von Konvulsionen erfolgte, der dem wiederkehrenden Leben voranging und endlich die Augen der Leidenden [65] öffnete. Doch war ihr Zustand noch höchst gefährlich, und der ehrwürdige Pater Ambrosius, der Arzt der Abtei Tabor, konnte den angstvollen Fragen des Herrn Albans nur die einzige Thatsache zusichern, daß sie für den Augenblick lebe.

Der Schmerz des unglücklichen Gatten hatte alles Rührende einer wahrhaften Empfindung, doch behielt er zu jeder Antwort, jeder Anordnung, Besonnenheit und Ruhe.

Elmerice und die treue, geschickte Marylone theilten alle nöthigen Dienstleistungen, und nachdem 24 Stunden ohne Wiederholung des gefürchteten Schlagflusses vorüber waren, gab Pater Ambrosius Hoffnung zu ihrer Wiederherstellung. Doch war ihre Ermattung so groß, daß sie nur unklar zu denken schien und noch undeutlicher zu sprechen vermochte. Doch sie lebte, und alles Uebrige schien Herrn St. Albans erträglich, unbedeutend sogar. Er hatte jedes Geschäft außer dem Hause aufgegeben. Nach einer kurzen Besprechung an jedem Morgen mit seinen Verwaltern schien er auf der Welt nichts zu thun zu haben, als die Athemzüge, den Puls seiner Gattin zu zählen, ihr freie Luft und Licht zu nehmen oder zu gewähren, Kissen und Decken zu ordnen, wie es ihr Erleichterung verschaffen konnte. Die Besinnung der Leidenden schien auch zuerst bei diesen zarten Liebesbeweisen sich zu ordnen, die Erschöpfung machte sie sanft, und Elmerice fand sie liebenswürdiger, als sie ihr je erschienen war, denn sie lächelte, ohne das Rollen ihrer sonst unruhigen Augen, Jeden sanft an, schien jeden Dienst zu kennen und lohnen zu wollen, und ihre einzelnen Worte bezeichneten immer irgend ein wohlwollendes Gefühl. Pater Ambrosius sprach nun immer bestimmter die Hoffnung ihrer Genesung aus; und nach einer ruhig durchschlafenen Nacht redete sie Elmerice und ihren Mann mit klarer und ruhiger Stimme an, und ihr volles Bewußtsein und der Gebrauch ihrer Sprache versetzte Beide in die freudigste Stimmung.

[66] Nach einigen Erörterungen über ihr Befinden kehrte auch augenblicklich ihre alte Art und Weise zurück. »Aber, St. Albans,« sagte sie, »was wird aus unserer Wirthschaft werden? Du bist den ganzen Tag hier im Zimmer gewesen, und wie wird draußen in meinem Haushalte Alles verwildert sein! O mein Gott,« seufzte sie schwer, »welch' ein Unglück, wenn eine Hausfrau erkrankt!«

»Beruhige Dich, meine liebe Frau,« sagte Herr St. Albans, »meine Geschäfte haben nicht darunter gelitten, meine Verwalter und alle meine Leute haben mir ihre Theilnahme an meinem Kummer durch vermehrten Fleiß und Thätigkeit bezeigt.« –

»Nun wahrlich,« unterbrach ihn die Frau rasch, »da bist Du glücklicher, als ich – doch sieh' nur erst selbst nach. Du wirst wohl finden, wenn Du erst suchen wirst, und nun Du – ja, Dein Geschäft hat freilich nicht so die tägliche Aufsicht nöthig, wie das meinige, mir wird es desto schlimmer ergangen sein, wenn ich nur erst wieder umher blicken kann.«

»Auch dieser Kummer, meine Liebe,« erwiederte ihr Mann, »wird Dir erspart sein, denn Miß Eton hat jeden Morgen um zwei Stunden ihren Schlaf abgekürzt, Dein Haus in Ordnung zu erhalten, und Du wirst sehr überrascht sein, Alles in so vortrefflichem Zustande zu finden!«

»Miß Eton!« rief die Kranke – »Miß Eton meine Wirthschaft geführt? Nun, das muß ich sagen, überrascht mich – es ist aber recht viel guter Wille, und ich danke, danke recht sehr, liebe Miß! Die Leute haben doch nicht Alles verwahrlosen können; nicht wahr, liebe Miß, verschlossen hieltet Ihr das Meiste? da werdet Ihr auch haben kennen lernen, wie unachtsam die Leute sind, wie wenig man sich auf sie verlassen kann, wenn Ihr auch in zwei Stunden täglich nicht viel Erfahrungen machen konntet – nun, ich danke sehr für den guten Willen.«

[67] »Damit müßt Ihr allerdings Euch genügen lassen,« erwiederte Miß Eton lächelnd – »doch auch ich muß lobend Eurer Leute gedenken, die sich Mühe gaben, mich zu unterstützen, und von denen ich leicht und pünktlich Alles erhielt, was ich anzuordnen für nöthig fand.«

»Nun, nun,« sprach Madame St. Albans lachend, »Ihr werdet es wohl gnädig gemacht haben, denn die wirthschaftlichen Anordnungen einer so jungen Dame werden wohl leicht zu erfüllen sein; das stößt noch nicht um, mein Kind, wenn ich behaupte, man findet bei sorgsamer Führung der Haushaltung wenig Unterstützung bei den Domestiken, und wenn ich täglich nur zwei Stunden dran setzte – wo denkst Du wohl, lieber Mann, daß Haus und Hof schon hin sein würden?«

»Gewiß, meine Liebe,« erwiederte Herr St. Albans etwas schnell – »widmest Du Deiner Haushaltung mehr Zeit, Du hast aber auch nicht die großmüthige Pflicht dabei übernommen, mit aufopfernder Sorgfalt eine todtkranke Freundin zu pflegen, wie es Miß Eton that; und vielleicht, wenn Du erst kennen lernst, wie musterhaft selbst in dieser kurzen Zeit alle Geschäfte gethan wurden, findest Du selbst später, daß man sich mehr Muße gönnen kann, und doch nichts zu versäumen braucht.«

»Wirklich, Herr St. Albans?« sagte die leicht aufgereizte Frau, mit großer Empfindlichkeit, »nun Ihr scheint außerordentlich mit Eurer neuen Wirthschafterin zufrieden zu sein, da Ihr meint, ich, die lang' erfahrene Frau Eures Hauses, solle in die Lehre gehen bei der jungen Miß! Da werde ich wohl ganz verzagt sein müssen, mein Amt wieder anzutreten.«

»Ich bitte Euch, liebe, theure Frau, beschämt mich nicht so durch Euren Spott,« rief Elmerice, ängstlich bittend sich zu ihr wendend. »Nur zu wahr wird es sein, daß Alles, was ich that, Euch nicht genügen kann – Herr St. Albans will sich blos gütig gegen meine gute Absicht zeigen.«

[68] Herr St. Albans bedauerte gewiß sehr, die heftige und eifersüchtige Frau gereizt zu haben aber er hatte diesmal nicht die Stimmung, den unangenehmen Ausbruch durch seine dann immer eintretenden kleinen Schmeicheleien zu dämpfen, sondern er stand schnell auf, und gegen Miß Eton sich verneigend, sagte er ernst und ruhig: »Seid gewiß, Miß Eton, ich empfinde aufs Tiefste, welche Stütze Ihr in dieser Schmerzenszeit uns Allen gewesen, und zweifelt nicht, meine gute Frau wird Euch auch später diese Anerkennung nicht versagen.«

Etwas erschrocken über die feste Haltung ihres Mannes, rief Madame St. Albans halb weinerlich: »Aber um Gotteswillen, Herr St. Albans, Sie sind ja so heftig, wie ich Sie noch nie gesehen! Wie könnt Ihr denn denken, ich werde undankbar sein gegen Miß Eton? – wenn könnte man mir das nachsagen – habt Ihr aber wohl Recht, gegen mich arme kranke Frau so heftig zu sein?«

»Wenn ich das war,« sagte Herr St. Albans in milderem Tone, »hatte ich allerdings Unrecht – doch war dies weder meine Absicht, noch mein Gefühl; ich wünschte mir nur eine Gelegenheit, Miß Eton die volle Anerkennung zu gewähren, die ihre große Güte und Umsicht mir einflößte. Jetzt will ich einmal selbst meinen Geschäften nachgehen, von denen Du fürchtest, ich habe sie vernachlässigt.« – Er erhob sich, umarmte stumm und freundlich seine Gattin, grüßte ehrfurchtsvoll Miß Eton und verließ mit ruhigem Anstande das Zimmer.

Elmerice blieb nun in ängstlicher Spannung mit der Kranken allein. Sie wünschte die Zürnende anzureden, aber sie fühlte sich völlig unsicher über den Gegenstand, den sie zur Unterredung wählen sollte. Endlich fing sie von den verschiedenen Domestiken und deren Verhalten zu sprechen an, und frug, wie um Belehrung, nach mehreren wirthschaftlichen Gegenständen – aber alles wirkte nicht. »Ihr werdet das besser wissen, [69] als ich, Miß Eton, wie ich so eben erfahren habe,« sagte sie mißlaunig, »ich fand die Tugenden nicht an den Leuten, die Ihr rühmt, aber ich sehe auch die Dinge, wie sie sind, mich können sie auch nicht betrüben. Laßt Eure Schmeicheleien, ich bin eine einfache Frau, für mich paßt das nicht; da Ihr Alles besser wißt, braucht Ihr mich nicht um Rath zu fragen – mir ist auch Alles ganz gleich – mag Alles gehen, wie es will, ich mache mir gar nichts daraus.«

Dies waren ungefähr die höchst übellaunigen Reden, die Elmerice zur Antwort bekam, und die ihr endlich ein ruhiges Schweigen auferlegten. Doch plötzlich rief Madame St. Albans, nachdem sie einzelne Worte ausgestoßen hatte: »Wer hätte denken sollen, daß Herr St. Albans mich so heftig behandeln könnte!«

Erschrocken näherte sich Miß Eton sogleich dem Lager der Kranken, und bat sie herzlich und dringend, sich doch die Aeußerungen ihres Mannes nicht so zu Herzen zu nehmen. »Gewiß war sein Lob nur das Bemühen, Euch über Eure häuslichen Sorgen zu beruhigen, und vielleicht« – setzte sie schüchtern hinzu – »glaubte er selbst keinen Vorwurf verdient zu haben, da, wenn er seine Geschäfte vernachlässigt hat, dies aus Liebe und Sorgfalt zu Euch geschehen ist.«

»Ja, ja,« sagte die heftige und verzogene Frau, »so ist es Recht: er vertheidigt Euch, Ihr vertheidigt ihn, das kann nicht anders sein. Ihr habt Euch beide sehr genau kennen lernen!«

Miß Eton fühlte hier etwas sich ihr aus den Worten der Madame St. Albans aufdrängen, dem sie nicht mehr ihre gewöhnliche Langmuth entgegenstellen konnte. »Wir haben sicher beide nicht geahnet, uns über unser bisheriges Verhalten gegen Euch vertheidigen zu müssen; liebe Madame St. Albans,« erwiederte Elmerice mit Ernst, »erlaubt, daß ich Marylone in[70] Eure Nähe rufe – ich bin für den Augenblick, fürchte ich, Euch lästig, ich will daher einen lang verschobenen Brief an die Gräfin d'Aubaine schreiben.« Ohne von Madame St. Albans verhindert zu werden, entfernte sich Miß Eton – aber nachdem sie das gute Mädchen zu ihrer Herrschaft gesandt hatte, eilte sie, das Zimmer zu verlassen, da sie den hervorbrechenden Thränen nicht mehr zu wehren vermochte. Um so unangenehmer ward sie überrascht, als ihr auf dem Vorsaale, den sie durchschreiten mußte, um in ihr Zimmer zu gelangen, Herr St. Albans entgegen trat. Er sah mit einem Blicke die Stimmung des edlen Mädchen, das er so hoch zu verehren gelernt hatte, und auch auf seinem Angesichte ruhte ein wehmüthiger Ernst.

»Ich darf Euch nicht lassen, Miß Eton,« sagte er, der schnell grüßend Vorübereilenden in den Weg tretend – »ich muß Euch um Euren Rath bitten – versagt mir ihn nicht,« setzte er tief bewegt hinzu, »wenn Euch auch, wie ich fürchte, Eure neuesten Erfahrungen in meinem Hause gelehrt haben, wie unwürdig wir noch Alle sind, einen solchen Schatz, wie Miß Eton, zu beherbergen.«

»Ich bitte Euch, Herr St. Albans,« stammelte Elmerice – »treibt Eure Güte gegen mich nicht so weit, daß sie uns alle verlegen macht – und rechnet mir ganz einfache Handlungen nicht als Verdienst an, da sie so leicht zu vollführen waren, und durch Ueberschätzung auch ihren geringen Werth ganz verlieren müssen. Madame St. Albans wird sich freuen, Euch so schnell zurückgekehrt zu wissen; besucht sie jetzt, es wird ihr wohl thun.« –

»Nein, vergebt, Miß Eton, jetzt nicht! Ich muß Euch jetzt allein sprechen, und ehe ich meine arme Frau wieder sehe, denn ihr steht eine neue Erschütterung bevor.« –

In diesem Interesse aufgefordert und selbst beunruhigt durch die Stimmung des Herrn St. Albans, eilte Elmerice zu einem der eichenen Stühle im Salon, sich niederzulassen.

[71] »Ich weiß Euch Eure großmüthige Nachgiebigkeit nicht genug zu danken, Miß Eton,« sprach Herr St. Albans bewegt, Elmerice's Hand an seine Lippen drückend; »aber urtheilt von meiner Unruhe, als ich so eben diesen Brief von dem Schlosse Ste. Roche erhalte, der mir die tödtliche Krankheit der Mistreß Gray, meiner Schwiegermutter, anzeigt. – Vielleicht habt Ihr von dieser unglücklichen und menschenscheuen Frau schon Einiges gehört; doch ist ihr Leben so über allen Ausdruck von der gewöhnlichen Form aller anderen Menschen abweichend, daß man sie selbst und ihre ganze Existenz als ein Geheimniß ansehen muß. Sie hat sich, das Schicksal ihrer Gebieterin zu theilen, mit der sie, ihre Tochter, meine Frau verlassend, aus England nach Frankreich kam, in das Schloß von Ste. Roche vergraben. – Wie das Verhältniß dieser ihrer Gebieterin war, welch' ein Recht sie an den Grafen von Crecy hatte, dem früher diese Besitzung gehörte, bleibt ihr Geheimniß; aber nach dem Tode derselben, die wenigstens lange als Herrin des Schlosses betrachtet ward, gab sich Mistreß Gray dem finstersten Menschenhasse hin und verschloß sich in dem Theile des Schlosses, den sie mit jener unglücklichen Frau bewohnt hatte, um von da an keinen Menschen mehr zu sehen, als zuweilen meinen Vater, den Kastellan des Schlosses, der ihre kleinen Bedürfnisse nach Außen besorgte. – Seit seinem Tode ist sie noch mehr abgeschlossen. – Die Kinder der Nachbaren, denen sie einzig und allein Eingang gestattet, sorgen jetzt für ihre Bedürfnisse, aber keiner der Aeltern dieser Kleinen darf wagen, ihr zu nahen. Was der Graf Crecy für Gründe gehabt haben mag, meine Schwiegermutter als unanrührbar anzusehen, weiß ich nicht. Gewiß ist es, daß sie eine große Pension bezieht, daß bei seinen Lebzeiten die strengsten Befehle ergingen, Mistreß Gray in nichts zu beunruhigen, genau sich ihren Anordnungen zu fügen, und daß seinen Erben dies auch noch im Testament als unerläßliche Pflicht vorgeschrieben [72] ist. Meine Frau, welche in der Familie des Herrn Lester erzogen ward, begleitete damals Eure Mutter, Miß Lester, nach Frankreich. Hier sah ich Miß Gray zuerst, als sie ihre Mutter in Ste. Roche besuchte; aber das arme Kind fand an der düstern, strengen Frau keine Mutter, und hat sie nie an ihr gefunden. Dessen ungeachtet ließ meine gute Frau nie ab, kindliche Pflichten gegen sie zu erfüllen, so viel ihr dies erlaubt war; denn Mistreß Gray verläugnete es gar nicht, daß selbst die Nähe ihrer Tochter ihr lästig sei, und trostlos, sie so allein und verlassen in ihrem hohen Alter zu wissen, nahm diese dem Arzte von Ste. Roche das Versprechen ab, bei eintretendem Erkranken ihrer Mutter, sie sogleich davon zu benachrichtigen. Dieser Augenblick ist gerade jetzt gekommen. Der Arzt schreibt mir, daß er erst jetzt nach mehreren Tagen, da der Zustand schon höchst bedenklich scheine, ihre Krankheit erfahren habe, und treibt meine Frau zur Eile, wenn sie die letzten kindlichen Pflichten an ihr erfüllen wolle. – Denkt nun selbst, liebe Miß Eton, in welcher bösen Lage ich bin! Wie darf ich diese Nachricht meiner Frau bei ihrer Reizbarkeit mittheilen, ohne eine neue Gefahr über sie zu bringen, und wie darf ich es ihr verschweigen, da sie mir, wenn der Tod ihrer unglücklichen Mutter eintreten sollte, diese Schonung zum ewigen Vorwurf machen, und sich in ihrer kindlichen Liebe aufs Tiefste verwundet fühlen würde.«

Miß Eton war sehr erschüttert von dieser Mittheilung und, gleich dem besorgten Gatten, sehr beunruhigt um die Wirkung dieser Nachricht, die zu verschweigen eben so gefährlich war, als sie mitzutheilen.

Eben hatten Beide verabredet, den Pater Ambrosius in Rath zu nehmen, und waren in Begriff, sich zu trennen, als die Thüre aufging und zu Beider großer Ueberraschung Madame St. Albans, auf den Arm Marylone's gestützt und völlig gekleidet, obwohl noch schwankend und blaß, in den Saal trat.

[73] Das Erstaunen war gegenseitig; Madame St. Albans, die ihren Mann im Felde glaubte, Miß Eton auf ihrem Zimmer, schien am Boden gewurzelt, als sie Beide in eifriger, traulicher Unterredung vor sich sah.

Gewiß war das Gefühl der beiden so Ueberraschten, nach dem, was sie so eben mit dieser argwöhnischen Frau erlebt, nicht minder verwirrend, da ihnen einleuchtete, daß sie die Ursache dieses Beisammenseins noch nicht im Stande waren, auszusprechen. Daher war ein Augenblick, der Alle zur Freude berechtigte, jetzt nur gekommen, sie unsanft zu berühren.

Herr St. Albans empfand jedoch zu aufrichtig die Freude, die in diesem Erscheinen seiner Frau als Zeichen der Genesung lag, als daß nicht bald alles Andere in seiner Seele davor gewichen wäre. »O, meine Liebe,« rief er, ihr entgegen eilend, »wie überraschest Du mich – wie glücklich fühle ich mich, Dich so begrüßen zu können!«

Doch Madame St. Albans wies seine Hand ziemlich unsanft zurück, und indem sie Marylone befahl, das Zimmer zu verlassen, ging sie, sich von ihrem Manne abwendend, mit schwankenden Schritten auf Miß Eton zu. »Ich beklage, Miß Eton,« sagte sie bebend vor Zorn, »daß meine zu frühe Genesung, wie es scheint, die traulichen Zusammenkünfte mit meinem Manne nunmehr unterbrechen wird – jedoch ist es mir immer lieb, daß ich Gelegenheit bekam, die treue Sorgfalt kennen und würdigen zu lernen, die Ihr meinen häuslichen Angelegenheiten schenktet; daß sie sich bis auf das Herz meines Gemahls ausdehnen würde, habe ich freilich der Tochter meiner Margarith nicht zugetraut.«

»Halt' ein, unglückliche Frau!« – rief hier Herr St. Albans in der schmerzlichsten Heftigkeit, und schloß die zürnende Frau fast mit Gewalt in seine Arme. – »O versündige Dich nicht so grausam an diesem reinen Engel! denke, daß Du Dich an der Tochter Deiner Magarith versündigst!«

[74]

»Versündigen! versündigen!« rief Madame St. Albans, ihren Mann zurückstoßend, – »mir scheint, Du hättest dies bereits gethan, und nicht mir wäre dieser Vorwurf zu machen. – Ich habe mit Dir über diese Angelegenheit nichts zu sprechen. nur Miß Eton wird sicher vorziehen, zu ihrer erhabenen Beschützerin zurück zu kehren, die vielleicht in ihrer hohen Bildung gleichgültiger gegen solche Handlungen ist, als ich, die schlichte, ehrliche Hausfrau, die nichts als ihren einfachen Menschenverstand und etwas gesunde Vernunft hat. Auch meine Wirthschaft« – fuhr sie lachend fort, »hoffe ich ohne das Vorbild der durch sie eingeführten neuen Ordnung, wie bisher, und allein leiten zu können.«

»Ich bitte Euch, Miß Eton, entfernt Euch!« rief hier Herr St. Albans – »ich kann Euch nicht so hart in meinem Hause beleidigen hören, und kann nicht anders, als mit Mitleiden an die Beschämung meiner unglücklichen Frau denken, wenn sie erkennen wird, wie grausam sie Euch eben beleidigte; daß dies geschehen wird, seid gewiß, und wenn Ihr dies Haus, wie ich fürchte, nun als ein unwürdiges fliehen werdet, wird Euch doch die größte Hochachtung von uns Allen folgen.«

Miß Eton hatte sich während dieser ganzen Scene bleich, und von den grausam über sie ausgeschütteten Beleidigungen erstarrt, an ihren Stuhl gelehnt, sie fühlte sich außer Stande zu antworten, war wie zum Tode verwundet von den wild rollenden Augen dieser Frau, und sich als den Gegenstand ihres Zornes zu fühlen, war der größte Schrecken, den sie je empfunden. Sie ließ es daher geschehen, als Herr St. Albans ihre zitternde Hand ergriff, sie nach der Treppenthüre führte, die er ihr öffnete, und sie dann entließ, obwohl er deutlich sah, wie sie kaum die Kraft hatte, die Stufen zu ersteigen.

Wir übergehen das etwas lebhafte, und zwischen Verlieren und Gewinnen schwankende Gespräch der beiden Ehegatten, [75] überzeugt, daß nach den Angaben, in welchen wir bisher versucht haben, den Karakter Beider zu schildern, dies billig verdeckt bleiben kann.

Madame St. Albans hatte bei der Rückkehr ihres Mannes sich in einen Sitz niedergelassen, in ihrem geträumten guten Rechte durch die feste und zürnende Haltung desselben etwas erschüttert. Herr St. Albans aber fühlte im Verlauf der Unterredung, daß hauptsächlich die Eitelkeit seiner Frau verletzt sei durch das etwas warme Lob, das er dem wirthschaftlichen Talente der Miß Eton gezollt. Wie alle beschränkten Frauen, die all ihren Verstand nöthig haben, um ihrem Haushalte vorzustehen, hielt sie diese Pflichten für unverträglich mit höherer Bildung und deren Beschäftigungen, und tröstete sich sehr dünkelvoll mit der Ueberzeugung, solche Frauen könnten ihre Pflichten nie vollständig erfüllen. Sie hatte sich längst gewöhnt, mit ironischem Stolze darauf hinzublicken, wobei sie nie unterließ, mit dem unbescheidensten Selbstgefühl ihre eigene Sphäre klein und unbedeutend zu schelten, indem sie sich aber Prädikate beilegte, die wirklich zu besitzen, nur das Streben und das Resultat der höchsten Vervollkommnung sein kann. Sie hatte sich mit lobenswerthem Eifer den Pflichten unterzogen, die die große Haushaltung ihres Mannes ihr überlieferte, aber unfähig, Plan und regelmäßige Ordnung in ihre und der Domestiken Geschäfte zu bringen, hielt sie stetes Selbstarbeiten für das Geheimniß aller guten Ordnung.

Ganz anders war die Erziehung, die Miß Eton durch das Beispiel ihrer Mutter erhalten hatte. Sie verstand vollkommen, die Geschäfte ihrer Haushaltung dem eigentlichen Leben unterzuordnen. Die strengste Ordnung war gerade nöthig, um dies geräuschlose Dasein des nothwendigen Betriebes möglich zu machen. Sie erzog ihre Leute zum Selbstdenken, und indem sie ihnen die Form vorschrieb, in die ihr Geschäft einpassen [76] mußte, gönnte sie ihnen in dieser Grenze die Willkür eigner Bewegung. Das ganze Räderwerk dieses Treibens war in eine Art Geheimniß gehüllt, niemals gewahrte man queer einlaufend, unregelmäßige Thätigkeit, nie das Stören oder Aufhören des häuslichen, geselligen Beisammenseins. Mistreß Eton legte den höchsten Werth auf die Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, aber sie hatte Geist und Bildung, um den Gegenstand zu durchdringen, sie schienen ihr immer nur die Mittel zum Zweck, nie der Zweck selbst. Diesen Zweck, das Wohlbehagen Aller, die ihr anvertraut waren, zu bewirken, erreichte Mistreß Eton vollständig, dies schien ihr der Lohn, den sie beabsichtigte, und sie trachtete nie durch in die Augen fallende Abmühung die Aufmerksamkeit oder den Dank ihres Mannes zu fesseln.

In diesem Sinne hatte Miß Eton die ihr hier durch die Umstände auferlegten Pflichten geleistet. Leicht fanden sich die Domestiken in die ruhigen, klaren Anordnungen, die plötzlich diese, von den ewig auf sie niederströmenden Worten ihrer Hausfrau zu Maschinen gewordenen Leute zu einer Art von Freiheit erhob, die ihnen doch genauer, als früher, ihre Pflichten bezeichnete. Worin der ewige häusliche Embarras ihrer Wirthin lag, hatte Miß Eton lange erkannt; aber es war ihr nur eine wiederholte Erfahrung, daß, wo die Kraft des Geistes fehlt, einen Gegenstand in seinem Wesen aufzufassen, eine regellose Thätigkeit eintritt, die bei ihrer nothwendigen Belästigung das Individuum zu Dünkel und Anmaßung führt, die es mißtrauisch und tadelnd jeder andern Weise entgegen stellt.

Es läßt sich kaum sagen, in welchem Grade Madame St. Albans von der Mittheilung ihres Mannes über Miß Eton's wirthschaftliches Verhalten überrascht war, und mit welchem Zorne sie der Gedanke erfüllte, ihr Mann könne darin irgend einem Wesen der Erde den Vorzug geben. Sie hatte nicht ohne eine gewisse Koketterie darnach getrachtet, ihm die höchste [77] Meinung von ihrer Thätigkeit, Umsicht und der großen Last zu geben, welche sie trüge. Ganz erschöpft von diesen Sorgen sich darzustellen, und damit ihre eigenthümliche, oft mürrische und übellaunige Art zu entschuldigen, war immer das Mittel, womit sie ihren unendlich sanften und zu jeder Anerkennung stets bereiten Mann an sich zu fesseln suchte, und ihn über die Lücken täuschte, die der höher gebildete Mann erkannte, und doch gegen die so in Anspruch genommene Frau zu rügen, ihm ein Unrecht schien. – Herr St. Albans wußte daher auch mit der Art, die ihm dieser reizbaren Frau gegenüber zur Gewohnheit geworden war, diesen Feind in ihr durch seine Schmeicheleien zu beschwören – und als er sie nur erst ruhiger sah, gelang es ihm bald, sie zur Anerkennung ihres Unrechts gegen Miß Eton zu bringen.

Sei es nun, daß die heftige Gemüthsbewegung die letzte Schwäche der Krankheit von Madame St. Albans genommen hatte – sei es, daß der Augenblick ihrer Genesung wirklich gekommen war – genug, im Laufe des Gesprächs fühlte ihr Gemahl sich ganz ermuthigt, ihr die Lage der Dinge auf Ste. Roche mitzutheilen und damit auch sein letztes Beisammensein mit Miß Eton zu erklären.

Die arme Frau fühlte sich durch diese Mittheilungen mehr in ihrem Geiste, als körperlich überwältigt; aber wir dürfen zu ihrer Ehre es nicht unerwähnt lassen, daß ihr das Unrecht, das sie Miß Eton gethan, sehr zu Herzen ging und sie durchaus selbst zu ihr hinaufsteigen wollte, ihr Abbitte zu thun. –

Die Stimmung der armen Elmerice war keinesweges so ruhig, als wir es ihrem unschuldigen Herzen zutrauen würden. Die Beschuldigung selbst hatte sie verwundet, aber ob sie gerechtfertigt werde oder nicht, es blieb gleich für sie; das Haus, wo sie dies erfahren, mußte sie jedenfalls verlassen. Aber hierin lag eine Fülle von Sorgen für sie, deren Grund uns noch entzogen [78] bleibt: denn eben so unmöglich schien es ihr, jetzt zu ihrer Wohlthäterin zurückzukehren. So fühlte sie denn zuerst, daß ihr eine Heimat fehle, eine immer für sie bereitete schützende Stätte, wie das älterliche Haus in so jungen Jahren das einzig wahrhaft ausreichende Asyl bleibt, und eine Fülle heißer Thränen floß dem Andenken dieser so schön, so vollständig besessenen und nun für immer entschwundenen Zuflucht. »O meine Aeltern,« sprach sie – »sähet Ihr Euer armes Kind in solcher Lage, könntet Ihr mir noch die Arme öffnen, die mich so lange schützend umschlossen!« – Da kam ein stiller, süßer Friede in ihr Herz, wie der Segenskuß dieser ehrwürdigen Beschützer, und auf ihre Kniee sinkend, konnte sie innig beten – beten um die Kraft, das Rechte zu thun.

Leise hatte Madame St. Albans die kleine Treppe erstiegen und trat jetzt laut weinend in Elmerice's Gemach. – »O, Tochter meiner Margarith, wirst Du mir vergeben?« sprach sie laut schluchzend, indem sie an der Thüre stehen blieb. Und Elmerice? – Elmerice stand auf und empfing die Reuige, wie man es thut, wenn man gebetet hat, und Gottes Frieden unser Herz erquickt. Sie war ohne Thränen, ruhig, ernst, aber weich und wohlthuend in jedem Laut, in jeder Bewegung, und Madame St. Albans fühlte unwillkürlich eine Art Ehrfurcht vor dem reinen, hohen Geiste, der ihr so ohne Absicht, ohne Anmaßung entgegen trat.

»O, mein Kind, wie danke ich Dir, daß Du durch Deine schnelle Vergebung diese eine große Last von meiner Seele genommen, da, was mich außerdem niederbeugt, schon hinreichend ist – mein guter Mann hat mir den Brief aus Ste. Roche mitgetheilt.«

»O, mein Gott!« rief Elmerice erschrocken, »wie viel stürmt auf Euch ein, arme, unglückliche Frau! Faßt Euch doch nur, und sagt mir, ob ich Euch helfen, ob ich Euch dienen kann!«

[79] »Ach, Elmerice,« sagte Madame St. Albans weinend – »versprich mir nur zuerst, daß Du mich nicht verlassen willst; denke, wenn Du so zu Deiner Gräfin zurückkehrtest und ihr sagtest, ich hätte Dir das Haus verboten!«

»Denkt daran fürs Erste nicht,« erwiederte Elmerice, »wir haben Wichtigeres zu überlegen; sagt mir, was Ihr beschlossen habt in Bezug auf jene Nachrichten.«

»Was ich beschlossen habe?« rief Madame St. Albans mit ihrer gewohnten Energie – »nun, was Anderes, mein Kind, als hinzureisen zu dieser armen verlassenen Mutter.«

»Aber jetzt, in diesem Zustande von Schwäche,« entgegnete Elmerice – »wie werdet Ihr das aushalten, welchen Gefahren setzt Ihr Euch aus!« –

»Das ist Alles wahr, meine liebe Elmerice, aber darum kann ich doch nicht bleiben. Ich habe zwar Herrn St. Albans nicht abgehalten, zu dem guten Pater Ambrosius zu gehen und ihn in Rath zu nehmen, aber ich habe das nur zugelassen zu seiner Beruhigung – mein Entschluß steht fest, und kein Herr St. Albans, kein Pater Ambrosius wird mich abhalten, meine kindlichen Pflichten zu erfüllen.« –

»So wird Euch doch wohl Herr St. Albans begleiten?« fragte Elmerice gespannt. –

»Herr St. Albans, mein Kind, kann mich nicht begleiten; unsere Wirthschaft darf nicht ganz zu Grunde gehen – nein, nein, ich würde dies niemals leiden!«

»Nun, so nehmt mich denn mit,« rief Elmerice entschlossen – »ich will für Euch sorgen, ich will Euch pflegen und, so weit ich es vermag, unterstützen; denn niemals kann ich zugeben, daß Ihr in diesem gefährlichen Zustande ohne andere Begleitung, als die eines Mädchens, reist.«

Madame St. Albans schwieg einen Augenblick, dann breitete sie die Arme gegen Elmerice aus, und mit kurzem, heftigem [80] Schluchzen sprach sie: »Komm' her! komm' an meine Brust! Du bist, weiß Gott, meiner Margarith echtes Kind! So war sie auch – nie nachtragend, schnell versöhnt und dann zu jedem Liebesdienste bereit. Doch mitnehmen kann ich Dich leider nicht – wo ich hingehe, das ist ein höchst wunderlicher Ort, und für Dich kein Obdach zu finden – weiß ich doch kaum, ob meine arme, menschenscheue Mutter mich, die eigene Tochter, bei sich aufnehmen wird; eine Fremde darf ihre Schwelle nie mehr betreten.«

»Gut,« erwiederte Elmerice – »so werde ich in Eurer Nähe ein Obdach finden. – Es liegt ein Dorf bei dem Schlosse, es lebt ein Geistlicher dort – irgend wo, vielleicht selbst in einem andern Theile des Schlosses werde ich ein bescheidenes Unterkommen finden, und dann die Beruhigung genießen, mit Euch die am meisten zu fürchtende Hinreise gemacht zu haben und in Eurer Nähe zu sein, solltet Ihr, was Gott verhüte, Hülfe bedürfen.« –

»Ach, mein Kind, das sind alles Opfer, denen Du nicht gewachsen bist! Da könntest Du in Lagen kommen, aus denen ich Dich nicht einmal erlösen könnte, wärest Du erst einmal da.« –

»O streitet nicht länger mit mir,« erwiederte Elmerice dringend – »ich bin eben so entschlossen, als Ihr selbst, und weiß, daß ich meinen Kräften besser vertrauen darf, als Ihr es annehmen wollt; darum laßt uns jetzt an nichts denken, als wie wir so leicht und gut, wie möglich, diese nothwendige Reise einrichten wollen.« –

»Da sei Gott für, daß ich Dich eben jetzt wieder beleidigen möchte, und an Deinem guten Willen zweifeln – ich bin ganz davon durchdrungen und füge mich, wenn Du darauf bestehst, in Deinen Beschluß.«

»Nun, so laßt uns nicht säumen, genießt jetzt etwas der Ruhe, liebe Madame St. Albans, und laßt mich sorgen, daß ich Alles zur Abreise vorbereite.«

[81] »Ja, und zwar auf morgen früh,« sagte Madame St. Albans entschieden, »denn schwere, schwere Ahnungen beängstigen mich – ich will nicht zu spät kommen, was an mir liegt.« –

Elmerice führte Madame St. Albans nach ihrem Schlafzimmer, und als sie für ihre Ruhe gesorgt, eilte sie, mit Marylone die nöthigen Anstalten zu verabreden.

Herr St. Albans kehrte gegen Mittag mit Pater Ambrosius zurück, und Beiden blieb, dem energischen Willen der Kranken gegenüber, kein Mittel, als in ihre Abreise einzuwilligen. Dabei hob Madame St. Albans mit großem Lobe das Anerbieten der Miß Eton hervor, und so sehr Herr St. Albans auch vor der Größe dieses Opfers erschrak, fühlte er doch, welche Wohlthat es war; erst von da an fügte er sich mit einiger Ruhe in diese bedrohende Reise.

Obwohl das erste Zusammentreffen mit ihm und Miß Eton nicht ohne Verlegenheit blieb, traten dennoch die zunächst liegenden, so wichtigen Umstände bald so dringend hervor, um nicht jede andere Empfindung in den Hintergrund zu stellen. Es war keine kleine Arbeit, Madame St. Albans reisefertig zu machen, und alle ihre häuslichen Befürchtungen und Zweifel zu beseitigen. Es gehörte die immer gleiche ernste Ruhe und Geduld der Miß Eton dazu, um nicht an so viel Widerstand und Peinlichkeit den Muth zu verlieren. Doch gelang es ihr endlich, das Haus bestellt und den Reisewagen gepackt zu sehen, und sie zog sich auf ihr Zimmer zurück, die wenigen Stunden der Nacht bis zur Zeit der Abreise sich selbst zu leben.

Fast betäubt von den Eindrücken des Tages, rang ihr Geist, sich zur Klarheit empor zu arbeiten, und so weh und gebeugt sie sich fühlte, mußte sie diese ängstliche, traurige Reise doch als eine Wohlthat erkennen, da ein längerer Aufenthalt in diesem Hause ihr jetzt fast unerträglich geschienen hätte, und ihr doch keine andere Zuflucht übrig blieb.

[82] Es giebt Augenblicke im Leben, die in uns bis auf das letzte Fünkchen alle leise gehegten Hoffnungen auslöschen, indem sie uns eine Klarheit der Seele leihen, durch die wir alle Illusionen selbst vernichten und von Allem zurückgetrieben, was wir festzuhalten trachteten, nichts übrig behalten, als die Sehnsucht, vor der wir uns vergeblich zu flüchten suchen, die immer wieder den kaum haftenden Verband von unsern Wunden nimmt und sie bluten läßt – ach, nur so viel, um die Kraft der Jugend, den Muth zum Leben zu entkräften, nicht bis zur süßen Todesruhe!

So fühlte Elmerice – sie sah ihre Lage klar und deutlich, sie wendete sich ab von jeder Hoffnung – aber die Sehnsucht schwellte ihr junges Herz, und sie fühlte eine tiefe Ermüdung, wenn sie an das dachte, was ihr noch übrig blieb nach dem, was sie hatte aufgeben müssen.

Gegen Morgen schrieb sie ihrer Wohlthäterin noch einige Zeilen, ihre längere Abwesenheit durch die Krankheit der Madame St. Albans entschuldigend; ihre Reise verschwieg sie dagegen, fürchtend, dadurch die zärtliche mütterliche Freundin zu beunruhigen.


Die Wälder von Ste. Roche waren berühmt. – Auch glichen sie mit ihren kolossalen Stämmen, ihren gewaltigen, in die Luft in einander geflochtenen Kronen den Bildern, die uns ein fremder Welttheil von den Urwäldern gegeben hat, in denen die Axt niemals erklungen und der Vegetation ihr eigenes despotisches Walten gestattet ist. Mit Ranken, Moos und Schlinggewächsen jeder Art überwuchert, sehen wir das zum kräftigen Widerstand unfähige Stämmchen am Boden sich hinschmiegen, dem mächtigen Stamme weichend, der sich mit dieser Unterdrückung doppelt Platz gewann und, zu säulenartiger Pracht [83] emporstrebend, das heitere Gewölbe seiner hundertfältigen Zweige leicht gen Himmel trägt. Die Sonne bahnte sich hier nur selten den Weg – nur in einzelnen glänzenden Lichtstreifen erreichte sie den Boden, der in der üppigsten Abwechselung bald das kurze, saftige Moos der Laubwälder, bald die lustig durch einander geschlungene Vegetation der mannigfachsten Ranken, Blüten und Waldbeeren zeigte. – Der Weg, den die Reisenden passiren mußten, schlang sich wie ein Geheimniß durch hin, bald ganz verschwindend, bald nur in leichten Andeutungen wahrzunehmen. – Das eigene majestätische Gespräch der hohen Laubkronen mit der oberen Luft, die sie erreichten, ward allein unterbrochen durch das Geschwätz der kleinen lustigen Waldbäche, die zwischen hohen bemoosten Felsstücken sich ihr grünes Bettchen ausgehölt hatten, und nun sorglos, wie Kinder zu den Füßen der Aeltern, spielten, während das niedere Gebüsch eine lockende Wiege für die junge Brut zahlloser Vögel war, die mit ihren Nestchen unter den jungen Zweigen hockten. Dazwischen gingen die schlanken Bewohner des Waldes mit ihren glänzenden, vielzweigigen Geweihen in großen Gesellschaften in ihrem weiten Palaste umher, und sahen mit stolzer Ruhe den lustigen Hasen nach, wie sie in ewiger, unnützer Eile vorüber jagten und die Eichhörnchen in die Luft schreckten, die mit klaren Augen von der hohen Wohnung argwöhnisch auf die verschiedenen Gesellschaften niederblickten.

Leicht war aus dem Leben dieser Wälder das Schicksal der Besitzungen von Ste. Roche zu erkennen. Sie waren von den Menschen vergessen, weder zum Nutzen, noch Vergnügen mehr bestimmt, ihrem inneren Bedürfnisse zur freien Entwickelung überlassen, und wahrlich ein höchst eigenthümliches Bild stolzen Naturlebens!

Am Abend des Reisetages sahen sich die Damen in dem Theile des Waldes, der unmittelbar an das Schloß Ste. Roche [84] grenzte. Sie hatten am Mittag aus dem Kloster Tabor einen Führer mitgenommen, durch dessen Weisung es ihnen allein gelang, auf dem rechten Wege zu bleiben; jetzt verkündigte er ihnen die Nähe von Ste. Roche, und beide Frauen hörten diese Mittheilung mit großer Bewegung an.

»Miß Eton, es ist wahr« – hob Madame St. Albans an – »daß ich mich niemals diesem alten Wohnsitze meiner Mutter nahe, ohne eine Art Herzklopfen zu fühlen. Aber gewiß ist es auch, daß schwerlich ein zweiter Ort gefunden werden soll, an dem so viele und unerhörte Histörchen haften, als an diesem alten Schlosse. Wenn Ihr es sehen werdet, so wird es Euch möglich scheinen, daß hier alles Abenteuerliche Raum fand, was davon erzählt wird – seht, ich bin keine leichtgläubige Thörin, aber ich selbst könnte denken, es sei hier nicht, wie sonst in der Welt, zugegangen, und obwohl der neue Besitzer Alles thut, den Verfall zu hindern, geschieht doch auf ausdrücklichen Befehl und nach testamentarischer Verordnung des verstorbenen Grafen Crecy nichts, um dies wunderbare Aeußere zu verändern. – Ach, Elmerice,« hob sie nach einiger Zeit an, »wie werde ich Alles dort finden! eine Leiche oder eine Sterbende?«

Hierauf ließ sich schwer antworten, und Miß Eton frug daher: ob Mistreß Gray viel gekränkelt habe? –

»Ach, seht, das ist, wie man es nimmt – gesund war sie nie recht, wenigstens seit ich sie kenne – aber selten, selten, daß sie dem nachgab – ehe sie nicht niederfiel, in ihr Bett getragen werden mußte, gab sie keiner Krankheit nach, ja, auch dann hatte sie noch tausend Eigenheiten und widerstrebte immer in den Anordnungen zu ihrer Pflege; und des Nachts, wo jeder Mensch schon bei gesunden Tagen Gott danken würde, dort Jemand um sich zu haben, schließt sie sich ein, und Niemand darf bei ihr bleiben.« –

[85] »Welche wunderbare Frau muß Eure Mutter sein!« rief Elmerice unwillkürlich, »und welch' Verlangen hege ich, sie zu sehen!«

»Ja,« sagte Madame St. Albans – »so wunderbar, wie ihr altes Schloß; aber Ihr werdet von Beiden wenig zu sehen bekommen. Denkt Ihr, daß ich schon je weiter kam, als in den großen Vorsaal, den meine Mutter bewohnt? Seht, der liegt wie ein Riegel vor den weitläufigen Gemächern, die einst die Gebieterin meiner Mutter bewohnte, und seit ihr Sarg daraus weggetragen ward, haben sie sich nie wieder einem menschlichen Fußtritte geöffnet, als dem meiner Mutter. Aber sie hält ihre Andacht dort, sie lebt hier ein verzehrendes Leben der gramvollsten Erinnerung, sie – ach, Gott vergebe mir! – sie, glaube ich, schwört hier immer aufs Neue allen Menschen Haß. Seht, das sind Dinge, die an dem gesunden Menschenverstande meiner Mutter verzweifeln lassen, gäbe sie nicht sonst Proben, daß er ihr sehr gegenwärtig ist.«

»Aber was sagt man denn so Unerhörtes von diesem Schlosse?« frug Elmerice weiter; denn sie konnte ihr lebhaft erregtes Interesse nicht mehr verbergen.

»Ach, seht, Miß, so lange es steht, hat es wenig guten Ruf. – Es war zuerst ein königliches Jagdschloß, und man sagt, Heinrich der Zweite habe hier eine schöne Freundin verloren, die seine Gemahlin, Katharina von Medicis, habe ermorden lassen. In einem Thurme, der damals das kleine Schloß begrenzte, zeigt man ein Zimmer, das noch in schönen geschnitzten Holzwänden von dereinstiger Pracht zeugt; da soll Heinrich die schöne Eudoxia Nemours gefunden haben, wie sie ihm nur noch die blutende Wunde zeigen konnte und dann verschied. Seitdem heißt er Eudoxien-Thurm, und Alle wollen darauf sterben, Eudoxia sitze noch zuweilen in ihren weißen Gewändern auf dem kleinen Altan und sehe in den Wald hinein,[86] wo sie sonst den König daher kommen sah. – Solche Geschichten haben nun wenig Reiz für mich; auch sah ich sie nie, und muß sie wandern und vergebens warten, geschieht ihr Recht: solche Frauenzimmer bereiten sich ihr Loos selber; – aber seht, freilich später, sagt man man, sei nie viel Anderes, als Unglück hier geschehen und geschmiedet worden. Katharina von Medicis baute das Schlößchen oder den Flügel rechts daran, und die großen Wälder umher ließen hier prächtige Jagdpartieen zu; aber immer geschah ein Unglück – es verschwand Jemand oder ward offen wo ermordet, und man sprach schon damals, daß die böse Königin den Ruf des Schlosses benutze, die heimliche Rache, die sie an Einem oder dem Andern ausüben wolle, auf den abergläubischen Spuk des Schlosses zu wälzen. So, sagt man, habe man sich gefragt, wenn die Gäste sich auf ihren despotischen Ruf hier versammelten, wer wohl das bezeichnete Opfer sein werde – ich aber sage: die Narren, daß sie gingen! – mich hätte sie einladen können, so viel sie Lust gehabt hätte, ich wäre doch nicht gekommen.«

»Die damalige Zeit,« erwiederte Elmerice, »hat freilich manchen Zwang auferlegt, der wenigstens jetzt nicht mehr in so offener Gewalt hervortritt, obwohl noch manches sehr Harte unter Ludwig dem Vierzehnten und selbst unter seinem Nachfolger, dem jetzigen Könige, möglich sein soll.«

»Ach, seht mein Kind, das sprengen die Hofleute nur so aus, damit man sie nicht auslachen soll, wenn sie immer über die Last seufzen, bei Hofe erscheinen zu müssen, da sie sich doch hindrängen, so viel sie können. Das habe ich damals für mein ganzes Leben lang heraus bekommen, als wir, ich und Deine Mutter, zu Gaste waren in dem großen Hause d'Aubaine, bei den Eltern Deiner Gräfin. Sieh', Kind, da hieß es immer von dem Hofzwange – aber hoftoll waren sie; denn gab es ein Fest, so waren sie alle in Fieberangst, ob sie auch eingeladen würden, [87] ob auch zur rechten Zeit, nicht später, als sie berechnet hatten, daß es ihnen zukäme – und erschien der Tag, so waren sie so wichtig, so gehoben und mitleidig gegen uns arme bürgerliche Mädchen, daß ich sie alle auslachte, wenn sie den Rücken wendeten, denn nicht wie zum Fest zogen sie hin, sondern wie zu einem Leichenbegängnisse, so ernst und beklommen. Aber das war lauter Hochmuth, Furcht vor Demüthigungen, da sie doch, wie sehr sie sich auch erhoben, immer wieder Einen ausspürten, der sich über sie erheben wollte; und da nahmen sie denn ihre Strafe damit hin, denn jeder tolle Hochmuth straft sich selbst.«

»Seit wie lange gehörten diese Besitzungen denn dem Grafen von Crecy?« unterbrach Elmerice die sich erhitzende Madame St. Albans. –

»Katharina von Medicis schenkte sie einem Grafen von Crecy, der ihr manchen erlaubten und unerlaubten Dienst geleistet haben soll, aber das Unglück hatte sich nicht mit dem neuen Besitzer verändert – es ging so fort. – Man sagt, diese Besitzungen waren einem Landsmanne der Königin, einem Marquis Spinola, zugesagt. Da verlor der Herr Graf Crecy durch unordentliche Wirthschaft sein ganzes Vermögen, und bestand nun bei der Königin darauf, sie solle ihm helfen; aber Geld war da oft rar – genug, sie hatte nichts, aber den Grafen gebrauchte sie, der Spinola nutzte ihr nicht mehr – da soll denn hier wieder eine Jagdpartie veranstaltet worden sein, und Spinola und Crecy, die wie gereizte Tieger gegen einander waren, sollen Streit gehabt haben, den die Königin anfachte. – In dem Schlafzimmer Spinola's hörte man später in der Nacht Geschrei und Waffengeklirre, man hatte nach einigen Augenblicken der Ruhe den Grafen Crecy daraus entfliehen sehen – was da geschah, ist nie entdeckt worden; als aber die Kammerfrauen auf ihr Geschrei zur Königin gingen, lag die Leiche Spinola's, mit vielen Dolchstichen durchbohrt, vor ihrem Bette. Die Blutspur [88] war zu sehen von seinem Zimmer bis dahin, wo er starb – man sagt, mit einem Fluche gegen die Königin und das Geschlecht der Crecy, das hier seinen Untergang finden solle. – Am andern Morgen floh die Königin und der ganze Hof, wie von Geistern gejagt, und nie betrat ein königlicher Fuß wieder dieses verwünschte Schloß. Der Herr Graf Crecy nahmen die Besitzungen, diesem Fluche zum Trotz, in Beschlag, zogen die großen Revenüen, bauten den dritten Flügel, wie das Uebrige prachtvoll aus, und lebten hier oft in Saus und Braus. – Aber endlich ist doch erfüllt worden, was der arme Marquis in seiner Todesangst verheißen hat: das Geschlecht der Crecy ist hier erloschen, und sein Ende ward auch durch grausame Verbrechen herbei geführt – doch das erlaßt mir zu berichten, das ist zu neu noch; seht, da lebte ich schon in dieser Gegend, das kann ich nicht erzählen, ohne all' die Angst wieder zu fühlen, die ich damals mit durchmachte, und als ich zuerst wieder hieher zu meiner armen Mutter mußte, dachte ich, ich könnte es nicht mehr überleben. –«

Elmerice fühlte sich ebenfalls von dem Gehörten zu sehr erschüttert, um auf weitere Nachrichten nicht gern verzichten zu mögen, und bat daher ihre Begleiterin, sich die nöthige Ruhe zu gönnen. Dies war aber durch die Eindrücke, die ihr der nun immer bekannter werdende Weg aufnöthigte, nicht möglich – sie begleitete alles sich Darbietende mit Bemerkungen, und forderte Elmerice zu immerwährender Aufmerksamkeit auf. Diese fand sich jedoch leicht, wo die Gegenstände so anziehend und bedeutend sich zeigten.

Die Waldgegend, die sie jetzt passirten, war unter der Hand der Kultur zu einem Garten gelichtet, der sich von dem übrigen Theile durch die kostbarsten, mit Gräben geschützten Gitter absonderte; und seine breiten Wege und die uralten gepflanzten Alleen führten endlich die Reisenden dem Schlosse [89] Ste. Roche entgegen, das Beide mit Herzklopfen zu sehen erwarteten.

»O seht, seht, da ist es!« – rief plötzlich Madame St. Albans mit einem Erblassen und einem Sinken der Stimme, als fiele sie in Ohnmacht; und auch Elmerice fühlte ihre Nerven durchzuckt von einem ihr unbekannten Gefühle, was zwischen Furcht und Rührung schwankte, als sie plötzlich den wunderbar großartigen Bau des Schlosses Ste. Roche vor sich ausgebreitet sah. Waren es die eben vernommenen Erzählungen, die sich dem Anblicke desselben zugesellten, und es so schauerlich und drohend erscheinen ließen, war es die ernste, imposante Ruhe, die es durch seine Lage inmitten dieser großartigen Wälder, erhielt – genug, Elmerice glaubte, es könne nichts Aehnliches mehr auf der Welt geben, und drückte, wie verzagt, die Hand auf ihre Augen, und als habe es ihr jetzt schon ein tiefgehendes Leid angethan, fühlte sie sich von dem Gedanken, ihm näher zu rücken, wie erdrückt.

»Ja, ja, meine Liebe, da wirst Du wohl erkennen, daß ich nicht ganz Unrecht hatte, Dich hier nicht herführen zu mögen« – sagte Madame St. Albans zu der tief erschütterten Elmerice, die, über sich selbst eben so erstaunt, wie über den Gegenstand ihrer Gefühle, unfähig war, einen Thränenstrom zurück zu drängen, und nach diesem unfreiwilligen Ergusse erst Muth faßte, wieder darauf hinzublicken. – »Ich gestehe,« sagte sie schüchtern, »ich erhielt noch nie solchen Eindruck! Verzeiht mir, ich werde mich gleich gefaßt haben; bereut es nicht, mich hieher geführt zu haben, diese Schwäche soll Euch nicht lästig fallen.«

Madame St. Albans war zu sehr mit sich beschäftigt, um nicht leicht ihre Aufmerksamkeit von Elmerice abziehen zu können, und diese gewann nun Zeit, sich zu ermuthigen und sich näher mit dem bekannt zu machen, was sie so tief erschütterte. Der Wald war nach der Vorderseite des Schlosses gelichtet, wenigstens [90] so weit, um es auf einer kleinen Erhöhung ganz den Blicken auszusetzen; doch im Hintergrunde schlossen sich die in dem jungen, gelbgrünen Lichte des Frühjahrs leuchtenden, weitläufigen Wälder dicht daran an. Vor dem großen Schloßhofe, dem sie jetzt in einiger Entfernung gegenüber waren, ließ Madame St. Albans halten, um Elmerice in der Mitte dieses Hofes unter dem riesenhaften Dome dicht im Kranze gepflanzter Ulmen, ein hohes Grabmal von weißem Marmor zu zeigen, unter dem man den ersten Besitzer der Familie Crecy begraben hielt. Das Schloß sah darauf hin, wie ein drohender Geist, seine Thürme, Erker, schwer verzierten und phantastisch von Außen ansteigenden steinernen Treppen, die hohen, thürartigen Fenster, und wieder die Schießscharten ähnlichen Zuglöcher der Thürme und Gallerien, die endlich völlig einfarbig gewordene, nebelartig graue Färbung des ganzen Baues, gaben ihm ein so geisterartiges, der Mitwelt entrücktes Ansehen, daß Elmerice nicht mehr in Erstaunen gewesen wäre, wenn es vor ihren Augen in Nebel zerstoben wäre, als seine wirkliche Existenz ihr verursachte.

Madame St. Albans wunderte sich dagegen über den besseren Zustand des Ganzen. Seit zwei Jahren war sie nicht hier gewesen, und es glich damals einer Ruine; jetzt aber war Alles in brauchbarem Stande, und die Erhaltung des Schlosses offenbar beabsichtigt, wie Wege und Einfahrten aufgeräumt und zugänglich gemacht. Der Wagen umfuhr das Schloß in einem Halbkreise, und Madame St. Albans zeigte Elmerice den Flügel, der ihrer Mutter angehörte. – Mit dicken eichenen Bohlen waren alle Fenster verwahrt, kein Zeichen des Lebens ließ sich sehen, und Alles schien verödet und ausgestorben. Dagegen blickte man durch geöffnete Fenster in den sogenannten neuern Flügel, und obwohl der düstere Karakter aller dieser großen Gemächer jeden Raum als Paradezimmer eines Leichenbegängnisses erscheinen ließ, leuchtete doch die schwere Vergoldung [91] zwischen den düstern Tapeten überall durch, und zeigte von erhaltener oder hergestellter Pracht.

Zunächst der Wohnung der Mistreß Gray lag am Ende einer dichten Allee das kleine Dorf Ste. Roche, und an die alte gothische Kirche lehnte sich die freundliche Wohnung des Vikars, an deren Schwelle die Reisenden ihren Wagen verließen.

Der Hausflur, in den sie eintraten, zeigte, dem Eingange gegenüber, durch eine Hinterthür auf ein schön umlaubtes Gärtchen, an dessen frischen Rasenplätzen sorgsam bepflanzte Blumenbeete, unter dem Schutze hoher Kastanien- und Ahorn-Bäume, ihre Entwickelung erwarteten. Schon beim ersten Schritte in diesen Flur, der mit seinem hohen Kamine und seinen eichenen Holzwänden zugleich den Salon bildete, fühlte man sich von dem Geiste des Friedens angeweht, und ein Blick umher, mit dem man die einfachen Beschäftigungen der Hausbewohner übersehen konnte, gab die Gewißheit, hier den Anklang eines höheren geistigen Lebens zu finden. An der Thür in einem eichenen Lehnstuhle saß eine kleine weibliche Figur hinter einem Rädchen, das über das Andachtsbuch in ihren welken Händen vergessen schien. Als die Fremden eintraten, erhob sie sich jedoch sogleich und ging rascher, als ihr Alter vermuthen ließ, den Ankommenden entgegen.

»Nun, liebe Mademoiselle Veronika, darf ich hoffen, noch von Ihnen erkannt zu werden?« rief Madame St. Albans, auf sie zueilend.

»Erkannt und erwartet jede Stunde,« sagte Veronika sanft und freundlich, »denn daß eine so gute Tochter nicht ausbleiben würde, konnten wir leicht denken. Seid demnach willkommen und zugleich getrost, denn noch lebt die arme Leidende; ja, es sind sogar Zeichen der Besserung eingetreten.«

»So sei Gott gelobt!« rief Madame St. Albaus mit ihrem schnell hervorbrechenden Schluchzen, und eilte dann, Miß Eton [92] der alten Dame vorzustellen: »Miß Eton wollte mich nicht allein reisen lassen, denn ich war am Tode, als Eures Bruders Brief eintraf, und da müßt Ihr schon verzeihen, wenn ich Euch bitte, der jungen Miß ein Obdach zu gönnen, denn Ihr wißt wohl, aufs Schloß kann ich sie nicht mitnehmen; wer weiß, ob ich selbst Obdach dort finde.«

Veronika hatte während dem ihre kleinen klugen Augen nicht von Elmerice gewendet, und schien die ganze Rede der Madame St. Albans überhört zu haben, denn sie wiederholte den Namen Eton und frug nach dem schon Vernommenen: »Also aus England seid Ihr, liebe Miß? – Nun, seid willkommen,« fuhr sie dann gesammelt fort; »dies kleine Haus hat immer Raum für Einen, der einfache Sitte nicht verschmäht und das Mangelhafte durch ein freundlich Gesicht vergüten läßt. – Der Vikar wird bald zurück kommen von St. Flêche, wo er die Kranken besucht; dann läuten wir Ave Maria, und bis dahin wollen wir uns hier einrichten.« Sie öffnete demnächst ein kleines Zimmerchen, das ebenfalls nach dem Garten zu ging, und das sie den beiden Frauen als das ihrige anwies, und zog sich sodann ohne lästige Dienstlichkeit zurück. Die klösterlichste Einfachheit war hier mit einer gewissen geschmackvollen Zierlichkeit vereinigt, und zwischen den beiden weißen Himmelbetten stand ein kleines Betpult vor einem mit frischen Blumen geschmückten Krucifixe.

»O, wie schön ist es hier!« rief Elmerice, sich in einen harten Holzstuhl am Fenster niedersetzend, »wie wohl ist mir hier!«

Madame St. Albans sah sie mit ungläubigem Lächeln an, und sagte dann kopfschüttelnd: »Nun, nun, für Euch wird es schwerlich sein – Ihr seid doch wohl zu sehr verwöhnt.«

»Nein, nein!« rief Elmerice, aufs Neue ihrer seltsamen Wehmuth unterliegend, und die niederfallenden Thränen aus dem niedrigen Fenster in das Spalier der zartknospenden Weinreben [93] senkend – »hier ist Frieden! hier ist mir wohl! O, wie danke ich Euch, daß Ihr mich hieher geführt habt!«

Was Madame St. Albans nicht verstand, glaubte sie unbedenklich tadeln zu können, und so wandte sie sich achselzuckend von Elmerice ab und kramte unter ihrem Gepäcke, das Veronika indessen durch eine eben so stille, nonnenhafte Magd von dem Wagen hatte abräumen und in das Zimmer der Frauen schaffen lassen.

Der tiefe Ton der Abendglocken zeigte jetzt an, daß das Ave Maria begonnen. Veronika trat in das Zimmer, die Frauen abzuholen, und verkündigte, der Vikar, wie sie ihren Bruder nannte, habe sich, ohne zu Hause anzusprechen, sogleich nach der Kirche begeben. »Und Ihr, Miß Eton,« frug sie sanft, »Ihr, als Engländerin, gehört wohl nicht unserer Kirche an, darum legt Euch keinen Zwang auf – Ihr habt das mit uns nicht nöthig.«

»Erlaubt, daß ich Euch begleite,« sagte Elmerice, mit Ehrfurcht ihr näher tretend, »ich bin in dem Glauben meines Vaters erzogen, der Katholik war.«

»Nun dann, willkommen!« sagte Veronika, sichtlich erfreut, »so wollen wir denn Gott gemeinschaftlich danken für Eure glückliche Reise.«

Durch den anmuthigen Garten, der mit dem Kirchhofe zusammen hing, gelangte man nach der kleinen, aber schön und reich gebauten Kapellenkirche, welche im Innern und Aeußern zeigte, daß Fürsten aus dem stolzen Hause Valois hier ihre Gebete verrichtet hatten. Die großen Thüren standen weit geöffnet, und es war ein unbeschreiblich erquickender und friedlicher Anblick, von dem Hochaltar aus, wo die Andächtigen sich knieend versammelten, in die grüne Nacht des Frühlings zu schauen, der eben, wie die Menschen, seine letzte Andacht vor den Strahlen der sinkenden Sonne zu feiern schien. Doch vor Allem zog [94] Elmerice der Anblick des Geistlichen an. Dieser ehrwürdige Greis, mit seiner milden, hellen Stirn und den klaren blauen Augen, die unter der Decke der weißen Brauen so tief leuchtend hervorblickten – welch' ein Bild geistlicher Reinheit, über die Erde hinausreichenden Friedens! – Elmerice blickte, sich ganz darin verlierend, in sein Angesicht, als forsche sie darin dem erhabenen Geheimnisse nach, die Welt liebevoll im Arm zu behalten und von ihr nicht mehr gekränkt, nicht mehr verletzt zu werden. – Sehnsucht nach diesem Zustande, Schmerz um den unvollendeten Kampf darnach, ließen sie endlich die Thränen finden, die uns nicht banger, sondern leichter machen.

Eben so anziehend blieb dieser Greis in seinem Hause, wo er bald nachher seine Gäste bewillkommte; ja, Elmerice hatte das wohlthuende Gefühl, daß sie das Interesse der beiden ehrwürdigen Geschwister auf sich zog, und konnte nicht ohne den innigsten Dank daran denken, in diesem Augenblicke, nach so viel widerstrebenden Gefühlen, die sie erlebt, in diese stille klösterliche Atmosphäre versetzt zu sein.

Mit der Bevorrechtung des Alters und des Standes forschte er Elmerice über Aeltern, Geburtsort, Erziehung und Grund ihrer Herreise aus; dabei lag aber offenbar ein näheres Interesse, als das der Neugierde, diesen Fragen zum Grunde, so daß Elmerice sich in nichts verletzt fühlte.


Madame St. Albans hatte eingewilligt, sich erst am andern Morgen ihrer Mutter zu nahen, da sie dann den alten Arzt des Schlosses, der jeden Morgen beim Vikar vorkam, sprechen, und durch ihn den Eintritt bei ihrer Mutter vorbereiten und erbitten lassen konnte. Elmerice sah erst jetzt, mit welcher Sorge und Angst der Gedanke an die Aufnahme dieser wunderlichen [95] Mutter Madame St. Albans erfüllte, und die Ueberzeugung, wie viel sie gewiß in diesem unnatürlichen Verhältnisse schon habe leiden müssen, erfüllte sie mit Mitleid und mit erhöhter Achtung gegen dies dennoch nicht einen Augenblick dadurch gehinderte Pflichtgefühl der Tochter.

Die Nachtruhe der noch immer angegriffenen und reizbaren Frau war daher auch ganz gestört, und Elmerice sah mit Sorge, wie blaß und leidend ihr Ansehen am andern Morgen war. Der erwartete alte Arzt erschien schon an der Thüre auf seinem bequemen Maulthiere, als man noch um das einfache Frühstück versammelt war.

Auf die Ankunft der Madame St. Albans vorbereitet, war er doch, gleich den Uebrigen, gar nicht über ihren Empfang sicher. »Ja,« sagte er, »ein Paar Tage früher, wo sie kein Bewußtsein mehr hatte, da hättet Ihr eintreten können, und sie pflegen, so viel Ihr gewollt hättet; jetzt aber, da wird sie sich, wie gewöhnlich, weigern – denn geändert hat sie sich nicht,« setzte er lachend hinzu – »halb mit Gewalt, oft daß wir beide uns im Zorn überbieten, setze ich das Nöthige durch – und doch, und doch, wollt Ihr es glauben, noch nie erreichte ich es, daß sie des Nachts Jemand bei sich behielt. Asta, das arme Ding, die bei Tage wohl einschlüpfen darf, muß ebenfalls zur Nacht sie verlassen, und halb besinnungslos, ja, weiß Gott, halb sterbend, verrammelt sie noch die Thüren hinter uns. So kann sie einmal des Nachts verscheiden, ohne daß wer darum weiß, und wenn wir oft des Morgens lange an die Thür hämmern müssen, um Einlaß zu erlangen, so denke ich, die Hand zum Oeffnen sei da drinnen nunmehr erstarrt. Doch ich will zu ihr, liebe Frau,« fuhr er fort, sich zu Madame St. Albans wendend, »und sehen, was ich thun kann, denn wahrlich, Pflege hat sie nöthig, und solch' Ding von zwölf Jahren, so gut die Asta ist, das hilft doch nicht viel.«

[96] Elmerice, die sich aus Bescheidenheit bei Ankunft des Arztes entfernt hatte, trat in dem Augenblicke ein, als der kleine lebhafte Mann sich entfernen wollte.

Es war unverkennbar, daß er bei ihrem Anblick erstaunte, überrascht stehen blieb und seine großen runden Augen mit einem so forschend-fragenden Blick auf der Eintretenden hafteten, daß Elmerice, davon verlegen werdend, nicht wußte, wo sie die ihrigen hinwenden sollte.

Veronika und ihr Bruder warfen sich Blicke des Einverständnisses zu, und der Vikar trat dem alten Arzte näher. – »Nicht wahr, verehrter Freund, auch Euch trifft bei dem Anblicke des Fräuleins eine Erinnerung, wie uns Beide?«

»Weiß Gott,« rief der Arzt, »so viel Aehnlichkeit sah ich noch nie! – gewiß, wir meinen dieselbe.«

»Wen denn? wen denn? Was meint Ihr denn?« – rief Madame St. Albans in ungeduldiger Neugierde, »mit wem hat Miß Eton Aehnlichkeit?«

»Lassen wir das,« erwiederte ernst der alte Arzt, »wozu die Todten wecken? – Vergebt, liebes junges Fräulein, das unhöfliche Erstaunen eines alten Mannes! Gott hat Euch mit hoher Schönheit gesegnet, und aus Euren Augen blickt etwas, was die Seele verbürgt, die in Euch wohnt – und so möge Euch denn Gott behüten, daß Euer Schicksal glücklicher sei, als das derjenigen, der Ihr gleich sehet, als ob Ihr ihre Tochter wäret – wenn Eure Jugend das nicht unmöglich machte.«

Es lag etwas so Feierliches, so ernst und tief Gerührtes in diesen Worten und in dem Ausdrucke des Greises, daß Elmerice, davon erschüttert, aufs Neue die Ahnung eines ihr näher rückenden Verhängnisses empfand; und blaß und melankolisch zu ihm aufblickend, sagte sie bang: »Ich werde meinem Schicksale nicht entgehen, es erwartet mich schon auf dem Wege, den ich so eben betreten.«

[97] Der Arzt hörte sie nicht mehr – sein Aufbruch ließ diese schweren Worte auch von den Andern überhören, und so war es Elmerice allein, die davon ergriffen ward, als habe nicht sie, sondern ein Anderer aus ihr hervor, die Bestimmung ihrer Zukunft ausgesprochen.

So schneiden oft Worte tief ein, die wir in seltenen Augenblicken des Lebens aussprechen, an uns selbst zum Propheten werdend und uns der Stellung entgegen treibend, die uns nah gerückt ist, wenn auch noch verhüllt. Das wohlthätige Geheimniß, worin die Zukunft verschleiert liegt, scheint dann von der ihr entgegen greifenden geistigen Kraft in uns für Momente aufgedeckt zu werden. Wir fühlen mit untrüglicher Wahrheit Menschen, Verhältnisse, Orte, die noch beziehungslos zu uns erscheinen, als einschreitend in die wichtigsten Verhältnisse unseres Lebens; und deckt der nächste Augenblick auch oft so helles Erkennen wieder zu, wir wissen doch in dem schwellenden Herzen, es sei ein neuer Lebensabschnitt gekommen, und ahnungsvolles Erwarten erfüllt unsere Seele. So sehen wir Elmerice. – Still nach ihrem kleinen Zimmer zurückgekehrt, finden wir sie in tiefem Nachdenken noch lange an dem freundlich umgrünten Fenster ruhen, das sie mit seinen im leichten Spiele der Luft nickenden Ranken festzuhalten, und ihr mit dem ruhigen Hintergrunde des kleinen, zellenartigen Zimmers Frieden und unschuldige Ruhe zu sichern scheint.

Ziemlich unsanft unterbrach Madame St. Albans dies sanfter werdende Nachdenken, indem sie heftig eintrat und sogleich, auf Elmerice unruhig blickend, ausrief: »Was das nur für eine Aehnlichkeit ist, von der sie Alle fabeln – ich wüßte nicht, mit wem – und warum sie so geheimnißvoll thun, da die Person todt sein muß! – Aber diese alten Leute, die haben immer so was gehabt, immer nur halbe Worte, und die noch in Frage gestellt, und dann noch besorgt, es werde verrathen [98] werden, was kein Mensch aus solchen Reden errathen könnte – ja wahrlich, alte Jungfern, alte Junggesellen bleiben immer dieselben, sie müssen immer wichtig thun und sich ein Ansehn geben, wohinter nichts ist!«

Elmerice war verlegen, ihr zu antworten; sie sah wohl, daß die Erzürnte mit ihren Nachforschungen abgewiesen worden war, und wußte sie doch nicht zu beruhigen. »Ihr kennt das ehrwürdige Geschwisterpaar wohl lange schon?« hob sie daher schüchtern an.

»Ja, ja, lange genug! seit ich hier überhaupt bekannt bin, kenne ich sie auch,« erwiederte Madame St. Albans, sich niedersetzend, aber noch immer in höchst mißmuthigem Tone. – »Es sind brave, gute Leute, das läugne ich nicht! sehr gute Leute, wohlthätig und fromm, wie es ihr Stand nur wünschen läßt, und traurig genug, daß meine arme Mutter auch sie nicht zu sehen begehrt; da hätte sie doch einen menschlichen Umgang – aber so – seht, das thut keinem Menschen gut, so für sich zu sein; ich habe das auch über Eure Gräfin gesagt, die wird auch mit der Zeit menschenfeindlich werden.«

»Dazu ist vorerst bei ihr noch wenig Anlage,« erwiederte Elmerice, »sie sucht das Geräusch der Welt nicht, aber sie ist Jedem zugänglich geblieben, dem Unglücklichen, wie dem Glücklichen.«

Mißmuthig schwieg Madame St. Albans, als plötzlich ein allerliebster Kinderkopf in das niedrige Fenster hineinsah und mit leiser Stimme frug: ob hier die fremden Damen wohnten?

»Bist Du Asta?« rief Madame St. Albans – »und kömmst Du vom Schlosse?«

»Ja, Madame,« sagte das schöne zwölfjährige Kind – »Ihr sollt Euch eilen, mir zu folgen – Mistreß Gray ist sehr krank.«

[99] »Ach, großer Gott,« schrie Madame St. Albans todtenbleich, »so stirbt sie doch wohl!«

»Seid doch nur ruhig!« rief Asta – »sie wird ja nicht gleich sterben – so habe ich sie schon oft gesehen.«

Doch Madame St. Albans war so erschüttert von der Nachricht, daß sie beim Aufstehen zu schwanken begann und Elmerice sie in ihren Armen unterstützen mußte.

»Ich werde Euch führen,« sagte Elmerice, nach ihrem Hute greifend, »und so weit mitgehen, als mir vergönnt sein wird.«

Schweigend genehmigte Madame St. Albans dieses Anerbieten, und beide gingen, von Asta geführt und von den Segenswünschen der guten Geschwister begleitet, den schweren Weg.

Von den großen Alleen, welche zu den verschiedenen Eingängen des Schlosses führten, leitete Asta ihre Begleiterinnen seitwärts in ein kleines wildes Gehölz, womit eine eben so grade und regelmäßig gepflanzte Allee verwachsen war. Der Fußsteig war hier schmal und uneben, kaum für zwei Personen gangbar, und erlaubte nur einige Schritte weit um sich zu sehen. – So standen sie plötzlich an einer verfallenen Treppe – Asta winkte Elmerice geheimnißvoll zu, und Madame St. Albans, die den Ort erkannte, machte seufzend ihren Arm von ihrer jungen Führerin los. – »Geht nun mit Gott zurück und betet für mich, Elmerice, mein liebes Kind! Wann ich Euch wiedersehe, weiß ich freilich nicht, Nachricht werdet Ihr wohl von mir hören.« – Tief gerührt nahm Elmerice nun Abschied und beschwor sie, ihr jede Möglichkeit anzugeben, wodurch sie ihr dienen und zur Pflege ihrer Gesundheit beitragen könne.

Aber kaum wußte Elmerice, ob die arme Frau ihre Rede verstanden habe; denn bleich und in trübes, tiefes Nachdenken versenkt, wandte sie sich ab und stieg an Astas Hand die Stufen hinan, die in eine Art Thoreingang führten und jetzt Beide den Blicken der besorgt Nachschauenden entzog.

[100] Längst waren sie verschwunden, kein Geräusch, keine Bewegung ließ die Ahnung aufkommen, daß hier menschliche Wesen existirten; aber Elmerice blieb wie gefesselt auf der Stelle stehen, als müsse sie ihnen nach, als könne sie nicht zurückbleiben. Das Gefühl, das sie seit gestern empfand, trat hier noch mächtiger hervor. – Wie zu einer nothwendigen Leistung trieb es sie dem geisterhaften Schlosse zu, und mit nie gekanntem Entsetzen, mit dem tiefsten, bangsten Schmerz schien es sie wieder zu verjagen. Sie blickte nach einem Ausweg, der sie in anderer Richtung führen könnte, sie wollte, sich selbst überlassen, einen Eindruck, der so mit seiner Unklarheit sie quälte, verstärken oder mildern durch einen ungestörten Anblick des Schlosses. Sie arbeitete sich durch das Gestrüpp bis zu den Stämmen der Bäume und befand sich bald auf einem freieren Standpunkte, von wo sie eine neue Ansicht des Schlosses gewann, von dem sie jetzt durch einen niedrigen Wall und ein dahinter laufendes Wasser getrennt war. Auf einer festungsartigen Uebermauerung zeigte sich hier die älteste Seite des Schlosses, die fast nur aus aneinandergereihten Thürmen in den verschiedensten Höhen und Dimensionen, mit sehr beschränkten Verbindungsmauern versehen, bestand. Der graue Schieferstein des Unterbaues, die spitzen, niederhängenden Thurmdächer mit gleicher Schieferdeckung, die schwärzlich überzogenen Mauern und Wände der erhaltenen oder schon eingesunkenen Räume gaben auch von hier aus nur eine Bestätigung des empfangenen Eindrucks, den sie sich nicht anders klar zu machen wußte, als indem sie sich eingestand, nicht einem Bauwerke gleiche dies wunderbare Schloß, sondern aneinander gedrängten Geistern, die in den abweichendsten Verkappungen sich verbunden hielten, hier ihre Herrschaft zu behaupten. – »Ihr widersprecht durch Euer Ansehen nicht den grauenvollen Berichten, die an Euren Namen haften und die Phantasie der Menschen mit Schauer erfüllen« – seufzte [101] Elmerice, »und wer weiß, was die Zukunft noch für mich in Euren Mauern birgt!« – Sie versuchte der Richtung, die der Wall und das schmale Wasser gaben, zu folgen, und es gelang ihr, so einen Theil des Schlosses zu umkreisen, das an der erwähnten Seite nur die Spitze, vielleicht das kleine Jagdschloß, welches zuerst hier erbaut ward, zeigte, und sich beim Weitergehen vor Elmerice in seiner späteren bedeutenderen Ausdehnung entwickelte – aber dieser spätere Theil, der schon unter Heinrich dem Zweiten entstand, war doch in seiner Architektur, wenn auch fürstliche Pracht beabsichtigend, düster und überladen, und der jetzt durch die Zeit entstandene Verfall desselben nicht minder schwermüthig und unheimlich. – Vor Allem aber bewegte sie der Anblick des düsteren Eingangthores; in drei Terrassen, welche durch Gräben von einander getrennt waren, worüber Brücken führten, stieg das Terrain bis zu dem größeren Hofe empor, der mit eisernen Gittern verschlossen war. Um diesen Hof schienen die Hauptzimmer des Schlosses zu liegen; aber wie düster mußte ihr Inneres sein, da hier das Grabmal des ersten Besitzers aus dem Hause Crecy, von hohen Ulmenbäumen umgeben, stand, welche ihrem eigenen Triebe überlassen, ihre weiten Zweige beschattend über den ganzen Raum verbreiteten.

Elmerice hatte wie eine Träumende die Terrassen erstiegen und stand gegen die Stäbe des Gitters gelehnt, und schaute in den Hof und fühlte nicht, daß ihre Kniee bebten, ihr Mund den kurzen, gepreßten Athem nur noch hervorseufzte. Sie starrte hinein, als müsse sie jetzt sehen oder erfahren, was ihr Aufschluß gäbe über das, was ihre Brust in gleichem Maaße hier anzog und zurückstieß. Aber es ward ihr kein Aufschluß – Todtenstille herrschte in dem schauerlichen Raume, und alle Zeichen der Verödung drängten sich ihr auf. Das Grabmal selbst schien eingesunken, und seine äußeren Trophäen durcheinander gefallen; zwischen dem weißen und schwarzen Marmorpflaster [102] des Hofes drängte sich der Rasen, die Freitreppen, die an den Zimmern emporstiegen, waren von der überall sich anbauenden Vegetation der Moose und Schlinggewächse überzogen, oder lagen mit zerbrochenen Stufen und Geländern halb verfallen auf dem Pflaster – und der vorrückende Abend sowohl, wie der Schatten der Bäume, verhinderte den Blick in die Gemächer, zu denen sie führten, und die wie weite Grabgewölbe dahinter lagen. Längst war Schloß und Riegel an dem Thore verwittert; sie sah, daß es nur von ihr abhing, in den Hof zu treten, aber die Scheu, die sich ihrer bemächtigt hielt, war stärker, als der Trieb der Neugierde oder romantischer Sehnsucht, der sie so weit geführt hatte.

Langsam, mit gepreßtem Herzen wandte sie sich ab und verfolgte den Fahrweg unten am Schlosse, der sie der Wohnung des Vikars entgegenführte.

Aber hier, wo kein Schrecken Raum oder Nahrung fand, verließ sie die krampfhafte Anspannung, unter der sie sich aufrecht erhalten hatte, und sie konnte den zärtlich besorgten Fragen der gütigen Geschwister nur durch Thränen antworten.

In großer Unruhe hatten die ehrwürdigen Alten ihr langes Ausbleiben bemerkt, da der Arzt bei seiner Rückkehr versicherte, die junge Dame nirgends gesehen zu haben. So klar und ruhig sie auch in ihrer Weise dem Leben gegenüberstanden, so ganz konnte wenigstens Veronika nicht siegen, um nicht an die schrecklichen Gerüchte über das Schloß von Ste. Roche eine allgemeine Befürchtung, ein unerklärtes Grauen zu knüpfen, das seine Nahrung fand in Thatsachen, welche in ihre Zeit fielen.

Elmerice ward nicht mit unbescheidenen Fragen belästigt, aber man nöthigte die ganz Erschöpfte, etwas Nahrung zu sich zu nehmen; und Veronika führte sie dann nach ihrem Zimmer und ruhte nicht eher, bis sie sich entkleidet und in erquickender [103] Ruhe hinter den weißen Vorhängen ihres kleinen Bettes niedergelegt hatte. Veronika nahm an dem offenen Fenster mit ihrem Andachtsbuche Platz, und Elmerice, die durch die Vorhänge die balsamische Frühlingsluft fühlte, wie sie, über die Blumen und Blüten des Gartens ziehend, in diese stille Zelle eindrang, genoß den ganzen Zauber der Ruhe, und lenkte ihre Gedanken nur noch auf das liebliche Gesumme der Bienen und den leise verhallenden Abendgesang der kleinen gefiederten Welt. Bald lag das Erlebte, so fremd der friedlichen Gegenwart, wie ein böser Traum hinter ihr – und als Ave Maria geläutet ward, fand sie sich vollkommen gerüstet, die gute Veronika nach der Kirche zu begleiten.

In der erquickenden Abendluft, zwischen den ruhig klaren Gestalten dieser kindlichen Menschen nahm sie später das einfache Abendbrod ein, und theilte ihnen dann den seltsamen Eindruck mit, von dem sie sich belastet fühlte, in ihrer längeren Erfahrung Auskunft suchend für dies räthselhafte Gefühl.

Vielleicht erwartete sie, Beide würden ihr Vertrauen mit der Mißbilligung aufnehmen, die alte Leute geneigt sind den ungewöhnlichen Gefühlen der Jugend entgegen zu setzen, und Elmerice, die sich sehnte, von dem Eindrucke, den sie erfahren hatte, erlöst zu werden, hoffte vielleicht auf eine Auskunft in der Erwiederung ihrer ehrwürdigen Wirthe; aber sie irrte sich. – Schweigend, nur mit einzelnen theilnehmenden Aeußerungen, hörten Veronika und der Vikar bis zu Ende – und dann bemächtigte sich die Erstere ihrer Hand, und ihre Augen standen voll Thränen, indessen der Vikar in seiner natürlichen Weise sie sanft zu trösten suchte.

»Ich muß es herzlich beklagen, daß Ihr so bald von dem Schrecken erreicht wurdet« – fuhr er liebreich fort – »den das alte Schloß fast in der ganzen Gegend verbreitet – obwohl ich Euch tadeln muß, so ohne Veranlassung Euch dahin begeben zu [104] haben, weil wohl manches Bedenken dabei sein möchte, da Alles ohne Aufsicht steht und leicht zur Wohnung von Menschen dienen kann, denen der Verruf des Ortes willkommen wäre. Viel Trauriges und wahrhaft Entsetzliches ist in diesen Mauern geschehen, und die Zimmer, denen Ihr am Gitter gegenüber standet, und die Ihr wahrscheinlich, von den Bäumen gedeckt, nicht sehen konntet, sind bezeichnet durch den schrecklichen Tod des letzten Grafen von Crecy, der hier sein Leben verlor, obwohl darüber ein Geheimniß ruhet, das nie ganz aufgedeckt ward, da der Prozeß, nachdem er über das Lebensglück vieler Menschen entschieden, unterdrückt und der verfolgte Thäter den Gerichten entzogen ward. Seitdem der unglückliche Prozeß hier die Richter zur Anschauung des Ortes, wo die That geschah, nothgedrungen zusammen führte, ist das Schloß geflohen worden, als ob Jeder dort sein Leben wage, und wenige Arbeiter sind zu bewegen, die von dem neuen Verwalter nöthig befundenen Ausbesserungen oder Reinigungen vorzunehmen.«

»Also wirklich,« rief Elmerice mit unbeschreiblicher Bewegung und todtenbleich – »wirklich, hier starb der letzte Graf von Crecy, und so ging der Todesruf des armer Marquis Spinola in Erfüllung?«

»Ich merke,« lächelte der Greis – »Ihr seid schon gut bekannt mit unsern schlimmen Sagen, und kann nun begreifen, wie Ihr so schnell trachtetet, Euch selbst zu unterrichten – nur erstaune ich, so viel Muth und Furchtlosigkeit in Euch zu entdecken.«

»Vielleicht nicht mehr, ehrwürdiger Herr, als ich selbst« – sprach Elmerice mit erröthenden Wangen – »aber ich möchte dies ein Zauberschloß nennen, wenn ich des Eindrucks gedenke, den es auf mich gemacht hat. – Ich fühle das tiefste Grauen davor, zugleich einen Schmerz, eine Wehmuth, wie um einen unglücklichen Menschen! ich möchte es nie gesehen haben, und werde davon angezogen, wie von magnetischer Gewalt!« –

[105] »O, o, mein armes Kind!« – rief hier fast erschrocken Veronika – »laßt uns beten! Eure Seele ist wohl nicht ganz bei Gott! – verzeiht,« setzte sie zärtlich hinzu, hinter Elmerice tretend und sie mütterlich besorgt anblickend – »wenn so eine irdische Qual uns ganz einnehmen will, dürfen wir immer fürchten, daß wir Gott nicht ernstlich genug suchten, und müssen uns durch treues Gebet und den Beistand betender Freunde bestreben, so harte Versuchung abzuwenden.«

»Ach, ja,« rief Elmerice sanft erweicht und drückte Veronika's zitternde welke Hand an ihre Lippen – »es ist viel eigner Wille in mir, und eine verlockende Sehnsucht nach dem Glücke dieser Erde; zu lebhaft fühle ich mich ergriffen von Schmerz und Kümmerniß, um immer recht fromm sein zu können – die rechte Demuth fehlt mir.«

»Nun, nun,« – sagte mild und begütigend Veronika – »warum solltet Ihr in so zarter Jungend auch schon dahin gekommen sein; wonach wir bis in unser höchstes Alter streben, aufrichtige Erkenntniß dessen, was uns gebricht vor Gott, läßt nicht zu, daß wir abwärts wandeln in leidiger Selbstzufriedenheit.« –

»Das Maaß,« sagte der Vikar, »ist in allen geistigen Dingen die wahre Demnth! Weder Ueber- noch Unterschätzung unseres Werthes. Freude haben an dem Fortschreiten des Guten in uns und es erkennen wollen an dem Zusammenhange mit Gott, das arbeitet dem Bösen besser entgegen, als eine Zerknirschung über unsere Fehler, die uns bange und verwirrt macht, und den Frieden der Seele stört, ohne den wir nie gottgefällig sein können. Wahre Demuth, gutes Kind, erträgt eben die Erkenntniß der mangelhaften Natur in sich, ohne in Unruhe und verderbliche Ungeduld zu gerathen – sie glaubt eben auf eine Seligkeit fehlerfreier Existenz gar nicht Anspruch machen zu können, und trägt die kranke Seele und hofft voll [106] Vertrauen auf den Arzt, der sie langsam ausheilen hilft. Unsere Schwachheiten zu vergrößern, daß wir uns davor entsetzen, ist auch eine gefährliche Richtung der Seele, weil sie uns das Gefühl von Unwürdigkeit giebt, was uns von Gott entfernt, indem wir in solcher Stimmung nicht zu ihm aufzusehen wagen, und das ist dann der gewisseste Rückschritt.«

»Ach,« rief Elmerice, »welche große Wahrheit geht so gelinde aus Eurem Munde! O, verschmäht es nicht, mir Eure Weisheit mitzutheilen, da Gott mich zu Euch geführt hat. – Ich will es nicht leugnen, mein Herz schlägt muthlos und bang, und ich bin zweifelhaft, ob mich meine eigenen Fehler quälen oder die Ahnung eines nahen größeren Unglücks.«

»Ich sah Euch bald diese Stimmung an,« erwiederte freundlich ernst der Vikar, »und wußte nicht, ob überstandene Leiden oder irgend ein fortnagendes Gefühl Euch diesen Stempel muthloser Traurigkeit aufgedrückt hatten. – Es wirkt wohl, denke ich, Beides in Euch!« fuhr er fort, da Elmerice ihren Kopf senkte und einzelne Thränen in ihren Schooß fielen, »und aus diesen gesteigerten Empfindungen entsteht eine willige und harte Selbstanklage, wie Ihr sie eben gegen Veronika aussprachet. Nicht Vorwürfe will ich Euch machen, denn meine lange Erfahrung hat mich gelehrt, daß die, welche geistige Hülfe geben sollen, sich sehr bedenken müssen, ein Gemüth zu zerknirschen. Der Tadel, den wir zu dem vorhandenen aufgeregten Zustande hinzufügen, kann das Entgegengesetzte bewirken. Ist das Gemüth sanft und zart, wird es in ihm die Furcht erregen, daß es sich nie wieder mit Gott versöhnen könne – und nicht oft genug kann ich wiederholten, dies für die gefährlichste Furcht zu halten, da sie in Wahrheit gottlos wird. – Ist aber das Gemüth stolz und hart, wird es wieder unsere Pflicht sein, ihm seine Fehler leicht zu machen, das heißt, sie ihm zu erklären, ihr Entstehen betrachtend mit ihm durchgehen, dasselbe nicht mit dem scharfen [107] Worte, wovor die ungewohnte Seele erschrecken würde, auf Gott zu verweisen, aber es zu leiten, daß es ihn selbst endlich entdecke, daß er aus ihm hervorträte, selbst geboren durch den freieren Zustand der Seele. Blinder Eifer verfehlt immer das Ziel – und wehe, wehe, wenn wir erst dem eitlen Verstande gelehrt haben, durch Streit und Widerstreit den schwachen Punkt des kranken Innern zu vertheidigen! – Lange bleibt ein so durch unsere Schuld gereiztes Wesen wohlgefällig verschanzt hinter diesem dürftigen Bollwerke seiner Eitelkeit und glaubt, der Feind, von dem es sich immer tiefer verwundet fühlt, komme von ganz anderer Seite her. Bitter und krankhaft, kleinlich und schwach hängen sich solche Geister oft an die äußere Gestaltung des Lebens, und sie verlieren zuletzt ganz die Krast der Seele, die nöthig wäre, ihr schwächliches Treiben zu durchschauen und das Unzureichende ihrer Schlüsse zu erkennen. – In dieser Ueberzeugung beruht auch meine Ansicht über die unglückliche Mistreß Gray, die durch ihre ganze Lebensweise so viel Furcht und Schrecken erregt. – Daß sie Herbes erlitten, ohne den Zusammenhang mit Gott finden zu können, da ihre Seele schwach und hochmüthig zugleich war, ist mir, der ich zu lange hier bin, um nicht Manches von ihrem Schicksale zu wissen, sehr klar geworden – daß sie eigentlich böse sei, wie mindestens ihr zuerkannt wird, widerlegt ihr Vertrauen zu Kindern, die Liebe derselben zu ihr, und daß ich die, die sie auswählte und um sich behielt, zu den besten Kindern, Mädchen und Frauen meines Kirchspiels rechnen muß, obwohl es mir schwer werden würde, dies anders zu erklären, als daß sie früher ernst wurden, ihr Nachdenken geschärft und erweckt ward, und sich bei ihnen eine Abneigung gegen alle Rohheiten vorwaltend zeigte. Dir, meine Tochter, rathe ich übrigens, das Schloß zu vermeiden, und hier in unserer stillen Klause – in der Gesellschaft meiner frommen Schwester Veronika Deinen Geist und Dein Herz zu beruhigen.«

[108] Voll Dank und Ehrfurcht trennte sich Elmerice von den würdigen Geschwistern, die sie freundlich segnend zur Nachtruhe entließen.

Elmerice hielt Wort und bekämpfte ihr unruhiges Treiben, sich der Stille hingebend, die sie aus dieser einfach ruhigen Häuslichkeit anwehte. Geräuschlos und ohne alle anscheinende Betriebsamkeit ging hier Alles einen so wohl überlegten regelmäßigen Gang, daß die Wirthschaft vergessen war durch ihre stille Ordnung, und ein viel höherer Endzweck des Beisammenseins unbefangen von selbst hervortrat. – Der Vikar war viel außer dem Hause beschäftigt, da er thätig und sorgsam, wie ein Vater, für alle seine Anbefohlenen sorgte; aber man sah ihm an, er kehrte gern dahin zurück, und hatte stets für die fromme Veronika alle Aufmerksamkeit einer auf hohe Achtung begründeten Liebe.

Sie sah dagegen zu ihm auf, wie ein Kind zu seinem Vater – ihre Liebe und Verehrung zu ihm war der Inbegriff ihrer ganzen Empfindung, und obwohl sie fest und ruhig ihren Standpunkt übersah, hatte doch ihre ganze Betriebsamkeit ihn, sein Wohl, seine Ansichten, seinen Willen zum Endzweck. – Dieser wohlthuenden Häuslichkeit wußte Elmerice leicht ihre Beschäftigungen anzupassen, die außer ihren Handarbeiten in der Führung eines regelmäßigen Tagebuches für ihre englischen Freunde bestand. Zwar waren diese Blätter an Maria Duncan gerichtet, aber Veranlassung dazu war der alte, sie zärtlich liebende Lord Duncan-Leitmorin, dem sie hatte angeloben müssen, hierin die Wahrheit nieder zu legen, damit er stets zu ihrem Schutz und ihrer Hülfe herbei eilen könnte, im Fall sich dies nöthig zeigen sollte.

Von Madame St. Albans bekam sie nur Nachrichten durch Asta oder den alten Arzt, die aber kurz und einsilbig Mistreß Gray als sterbend, Madame St. Albans als kränkelnd darstellten. [109] Elmerice hatte ihre ganze Ueberzeugung nöthig, weder einschreiten zu können, noch zu dürfen, um die Unruhe zu beherrschen, die sie bei dem Gedanken bewegte, die arme kränkelnde Frau ohne Unterstützung als Pflegerin einer Todtkranken zu wissen. Oft machte sie mit Veronika Pläne, wie sie ihr nützlich werden könnte, ohne die wunderliche Alte zu beunruhigen; aber trugen sie solch' einen Plan dem alten Arzte vor, wies er jeden ohne Weiteres zurück, immer mit denselben Worten! »Das geht nicht!«

Nach acht Tagen liefen Briefe von Herrn St. Albans ein, und Elmerice empfing eine Einlage von der Gräfin d'Aubaine. Mit mütterlicher Liebe bedauerte sie die lange Trennung und deren Veranlassung, und fügte dann hinzu: »Der Aufenthalt meiner lieben Gäste wird indessen durch ein unerwartetes Ereigniß verlängert. Meine liebe Lücile ging mit ihrem Gemahl erst nach einem andern Theile der neuen Besitzungen, und der junge Graf Leonce, der sie zu mir begleiten wollte, schlug es aus, ihnen dorthin zu folgen, Ardoise und die Nähe einer Garnison in Rocheville, wobei er Freunde zählt, vorziehend. – Als meine Nichte hier ankömmt, hört sie voll Erstaunen, daß ich Leonce noch nicht gesehen habe. Wir schicken nach Rocheville, und dort weiß ebenfalls Niemand etwas von ihm. – Höchst besorgt erwarten wir d'Anville, welcher Lücile vorangeschickt hatte. Dieser ist sogleich entschlossen, Nachforschungen in weiterer Ausdehnung anzustellen, als ihn am Abend desselben Tages noch der Diener des Grafen Leonce zu sprechen verlangt. Gleich darauf bittet mich d'Anville um meinen bequemsten Wagen und entdeckt mir, daß Leonce schon seit einigen Wochen an einem höchst gefährlichen Armbruche in dem Waldhause von Ardoise darnieder liege.«

Veronika hörte in dem Zimmer ihrer jungen Freundin einen lauten Schrei – so schnell sie vermochte, eilte sie es zu [110] erreichen, und sah hier zu ihrer schmerzlichen Ueberraschung Elmerice, von ihrem Fenstersitze herabgesunken, ohnmächtig am Boden liegen. Der offene Brief in ihrer Hand ließ auf eine empfangene Gemüthsbewegung schließen, und die ehrwürdige Veronika bemühte sich daher, ihren jungen Gast zu beleben, ohne ihren Zustand der weiteren Aufmerksamkeit preis zu geben. Auch bestätigte das erste Bewußtsein, was bei der Erschütterten eintrat, diese Voraussetzung, denn unter bangem Ringen der Hände brach sie in einen endlosen Thränenstrom aus. – »Fasse Dich, mein armes Kind!« sprach Veronika sanft, als sie dem trostlosen Blicke der Leidenden begegnete – »ich brauche Deinen Kummer nicht zu kennen; für allen, der vorhanden, paßt das Eine: daß wir Gott vertrauen müssen und unsere Seele still erhalten sollen vor allem zu heftigen Antheil an irdischer Noth.«

»Ich will mich fassen,« sagte Elmerice, »ich fühle, was Ihr sagen wollt. – Ach, theure, ehrwürdige Frau, wie wenig war ich auf so tiefes Weh vorbereitet, als mir jetzt geworden ist! o, vergebt dem schwachen Mädchen!«

»Mein süßes Kind!« rief Veronika zärtlich – »wie kannst Du mich so beschämen, was hätte ich Dir zu vergeben – Du Arme! die Du so schwere Leiden dulden mußt, wie ich vielleicht sie niemals kannte – und bist doch sanft und nachgiebig gegen meinen unvollkommenen Zuspruch! – Jetzt gehe ich aber lieber: Dir ist wohl besser mit Dir allein; nur falle mir nicht wieder – sondern ruhe Dich lieber auf Deinem Lager aus.«

Wie oftmals noch die Augen getrocknet wurden, ehe Elmerice die Schriftzüge ihrer ehrwürdigen Freundin wieder zu erkennen vermochte, wollen wir nicht belauschen – endlich las sie weiter: »Noch an demselben Abend brachte d'Anville den theuren Kranken hieher, und er giebt uns bei der sorgfältigsten Pflege jetzt die Hoffnung der Genesung. Du würdest diesem ausgezeichneten jungen Manne Dein Interesse nicht versagen,« [111] fuhr der Brief fort – »und obwohl ich mit Bedauern sehe, wie seine sonst glänzende Heiterkeit ganz von ihm gewichen ist, bleibt ihm doch eine Tiefe des Geistes und eine Fülle des Gemüths, wie ich sie selten vereinigt sah. Seinen Unfall kleidet er stets scherzhaft ein – er behauptet, er habe mich, wie ein irrender Ritter, mit der Flinte im Arm überfallen wollen, sei in die Felsen des Ardoiser Waldes gerathen, und von den Geistern gelockt, sei er in einen Abgrund gestürzt, wobei er sich den Arm gebrochen habe. D'Anville schüttelt jedes Mal den Kopf bei dieser Erzählung und wir Frauen haben daher aufgegeben, den Scherz zu verfolgen, den anfänglich Lücile mit ihrer unerschöpflichen guten Laune in allen Nüancen ausspann. Vielleicht erleben wir einen günstigen Einfluß durch ein schönes, junges Mädchen, meine Nichte, die Tochter meines Bruders, welche Lücile bei ihrem Besuche den Aeltern abgeschwätzt hat, um mir eine Freude zu machen und auf ihrer weiteren Reise sie mit sich zu führen, vielleicht Leonce eine Aussicht des Lebens zu eröffnen, die allerdings wohl die mildeste Kurart für ihn werden möchte.«

Da versiegten die Thränen, welche Elmerice so zahllos vergossen; sie war plötzlich still – sie dachte – ruhig.

Sehr überrascht waren die Bewohner des Pfarrhauses zu Ste. Roche, als der alte Arzt am Abend noch ein Mal an der Thüre still hielt und Asta zeigte, die weinend hinter ihm auf dem alten Maulthiere saß. – »Es steht nicht gut,« sagte er trübe, ohne abzusteigen – »Asta hat mich gerufen – Beide sollen sich verschlimmert haben.« –

»Mein Gott!« rief Elmerice erschrocken, »und ohne Pflege! Ich bitte Euch,« fuhr sie fort, sich dringend gegen den Arzt wendend, »nehmt mich mit, laßt mich zu der armen Madame St. Albans – sie kann nicht ohne Unterstützung bleiben!«

Der alte Mann lehnte dies Mal nicht so entschieden, wie früher, diese Bitten ab – er heftete nachdenkend seine Augen [112] auf Elmerice und schien besorgt alle Umstände zu prüfen. »Es ist ein böses Ding damit,« hob er dann an – »ich sehe wohl ein, daß Ihr Recht habt, daß Hülfe nöthig ist, aber wie Ihr es anstellen wollt, sie zu leisten, das sehe ich nicht ein – doch ich will hin« – unterbrach er sich – »und ist die Noth groß, so komme ich und hole Euch!« Damit trabte er sogleich auf seinem ruhigen Paßgänger den Baumgang entlang.

Veronika schmiegte sich mit dem wehmüthigsten Gesichte an ihren jungen Gast, und theilte ihr zögernd und fast beschämt ihre Furcht mit für das, was ihr vielleicht bevorstehe: »Gott wird Dir zwar gewiß die Kraft geben, die Du nöthig hast; aber, mein Kind, es sind viele Geheimnisse in der Natur – Gott muß Deinen Geist vor Schrecken bewahren, und Dein frommes Gebet Dir beistehen – dazu gebe er Dir seinen Segen!« fuhr sie fort, die Hände andächtig faltend und in frommer Andacht verstummend.

Ein Gewitter zog herauf. Schwer und mit der schwülen Stille, die sich in die Pulse der Menschen einschleicht, schien die ganze Natur unter dem gewaltigen Drucke der Atmosphäre zu seufzen. Angstvoll die Luft durchschneidend, suchten nur noch einzelne Vögel in der niedrigsten Luftschicht bei den Ahnungen einer nahenden Gefahr in irgend einer Baumhöhlung oder in den Spalten eines Mauerwerks sich zu bergen. Das frische Grün des Laubes, der mannigfache Farbenglanz der ganzen Vegetation, die Gesichter der Menschen selbst, erbleichten in dem fahlen Lichte des schwefelfarbig bedeckten Himmels.

Man hoffte auf den Augenblick, der in seiner heftigen Entwickelung einen leichteren Stand der Dinge herstellen sollte, und zitterte doch für eine nie verbürgte gewaltige Naturerscheinung.

Beide Frauen fühlten doppelt das Drückende dieses Zustandes, da in ihrem Innern sich eine Erwartung von Dingen [113] hinzugesellte, deren Ausgang bei ihren düsteren Anzeichen nicht minder unverbürgt war.

»Wäre nur der Vikar zurück,« sagte leise Veronika, »er würde uns sicher das Rechte rathen, und sein Zuspruch würde Euch stärken und aufrichten!«

»Fürchtet nicht für mich,« erwiederte Elmerice – »bekomme ich die Aufforderung dahin, so gehe ich getrost – so schwach Ihr mich gesehen – es kömmt mir der Muth, wo es gilt – ich erprobte es schon einige Mal.«

»Ach!« rief Veronika zusammenschreckend, denn eben erhob sich in einzelnen Stößen der Sturm, und wehte zugleich die feuerfarbenen Bänder von dem schwarzen Mützchen, das Asta zu tragen pflegte, in die noch geöffnete Hausthür.

Sogleich stand Elmerice auf – das Kind flog ihr mit einem neuen Sturmstoß in die Arme. »Soll ich kommen?« rief Elmerice und bezwang das leise Beben, das sie mit dem Gefühle einer großen wichtigen Begebenheit erfaßte, welche ihr nahe trat.

»Ja, Madame,« stammelte Asta – »Ihr sollt! Aber wie werdet Ihr durch das Unwetter kommen? Ach, es ist fürchterlich da draußen!«

»Gott wird es uns zeigen, Asta,« sagte Elmerice ruhig; »ich hole meinen Mantel und auch für Dich ein Regentuch – dann laß uns ungesäumt gehen.« –

Sie kam gerüstet zurück, und sah jetzt mit Rührung und Dank die tiefe Bewegung, worin Veronika durch den Gedanken versetzt war, ihren jungen Gast zu entlassen. Elmerice kniete zärtlich vor der ehrwürdigen blassen Gestalt nieder, die sich nicht zu erheben vermocht hatte, und bat sie um ihren Segen.

»Ja,« rief Veronika, »den Segen des Himmels will ich auf Dich herab flehen, und mein Gebet soll Stunde für Stunde Dich begleiten. Dich weiter zu schützen, Dir zu helfen, vermag ich nicht, aber Gott wird Dich nicht verlassen!«

[114] »So wird es sein!« sprach Elmerice – »und in diesem Glauben gehe ich getrost von hier.«

Ein frommer Muth gehörte dazu, um dem bangen Berufe unter diesen Umständen entgegen zu gehen. Der Sturm hatte sich mit Alles überwältigender Heftigkeit entwickelt, sein wildes Geheul durchschnitt die hohen Baumgänge und beugte die Gipfel der uralten Bäume, und schleuderte von ihnen nieder, was nicht mehr in voller Kraft Widerstand zu leisten vermochte. Die schweren schwarzen Wolken senkten sich, frühe Nacht verbreitend, und nur der fahle Glanz der unablässig zuckenden Blitze erhellte den Weg, auf dem ein schwaches Kind und die zarte Jungfrau muthig fort schritten. Zuweilen blieben sie an einander geschmiegt stehen, und kämpften so einen Augenblick mit besserem Glücke gegen das Ungestüm des Wetters, dann strebten sie wieder vorwärts, wenn auch in jedem Nerv erschüttert von den Donnerschlägen, die den Boden unter ihren Füßen beben ließen und in dem schreienden Tumulte der ganzen Natur sich die Obergewalt anmaßten. Durch kein Wort, keinen Seufzer konnten sie sich einander mittheilen, und doch fühlten Beide den Trost eines verwandten Lebens, in diesem nur wild für sich streitenden Naturaufruhre.

Elmerice hatte Asta mit in ihren Mantel gezogen und trug das weinende Kind fast in ihren Armen; nur als sie sich dem abwärts führenden Wege nahten, ließ sie sie aus ihrem Verstecke hervor, und hier, in dem schmalen Wege zwischen dem hohen dichten Gebüsche, wo der Sturm nicht so einzudringen vermochte, sammelten Beide wieder etwas Kraft.

Jetzt standen sie vor der kleinen, halb verfallenen Treppe, die von außen gegen einen runden Thurm anlief, der diesen Flügel zu schließen schien. Das Gesträuch hatte sie fast unzugänglich gemacht, und mit der größten Ueppigkeit wölbten sich Zweige und Ranken um das breite Vordach, und zeigten nur wenig von der schwerfälligen Stuckatur, womit es verziert war.

[115] Wenig zu Beobachtungen geneigt, folgte Miß Eton ihrer voranfliegenden Führerin in den kleinen Raum, in den der Untertheil des Thurmes eingetheilt war, und der nur wenige Stufen zeigte, die gegen eine große, breite eichene Thür anliefen. Asta blieb hier horchend stehen, und als sich kein menschlicher Laut vernehmen ließ, wagte sie leise zu klopfen. Es blieb lange unbemerkt, und erst nach dem erneuerten Klopfen der furchtsamen Asta that sich auf einen Moment die Thür auf. – Es war der alte Arzt, aber nachdem er sich von ihrer Gegenwart überzeugt hatte, machte er blos ein Zeichen, daß sie warten müßten, und schloß dann eilig wieder die Thür.


An dem Abend desselben Tages wurde der Theil des Schlosses Ste. Roche, der seit längerer Zeit durch die Sorgfalt des Verwalters allmählig wieder hergestellt worden war, durch mehrere sich darin versammelnde Herren und Damen belebt, die, ihre schwerfälligen Reisewagen verlassend, nun in der muntersten Laune und unter den anmuthigsten Neckereien die so lang verlassenen Räume durchzogen, und von einem Trosse geschäftiger Diener und Dienerinnen gefolgt, eine Eintheilung der Zimmer versuchten, stets gehindert durch absichtliche oder zufällige Mißverständnisse, welche nur die gute Laune der Betheiligten zu vermehren schien.

Am meisten zeichnete sich eine schöne junge Frau durch ihre erfinderische Laune, Alles durch einander zu wirren, und durch vorgegebene Schrecknisse und Andeutungen von Gespensterfurcht Alles in Bewegung zu erhalten, vor den Uebrigen aus. Wir finden in ihr die junge Marquise d'Anville, welche, gar anmuthig in seidene Reisekaputzen gehüllt, die Aufmerksamkeit ihres jungen Gemahls zu fesseln weiß, der sie bald aus einem [116] Winkelchen, wohin sie sich aus Furcht vorgiebt, verborgen zu haben, hervorholen, bald ihr im Fluge nacheilen muß, weil sie sich verfolgt hält von den Gobelingestalten der Wände, oder den geharnischten Thürstehern, welche, in Nischen gestellt, mit Lanze oder Schwerdt die Eingänge zu bewachen scheinen, und, eine große Zierde früherer Zeit, eben so an ihrem Platze blieben, wie die übrigen Möbel des vergangenen Jahrhunderts.

»O, Margot,« ruft sie ihrer jungen Cousine, der Gräfin d'Aubaine, zu – »glaubst Du, daß Tante Franciska Dir Erlaubniß gegeben hätte, uns hieher zu begleiten, wenn sie einen Blick in diesen feierlichen Paradesarg gethan hätte?«

»Ja,« rief die sechzehnjährige Margot, »bereite Dich vor, Lücile, hier alle gewohnten Sitten und Gebräuche hinter Dir zu lassen; denn sieh Dich um, auf welche Weise für unsere Geselligkeit gesorgt ist – an den Wänden herum laufen schwerfällige Bänke, oder eigentlich polirte Holzkisten – o Gott, sei mir gnädig! die Sitze sind Deckel, die sich emporheben lassen.«

»Weiß Gott,« rief die Marquise, »unsere Vorfahren waren bequeme Leute, sie saßen auf ihren Wäsch-und Kleiderkoffern, und hatten so Geld und Kleinodien, Silber- und Tafelgeräth im sichersten Verwahrsam.«

»Und diese Lehnen!« – lachte Margot – »wer gewagt hätte, sich an diesen geschnittenen Ungeheuern zu stützen, hätte sogleich mit blauen Flecken büssen müssen.«

»Hier, Leonce,« rief die junge Marquise, »soll Ihr Gesellschaftszimmer sein; dies ist für Ihre angenehme Laune wie geschaffen. – Jeder von uns nimmt natürlich dem Andern gegenüber, wie Sie es lieben, fein und sittlich Platz, Sie auf jener Wand, ich hier, Margot links, Armand rechts – da liegen zwischen Jedem einige vierzig Fuß, und wir werden uns, ohne Nachtheil für unsere Gehörsnerven, überzeugt halten – Leonce habe uns aufs Anmuthigste unterhalten.«

[117] »Scherzen Sie nur, liebe Lücile,« entgegnete Leonce, »Sie werden hier an Ihrem Zöglinge Wunder erleben – mir sagt diese uralte Ausstattung gerade vollkommen zu, und ich fühle mich, seit wir hier sind, in vollständig guter Lanne! Ich habe Ihnen immer gesagt, daß ich um ein Jahrhundert zu spät gekommen bin, jetzt wäre ich also an der rechten Stelle.«

»Aber wir, mein Herr,« rief Margot – »wir gehören vollständig zu der bordirten, gepufften, bequasteten Perückenzeit von weiland Louis le Grand, und immer also bleiben wir um ein Jahrhundert auseinander, und während Ihr Eure Jugend feiert, wandeln wir vor Euren klugen Augen, wie die Ahnungen der Zukunft, und Ihr werdet fliehen vor unsern Erscheinungen, um nicht zu früh alt zu werden.«

»Du hast Recht,« sagte Lücile, »es ist eine neue Kriegslist von Leonce, sich uns zu entziehen, aber sie soll ihm zu nichts helfen. Morgen am Tage lasse ich meine Koffer öffnen, und vor diesem alten Bilde soll Susanne meine Roben und Ballkleider verschneiden, um uns in Costüme zu setzen, dieser Mauern würdig, und unserm langweiligen Vetter Leonce zum Trotze.«

»Sie werden in jeder Gestalt reizend sein, meine Damen,« sagte Leonce lächelnd; »aber gestehen Sie, dies Gemälde ist kein übles Vorbild zu Ihren Toiletten-Vorsätzen, denn es ist in Wahrheit eine Schönheit, zu der Lücile die blonden Locken, Margot die dunkeln Augen geschenkt zu haben scheint.« –

»Sie haben Recht, Leonce, das Bild ist schön! Ich bin eine große Kennerin, müssen Sie gestehen, auf den ersten Blick traf ich das schönste von allen, denn die übrigen gehörten wohl nicht zu den Favoritinnen des Malers.« –

Der Marquis d'Anville war aus dem Nebenzimmer zu ihnen getreten; er hielt sie hier zurück, um, wie sie hofften, im Nebenzimmer einige ansprechende Anordnungen zu machen.

[118] »Dies ist das sogenannte Hofdamen-Zimmer,« erklärte er nun, »und dies die Portraits der damals berühmtesten Damen. – Katharina von Medicis versammelte stets die schönsten Fräuleins um sich, und diese steifen Bänke, die an den Wänden herumlaufend, Eure Laune zu reizen, mögen oft mit gar schöner Staffage belebt gewesen sein.«

»Wir wollen uns ergeben, Margot! d'Anville tritt auf Leonces Seite« – sagte Lücile, »der Geist ihrer Ahnherren erfaßt mit respektuösen Wallungen ihre Brust, sie wünschen die hier verbliebenen Schatten derselben in guter Laune zu erhalten; wir wollen daher auch unsererseits dem frivolen Hofstaate dieser Mediceer-Königin unsere Honneurs machen.«

»Und wenn wir die Laune der Geister gütig und friedlich zu stimmen trachteten,« lachte d'Anville – »wem zu Liebe denn, als unsern holden Gefährtinnen, die zwar zu necken und zu reizen verstehen, aber vor einem wirklichen Kampfe mit den Geistern bald die Flucht ergreifen würden. – Doch, wenn ich nicht irre, glänzt dort ein Name unter dem schönen Bilde.«

Alle traten näher – ein alter Wandleuchter, mit dicken gelben Wachskerzen, warf ein helles, schönes Licht auf die Tafel, und der Eindruck, den das Bild ihnen jetzt machte, ließ unwillkürlich den Scherz verstummen. – Jugend und Schönheit war es nicht allein, was diese Züge anziehend machte, sondern daß die Augen Jeden leidenvoll flehend anblickten, daß die Hände gefaltet wie gefesselt in dem Schooß lagen, und auf der silbernen Robe kein Abzeichen war, als ein Band von Rubinen, das den Hals fest umschloß und dann in einzeln gefaßten Steinen lang über die Brust hernieder, in den Schooß hing.

»Ach,« rief Lücile ernsthaft, indem sie ein Schauer überlief, »dies schöne Wesen war sicher nicht glücklich, sieht ihr Geschmeide doch aus wie einzeln fallende Blutstropfen!«

[119] »Du hast Recht,« sagte d'Anville, von dem Gemälde zurücktretend, wo er die Unterschrift gelesen, »es ist Eudoxia, das schöne Fräulein von Nemours, welche, wie man sagt, durch Katharina von Medicis hier ein blutiges Ende fand, indem sie zu sehr von ihrem Gemahle beachtet ward.«

Die Damen wandten sich still von dem schönen traurigen Bilde ab, und vielleicht gingen gerade jetzt die Worte des Marquis in Erfüllung – die Neckereien ihres jugendlichen Muthwillens wurden von dem ersten wirklichen Gegenstande des Grauens in die Flucht geschlagen.

Indem öffneten die Diener die schweren eichenen Thüren zum Nebenzimmer, und als Alle sich dahin wandten, drang ihnen ein solches Lichtmeer, ein so glänzend heiterer Anblick entgegen, daß Alle die liebenswürdige wohl erreichte Absicht des Marquis fühlten, daß Dankbarkeit und der Wunsch, sie ihm darzulegen, sich dem angenehmen Eindrucke, der sie empfing, hinzugesellte, und die heiterste Laune verbreitete, die von der halbgerührten Zärtlichkeit der jungen Marquise unvermerkt eine andere Färbung erhielt, denn sie war jetzt zu glücklich, um ein neckisches Kind bleiben zu können, und so trat die Feinheit ihres Geistes wie eine höhere Blüte aus dem grünen Blätterkranze ihrer früheren Laune hervor.

Dies Gemach hieß das Audienzzimmer, und die Wände waren in Streifen von rothem Damast, mit Stahlspiegeln unterbrochen, eingetheilt, welche, so viel als möglich polirt, von den reichlich angebrachten Armleuchtern erhellt, ein ungemein heiteres Ansehn hatten. Die Decke hing freilich mit schwerer geschwärzter Vergoldung und einem riesigen Deckengemälde, die Hochzeit zu Canaan darstellend, wie eine dunkle Wolke darüber; aber man brauchte eine Anstrengung, den Blick dahin zu erheben, und so weilte man lieber auf der heiter geschmückten Tafel, die, mit großen seidenen Fauteuils umstellt und mit dem glänzenden [120] Reisegeschirr des Marquis versehen, ein gar heiteres Bild des Lebens darbot.

Daran grenzten die Schlafzimmer der Damen, und nahe und bequem, zum Schutze leicht erreichbar, die Zimmer der Cavaliers und der Dienerschaft.

Alles war von der Umsicht des Marquis in kurzer Zeit in eine Ordnung gebracht, die dem Orte seinen düstern Karakter zu rauben schien, und nach der heiteren Abendmahlzeit den jugendlichen Schlaf durch keine bösen Träume mehr verscheuchte. –

Doch mit dem erwachenden Morgen, mit der heiteren Scene des Frühstücks kehrte auch die Laune der Frauen in ihrer neckenden Fröhlichkeit zurück, und Leonce hatte alle Mühe, sich Gehör zu verschaffen, weil gerade er die Zielscheibe ihres Muthwillens blieb. »Sie werden selbst von Ihrem Muthwillen mehr Vergnügen haben,« fuhr er fort, »wenn sie eine Art von Ordnung hineinbringen; denn es ist außer Zweifel, daß selbst eine so reizende Erscheinung, wie Ihre Laune, doch, wie alles Schöne, dem Geheimnisse des Maaßes unterworfen ist. Es ist vergeblich, in dieser elektrischen Wechselwirkung von Witz und Scherz eigentlich leben zu wollen – das sind geistige Schwelgereien, meine Damen – sie rächen sich stets durch Ermüdung und eine gewisse Apathie gegen die einfacheren Beziehungen, die Anforderungen an uns machen.«

Beide Frauen hatten während dem ihre Stühle vor Leonce gerückt und Stellungen angenommen, welche ohne Worte die ironische Versicherung enthielten, sie wären andächtige Zuhörerinnen, der Belehrung begierig, beschämt so großer Weisheit gegenüber.

»Ich verstehe Sie sehr wohl,« fuhr Leonce fort, »Ihre Pantomime ist eben so ironisch, als gelegentlich ihre Worte; aber ich will mich nun einmal durch nichts von meinem guten Vorsatze, Sie zu einer mäßigern Liebenswürdigkeit zu treiben, abbringen [121] lassen, daher möge Ihr Spott mich noch so lange verfolgen, bis er in meiner Weisheit untergeht.«

»Versuchen Sie das, Leonce!« rief Lücile – »wir lieben selbst die unleidlichste Veränderung an uns, wenn sie nur eben Wechsel verspricht; und selbst Weisheit sollte Herberge in uns finden, wenn wir nicht fürchten müßten, wir würden sie nicht wieder los, und würden zuletzt das Opfer dieses unpassenden Gastes.«

»Fürchten Sie nichts, liebe Lücile,« erwiederte Leonce – »dieser Gast wird Sie mit seiner Gesellschaft nicht über Ihr eigenes Verlangen hinaus belästigen; ja, ich zweifle, daß er sich Ihrer Einladung bei dem ersten Versuche stellt.«

»O, Sieur Léonce,« rief Margot, »wenn Sie uns die Einladungskarten schreiben, habe ich bei Ihrer Intimität alle Hoffnung zu seiner Erscheinung.«

»Trauen Sie namentlich mir hierin nicht zu viel, schöne Cousine! Er macht an mich immer zuerst den unerhörten Anspruch, Ihre schönen Augen zu vergessen, und so sind wir meist auf gespanntem Fuße.«

»Ha, Lücile, so leere Galanterien schreien zum Himmel!« rief Margot, mit dem kleinen Fuße so heftig auf den Boden stampfend, daß ihr Gesicht in Feuer aufglühte. »Sein Sie wenigstens mit allen Ihren Fehlern nicht auch falsch, und erwarten Sie wenigstens von mir nicht, daß ich diesem gehässigsten Laster ein freundliches Lächeln schenken soll – ich fürchte, ich hasse Sie!«

D'Anville und Lücile begegneten sich bei dieser kleinen Scene mit einem flüchtigen Blicke des Einverständnisses; denn Lücile beobachtete mit ihren klugen Augen ihre kleine lebhafte Cousine unter dem Deckmantel ihrer heiteren Laune in allen Nuancen ihres lebhaften Gefühls, und der ungemeine Wechsel derselben, diese unverkennbare Zuneigung zu Leonce, dies Vertrauen, [122] und doch wieder dies Zürnen, Flüchten und Zurückstoßen, schienen auf eine tiefe und ungewöhnliche Erregung schließen zu lassen, der beide Ehegatten mit Hoffnungen für das Glück ihres lieben Leonce zusahen.

Dieser sah ihr lächelnd und mit großer Sicherheit nach, als sie an das nächste Fenster flog, als müsse sie sich seinen Blicken entziehen; dann bat er sie zurück zu kommen, und als sie sich niedergesetzt hatte, hob er an, mit einem fast kühnen Blicke sich zu ihr neigend, sie mit ihrem Zorne zu necken. »Und« – fuhr er fort, »läugnen Sie es, wenn Sie können, schöne Margot, Sie haben doch zu mir das festeste Vertrauen, und alle Ihre kleinen, anmuthigen, heimlichen Plänchen sind endlich doch darauf gebaut, daß Sie Leonce vertrauen können, und seine Gefühle für Sie Ihnen weder unbequem, noch lästig, viel weniger als eine unverzeihliche Falschheit erscheinen.«

Eben wollte Margot diesen neuen Angriff bezahlen, da gebot Lücile Ruhe und verwies alle Parteien zum Schweigen.

»In Wahrheit, eine Pension für unartige junge Leute soll dies alte ehrwürdige Château de la Roche nicht werden« sagte sie – »Ruhe! Frieden gebiete ich, und jetzt, Leonce, werden Sie gleich mit Ihren weisen Plänen hervortreten, auf welche Art Sie unsere Liebenswürdigkeit einfangen wollen, um sie nur gelegentlich und nach einem gewissen schicklichen Kommando hervor sprudeln zu lassen, denn wenn wir uns nicht selbst unterhalten sollen, so thun Sie es jetzt, und sein Sie sicher, daß Ihre Vorschläge eine scharfe Kritik passiren werden.«

»Meine Pläne,« hob Leonce an, »bestehen in dem natürlichen Vorschlage, auf dem Boden, wo wir uns befinden, bekannt zu werden; wir müssen uns stundenweis versammeln die Chronik des Schlosses, die sich in dem Archive befindet, studiren, von ihr geleitet, den ganzen merkwürdigen alten Bau besichtigen, und die hellen Stunden des Tages zu Ausflügen in die[123] großartige Einsamkeit dieser Felsen und Wälder benutzen, die alle ihren Karakter von den geheimnißvollen Ansprüchen dieses Schlosses empfangen haben, mit in den Bann eingeschlossen scheinen, der hier dem Treiben der Menschen eine unüberwindliche Schranke gebaut hat.«

»Ihr Plan läßt sich hören, Leonce!« erwiederte Lücile – »ich glaube, Margot, wir werden einwilligen, uns diesem unserm Führer zu überlassen – doch füge ich noch einen Plan hinzu, der vor Ihrer Chronik den Vorzug haben muß, und meinen lieben d'Anville an sein Versprechen erinnert, mir das Schicksal seines Oheims, des Grafen von Crecy, das mit diesem Schlosse so vielfach verzweigt scheint, nunmehr mitzutheilen.«

»Ich bin bereit dazu, meine Liebe,« erwiederte d'Anville, »doch unter der Bedingung, daß Ihr mich jeden Tag bis zum Mittagsessen zu Pferde oder zu Wagen auf meinen Geschäftswegen begleiten wollt, und dann verspreche ich Euch, den Abend meinen Vortrag hier zu beginnen.«

Alle stimmten heiter in diesen Vorschlag ein. Nach einem fröhlich verlebten Tage führte der Abend Alle um die gastliche Flamme des Kamins, und als man in traulicher Nähe Platz genommen hatte, hob der Marquis d'Anville seine Erzählung an. –

Wir können uns jedoch um so weniger mit einer Mittheilung begnügen, wie der Marquis d'Anville sie für seine junge Gemahlin passend finden wird, da wir die Geschichte des Grafen Crecy als den Kern dessen ansehen müssen, was wir bisher mitzutheilen versucht haben, und es dahin gestellt sein lassen, ob man diese eingeschlossene Erzählung als den Hauptinhalt unserer Mittheilungen ansehen will, oder die Verhältnisse, mit denen wir bis hierher unsere Leser vertraut machten, und deren Verfolg wir nach dem Schlusse jener Begebenheiten weiter mittheilen werden.

[124] Ihr Zusammenhang, ihre theilweise Ausgleichung durch einander, wird ihre nothwendigen, gleichen Rechte an die Aufmerksamkeit darthun; und wie wir die Form der Frucht aus der Gestaltung des Kerns uns leichter erklären können, so werden wir, das Gleichniß hier anwendend, in dem Leben des Grafen von Crecy die Gestaltung der späteren Begebenheiten vorbereitet finden, und nicht allein ihnen leichter, sondern auch vielleicht mit vermehrtem Interesse folgen können.

Indem wir so der eingelegten Erzählung ein gleiches Recht mit derjenigen zu verschaffen suchen, die, Anfang und Ende dieses Buches bildend, jene zu umschließen scheint, bedienen wir uns des uns unbezweifelt zustehenden Rechtes, sie in der Form vorzutragen, die sie aus dem blassen Lichte der Vergangenheit hervortreten läßt, und sie nicht wie gehäufte Resultate, an deren langsamer Entstehung die Zeit schon die Spuren verwischt hat, darstellt, sondern mit der Frische versehen, die uns keine der kleinen Verzweigungen entzieht, welche langsam, aber dem Beobachter gerade so bedeutungsvoll, die größeren Resultate herbeiführt.


Der Graf von Crecy, Bruder der Marquise d'Anville, der Mutter des jungen Mannes, der aus dem Munde dieses seines Oheims die Begebenheiten erfuhr, die er eben seiner jungen Gemahlin mittheilen wollte, war der Sohn des Marschalls von Frankreich, Grafen von Crecy-Chabanne, eine der ältesten Familien des Reiches, die sich die Vettern des Königs nannten.

Grau geworden in den unseligen Kriegen der Fronde, hatte dieser unter dem Banner des großen Turenne unverrückt der königlichen Partei angehört, wenn auch frühere, zärtlichere [125] Jugendbande ihn mit Condé vereinigten, dessen Abfall ihn auf das Tiefste erschütterte, ohne ihn über seinen Weg in Zweifel zu stellen.

Seit dem pyrenäischen Frieden lebte der Marschall von Crecy jedoch, mit allen Ehren eines glorreichen Lebens überschüttet, von der thätigen Mitwirkung der Kriegsleistungen zurück gezogen, die wenigstens aufgehört hatten, Frankreich selbst zum Heerde ihrer Verwüstungen zu machen.

Von jeder anderen Bildung und Richtung, als der der Waffen, entfernt geblieben, liebte er dennoch seinen Beruf nicht, und bei dem Emporblühen seines einzigen Sohnes trat diese Abneigung in dem bestimmten Willen hervor, ihn nicht dafür erziehen zu wollen.

Seine Gemahlin, eine Fürstin Soubise, trat mit ihrem schrankenlosen Stolze diesem Vorsatze heftig entgegen, da sie darin das besondere Privilegium sah, Abkömmlinge alter Familien zu den bedeutendsten Stellungen im Staate zu erheben, und sie in ihrem Sohne mindestens den Nachfolger ihres Gemahls zu sehen trachtete.

Dessenungeachtet siegte dies Mal der Marschall von Crecy; und es ist dies Faktum um so weniger verloren gegangen, da es wahrscheinlich bleibt, daß der Feldherr, vor dessen Fahnen die Feinde flohen, als habe er ihnen damit einen unüberwindlichen Sturmwind entgegen geweht, doch in seinem Hause nur dies eine Mal den Sieg davon trug, und er hier neben den Trophäen aller Schlachten ohne Widerstand die Waffen senkte, wenn die Fürstin Soubise den Heerbann ihres weiblichen Willens aufpflanzte.

Mit dieser erfolgreichen Weigerung hatte er jedoch Alles erschöpft, was er sich zugestand, und obgleich er mißmuthig und murrend auf die Wege blickte, die seine Gemahlin nun in anderer Richtung zur Erziehung ihres Sohnes einschlug, so hielt er sich [126] doch abgefunden mit seiner Pflicht als Vater, da er überdies, nachdem er die eine verweigert, weder eine andere, noch bessere anzugeben vermochte.

Die Fürstin Soubise blieb auch nach dieser einen Niederlage vollständig gerüstet gegen jede fernere Einmischung ihres Gemahls; und je unerwarteter ihr in einer für unanrührbar geachteten Souverainität dieser Widerstand gekommen war, je mehr hatte sich ihr Gefühl auf diesen Punkt geschärft, und die schwächsten Versuche des Grafen von Crecy waren hinreichend, ihn zu überzeugen, daß er von nun an eine gefaßte Gegnerin vorfände und hier seine Wirksamkeit am Ende sei.

Wenn Eltern ihre Kinder oft zu erziehen scheinen, bloß um gegen einander ihre ununterbrochenen Fehden zu unterhalten oder zum Zeitvertreib für irgend eine müßige Stunde – ein Spielzeug scheinbar, von dem sie keine Belästigung erwarten, und gegen das sie sich keiner Verpflichtung bewußt werden: müssen wir, zu den geringsten Erwartungen unter solchen Umständen berechtigt, häufig erstaunen, wie ein also gehetztes oder gemißbrauchtes Wesen, dem Allen zum Trotze, sich in besserer Weise entwickelt.

Der junge Leonin. Graf von Crecy, war von der Natur mit einer träumerischen Stille des Gemüths begabt, und dadurch gegen die verschiedenartigen Eindrücke seiner Umgebungen sanft eingehüllt. Er sah und fühlte immer nur das, was ihm für den Augenblick nöthig oder angenehm war, und hatte für Alles, was sich ihm anderseits aufdrängen wollte, die sanfte Auslegung der Gutmüthigkeit, womit er sich unbewußt jeden unangenehmen Eindruck abwehrte. Er fühlte weder die Unzulänglichkeit der väterlichen Autorität, noch den despotischen Willen seiner Mutter, von dem er ganz gelenkt ward. Er wuchs unter den Siegesnachrichten seines Vaters auf; in einer Entfernung von ihm, die ihm sein Bild von allen Schwächen frei erhielt, und denselben [127] in seiner jugendlichen Phantasie zu den Heroen des Alterthums erhob.

Mit einem darauf begründeten Anspruch an die Bevorrechtung seiner Geburt, wie er nothwendig zu jener Zeit dem einzigen Sohne eines solchen Mannes erwachsen mußte, fühlte sein weiches und dennoch von dem Stolze der Mutter gehobenes Herz die innigste Liebe zu seinem Vater. Die Mahnung, sich auszeichnend ihm ähnlich zu werden, fand er vorerst nicht heraus, und alle Wege schon bequem und eingerichtet, eben durch den Namen, den er trug.

Seine Mutter war mit der ganzen Autorität ihres Verstandes bemüht, in ihm den Stolz zu nähren, den er von ihrem Blute im Herzen trug, sie imponirte seinem, wenn auch richtigen, doch langsamen Verstande durch die, Frauen natürliche, praktische Uebersicht der Verhältnisse, die ihm außerordentliche Geisteskräfte anzudeuten schienen, da sie ihm immer zuvorkamen. Er hatte nie den Versuch gemacht, anderer Meinung zu sein oder die ihrige nur nach zu überlegen, und ihre mütterliche Weichheit würde sie nie zu der Schwäche verführt haben, diesen Versuch anzuerkennen, da ihre für ihn im Voraus gefaßten Beschlüsse mit Plänen zusammen hingen, die dem Ehrgeize Befriedigung sicherten und daher in ihrer Ueberzeugung für sein Glück vollkommen ausreichend sein mußten.

Seine Geistesfähigkeiten waren angebaut. Die Marschallin wußte wohl, daß man an dem Hofe Ludwigs des Vierzehnten nicht ohne Kenntnisse und Talente sich behaupten konnte. Es fehlte ihr auch nicht an Scharfblick, den geeigneten Lehrer zu finden, und der Abbate Mafei war vollständig ausgerüstet, diesem einfachen Geiste Kenntnisse in dem Maaße angedeihen zu lassen, als sie dem Verlangen des Jünglings selbst Bedürfniß wurden, ohne ihm das aufzunöthigen, was ihn mit unnützer Gelehrsamkeit bedrohte, zu der ihm der rasch verarbeitende Geist von der Natur versagt war.

[128] Als das unerwartete Machtwort des Marschalls von Crecy seinem Sohne die militairische Laufbahn abschnitt, sah seine Gemahlin für ihn keinen andern möglichen Platz, Ansehen und Einfluß zu erreichen, als eines der hohen Hofämter, zu denen alte und berühmte Namen eine mitwirkende Nothwendigkeit waren, wenn auch der sich verfeinernde Hof und des Königs gebildeter Geschmack damit noch anderseitige Liebenswürdigkeiten vereinigt wissen wollte. –

Es erwachte in jener Zeit eben die später so überhand genommene Neigung zu reisen. – Fremde Höfe gesehen zu haben, von dem Leben anderer Länder Rechenschaft geben zu können, verbreitete über die Personen, die sich also auszuzeichnen vermochten, einen Reiz, den man ihnen als ein Verdienst, als eine Staffel der Bildung anrechnete, wohinter oft sehr geringe Fähigkeiten Schutz fanden. Die Marschallin war daher entschlossen, ihrem Sohne statt der Trophäen des Ruhmes, die ihm nun entzogen waren, den friedlichen Zauber einer glänzenden Reise zu ertheilen, und ihn durch ein ehrenvolles Auftreten an fremden Höfen für einen dereinstigen hohen Platz an dem französischen Hofe unwiderleglich vorzubereiten. Der Abbate Mafei und ein reiches Gefolge, wie es den Geburtsansprüchen des Jünglings geziemte, ward zu seiner Begleitung mit Verstand und zweckmäßiger Wahl ersehn, und beide Aeltern, obwohl sie sich schwer von dem Lieblinge trennten, der wie eine leichte Wolke die Ehegatten vor einander verhüllte und ihre unsanfte Berührung hinderte, fügten sich der Nothwendigkeit, die zufällig Beide zugleich anerkannten.

Es liegt nicht in unserem Plane, den jungen Grafen von Crecy auf einer Bildungsreise mit ihren mannigfachen Zufälligkeiten an Freud' und Leid zu begleiten. Sie erstreckte sich auf alle Länder, welche damals im Frieden mit Frankreich waren, und bei der wenigen Vorbereitung, die Reisende noch auf ihren [129] Wegen fanden, war sie reicher an Abenteuern, als wir jetzt für möglich halten möchten. Sie wurden jedoch Alle glücklich bestanden, und der Abbate Mafei durfte der stolzen Mutter die schmeichelhaftesten Berichte über die Entwickelung seines Zöglings senden, ohne die Wahrheit zu verletzen. Die Gewandtheit, die in der größeren Freiheit, in der nothwendigen Auffassung der verschiedenartigsten Verhältnisse sich von selbst entwickelt, vollendete das anziehende Wesen des Jünglings durch eine hinzukommende ernste männliche Haltung, die neben dem weichen Ausdrucke des Gefühls ihm überall Vertrauen und Antheil erwarb.

England sollte die Reise beschließen und den jungen Grafen zu jeder Auszeichnung reif, seinem Vaterlande zurückgeben. – Die letzten Nachrichten, welche die Marschallin erhielt, waren nach einer Abschieds-Audienz bei Karl dem Zweiten geschrieben, und er begab sich jetzt nach Schottland, und zwar, auf den ausdrücklichen Wunsch seiner Mutter, zu der Familie des Grafen von Gersey, mit der die Marschallin aus Familienrücksichten seit lange ein freundschaftliches Verhältniß unterhielt. Sie hatte nämlich mit anscheinendem Eigensinne verlangt, daß ihr Sohn hier bis zu seiner, in wenigen Monaten erfolgenden Majorennität verbleiben sollte, und bei dem Grafen Gersey dazu durch eigene Anfrage die Erlaubniß ausgewirkt. Wie sehr sie nämlich gewünscht hatte, daß ihr Sohn sich durch diese Reise äußere freie Haltung erwürbe, so war es doch ganz ihrem Karakter und ihren Ansichten entgegen, ihm damit auch eine innere Unabhängigkeit zu gestatten, und es schien ihrer argwöhnischen Herrschsucht, als habe der Sohn davon zu viel gewonnen, und seine Neigung für das Ausland sei vielleicht schon zu vorherrschend geworden, um ihn noch zu allen Verhältnissen geneigt zu finden, wie sie ihr bequem sein würden. Sie hoffte daher, ihm durch diesen letzten Aufenthalt, den sie gar wohl kannte, eine Herabstimmung [130] seiner gesteigerten Ansichten zu geben, und durch das ermüdende Treiben einer beschränkt abgeschlossenen Zurückgezogenheit ihn dankbarer und hingebender zu machen für das, was sie ihm dann mit vollen Händen, und dennoch wohl berechnet, genau mit ihrem Willen im Einklange, darbringen wollte. Seine Majorennität machte ihn augenblicklich zum selbstständigen Herren großer Besitzungen, die, mit dem uralten Schlosse von Ste. Roche verbunden, eine anlockende Veranlassung waren, sich unabhängig zu fühlen; und die Marschallin hatte daher zu einem so gefährlichen Besitze, den sie ihm nicht streitig machen konnte, ohne alte Familien-Institutionen zu beleidigen, heimlich beschlossen, einen zweiten Besitz, eine Gemahlin nach ihrem Sinne und Willen hinzuzufügen. Ohwohl der Graf Gersey drei Töchter besaß, wußte die kluge Mutter doch durch die eigenen Berichte ihrer Freundin, der Gräfin Gersey, daß sie an diesen keine Störung ihres Planes zu fürchten habe, da selbst die zärtliche Mutter sie unschön nannte und zum Troste dagegen Eigenschaften an ihnen rühmte, von denen die Marschallin wohl wußte, daß sie dem verwöhnten Geschmack ihres Sohnes nicht gefährlich werden würden. – Auf dem Wege nach Edinburg erkrankte der Abbate Mafei, und da er darauf bestand, die Reise fortzusetzen, erreichte man Stirlings-Bai, das Schloß des Grafen von Gersey, mit dem sterbenden Abbate. Sein Leben konnte nicht gefristet werden – alle zu Gebote stehende Hülfe, von dem geschickten Hausarzte des Grafen bis zu der zärtlichsten Pflege seines ihm kindlich zugethanen Zöglings, vermochten den Willen der Natur nicht zu beugen, die ihr Geschäft bei dem würdigen Abbate für erledigt erklärte, und er starb in den Armen des jungen Grafen sanft und heiter, eine würdige Vollendung eines vorwurfsfreien Lebens.

Dies war der erste Schmerz, der in die Seele des jungen Mannes drang, und er nahm ihn um so lebhafter auf, als ihm [131] gerade die Stütze gegen jede bisher nahende Unannehmlichkeit mit diesem treuen und theuren Gefährten entrückt ward. Jetzt ergingen eine Menge trüber Fragen an ihn selbst, die sonst von dem guten Abbate beseitigt wurden, ehe sie ihn erreichen konnten. Er fühlte sich in allen Beziehungen verletzt und gekränkt, ja, er glaubte in sich selbst eine Schwäche und Unmännlichkeit des Karakters wahrzunehmen, welche ihn völlig schwermüthig machte und zu den ungerechtesten Selbstvorwürfen trieb, die zu einer Muthlosigkeit, der Zukunft gegenüber, anwuchs, nur durch die Verwöhnung des Glücks begreiflich, von dem wir uns für immer verlassen glauben bei dem ersten Schatten, der es uns verhüllt.

Unter diesen Umständen fühlte er sich trotz der gütigen und theilnehmenden Sorgfalt, womit der Graf Gersey und seine Familie ihn behandelten, in so höchst gedrückter Stimmung in Stirlings-Bai, daß er, wenn er nicht gefürchtet hätte, seine Mutter durch seine Entfernung zu beleidigen, einen Ort zu verlassen geeilt haben würde, der bestimmt war, der erste Grenzstein seiner Jugend zu werden, indem er ihn aus dem weichen Zustande des Genießens zu dem ernsteren des Leidens erwachen ließ.

Wer Stirlings-Bai betrachtete, hätte es wohl für geeignet halten müssen, auf jede Stimmung der Seele einen wohlthätigen Eindruck auszuüben. Es war reich ausgestattet von der Natur und ein altes Besitzthum reicher Geschlechter im wohlerhaltensten Zustande. Man konnte kaum etwas Schöneres sehen, als das Schloß auf dem Felsenabhange am Rande des mächtigen Gebirgswassers, das zu einem wild brausenden See erweitert, von den herrlichsten Wäldern umsäumt lag und mit seiner reichen inneren Ausstattung den äußern Anspruch vollständig erfüllte.

Die Hütten der Unterthanen lagen zerstreut umher, und der Zufall hatte es gewollt, daß ihre Lage die vielfachsten und romantischsten Ansichten gewährte.

[132] Den Park begränzend lag eine alte Abtei, Stirlings-Abtei genannt, deren Kirche noch jetzt zum Gottesdienste der gräflichen Familie und der Umgegend benutzt ward, und mit ihrem verschwenderischen Prachtbau im rein gothischen Geschmack, und mit ihrer noch wahrnehmbaren großartigen Ausdehnung, es sehr wahrscheinlich machte, daß sie einst Besitzerin und Beherrscherin der reichen Güter gewesen sein mochte, in denen sie jetzt nur noch als nothwendige Nebensache geduldet ward. Unzerstörbar jedoch blieb sie mit ihren mächtigen und den weithin sie verkündigenden Thürmen die Beherrscherin der Gegend, auch nach ihrem Falle noch ihren mächtigen frühern Rang bekundend. Die einst dazu gehörigen weitläuftigen Klostergebäude waren bis auf einen kleinen Theil abgetragen, der noch jetzt die Wohnung des Geistlichen war, der unter dem Patronat der Grafen von Gersey stand.

Der Herbst nahte sich indessen, und das Sloß füllte sich jeden Tag mehr mit dem heiteren Trosse rüstiger Jäger, die von allen Theilen der Grafschaft sich zu einem langen Waidmannsvergnügen in Stirlings-Bai versammelten, dessen noch nie gänzlich durchstreifte Wälder jede Lust für so heitere Gesellschaft darboten. Nur selten und halb gezwungen nur, nahm der junge Graf an diesem Vergnügen Theil, welches so ganz seiner stillen träumerischen Weise entgegen war; und er fühlte sich bald in einer Isolirung, die er nur mit dem Kummer um den theuren Verstorbenen ausfüllte, dessen feine Geistesbildung ihm stets das wahre Element für seine Neigung war.

Wie seine Mutter vorausgesehen hatte, machten auch die Frauen, die er hier vorfand, und die in ihrer derben Natürlichkeit ihm so wenig wie Frauen erschienen, nur einen verletzenden Eindruck auf ihn; sie setzten ihn mehr in Verlegenheit, als daß ihr Umgang ihm hätte wohl thun können – und er floh vor ihrem breiten, leeren Geschwätze fast noch ängstlicher, als[133] vor den lauten Jagdzügen der Männer oder ihren lärmenden Trinkgelagen. Dabei erkannte er nur zu bestimmt, daß man ihn als ein völlig fremdes Wesen mit Neugierde und einem gewissen Mitleiden, wenn nicht mit Tadel, betrachtete; und er selbst schien sich so ganz abweichend, so unbegreiflich bis auf Gestalt und Kleidung verschieden, daß er, unterstützt von seiner hypochondrischen Laune, sich für einen immerwährenden Gegenstand ihres neckenden Zeitvertreibes hielt; er vergaß aber, daß sie ihn hierzu für viel zu unbedeutend hielten. Er war unter Menschen, die ein volles sicheres Vertrauen zu ihrer Bildung besaßen, weil sie ihnen eine tüchtige Auffassung des praktischen Lebens sicherte, das sie mit allen seinen materiellen Anforderungen vollständig beherrschten. Es hatte sich ihnen dadurch eine so stolze Ruhe des Daseins mitgetheilt, daß sie das darüber gehende Bedürfniß mit großmüthiger Gleichgültigkeit betrachteten.

So kam es häufiger, als es beachtet ward, daß der junge Graf mit der Flinte und Jagdtasche mit dem lustigen Trosse auszog, und bald unbemerkt sich zu weiten einsamen Spaziergängen entfernte, und dann, in dem duftigen Moose des Waldes gelagert, den eigentlichen Inhalt seiner Jagdtasche leerte, welchen er der vergessenen und nur für ihn geöffneten Bibliothek des Schlosses entzogen.

Er hatte einen schönen Herbsttag so in der wohlthuenden Ruhe verbracht, die er weniger seiner inneren Haltung verdankte, als der sorgfältigen Vermeidung äußerer Störungen, und schlug nun, den Stand der Sonne prüfend, den Rückweg ein, um zur Zeit der Tafel den Hausgenossen nicht zu fehlen. Er hörte bald aus der Ferne die einzelnen Signale der Jäger, erkannte, daß man noch irgend ein Hauptwild auf der Spur haben mußte, das man zu treiben suchte. Ohne des Weges recht kundig zu sein, sah er sich bald in einem bisher noch unbetretenen Theile des Waldes und blieb erstaunt über die Pracht [134] und Majestät des hundertjährigen Baumwuchses stehen, der, wie eine riesenhafte Säulenhalle, bis an die Kronen von allem Unterholze entblößt, in einzelnen großen Kämmen die dichten Laubgewölbe in einander schlang. Sie bildeten so eng verzweigt, einen festen Dom, durch den das Licht der Sonne nur gebrochen, wie durch bunte Scheiben, blendende Lichter herein warf, und den kurzen, feinen Moosteppich, der theils den Boden, theils die hochgebäumten Wurzeln der herrlichen Weiß-Buchen bedeckte, golden grün färbte. – Vorschreitend sah er jetzt, daß er sich der Abtei genaht, daß dieser Wald die heilige Vorhalle der prachtvollen Kirche bildete, deren großartiger Unterbau sich jetzt zwischen den Stämmen gewahren ließ. Es fiel ihm ein, daß er seit der Beisetzung seines theuren Freundes, wo er die Kirche auf einem ganz anderen Wege erreicht und sich wenig um sie bekümmert, noch keinen Versuch gemacht hatte, sie wieder zu sehen, was für ihn als Katholiken auch nur geringes Interesse hatte. – Er nahm sich jedoch jetzt vor, diesen schönen Punkt zu der Unterhaltung des nächsten Tages zu wählen und Alles kennen zu lernen, was sich daran anschloß.

Jetzt eilte er, die Nähe des Parkgeheges nach dem Stande der Kirche annehmend, dasselbe zu erreichen, immer von den näherrückenden Hornsignalen begleitet, als es ihm plötzlich war, als höre er einen ängstlichen Hülferuf – jetzt glaubte er ihn hinter sich zu hören – dann noch deutlicher vor sich. Er stürzte durch das erreichte Parkgehege in dasselbe hinein, denn es war ohne Zweifel eine weibliche Stimme, die ihm entgegen tönte; auch drang er nur wenige Schritte vor, als er ein fliehendes Weib mit Pfeilesschnelle daher stürzen sah. Worin ihre Gefahr bestand, war nicht zu übersehn, aber ihr Angstgeschrei deutete jedenfalls auf solche hin, und Leonin eilte daher um so schneller auf sie zu; doch sah er jetzt zu seinem Erstaunen, daß sie, so hoch sie vermochte, ein weißes Tuch in der Luft wehen ließ und, [135] als sie ihn erreicht hatte, mit abwehrender Gebehrde an ihm vorüber lief, indem sie, hinter ihm zeigend, lebhaft rief: »O helft, helft doch!« – Nun erst schien ihm, als verdoppelte sich das Geschrei hinter ihm. Er blickte um und sah, wie sich der eben vorübergeeilten Gestalt eine andere aus dem Waldwege entgegen stürzte, von einem wild gemachten, und von den Hornsignalen noch immer gereizten und getriebenen Eber fast auf dem Fuße verfolgt. Augenblicklich eilte Leonin jetzt den bedrohten Frauen nach, und da an Anlegung des Gewehrs nicht mehr zu denken war, riß er seinen Hirschfänger aus der Scheide, den zweifelhaften Kampf zu wagen entschlossen, wenn auch nur um den Fliehenden Zeit zu gewinnen. Doch ehe er hiezu kommen konnte, hatte das erste der Mädchen schon, mit der größten Entschlossenheit der Verfolgten sich entgegen stürzend, das wüthende Thier durch ihr wehendes Tuch verblödet und zum langsameren Trotte gebracht; sie wendete sich mit Blitzesschnelle, eilte der Andern, die das Gehege indeß überschritten, nach, stieß den eben sich dem Eber entgegen werfenden Leonin zurück, und warf mit einer schnellen und geschickten Wendung das Gitter in das Schloß.

»Gott sei gelobt!« rief sie und schlug die Hände zusammen, »jetzt sind wir gerettet! Doch, wir wollen hier fort – so lange uns das wilde Thier sieht, reizen wir seine Wuth, und lange traue ich dem Gitter nicht Widerstand zu – doch seht, da kehrt es schon um waldeinwärts: – Nun, so helft mir meine arme Emmy hier wegbringen, denn die Angst hat sie ganz umgeworfen.« Bei diesen Worten war sie schon neben die am Boden Liegende getreten, und bemühte sich, sie aufzurichten. »Hörtet Ihr denn gar nicht,« fuhr sie mit Emmy beschäftigt fort, »woher das Unglück kam? – Was hätte uns wohl Euer kleiner Hirschfänger helfen können? Ihr hättet doch an das Gitter denken müssen!«

[136]

»Gewiß,« antwortete Leonin, von Staunen und Verlegenheit über das Erlebte und den ruhigen Vorwurf des jungen Mädchens ganz überwältigt – »mein Betragen war thöricht und ungeschickt, und ich fühle mich tief beschämt, von Eurem Muth und Eurer Besonnenheit so weit überholt zu sein.«

Als Leonin sprach, ließ das Mädchen von Emmy ab und erhob das Gesicht zu ihm, die dunkeln Locken zurückschüttelnd; sie war dem gebildeten Tone seiner schönen Stimme gefolgt und blickte jetzt hold neugierig in sein Angesicht.

Gewiß war dies für Beide eine angenehme Ueberraschung, denn tiefere blaue Augen hatten ihn noch nie angeblickt, und so viel die aus ihren Banden geflossenen Locken zuließen, glaubte er nie feinere und anmuthigere Züge gesehen zu haben.

»Gehöret Ihr denn zu den Jagdherren des Schlosses?« fuhr das Mädchen fort.

»Ich bin allerdings ein Gast des Grafen Gersey,« antwortete Leonin – »doch nicht so leidenschaftlicher Jäger, diesen fröhlichen Waldzügen immer zu folgen.«

»Das dachte ich wohl,« sagte das Mädchen, »aber es mag sein, wie es will, Ihr müßt mir Emmy führen helfen.«

»Gewiß! gewiß,« sprach Leonin, »werde ich Euch nicht eher verlassen, als bis Ihr in Sicherheit seid.«

Sie schaute ihn wieder klug an, um ihren Mund zuckte ein Wort, aber sie schwieg und ergriff nun zärtlich Emmy's Hand, die sich noch bleich und halb ohnmächtig gegen einen Baum lehnte, unfähig, wie es schien, ihre Besinnung wieder zu finden. »Emmy! meine liebe, gute Emmy!« sprach sie zärtlich, wie ein Kind, »sieh mich doch an und fasse dich – Du bist ja gerettet! komm' doch nun nach Hause, zu Deinem Manne, zu Deinem Kinde – denn er könnte sich ja bangen um Dich! Sieh, weit weg ist schon der böse Eber, den haben gewiß die Jäger schon erlegt, und er kann Dich nie wieder jagen!«

[137] An den freundlichen Worten, so wohl berechnet das gestörte Bewußtsein der jungen Frau zu werden, richtete sich diese auch alsbald auf und ließ sich, dem fortdauernden Geplauder horchend, von Beiden fortführen.

»Verletzt bist Du doch nicht?« frug das Mädchen weiter, »und Gott wird ja geben, daß Dir die Angst nicht schadet!«

»Ach nein, teure Miß!« erwiederte die junge Frau – »verletzt glaube ich nicht – aber denkt selbst, wie fürchterlich meine Lage war; ich bin weit gerannt, bald rechts, bald links, ihm zu entgehen, aber gewiß, ich wäre unterlegen, denn mir fehlte schon alle Kraft und Besinnung, wäre das Thier nicht schwerfällig und alt gewesen, und hätte ich nich Hülfe bekommen. – Nicht wahr,« fuhr sie fort, »der gute Herr hier hat mich gerettet?«

So beschämend dieser Augenblick für Leonin war, hätte er ihn doch um die Welt nicht verlieren mögen, denn das Mädchen steckte den Kopf um die junge Frau ein wenig herum und sah ihm mit einem Lächeln in die Augen, das den reizendsten Ausdruck muthwilliger Neckerei trug und ein unschuldiges, kleines Einverständniß einleitete; denn sie antwortete sogleich freundlich fortlächelnd: »Nun, geschrien haben wir beide genug, um die ganze Jagd zu Hülfe zu rufen, und es mochte dem wohl schwer sein, der zwischen unseren Stimmen, die rechte Stelle zu erkennen, wo Hülfe Noth that.«

Leonin hielt seine Augen so lange auf ihr Antlitz geheftet, bis sie ihn noch ein Mal anblickte, und jetzt kostete es ihr ein schnelles, kleines Erröthen.

»Ich war auf dem Vorsprung,« fuhr sie zu Emmy fort, »als ich das Treiben des Ebers sah, und daran dachte, wie Du des Weges warst, und schnell hinunter lief, um zu sehen, ob das Park-Gehege offen, im Fall Du in Angst kämest[138] – aber die Unruhe, die ich schon fühlte, machte, daß ich so bald dein Geschrei erkannte.«

»Ach, liebe Miß, wie danke ich Euch!« rief Emmy gerührt, »Ich hätte selbst verunglücken können, aber daran denkt ihr immer zuletzt – was hätte dann Euer Vater gesagt!«

»Ja, der Vater,« antwortete das Mädchen nachdenkend, »Dem hat es recht geahnt, daß uns heute Unglück bedrohe – glaubst Du, daß er mich hinauslassen wollte? Zur Zeit, da er weiß, daß ich spazieren gehe, kam er zu mir und setzte sich nieder, und trug und sprach so viel und lieb, daß ich ganz das Ausgehen vergaß; als er abberufen ward und ich nun auch aufbrechen wollte, fragte er plötzlich: ›Willst du doch hinaus?‹ – Du kannst denken, daß ich verwundert war und ihn frug: ob er etwas dagegen habe? Da sagte er: ich sollte ihn nicht auslachen, aber meine selige Mutter habe die ganze Nacht vor ihm geweint und ihn gebeten, er solle mich nur heute nicht hinauslassen, und habe mich ihm gezeigt, wie ich mit einem Kranze geschmückt dastand, und ein schwarzer Leichenschleier drüber hinsank und mich für immer verhüllte. Das habe ihn so erschüttert, daß er es gar nicht vergessen könne.« –

»O mein Gott! warum bliebet ihr denn nicht zu hause, Miß Fennimor?« –

»Weil der gute Vater es nicht leiden wollte, denn er meinte, es sei eine Schwäche, und er wolle sie sich nicht gestatten. Da mußte ich gehen und spürte auch keine Furcht, bis der Jagdzug nahe kam und an Dich dachte.«

So waren die Frauen mit ihrem stumm aufmerkenden Führer die Richtung des Parkes durchgegangen, die sie nach der Abtei zuführte; und jetzt riß sich Fennimor plötzlich los und rief: »Dort kömmt der Vater!«

Eine ehrwürdige, vom Alter gebeugte Gestalt mit silberweißen Locken, in einem einfachen schwarzen Hausleibe trat [139] ihnen jetzt entgegen, und empfing die zu ihm eilende Tochter in seinen Armen.

»Wer ist dieser Herr?« frug der junge Graf seine langsamer folgende Gefährtin.

»Es ist Sir Reginald Lester, der Kaplan von Stirlings,« erwiederte die junge Frau, und jetzt hatten sie sich der interessanten Gruppe genähert, ohne von ihr bemerkt zu werden. Der Vater hatte das geliebte Kind so fest an seine Brust gedrückt, daß das Mädchen, um ihn anblicken zu können, sich weit hinten übergebogen hatte; die Locken ihres reichen Haares theilten sich dadurch von der weißen Stirn, und der Vater blickte mit dem unbeschreiblich rührenden Ausdruck innigster Befriedigung in dies schöne, offen vor ihm liegende Gesicht.

»Da hast Du uns wieder,« sprach sie freundlich, »heil und gesund, wie wir Dich verlassen; aber großer Gefahr sind wir alle nur kaum entkommen, ein gehetzter wilder Eber hätte uns gern alle verschlungen.«

»Großer Gott,« sprach Sir Reginald – »so war meine Sorge doch nicht umsonst!«

»Nein, Vater,« sagte das schöne Mädchen heiter, »aber ich habe den Kranz wirklich gewonnen und den Leichenschleier von uns allen abgewehrt, denn glücklich kam ich dazu, das Gitter des Parkes vor dem bösen Gast ins Schloß zu werfen.«

»Gott weiß,« sagte seufzend Sir Reginald – »was diese wilden Jagdzüge noch für Unheil veranlassen werden! Das gescheuchte Wild, das doch unmöglich alles geschossen werden kann, entartet dadurch zu einer wahrhaft gefährlichen Wuth.« – Jetzt erst gewahrte der Kaplan, seine Augen von der sanft losgegebenen Tochter abziehend, den fremden, jungen Mann und trat ihm sogleich mit einer feinen, ruhigen Verbindlichkeit entgegen. Seine fragende Miene beantwortete Leonin, indem er [140] ihm in einigen höflichen Worten, der Wahrheit nach, sein Zusammentreffen mit den beiden Frauen andeutete.

»Und wem darf ich mich also verpflichtet halten?« erwiederte der Caplan, freundlich ihn begrüßend.

»Ich bin der Graf von Crecy,« erwiederte der junge Mann, »und ein Gast des Grafen Gersey – doch bin ich der Verpflichtete, da ich wenigstens des Schutzestheilhaftig ward, den Miß Lester ihrer Dienerin gewährte.«

»Auch liebt der Herr Graf die Jagdzüge bei Weitem nicht so, wie die übrigen Herren,« setzte Fennimor ernst hinzu und betrachtete ihn forschend mit ihren großen blauen Augen.

»Ruhet dann wenigstens von den bewegten Augenblicken ein wenig bei uns aus,« sprach Sir Reginald, und schritt sogleich voran durch die kunstreich verzierte Bogenthür, welche in das Innere der Abtei führte.

Das letzte Stück eines abgetragenen Umganges machte hier den schönen, reinlich mit Binsendecken belegten Vorflur aus – und durch eine kleine gothisch-verzierte Thür trat man in ein großes Zimmer, welches seine frühere Bestimmung, Kapelle oder Sakristei zu sein, noch wenig verleugnete. Es war ringsum bis zur Mitte der hohen Wände, mit kunstreich geschnittenem Eichenholze bekleidet, wohinter, wie einzeln vortretende Verzierungen vermuthen ließen, sich Schränke befinden mochten. Die oberen Wände kränzten sich mit reicher Stuckatur bis zu den Spitzbogen der Decke empor, und enthielten in ihren Zwischenräumen große Gemälde, die offenbar noch einer früheren Bestimmung angehörten.

Drei große Fenster, welche in die Spitzbogen der Decke hinaufreichten und mit bunten Scheiben geziert waren, nahmen die eine Seite des Gemachs ganz ein, da sie nur durch kleine Pfeiler getrennt waren, welche in Holz geschnittene Engel verdeckten; die Seitenfenster erhoben sich erst über der Holzwand, [141] die gleichmäßig das Zimmer unterhalb einkleidete, das mittlere dagegen durchbrach die Wand und reichte bis zu dem Täfelwerk des Fußbodens, denn es bildete zugleich eine Ausgangsthüre nach dem Buchenwalde, der die Vorhalle dieses zauberischen Aufenthalts ausmachte. –

Gegenüber diesem Fenster lag der kollossale Kamin von schwarzem Marmor, und in der Mitte des Zimmers stand ein eichener Tisch, mit großen geschnittenen eichenen Sesseln umgeben, unter denen ein Teppich von feiner Stickerei ausgebreitet war. Eben so zeigten die Kissen der Stühle in purpurrothem Grunde Stickereien. Büchergestelle und Schreibtische in ähnlicher Art nahmen den hintern Theil des Zimmers ein, und sorgsam gepflegte Gewächse fingen an den Seiten des Mittelfensters die Sonnenstrahlen auf.

Es war unmöglich, dies Zimmer zu betreten, ohne nicht das Element einer höheren, edleren Existenz zu ahnen, das die Bewohner mit ihren Beschäftigungen gelehrt hatte, den Raum mit seiner abweichenden Ausschmückung sich zum Bedürfniß anzueignen.

Unsern jungen, unzufriedenen, gequälten Freund wandelte ein Gefühl an von Schüchternheit und Rührung; er blickte zu den beiden herrlichen Gestalten, die diesen Raum vertraut beherrschten, mit einer Ehrfurcht empor, als bewahrten sie das Geheimniß des Lebens, nach dem seine krankhafte Seele seufzend und vergeblich umher gesehen.

So kam es, daß der junge vornehme Graf Crecy, der seine ganze Schüchternheit hoffen konnte, an den verschiedensten Höfen Europas zurück gelassen zu haben, sie hier vor zwei Menschen wieder fand, die ohne Rang und Reichthum, von der Welt vergessen, nicht viel anders denn Einsiedler, nur ein stilles Naturleben zu führen schienen.

Er hatte nicht Zeit, sich zu fragen, woher ihm dieser Eindruck kam; fortgerissen, fühlte er ein Entzücken, ein Verlangen, [142] sich hinzugeben und anzuschließen, das nur gemäßigt ward eben durch das Gefühl von Schüchternheit, womit er sich sagte: sie haben keinen Andern nöthig zu ihrer herrlichen Existenz, Jeder ist ihnen' überflüssig oder störend, Jeder, der diese Schwelle überschreitet, muß sich für einen Bettler halten, der da harret, ob sie von ihrem Reichthum ihm mittheilen wollen.

Wenig lag so hoher Anspruch in dem Verhalten von Vater und Tochter, und gewiß war es, sie ahneten nicht, ihn bei Andern für sich hervorgerufen zu haben, obwohl sie ein edles Selbstgefühl hatten, ein Bewußtsein und Vertrauen zu ihrer Gesinnung.

Der Vater hatte die Tochter erzogen, indem er mit ihr lebte, und seine edle, sanfte und hingebende Natur die Atmosphäre bildete, in der sie sich von Jugend auf gerade und gesund aufrichten konnte, das schöne Haupt nach oben gewendet. Die Welt lag wie eine bunte Fabel hinter dem grünen Walde, dessen Ende sie nie fand. Was darin vorging, las sie aus großen Geschichtsbüchern, und glaubte davon, was sie konnte, und behielt auch nur das – denn die Geheimnisse der Natur begreifen wir auf jedem Isolirpunkte der Erde, die Geheimnisse des Lebens erst, wenn wir sie an uns selbst erfahren.

Vor den kleinen Neckereien der Erziehung, mit denen die Jugend sich oft so schmerzlich vorarbeiten muß, hatte die Weisheit und die Liebe des Vaters sie geschützt – es war ihr Alles klar und verständlich geblieben, was für und gegen ihre Neigungen geschah, nichts hatte einen Dorn, einen falschen Blutstropfen hinterlassen. Man hätte sie ohne Formen nennen können, wären edle Menschen nicht eigentlich überall die Gesetzgeber der wahren Form, und, was in der Welt tausendfältigem, launenhaftem Wechsel unterworfen ist, nur bei denen unverkümmert wieder anzutreffen, welche die Ursache dazu in einer bewahrten menschlichen Würde finden. – Kleinlich konnte sie [143] in nichts werden, denn ihre erwählten Helden und Heldinnen, denen sie allein glaubte, und ihr Vater, den sie eben so fand, und Emmy, die, um wenige Jahre älter, mit ihr aufwuchs, und einen starken, ernsten Sinn hatte, die wußten all' davon nichts. – Wie vornehm oder gering sie war, konnte sie auch nie ganz unterscheiden, denn die Gersey's, die vornehm sein sollten, erschienen ihr gar nicht so, weil sie unter Vornehm die erhabenen Gestalten ihrer Bibel verstand, Beherrscher der Natur, die mit Gott redeten, und obwohl sie nicht anzugeben wußte, warum die Gersey's ihr so erschienen, schüttelte sie doch immer den Lockenkopf und sagte: die sind nicht vornehm. Von dem Stande ihres Vaters hatte sie einen hohen Begriff. Die Priester des alten Testaments, die Könige waren, die Bischöfe des Mittelalters, die Päpste, diese Weltbeherrscher, das waren alle dieselben Priester, wie ihr Vater, und die Schönheit, die hohe Würde des Greises, die kindliche Unschuld seiner Sitten trug dazu bei, ihr kein höheres Ideal fürstlicher Würde geben zu können, als sie bei ihm vorfand. – Da die Familie Gersey, gute fromme Menschen, auch ihrerseits nie anstanden, ihn ehrerbietig zu behandeln, so fehlte ihr jeder Maaßstab für eine solche Stellung in der Welt, und sie war längst mit ihren Gedanken einig, daß ihr Vater eigentlich das sei, was ein vornehmer Mann hieß.

Sir Reginald Lester gehörte in der That einer solchen Familie an, obwohl ihm, als jüngstem Sohn, davon kein Vortheil zugeflossen war, als unter stolzen Ansprüchen erzogen worden zu sein, die wenig zu der Nothwendigkeit passen wollten, sich später in jeder Beschränkung des Privatlebens behelfen zu müssen. Er hatte sich jedoch zu früh aus der Welt zurück gezogen, um nicht ihren Widerspruch in der patriarchalischen Einsamkeit seines übrigen Lebens vergessen zu haben. – Auch war er mit seiner Familie gänzlich zerfallen, als er, von dem stolzen [144] Erstgeburtsrechte aus jedem Besitze vertrieben, wenigstens versuchte, als Mensch glücklich zu sein, und ein schönes edles Mädchen ohne Geburtsadel zum Weibe nahm, deren beglückender Besitz ihm nur als Trost und Andenken zwei Kinder, einen bereits als Geistlichen versorgten Sohn und Fennimor, ihr schönes Ebenbild, zurück gelassen hatte.

Während wir tiefer in den Grund des Eindrucks zu dringen suchten, der den jungen Grafen so mächtig ergriff, sehn wir ihn mit erhöhter Farbe, mit sanftgebeugtem Kopfe der Anweisung des Greises folgen, der ihn sogleich an die Tafel auf einen der Lehnstühle einlud, und mit ruhiger Würde seinem jungen Gaste gegenüber Platz nahm. Nicht so Fennimor – sie hatte zu thun mit der kleinen Estrade, wo ihre Blumen standen, und trieb dies mit einem Ernste und einer Wichtigkeit, als wenn diese stillen Gefährten in ihrer Abwesenheit Unordnung angefangen hätten. Einzelne Worte, die ihr entschlüpften, klangen, als ob sie die eine Staude lobe, die andere tadele, und danach in die Sonne kehre oder zurück schöbe. »So,« sagte sie endlich lauter, »nun habt ihr all' euer Theil! – Das soll euch wohl gefallen« – fuhr sie fort, so freundlich und herausfordernd, daß Leonce aufhorchte, ob sie ihr nicht antworteten. Aber sie mußte die Antwort schon empfangen haben, denn sie kehrte sich von ihnen ab, und blickte nun eben so zutraulich auf Leonin und ihren Vater hin, als überlege sie, was ihr mit ihnen zustehe. Der glückliche Vater sah mit einem kaum merklichen Lächeln dem entgegen, was er gleich zu vernehmen sicher war, ohne sein ruhiges Gespräch mit Crecy zu unterbrechen oder sie durch eine Anrede zu stören.

»Der Graf könnte lieber hier zu Mittag essen« – hob sie auch sogleich in einem ruhig berathenden Tone an, und stellte sich dabei neben den Vater hin, ihn ernst anblickend, als ob sie dies beide allein zu besprechen hätten.

[145] »Das könnte er wohl,« lächelte Sir Reginald, »wenn er es nicht vorzieht, auf dem Schlosse zu essen, wo so viel muntere Gäste sind, daß es ihm dort vielleicht besser gefällt.«

Sogleich wandte sich Fennimor zum Grafen und sagte eben so ruhig: »Wollen Sie lieber bei uns essen oder auf dem Schlosse?« – Ehe er aber antworten konnte, fügte sie gegen ihren Vater hinzu: »Ich sagte Dir aber schon, lieber Vater, daß der Herr Graf gar nicht die Jagdzüge so liebt, als die andern Herren dort oben!«

Niemals glaubte Leonin eine verbindlichere Einladung erhalten zu haben, und er fühlte ein Entzücken, eine Beehrung durch dieselbe, die ihm seine kühnsten Wünsche zu erfüllen schien. »Nein, Miß Lester,« bestätigte er freudig das, was sie so schnell und, wie es schien, zu seinen Gunsten aufgefaßt hatte – »ich gehöre keinesweges zu diesen leidenschaftlichen Jägern; es ist mir sogar nur ein aufgezwungenes Vergnügen, und ich passe daher sehr wenig in diese heitere Gesellschaft und werde mich für glücklich halten, wenn Ihr mich würdigt, mich hier zu lassen.«

»Warum bleibt Ihr aber dort,« fuhr Fennimor fort, »wenn Ihr Euch nicht gefallt? Ich habe auch einmal zugehört, wie die Herren zusammen sprachen, und habe seitdem etwas gegen die Jagd, denn sie gehen nicht redlich mit den Thieren um. Was sie von ihren Hunden erzählten, war abscheulich; die thun das Meiste und so Grausames, daß die armen Waldthiere von ihnen zerrissen werden, wenn noch alles Leben in ihnen ist – die schönen Hirsche und Rehe! und ein friedliches Thier auf das andere zu hetzen, daß es so wild wird, das ist auch gottlos!«

»Ja!« rief Leonin lebhaft. – »Ihr sprecht es aus, jetzt fühle ich es, warum die Jagd mich stets zurückgestoßen hat, es ist etwas Unedles und Unredliches dabei. Ich liebe die Ruhe des Waldes und das friedliche Eigenthumsrecht, womit die schönen Thiere ihn bewohnen, und da haben mich diese lärmenden [146] Züge und ihre rohe Freude über das Zerstören dieses friedlichen Zustandes immer aufgeregt, als müßte ich mich dagegen auflehnen.«

»Also liebt Ihr auch so den Wald!« erwiederte theilnehmend Fennimor und setzte sich neben ihn. – »Habt Ihr in Frankreich auch schöne Wälder? Sind überhaupt recht viele Wälder in der Welt?«

»Ich besitze selbst sehr schöne Wälder,« erwiederte Leonin. »In wenigen Monaten bin ich majorenn, dann gehören sie mir ganz allein, und wahrlich, kein Schuß soll fallen, ihr Frieden soll erhalten werden, als wären sie ein heiliger Hain der Vorzeit, irgend einer Göttin zum unanrührbaren Besitze geweiht!«

»Ach das thut, das thut!« rief Fennimor freudig – »da könnt Ihr dann die schönen langen Sommertage ganz ohne alle Störung herumgehen, und das Wild wird Euch kennen und alle werden kommen, wenn Ihr ruft, und Ihr könnt es füttern, und dann geht es Euch nach, und die Kleinen spielen mit Euch; und wenn Ihr durstet, so müßt Ihr die Quellen besuchen, wo sie trinken, dies Wasser ist immer kühl und hell, denn die klugen Thiere wissen stets das beste zu finden. Da werdet Ihr mehr Freude haben, als all' die lauten Jäger, zu denen sich kein einziges Wild freut, sondern vor denen sie alle flüchten – das könnt Ihr mir glauben; und Ihr werdet dann noch oft an mich denken, und daß ich es Euch gesagt habe.«

»Das glaube ich selbst,« erwiederte Leonin, plötzlich ernst nachdenkend, als habe sie ihm sein ganzes Geschick enthüllt – »ich werde von nun an immer an Euch denken, Euch nie mehr vergessen können.«

Auch sie berührte das Leben in diesem Augenblicke mit dem ersten leisen Hauch einer ihr bis dahin fremden Empfindung – sie dachte noch mit innigem Wohlgefallen an den grünen Wald, in dem das Wild ungestört wandeln sollte, und war doch schon [147] mit einem leisen Erschrecken von dem Gedanken berührt worden, daß er ihrer gedenken wolle, sie nie mehr vergessen. Wer das Leben kannte und dieses erste, leichte Berühren eines Gefühls zu verstehen vermochte, mit dem sie der mächtigsten Gewalt der Erde verfallen war, der hätte in unsäglicher Wehmuth sein Angesicht verhüllen müssen, denn eben damit war das unschuldvolle Leben in der Natur, das sie als den letzten Abschied eines ruhigen Kinderherzens noch rein empfunden und ausgesprochen, unwiderruflich dahin. Jahre müssen hingehen, ehe wir die Abschnitte in unserm Leben erkennen, die oft so hart geschieden neben einander stehen, daß sie uns in Erstaunen setzen; aber bewußt werden wir uns ihrer erst, wenn sie längst als abgelöst und aus jeder materiellen Beziehung zu uns getreten, erscheinen. Dann können wir auch oft erst nachweisen, wie der Moment, der wie der Quell aus dem Felsen dem leichten Schlage entgegen stürzte, in allen vorangegangenen Zuständen unserer Seele uns unbewußt vorbereitet ward. Denn wohl fühlen wir bei einem klaren Geiste, wenn uns das Leben zu einer neuen Entwickelung gelangen läßt, aber welche es sei, das bleibt das Geheimniß der Zeit; und die Anregung selbst macht, daß wir ihr wenig nachfragen, denn jede neue geistige Entwickelung scheint uns zum Herrn derselben zu machen, und läßt uns die Wege als eigen gewählte gehen, auf denen wir uns doch oft als Verirrte wiederfinden.

Das Mädchen stand still und schaute vor sich nieder, und in ihr geschah, was sie nicht begriff – als sie aufblickte, sah sie über Alle hinweg nach der Decke, sie war so groß geworden und hatte so viel Gedanken; Besuch bekommen, ist doch ein rechtes Vergnügen, glaubte sie – und ging, um den Gast in der Küche anzuzeigen. –

Bald öffnete sich in der Holzwand, der Eingangsthüre gegenüber, eine kleine, unter bunten Schnörkeln spitz zulaufende [148] Thür, Fennimor trat herein und streckte winkend nach Beiden die Hand aus, so lieblich lächelnd wie ein Kind.

Sir Reginald erhob sich und lud seinen jungen Gast ein, ihm nach dem Eßzimmer zu folgen. Dies war nur so breit, wie das einzige große Fenster darinnen, ein wahres grünes Blätterklosett, denn die hellen Scheiben hingen von Außen voll wiegender Ranken, und die Holzwände waren besteckt und berankt mit allem, was grünen und blühen wollte. Um den kleinen runden Tisch standen drei Stühle; zierlich weiß, und wohlhabend mit Silber war er gedeckt, und außer ihm keine Möbel, wozu auch jeder Platz fehlte, als im Hintergrunde neben der Ausgangsthüre ein künstlicher Schenktisch, geschmackvoll und reich mit Silber geschmückt. Emmy stand schon wieder bei vollen Kräften, mit der ernsten Miene einer bescheidenen Dienerin, die es erwartet, ob die Herrschaft sich eines mit ihr erlebten Ereignisses erinnern wird. Dies geschah sogleich von Seiten des Grafen, der freundlich sie anredete, um zu erfahren, ob der Schreck ihr nicht geschadet; und als auch der Geistliche ihr noch freundlich sich gezeigt und sie, sichtlich geehrt, der lieben Fennimor befriedigte Blicke zugesandt, nahm man die Plätze um das Tischchen ein. Obwohl diese Mahlzeit nur aus Fischen, Geflügel und Obst bestand, und Alles fehlte, was dem jungen Grafen sonst erst ein Mittagsessen ausmachte, schien es ihm doch das ausreichendste und vollständigste, was er je genossen, und das Vergnügen einer lebhaften gebildeten Unterhaltung, das er so lang entbehrt, labte seinen öden Seelenzustand bis zu nie empfundener Fähigkeit sich auszusprechen.

Wir haben schon gesagt, daß Crecy's Geist angebaut war. Leicht traten wohl geordnete Kenntnisse und eine entwickelte Urtheilskraft hervor, wo Sir Reginald, die schöne Fähigkeit des Geistlichen besitzend, es so wohl verstand, Beides an seinem Gaste herauszufinden und in Thätigkeit zu setzen. Das Alter [149] und die lange Trennung von der Welt machten den Jüngling ihm überlegen, aber er fühlte dies mit Wohlgefallen, und erkannte sein liebenswerthes Naturell und die geschickte kluge Entwickelung, die man ihm hatte zu Theil werden lassen, und die ihn weder überfüllt, noch vernachlässigt erscheinen ließ.

Obwohl Fennimor zwischen dem Gespräche Beider nicht einredete, so machte sie doch auf eine wunderbar kluge und naive Art das Resumee des Gesagten. Sie bewies damit, ohne es zu wollen oder zu ahnen, daß sie mit nichts ganz unbekannt war, was die Männer zu besprechen fähig waren; daß sie aber Alles eigenmächtig umschuf und zurecht legte in der ihr verständlichen und möglichen Weise.

Das Schlechte existirte für sie nicht – sie begriff es nicht, und alles, was daher und darum geschah, läugnete sie oder wußte es oft klug genug anders zu erklären. Sie war dabei entschieden und fest in ihren Meinungen, aber doch immer nur wie ein Kind ganz harmlos, ohne Leidenschaftlichkeit – Jeder mußte fühlen, sie könne blos nicht anders. Ihr von Aufhorchen und Theilnahme leuchtendes Gesicht, das beredte Mienenspiel, womit sie schon, ehe sie sprach, das Urtheil fällte, war wunderschön – kaum schien sie er warten zu können, was der Eine oder Andere sagen würde, so beredt hingen ihre Augen an seinem Munde, so freundlich lachte sie ihn an, wenn es das Erwartete war, so schnell schüttelte sie den Kopf, wenn sie es nicht begriff. Sie zwang unbewußt zuletzt die Sprechenden im Verlaufe des Gesprächs ihre Augen auf sie zu richten, da sie das Gesagte in ihr verworfen oder angenommen sahen.

So unschuldiges Treiben, das, hätte Fennimor in der Welt gelebt, schon längst weg erzogen gewesen wäre, da jede Mutter oder Erzieherin es mit dem Bannfluche des Unschicklichen belegt haben würde, konnte hier unter der Leitung eines einsam lebenden Vaters groß werden; denn ihm that die natürliche[150] kräftige Frische seines Kindes, das Eigenes dachte und wollte, und ihn oft anregte zum Denken und Forschen für sie, innig wohl, er hütete sich, sie zu stören, und empfing oft, ihm selbst überraschend, ganz neue Gedanken von ihr. Was ihre Zukunft werden sollte, das legte er stets mit der gefaßten Ruhe eines frommen Mannes bei Seite, und selbst seine sichtlich zunehmende Hinfälligkeit ließ ihn keinen Plan, keine Ansicht darüber fassen. Sollte sie dem allgemeinen Loose der Frauen anheim fallen, sich zu vermählen, so hatte er freilich kein Bild von dem Manne, der sie begreifen konnte; und lieber dachte er sie sich unvermählt, ihrer eigenen, tüchtigen Natur den Wirkungskreis verdankend.

Gegen Ende der Tischzeit unterbrach sie fast zürnend ein Gespräch der Männer über die herrschende englische Dynastie und das Treiben Karls des Zweiten, von dem der Geistliche durch Crecy manches Nachtheilige erfuhr, was seine früheren Ansichten bestätigte, da er den König fast so oft tadelte, als er von ihm sprach. »Vater,« rief sie, ganz erglühend von Eifer, »wie kannst Du denken, daß unser König Fehler macht, bloß darum, weil er ein Stuart ist? – Wie würde Gott zulassen, daß ihm das schon im Blute steckte, und hast Du nicht selbst gesagt, daß er brav war bei Worcester, wie jeder andere Soldat, als habe er kein Recht vor dem geringsten voraus – und war er nicht auch dankbar gegen Sir Loweston Harley, der ihn verbarg, als ihn Cromvell auf der Flucht nach Holland verfolgen ließ – hat er nicht gesagt: ›Wo ein Harley mir in den Weg tritt, da soll er mein Freund sein und, ist er müde, auf meinem Lager ruhen und, ist er hungrig, von meinem Brodte essen, aus meinem Becher trinken‹ – und hat er das nicht all' gehalten, wie Du mir selbst gesagt?«

»Einzelne schöne Züge haben alle Stuarts mit einander gemein,« erwiederte ruhig der Vater, »aber daneben wohnt in [151] ihnen ein tückischer Geist, der immer wieder einreißt, was sie Gutes gewollt oder gethan.«

»Ach nein,« sagte Fennimor – »weißt Du, wie es sein wird? Er ist zu lange von Hause gewesen, das habe ich letzthin herausgefunden, als Du ihn wieder schaltest. Da war ich den ganzen Tag und die ganze Nacht in Grimfield's Höhle gewesen, als wir die Marienwürmchen sammelten in der Heumondsnacht – gegen die Gliederschmerzen,« setzte sie erläuternd gegen den Grafen hinzu – »als ich da so lange von Hause war und ich kam wieder, war mir Alles fremd geworden, und ich wußte gar nicht, wo ich anfangen sollte, ob es Zeit zu dem Einen oder dem Andern wäre. Du selbst« – fügte sie hinzu und drückte ihren Kopf an des Vaters Schulter – »sagtest: Du bist ein ganz verwirrtes Ding geworden, weil Du so lange von Hause warst! Da dachte ich nachher, wie Du den König schaltest: ich war nur so kurze Zeit fort, und mein Haus ist so klein, und als ich wieder kam, wußte ich zu nichts die rechte Zeit zu finden – und nun der arme König, den sie so lange verjagt haben aus seinem großen Hause, aus seinem England – nun er wieder kommt, auch nicht immer die rechte Zeit finden kann, wo Alles hingehört, da schelten sie ihn alle so sehr.«

»Zu erklären, zu entschuldigen mag durch dies traurige Schicksal Manches in dem Karakter des Königs sein« – sprach Crecy, so gern ihr beipflichtend – »es ist nur leider jeder Fehler, auf diesem Gipfelpunkte der menschlichen Gesellschaft begangen, so schwer in seinen Folgen, und so unmöglich, ihn zu übersehen, da er in das Glück von Tausenden einschneidet.«

»Ja,« – fuhr Fennimor lächelnd zum Vater fort – »laß' Du ihn nur erst recht ruhig in dem alten Vaterhause ausschlafen und gieb dann Acht – denn was war es bei mir? Uebermüdung. Als ich schön ausgeschlafen hatte, wußte ich Alles wieder, wie am Schnürchen, nichts war mir mehr fremd. – Der arme König [152] ist auch noch müde, er ist noch immer überwacht von der langen Noth, die ihn nicht schlafen ließ; darum taumelt er und thut bald zu viel, bald zu wenig – ach, Ruhe muß doch ein König auch haben, da Gott ihn Mensch hat sein lassen! Und braucht er dazu so viele Jahre, wie ich Stunden, kommt die Rechnung doch heraus, da seine Noth so groß war, die meinige so klein.«

»Nun, so wollen wir ihm denn eine Ruhe der Seele wünschen, wonach er sich geeignet findet, das zu erkennen, was seinem armen Lande noth thut« – sprach Sir Reginald, indem er sich erhob und nach beendigter Mahlzeit seinen Gast in das Wohnzimmer zurückführte.

Fennimor, die ihnen folgte, zog nun nach gewohnter Ordnung ein kleines Bänkchen zu den Füßen ihres Vaters, beschäftigt, von einem Andachtsbuche, welches sie herbei geholt, die goldenen Klammern zu lösen, um ihrem Vater daraus vorzulesen.

Doch Sir Reginald hielt die Hand auf den Deckel und sagte lächelnd: »Dies möchte unserm lieben Gaste doch eine zu ernste Lektüre werden, mein Kind, und wir lassen das, bis wir allein sind.«

Wie mit Purpur ward Fennimor bei diesen Worten übergossen, und Erstaunen und Beschämung schienen daran gleichen Theil zu haben.

»O, ich bitte Euch, Sir Reginald,« rief Leonin – »würdigt mich als Euren Gast des Vertrauens, daß ich an allen Euren Beschäftigungen Antheil nehmen darf, und schenkt mir Eure Achtung, indem Ihr sie nicht durch meine Gegenwart unterbrechen laßt.«

Sir Reginald war um so geneigter, dieser Bitte nachzugeben, da er mit Theilnahme sah, wie sehr Fennimor durch seinen Einspruch außer Fassung gekommen war, und ihre rührend beschämten Züge den leichten Anfang hervorbrechender Thränen [153] andeuteten. »So wollen wir denn unsern neuen Gast ganz wie einen alten behandeln« – sagte er, mit dem Versuche zu scherzen, »und ich freue mich recht, in seiner lieben Gesellschaft eines Deiner schönen Gebete zu hören.« –

Fennimor nahm jetzt das Buch, das der Vater selbst hatte öffnen müssen, ihrer Verwirrung zu Hülfe kommend, und zeigte mit dem Finger auf das Blatt, wo sie beginnen sollte.

Zu Anfange bebte die Stimme des erschreckten Kindes, und jedes Wort fand nur unsicher seinen Ton; aber wie erstaunte Crecy, als er nun erst hörte, daß diese Gebete in französischer Sprache geschrieben waren und der Thomas a Kempis dasselbe Andachtsbuch war, das er in dem Betzimmer seiner Mutter zu finden pflegte. Fast kostete ihm diese Ueberraschung seine Andacht – hätte nicht der ernste und so melodische Ton dieser kindlichen Stimme ihn mit steigendem Entzücken an den heiligen Sinn von Worten gefesselt, die von Jugend auf sein Herz am meisten erbaut hatten. Die etwas gebrochene, unsichere Aussprache, die doch nie den Sinn verdarb oder über die Kenntniß der Leserin Zweifel erregte, schien ihm ein Zauber mehr; jugendlich-phantastisch überbot er in jedem Augenblick sein tieferregtes Gefühl, und zuletzt schien sie ihm ein Engel, der sich dem heil'gen schweren Dienste unterzog, unter Menschen die Lehre des Heils zu verbreiten, doch nur mit Mühe seine Engelslaute in ihre harte Sprachform fügend. – Als sie jetzt ruhig das Buch zuschlug, und mit gefalteten Händen zum leisen Nachgebete den Kopf über dasselbe senkte, daß die reichen braunen Locken wie ein Schleier niedersanken, und der ehrwürdige Greis mit seinem weißen Haupte und dem vollsten Ausdrucke väterlicher Liebe, seine Hand segnend auf sie legte, da beugte er, als habe der Engel sich ihm offenbart, in einer Art Anbetung das Knie neben ihr, und rief leise und bebend: »Wollet mich aufnehmen in die heilige Gemeinschaft Eures Lebens!«

[154] Die wahre Empfindung, wenn sie unverkümmert von den ewigen Rücksichten, die uns anerzogen werden, hervortritt, ist eine jedes Mal verständliche und fast immer siegende Sprache! – Sir Reginald legte ohne Bedenken seine andere Hand auf das gebeugte Haupt des Jünglings: »Gott segne Euch, junger Mann, mit einem unschuldigen Herzen bis ans Ende Eures Lebens!« – Da fiel, erschreckend, das Gebetbuch der Mutter, woraus sie so eben gelesen, von Fennimors Schooß auf die Erde, und alle Blumen und Kränzlein und zarten Bildchen, die darin gesammelt waren, flogen zerstreut umher. Beide knieten nun, und sammelten sorgsam und mit leichtem Finger diese Heiligthümer, und beschäftigten sich dann damit, sie an den Stellen wieder einzulegen, die Fennimor alle anzugeben wußte.

»Meine Mutter war aus Frankreich,« erwiederte sie auf die Anfrage Crecys über das Gebetbuch in seiner Sprache – »und dies war das Buch, worin sie täglich meinem Vater vorlas. Davon weiß ich freilich selbst nichts mehr, aber ich erlernte die Sprache, um später auch darin lesen zu können, und thue es nun alle Tage – darum« fuhr sie zögernd fort – »dachte ich auch heute, es dürfe nicht anders sein, denn Ihr werdet doch auch beten.«

»Ja, gewiß!« – rief Crecy bewegt, »und von Kindheit auf habe ich gerade aus diesem Buche gebetet, was immer in der Betkapelle meiner Mutter lag.«

»Vater,« rief Fennimor freudig, den fern Sitzenden in seinem Nachdenken störend, »seine Mutter betet auch aus diesem Buche, und er hat von Kindheit an keins lieber gehabt! – Sagt mir doch,« fuhr sie fort, als sie das freundliche Nicken des Vaters in Empfang genommen hatte, »von Eurer Mutter – sie ist wohl recht schön und sanft und gut?«

Leonin schwieg einen Augenblick, und wir können nicht läugnen, daß die Welt ihn nicht mehr unbefangen genug [155] gelassen hatte, um nicht in der Stille zu überlegen, daß dies schnell entworfene, vortheilhafte Bild seiner Mutter unmöglich entstehen konnte, ohne von dem Sohne und den ihm vielleicht von ihr beigelegten Eigenschaften die Farben zu leihen. – Aber versöhnend fügen wir hinzu, daß er dies ohne das kalte, beleidigende Trachten der Eitelkeit empfand. Ein heißes Gefühl durchströmte seine Brust bei der Hoffnung, sie sähe ihn so günstig an; ein Gefühl, das ihn nicht glauben ließ, es stehe ihm zu, es zu fordern. Doch mußte er während dieses berauschenden Gedankenlaufs sich bemühen, ihr zu antworten, und zuerst stand er etwas verwirrt vor dem Bilde seiner Mutter. »Sie ist schön, Miß Lester,« – erwiederte er zögernd, »aber sie ist meine Mutter, daher über den Anspruch der Jugend hinaus – ihr Geist und ihre Gaben sind sehr groß, und sie ist von Geburt eine Fürstin Soubise.«

»Das freut mich!« erwiederte Fennimor freundlich – »ich habe gern so vornehme, schöne Menschen, die so recht eigentlich zu den hohen Bäumen und breiten Strömen und den mächtigen Thieren passen, wie Gott es gewollt hat, als ihre Beherrscher. Alle sind nicht so, aber sie haben auch ihren Platz – Gott hat ja auch die kleinen Würmer geschaffen – man kann dies Alles lieb haben« – setzte sie hinzu, aus ihrem biblischen Pathos zu der Heiterkeit einer kindlichen Spielerei übergehend, und sprang fröhlich auf, um die Thüren nach dem Walde zu öffnen.

In Gedanken vertieft, blieb Crecy auf seinem Platze sitzen und blickte ihr nach, als sähe er ein Wunder, was er zu ergründen vergeblich trachtete. Als er aufsah, begegnete er den Blicken des Vaters, der ihn mit einem eigenen Ausdrucke milder, ernster Wehmuth betrachtete. – Crecy entzog sich diesem sanften Forschen nicht, ja wünschte fast, ein Anderer durchdränge sein seltsam überfülltes und bewegtes Innere. Er stand auf und nahte sich dem edlen Greise, der ihn still erwartete, und als er [156] vor ihn trat, schwiegen dennoch Beide. Zwischen ihnen stand eine Ahnung, und sie wußten nicht, ob diese, Gestalt gewinnend, sie trennen oder vereinigen würde.

Der Abend war indessen herabgesunken – einzelne glühende Lichtstreifen drängten sich durch den Wald und hafteten mit ihrem Purpurlichte an den Säulenstämmen der hohen Buchen, oder zogen glänzende Furchen über den duftenden Rasen.

»Seht,« sagte plötzlich das zurückkehrende Mädchen, zu beiden Männern tretend – »in Eurem Walde in Frankreich, da wird, wenn er Euch erst ganz gehört und kein Schuß mehr fällt, um diese Stunde das Wild spazieren gehen und sich seines Lebens freuen; hier ist Alles leer und verscheucht von der wilden Jagd. – Aber wir,« setzte sie sanft, fast furchtsam hinzu – »wir könnten jetzt spazieren gehen?« Sie hatte das ihrem Vater gesagt, und er richtete sich sogleich mit milder Freundlichkeit in seinem Stuhle auf; doch sah Crecy deutlich, wie er einen schwermüthigen Anklang in seiner Seele beherrschen mußte. »Du hast Recht, Fennimor,« sprach er, zum Weggehen ihre Hand fassend, »und da wir unsern Gast nicht länger seinem Wirthe entziehen dürfen, so wollen wir ihn den schönsten Weg durch den Park dem Schlosse zuführen.«

Leonin fühlte erst jetzt, was er gänzlich vergessen hatte, wo und bei wem er hingehöre. Er schien sich heute erst angekommen, heute erst an der rechten Stelle, und jenes Schloß mit seinen Bewohnern lag so weit ab und war in eine solche Fremdheit zu ihm getreten, daß er seiner ganzen Besonnenheit bedurfte, um sich zu überzeugen, er müßte dahin zurück. Doch nicht eher trennte er sich von seinen neuen Freunden, als bis sie ihm beide erlaubt, am andern Tage wieder zu kommen, und er kehrte nun in Schloß Stirlings ein, aber ein anderer Mensch, als er es verlassen hatte.


[157] Beinahe zaghaft näherte sich Leonin den Gesellschaftszimmern, in denen er sein Ausbleiben bemerkt und sich den Fragen der guthmüthigen Familie ausgesetzt fürchten mußte, die eben jetzt zu beantworten, ihm unbeschreiblich lästig schien.

Doch er fand schon in den Gängen und Vorzimmern unter den Domestiken eine ungewöhnliche eilfertige Unruhe, und erfuhr von dem etwas langsamer daherschreitenden alten Haushofmeister, daß die Frau Gräfin eine Botschaft aus Edinburg von ihrer, wie zu fürchten stehe, sterbenden Frau Mutter erhalten habe, daß sie sogleich mit ihren Töchtern dahin abreisen werde, wogegen Se. Herrlichkeit der Graf Gersey bei den versammelten Gästen in Stirlings-Bai bleiben würde, die nächsten Nachrichten von seiner Gemahlin hierselbst abwartend.

Leonin konnte nun selbst fragend und anredend eintreten, und die Theilnahme, die er empfänglich war zu fühlen, setzte ihn in die richtige Stimmung zu seinen gütigen Wirthen.

Milady Gersey mit ihren Töchtern waren schon in Reisekleidern in dem Kreise der Gäste, die Anmeldung der Wagen erwartend.

Tief bekümmert über den möglichen Verlust ihrer nahen Verwandten, hatten die guten Menschen doch auch die sorgsamsten Gedanken für ihre zurückbleibenden Gäste, und indem sie alle einzeln baten, Stirlings-Bai nicht zu verlassen, sondern dem bekümmerten Grafen beizustehen, wollten sie noch für die besonderen Wünsche eines Jeden liebreich sich bemühen; und besonders an Leonin richteten sich die guthmüthigsten Vorschläge und Besorgnisse sogar für die Annehmlichkeit seiner Lage, da die Frau Marschallin von Crecy und ihr Wunsch in Bezug auf diesen Sohn, dieselbe zu einer besonderen Verpflichtung für sie gemacht hatte.

Niemals war Leonin vielleicht weniger um seine Unterhaltung besorgt, als eben jetzt, und die freundliche Art, wie [158] er sie darüber beruhigte, machte ihn liebenswürdiger erscheinen, als sie ihn bisher erkannt hatten, und endlich stellte das freudig geleistete Versprechen, Stirlings-Bai vor der anberaumten Zeit nicht zu verlassen, sie gänzlich um ihn in Ruhe.

Von allen Anwesenden bis an ihre Kutschen begleitet, setzte sich endlich der schwerfällige Reisezug in Bewegung. – Leonin hatte hier Gelegenheit wahrzunehmen, wie wahrhafte Güte des Herzens in entscheidenden Lebensmomenten den Mangel einer höheren Bildung, die das tägliche Leben mit seinen kleinen Anforderungen oft so drückend vermissen läßt, ausreichend zu ersetzen vermag, und wie in solchen Augenblicken das unverdorbene Herz den sanftesten, zartesten Rath zu Anderer Hülfe und Trost zu geben vermag.

Diese rauhen Jäger waren alle so still und ehrerbietig gegen die sonst wenig beachteten Frauen geworden; sie blieben nach ihrer Abreise so still bei dem nachdenkendern Hausherrn versammelt, und ernstere Beziehungen ihrer gegenseitigen Verhältnisse kamen zur Sprache und hemmten das wüste Geschwätz lächerlicher Jagdlügen, womit sie sonst einander zu ärgern trachteten und oft zu heftigen, rohen Scenen Veranlassung gaben. Zum ersten Male fiel es dem jungen Grafen leicht, unter ihnen zu bleiben und an ihrem Gespräche Theil zu nehmen. Er benutzte noch denselben Abend, als die Gesellschaft sich getrennt hatte, diese ihm bisher so fremde Stimmung seiner Mutter zu schreiben, und das ganze Bild, das er von seinem Leben entwarf, und was nur zu erwähnen, ihm bisher der Ueberdruß daran unmöglich gemacht hatte, trug einen überraschenden Ausdruck glückseliger Heiterkeit, vollständiger Befriedigung.

Wohin unser junger Freund am andern Morgen seine Schritte lenkte, brauchen wir kaum zu erwähnen. Bald kannte er keinen andern Weg als diesen. Ehe die Sonne hoch genug stand, den Thau von dem Moose des Waldes zu trocknen, [159] umschlich er schon den Fuß der Abtei und beobachtete mit anbetendem Entzücken die tanzenden Lichter, die die Fenster zu liebkosen schienen, hinter denen noch Fennimors jugendliches Haupt in holden Träumen ruhte. – Mit leisen Schritten betrat er den Weg, der zu der Thür des Wohngemaches führte, und prüfte das weiche Moos unter seinen Füßen, ob der leichte Wind, der die Wipfel der Buchen grüßend berührte, auch nicht ein dürres Aestchen, ein welkes Blatt auf den Weg gestreut, den bald ihr zarter Fuß betreten sollte. Zu den Gewächsen, die das Fenster spielend umzogen, blickte er wie zu Begünstigten auf, die bleiben konnten, wo sie war; er betrachtete sie, als wolle er sich ihre Liebe erwerben, er schlang die vom Zufalle verschobenen Ranken um ihre Stäbchen, er suchte die abgestorbenen Blätter und Zweige hervor, und bog die befreiten Keime gegen das Licht; und die Blumen, die er ihr jeden Morgen brachte, ob der Thau sie nicht zu sehr näßte, ob die Sonne nicht ihren Duft früher nähme, als sie ihn eingesogen, wie viel Gedanken und Ueberlegungen machte ihm das! Hatte er sie endlich gebettet an gesichertem Ort und sich überzeugt, er dürfe sie noch nicht erwarten, so kam er sich wie ein Held, groß und entschlossen vor, wenn er abwärts von ihrer Schwelle noch eine Wanderung durch den Park versuchte.

Gehoben nun, wie sein ganzer Zustand es war, traten seine Gedanken zu Entschlüssen hervor. Seiner nahen Majorennität freute er sich besonders, und leicht hätte er das, was er sich selbst nicht eingestand, eben aus diesem Gefühle errathen; denn nichts war ihm bis dahin gleichgültiger gewesen, als eben diese Majorennität. Mit allen Vorzügen des Reichthums immer ausgestattet, hatte eine Vermehrung dieses sorglosen Besitzes, womit zugleich eine Verwaltung desselben die bequeme Ruhe des bisherigen Lebens bedrohte, sehr wenig Reiz für ihn gehabt, und er hatte alles, was seine ihn immer in Probe nehmende [160] Mutter hervorbrachte, ihn darüber auszuforschen, stets mit ablehnender Gleichgültigkeit zurück gewiesen. Die umsichtige und herrschsüchtige Frau konnte ihre sparsamen Gefühle höchstens nur auf die Liebe der Blutsverwandten ausdehnen; doch auch hier nur ihrem Karakter getreu, indem sie ihre Klugheit und Lebenserfahrung geltend machte, ihre Ansichten von Glück und Wohlbefinden ihnen entweder mit dem vollen Umgestüme des Zürnens, oder dem langsamen Wirken übler Laune und kleiner heimlicher Ränke aufzunöthigen. – Sie erlaubte sich jedes Mittel, ohne die kleinste Unruhe ihres Gewissens, da sie durch ihr stolzes Selbstgefühl beständig in der sichern Ueberzeugung gehalten ward, das Wohl des Andern zu wollen, nämlich: was sie dafür hielt, und was annehmbar zu machen, ihrer finsteren uneingestandenen Herrschaft schmeichelte.

Ueber ein so weiches, zur Unthätigkeit geneigtes Gemüth, wie das Leonin's, die Herrschaft zu führen, schien sie sich nun vollständig berufen, und indem sie ihm damit das Leben, das seiner träumerischen Seele leicht zu schwer ward, so bequem als möglich machte, fühlte sie sich ihres Einflusses vollkommen gesichert. Aber sie hatte von den schönen Keimen seiner Seele, die von einer sich selbst nicht suchenden Liebe verstanden und gepflegt worden wären, und durch ein ehrendes Schonen und liebevolle Ermunterung erstarkt sein würden, auch keine Ahnung – ja, ihr Verfahren hatte bereits genug in ihm zerstört, was sie stets in den platten, breiten Ansichten erledigt fand, er sei zu gut fürs Leben, er müsse stets dagegen gewarnt, geschützt und eingehüllt bleiben.

Diesen Frevel, der an ihm begangen ward und ihn verhinderte, sich zum Manne zu entwickeln, wollen wir in unsern Gedanken fest halten, wenn wir ihn auf der Bahn seines Lebens begleiten müssen und wünschen werden, ihn halten oder stützen zu können gegen die Gewalt eines herrschsüchtigen Weibes, die[161] aus selbstsüchtiger Liebe seinen Geist unterdrücket, und sein Herz gegen Menschen und Verhältnisse in Zweideutigkeit verstrickte. –

Was er jetzt empfand und zur natürlichen Entwickelung kam, da er außer dem Bereich ihres Einflusses lebte, erfaßte ihn wie ein neuer Strom des Blutes. Er genoß zuerst den Zauber, der die Seele des Mannes aus der Knospe hervorbrechen läßt und alle Kräfte als Diener herbei ruft, den heiligen Zauber, ein weibliches Wesen im zärtlichen Glauben an seine Kraft und im Gefühl der eigenen Schwäche sich ihm vertrauen zu sehen, als habe damit jede Furcht auf Erden ihr Ziel erreicht. Wer hatte bisher von ihm gewollt und gesucht, was Fennimor nicht zweifelte zu finden, wer hatte ihm dies völlige Gefühl der Männlichkeit gegönnt, wer ihn zu einem freieren Hervortreten seiner Kräfte und Fähigkeiten genöthigt – durch die Anforderungen echt weiblicher vertrauender Liebe! Es konnte nicht fehlen, daß er, der alten Fesseln entledigt, sich seiner, auf eine ihm selbst überraschende Weise, bewußt ward. Im Verlaufe dieses Bewußtseins drängte sich ihm auch eine Wahrnehmung für die Außenwelt und seine bisherigen Verhältnisse auf, und dies mochte ihn zu mancher noch nie gewagten Betrachtung führen.

Diesen hochgebildeten Naturmenschen gegenüber glaubte er jetzt erst das Leben in seiner Wahrheit zu erkennen; und wie Sir Reginald jene andere Welt in den Städten, an den Höfen, die man Leonin bisher dafür ausgegeben, vergessen hatte, Fennimor sie nie gekannt, so war es auch natürlich, daß Beide niemals auf die Schwierigkeiten verfallen konnten, die sich ihm zum Gegensatze ihrer Welt und der von ihm gekannten aufnöthigten, und daß diese endlich von ihm selbst nur noch mit dem Entschlusse betrachtet wurden, sie gering zu achten, da er hier den Inhalt einer Existenz kennen lernte, edel und ausreichend vor Gott, und doch fremd jenem ganzen Treiben berechnender [162] Klugheit. Aber es geschah ihm auch zuerst, daß er über das vorzüglichste ihn bis jetzt leitende Prinzip, über seine Mutter, nachdachte, und daß er den Widerspruch erkennen lernte, in den er durch die eigene entschiedene Umwandlung seines Wesens, von der er sich das Eingeständniß machen mußte, zu dieser unveränderlichen Frau getreten war. Er wollte nur noch Fennimor, und mit ihr Ste. Roche bewohnen, und er wußte genau, seine Mutter würde entschieden das Gegentheil wollen – er wußte, sie wolle ihn an dem glänzenden geistreichen Hofe des Königs sehen, vermählt mit einer Dame, deren Name durch Alter und Ansehn dem seinigen gleich käme. Er fühlte, er habe zu diesen Plänen seine Mutter berechtigt; denn auch er hatte früher nie eine andere Wendung seines Lebens für möglich geachtet, und sei es Ueberredung, sei es der ihm angeborne Geburtsstolz, nie hatte er den Gedanken, seine künftige Gemahlin anders, als in den höchsten Regionen des Hofes zu suchen, für möglich gehalten.

Er war noch jung genug, um der erfahrenen Entwickelung mit Enthusiasmus sich hinzugeben und sich im vollkommenen Rechte mit diesen Empfindungen zu fühlen, da sie ihn edler, menschlicher, hochherziger stimmten, als Alles, was er bis dahin empfunden. Wenn er so in der heißen Sehnsucht nach Fennimor's ihm nur wenige Stunden entzogenem Anbicke, in der Frühe den Wald durchstreifte, regte sich eine Fülle guter Gedanken und Beschlüsse in ihm, gemäß den Ansichten, die seine neuen Freunde ahnungslos durch Worte und Handlungen erweckt hatten. Sie waren eine Sonde für Leonin's Herz, die ihm fühlen ließ, wie weit es gesund geblieben war unter der Hand der klugen Fürstin Soubise, die jeden höheren Athemzug in ihn zurückdrängte mit der Warnung: der bösen Welt nie zu vertrauen, nie offen sich ihr zu zeigen. Jetzt war der Muth erwacht, sich ihr offen zu zeigen, und dessen fühlte er sich froh. [163] Er hoffte seiner Mutter zu beweisen, wie man ein freier, offener Mensch sein, und doch der hohen Würde, wozu die Geburt berufen, Ehre machen könne. Ste. Roche, wohin er am liebsten dachte, Fennimor's heilige Ruhe hier am besten gesichert haltend, Ste. Roche sollte ein Paradies werden! Nicht allein die schlanken Bewohner der Wälder sollten ungestört auf den reichen Weideplätzen umher wandeln – jedes Wesen, das ihm gehörte, sollte Ruhe, Glück und Sicherheit durch ihn finden. – Was Reichthum war, verstand er erst, seitdem er gesehen, wie ernst und verständig Vater und Tochter, was sie übrig zu haben glaubten, mit denen theilten, die weniger hatten, und sein Herz jauchzte, wenn er dachte, daß er an einem Tage mehr besaß, als Fennimor im ganzen Jahr erübrigte. Ihr diesen Reichthum zu Füßen zu schütten, ihr freudiges Erstaunen, ihr himmlisches Lächeln zu sehen, und wie sie sich mit diesem Reichthume aufrichten werde, und wie eine Königin durch seine Unterthanen gehen, und helfen, und retten, und Segen spenden mit klugen, ernsten Gedanken und strenger Mahnung, und süßer kindlicher Hingebung und Heiterkeit. Was konnte ihm die Welt gegen eine solche Aussicht auf Glück bieten, auf ein Glück, von dem er sich veredelt fühlte bei dem bloßen Gedanken daran! –

Schon längst kannten Sir Reginald Lester und Fennimor die Pläne, welche Crecy's Liebe für die Zukunft geschaffen, und wenn Fennimor, kein Hinderniß ahnend, in sorgloser Freude das Glück ihrer Liebe genoß, so sehen wir Sir Reginald mit mehr Hingebung an die Wünsche der Liebenden sich anschließen, als bei seinem reiferen Alter zu erwarten stand, wenn nicht eben lange Zurückgezogenheit von der Welt ihn zum Fremdling darin gemacht, und die Erinnerung aus seiner Jugend, die ihn allerdings in manche Beziehungen zu den Vorurtheilen und Rücksichten höherer Stände geführt, doch ihm keine Befürchtungen [164] für Frankreich gaben, was er unterschieden in seinen Ansichten von England wähnte, und Crecy's Bestätigungen leichten Glauben verschafften.

Den ungestörten Umgang der so schnell Vereinten hatten die Ereignisse auf dem Schlosse Stirlings besonders begünstigt.

Die Mutter der Gräfin Gersey war gestorben, und der Graf, ihr Gemahl, hatte sich, der tiefen Trauer wegen, genöthigt gesehen, seine heitere Gesellschaft zu entlassen, und seinen Aufenthalt abwechselnd in Edinburg zu nehmen, da die zu machende Erbschaft seine Gegenwart ebenso, wie die der übrigen Verwandten nöthig machte.

Den jungen Grafen von Crecy wünschte er allerdings, dem früheren Uebereinkommen mit seiner Mutter gemäß, bei sich fest zu halten; nur schien es ihm nicht wahrscheinlich, daß der junge Mann, der schon so wenig Vergnügen zu haben schien, als das Schloß noch der Wohnsitz der Heiterkeit und Geselligkeit war, jetzt zu halten sein werde, wo er die einzige Person zu seiner Gesellschaft war und jene Familien-Angelegenheiten auch ihn zu Zeiten wegriefen. Er schlug ihm daher vor, mit ihm Edinburg zu besuchen, und außer dem Trauerhause dort Vergnügen und Zerstreuung zu suchen.

Das war natürlich ganz gegen die Neigung des jungen Grafen, und er bat es sich aus, in Stirlings-Bai in der größten Einsamkeit die anberaumte Zeit verleben zu dürfen, indem er die gemachte Bekanntschaft mit dem Geistlichen eingestand, und damit des Grafen Besorgnisse für den Mangel aller Geselligkeit zerstreute, da auch er für Sir Reginald eine große Hochachtung hegte.

Keinesweges war die Marschallin von Crecy so schnell zu beruhigen. Sie hatte den Brief ihres Sohnes empfangen, dessen wir bereits gedacht, und augenblicklich erkannt, ihm müsse ein ganz besonderer Eindruck gekommen sein, den sie unmöglich seinen[165] Hausgenossen zuschreiben konnte und daher unter den Gästen suchen mußte, von deren Anwesenheit dieser Brief sie unterrichtete. Noch zögerte sie gegen sich selbst mit dem gefürchteten Geständnisse, dies könne ein Herzenseindruck sein; denn sicher gemacht durch die bloße galante Neigung ihres Sohnes zu Frauen, hatte sie sich der Hoffnung überlassen, Alles, was er darüber zu erfahren nöthig habe, werde er dereinst auch durch sie empfangen, durch die ihm von ihr bestimmte Gattin.

Sie war zu kalt, zu sehr Weltfrau, um großen Werth auf eine mögliche unzeitige Herzensaffektion ihres Sohnes zu legen, im stolzen Selbstvertrauen sich überzeugt haltend, sie würde niemals ihren Plänen für die Zukunft entgegen treten können – aber dennoch berührte es sie unheimlich, als ein neuer Beweis, wie viel Selbstständiges sich in ihm zu entwickeln begönne; und ihr Antwortschreiben war so eingerichtet, ihm zu genaueren Mittheilungen Veranlassung zu geben, da sie näher kennen wollte, was geschehen, ehe sie einschritte. – Auch gelang ihr dies vollkommen; denn Leonin, entzückt von dem milden mütterlichen Tone dieses Briefes, legte ihr nun seine Pläne für die Zukunft dar, indem er sich unbefangen über den Werth seiner zu erwartenden Besitzungen freute, und seine Absicht aussprach, auf Ste. Roche fürs Erste zu leben, und dort Wohlthaten und Verbesserungen jeder Art zu häufen. Er fügte mit kindlicher Zärtlichkeit hinzu: wie er dann hoffe, auch sie werde dort gern weilen, wenn er ihr eine Tochter zuführen könnte, ihrer würdig, und mit ihm vereint bemüht, ihr das Leben zu erheitern.

Zwar hielt ihn eine ahnungsvolle Scheu zurück hinzuzufügen, wie weit er mit dieser letzten Zusicherung selbst sorgend gekommen war, aber dies war auch für die Fürsten Soubise nicht nöthig, denn sie hatte genug vernommen, um zu wissen, ihr Sohn habe ohne sie eine Lebensgefährtin gewählt, genug, um plötzlich aus ihrer Sicherheit über ihn zu erwachen, genug [166] um die Kräfte ihres intriguanten Geistes herbei zu rufen, denn dieser Mutter konnte nur einfallen, um jeden Preis zu hindern, was sie nicht beschlossen; Bedenklichkeiten bei solchen Schritten waren ihr fremd, weil sie Niemand so liebte oder achtete, um auf dessen Wünsche oder Ansichten, den geringsten Werth zu legen.

Nur auf welche Weise sie hier am zweckmäßigsten einschritte, blieb ihr ungewiß. Doch ihre Unruhe, ihre Ueberraschung und ihr Schrecken sollte noch steigen, als sie sich endlich entschlossen hatte, ganz absichtslos erscheinend, die Veränderung in der Gersey'schen Familie zu einer schnelleren Zurückberufung ihres Sohnes zu benutzen, ihm ihr Bedauern ausdrückend, daß ihr Wunsch ihn an einen Ort habe fesseln müssen, der so wenig Reiz für ihn haben könne, und wie sie ihm ihr Schloß Moncay bei Paris anböte, wohin sie sich mit seinem Vater zu seinem Empfange begeben wollte, wenn er bis zu seiner Majorennität vorzöge, vom Hofe entfernt zu leben.

Leonin's Antwort überhüpfte leichten Fußes den ganzen schwerfälligen Inhalt dieses wohlberechneten Briefes, und wie ein Schäfer an seine Geliebte, antwortete er heiter und in glückseliger Laune scherzend, wie Stirlings-Bai nichts Abschreckendes für ihn habe, und die herrlichen Wälder, die reizenden Thäler in der Zauberluft des Herbstes zu durchstreifen, ihm einen Genuß gewährte, womit er nichts zu vergleichen wüßte, und der Gedanke, damit zugleich ihre früheren mütterlichen Wünsche zu erfüllen, ihn entschlossen machte, hier genau so lange zu bleiben, daß ihm blos Zeit bliebe, zu dem nothwendigen Augenblicke seiner Majorennitätserklärung in Paris einzutreffen.

»Also, er faßt eigene Entschlüsse!« rief die Marschallin, als sie diesen leichten, spielenden Brief gelesen hatte – und ganz überwältigt von dieser Vorstellung, blieb sie in ihrem Stuhle sitzen, unfähig sich zu fassen.

[167] »Und zurück muß er dennoch!« fuhr sie, sich emporringend, fort, »zurück muß er, und ich muß erfahren, was ihn dort zu fesseln vermochte!« –

Ihr langes Nachdenken gab ihr, wie immer, die Mittel an die Hand, die sie zu ihren Zwecken bedurfte, und leider ließ es sie jetzt ein zu jeder That bereites Individuum wählen, dessen erprobte Theilnahme in allen Fällen ihr dasselbe zu einem Freunde erkoren hatte, den Begriffen von Freundschaft gemäß, die zwei solche Menschen nähren konnten.

In dem Hause der Marschallin von Crecy lebte ein junger Mann, den Alle Marquis de Souvré nannten. Seine Erziehung war in dem Kollegium zu Clermont geleitet worden und jedenfalls auf größere Ansprüche berechtigt gewesen, als der frühe Tod beider Aeltern und ein zerrüttet befundenes Vermögen später zuließen. Diese Täuschung, die er in einem Alter erfuhr, wo er mit dem ganzen Uebermuthe eines hochmüthigen und sinnlichen Charakters dem Leben schon jeden materiellen Genuß abgefragt, und von der Magie des Reichthums eine um so höhere Idee gefaßt hatte, als er gefunden, wie sie am leichtesten die Wege des Lasters verdecke, erfüllte ihn mit der bittersten Empörung gegen ein Loos, das ihm nur noch eine sparsame Revenue und ein dadurch heruntergekommenes Ansehn in seiner ganzen gesellschaftlichen Stellung übrig ließ, Er grollte der ganzen Welt, die ihm begünstigter schien, als er es war; er grollte namentlich dem ganzen Kreise, in dem er als reicher Marquis mit dem vollsten Uebermuth solcher Vorrechte gelebt, und welcher ihn jetzt mit mitleidiger Gleichgültigkeit oder höhnisch verrathener Freude von einem Platze verdrängt sah, den er mit so viel Anmaßung eingenommen hatte; und er überwand nur den bittern Schmerz dieser Demüthigung, um sich der Mittel in seinem listigen Geiste bewußt zu werden, die ihn ohne das Erforderniß seiner bisherigen Unterstützungen zum Herrn seiner Feinde machen sollte.

[168] Wir hoffen, unsere Leser erlassen uns gern die Verfolgung des geheimen Lebens eines Mannes, das er selbst mit der höchsten Feinheit seinen nächsten Umgebungen zu entziehen wußte. Sein Hauptgrundsatz war: Niemandem sei Vertrauen zu schenken und das Vertrauen Aller zu erringen. Er setzte sich in den Besitz aller Geheimnisse, aller Angelegenheiten, die nur entfernt das Eigenthum der Personen waren, mit denen er leben wollte, oder die ihm behülflich werden mußten zu seinen Zwecken. Trotz seiner Jugend hatte er beständig ein ernstes, kaltes und abgemessenes Wesen, er schien nur gezwungen sich dem Vertrauen Anderer hinzugeben, und indem er immer ablehnend war, fesselte er gerade das Interesse, zog dadurch an und schien eine größere Sicherheit zu versprechen. Es war leicht zu bemerken, wie er gelegentlich, gleichsam zufällig, anzudeuten wußte, wie ihm Geheimnisse und Verhältnisse der höchsten Personen bekannt waren, die er sich doch sehr wohl hütete aufzudecken, wenn sie ihm den Dienst geleistet, ihn da, wo er es brauchte, wichtig erscheinen zu lassen; er hatte sich dadurch auch das für ihn höchst belohnende Gefühl verschafft, gefürchtet zu sein, und hiermit den Platz errungen, der ihn allein über den Verlust seiner früheren Verhältnisse zu trösten vermochte.

Durch seine Mutter war er der Marschallin von Crecy verwandt und derselben bei ihrem Tode dringend empfohlen. Nicht lange betrat er dies Haus, ohne das ganze Terrain darin mit Ueberlegenheit zu überschauen, und es höchst bequem zu finden für seine Neigungen. Den Marschall ließ er bald mit einem mitleidigen Lächeln, als gänzlich der Beachtung unwerth, bei Seite, da er schnell erkannte, er habe in seinem eigenen Hause, wie im Staate nur noch den Platz eines zur Ruhe gesetzten Invaliden. Schärfer faßte er die Marschallin auf, die in der That keine schnelle Beute fremder Willkür werden konnte – aber, [169] sie hatte ja Schwächen in Fülle – ihr Hochmuth, ihr Ehrgeiz, der sie gegen Beherrschung schützen sollte, mußte sie gerade diesem gewandten Machinisten in die Hände spielen, und er hatte ihr Vertrauen, ehe sie es ahnete, er änderte und beherrschte schon ihre Pläne, als sie noch glaubte, sie brauche ihn nur gelegentlich, die ihrigen zu fördern.

Vom ersten Augenblicke an haßte er Leonin. – Dies sorglose, weiche Kind des Glückes, das so wenig die unermeßlichen Vorzüge von Rang und Vermögen zu schätzen, ja, sie ihm so wenig zu verdienen schien, gering mit den Eigenschaften ausgestattet, die ihm allein wichtig waren und ihn verächtlich von den Vorzügen denken ließen, die Leonin als Ersatz glänzender Geistesfähigkeiten besaß. Dies Wesen, das in dem ruhigsten Gleichmuthe und der größten Sicherheit sein sorgloses Leben genoß, und spielend den Reichthum verbrauchte, als könne es gar nicht anders sein, nach dessen Besitz in ihm die ungemessenste Begierde glühte, erfüllte ihn mit einem so heftigen Neide, mit einem so bitteren Hasse, daß das Haus der Marschallin für ihn einen Reiz bekam, den ihm kein anderes Gefühl mehr gewährte. Daß Leonin sich ihm anschloß – brüderlich und mit der großmüthigsten Hingebung ihn jeden Vorzug dieser Lage fast zu theilen zwang, versöhnte ihn nicht, und er ertrug nur seine Gesellschaft, um ihn zu verachten und, wo möglich, zu lehren, daß sein Glück zu erschüttern sei. Schon wünschte er dazu die Reise des jungen Grafen mitzumachen; aber zu stolz, deshalb gefügige Schritte zu thun, sah er auch zu bald ein, wie der gute Abbate Mafei ihm wohl nicht ganz traute und Alles that, sich diesen Gefährten entfernt zu halten. Er blieb daher in der ruhigen Sicherheit, sein bezeichnetes Opfer dennoch gewiß zu haben, bei der Marschallin zurück, entschlossen, hier indessen so viel Boden zu gewinnen, daß er fest stehe bei der Rückkehr des sorglosen Glückskindes.

[170] Es war der Marquis de Souvré, den die Marschallin herbeirufen ließ, und bald sah er sich in dem ganzen Vertrauen der besorgten Mutter.

Wie immer, gab er halb zu, was sie sagte, um desto besser sie zu seiner Meinung überführen zu können, und indem er sie noch ruhig sprechen ließ, sagte sie ihm schon nichts mehr, als was er zu hören wünschte. Mit der größten Sprödigkeit nahm er ihre Bitten auf, selbst nach Schottland zu gehen und ihres Sohnes Lage dort nicht allein zu erforschen, sondern ihn frei zu machen und so schnell, als möglich, zurück zu führen. Erst, als seine Eiwilligung ihr die höchste Gunst der Freundschaft schien, gab er sie und erndtete von einer Frau, die nie dankte, nie das Ansehn haben wollte verpflichtet zu sein, nun den vollsten Ausdruck von Beidem. –

Wir wenden uns vorläufig gern von einem Zustande der Seele ab, wie der war, mit dem der Marquis plötzlich die Wege vor sich offen sah, auf die er fastgetrieben ward, mit der sicheren Hoffnung, dem heiß beneideten Jünglinge seine äußeren Vorzüge zu verleiden, da er es nicht vermochte, sie ihm zu rauben. Wir werden ihn leider wiederfinden, und kehren zu der Unschulds-Welt zurück, die wir also bedroht wissen.

Das tägliche, ungestörte Beisammensein einiger Wochen hatte eine genauere, innigere Annäherung zugelassen, als in dem Geräusche der Welt oft Jahre vermögen. Leonin hatte die Vollendung des Sprachunterrichts übernommen, den Fennimor von ihrem englischen Vater nur bis auf einen gewissen Punkt erhalten konnte, und Fennimor hatte dagegen ihm ihre alten Legenden und Geschichtsbücher, vor allen aber ihre Bibel vorgetragen, worin sie ihn zu ihrem Erstaunen höchst unwissend fand, und welchen Uebelstand sie durch ihren ernsten Eifer, und indem sie bei ihm alle Regeln des Unterrichts anwendete, durch die sie selbst geleitet worden war, jetzt für immer zu heben hoffte. [171] Wir wollen nicht untersuchen, wie lange der Ernst solcher Studien jeden Tag anhielt, welche Rolle der Wald, die Blumen, die Vögel und alle die tausend lieblichen Kindereien dazwischen spielten, womit Fennimor ihre Einsamkeit bisher geschmückt, und die nun alle Leonin so wohl bekannt waren, als ihr selbst: gewiß bleibt es, daß der unverwandt sie anblickende Schüler oft kein Wort mehr von den alterthümlichen Figuren hörte, die sie mit dem vollen Eifer ihres Glaubens daran ihm einzuprägen suchte – blos noch das himmlische, von Locken, wie von einer Glorie, umsäumte Antlitz betrachtend, das so ernst, so glühend von ihrer Anstrengung, mit den leuchtenden Augen den schlanken Finger verfolgte, der über die vergelbten Blätter Leonin als Wegweiser dienen sollte.

»Du giebst wieder nicht Acht!« rief sie dann plötzlich, Alles merkend, »und sollst Du es nachher ohne das Buch wissen, dann ist die Arbeit umsonst gewesen.«

Aber schon mußte sie, selbst lachend, die Augen von seinem lachenden Gesichte abwenden, und wenn er dann die strenge Hand, die ihm drohen wollte, einfing, fiel ihr auch bald allerlei liebes Geschwätz ein, was nicht auf dem alten Pergamente stand. – Es blieb Leonin kein Geheimniß in dieser Seele, deren ganzes Bewußtsein ein redendes Mittheilen an ihn geworden war, und wie sie sich erweckt und belebt fühlte durch diese Hingebung und den ganzen Zauber dieser reinen und tiefen Liebe, so strömten in ihrer reichen Seele nur jeden Tag neue Entwickelungen hervor, an denen sie sich kindlich erfreute, sie alle dem Geliebten dankend.

Unser Gefühl hält uns zurück, den hinreichend durch unsere Mittheilungen dargelegten Zustand der beiden Glücklichen zu umschleichen; dennoch werden wir dies Gefühl in allen seinen Stadien andeutend verfolgen müssen, da es fortan die Atmosphäre oder das Schicksal dieser so innig sich gehörenden Wesen bildet, und ihr ganzes Leben gestaltet und bestimmt.

[172] Schon nahte sich die Zeit, die Leonin als die seiner Abreise angesetzt hatte, und er, wie Fennimor gingen ihr mit so bangem, beklommenem Herzen entgegen, als stehe ein Gewitter über Beider Haupt. Keiner wagte den Andern daran zu erinnern, aber Beide verstanden die bange Furcht ihrer Herzen, und wenn Fennimor sich plötzlich, weinend wie ein Kind, an seine Brust warf, frug er sie nicht, warum sie weine, und ließ auch den Thränen seiner eigenen Augen freien Lauf, denn er schämte sich dieses treuen Mitgefühls nicht.

Was dabei Crecy's Besorgnisse noch mehr erregte, als selbst Fennimors unerfahrenes Herz es auffaßte, war das sichtliche Abnehmen der Lebenskräfte des ehrwürdigen Sir Reginald. Diesem kindlichen Greise, der seit einigen vierzig Jahren die Wälder von Stir lings-Bai und ihre nächsten Umgebungen nicht mehr verlassen hatte – dessen Erinnerungen bis auf das Leben mit seiner Gattin erblaßt waren, der die großen Umwälzungen, die die Welt indessen erlitten, nur wie ein Schattenspiel ohne ihre wahren Farben, ohne von ihrem Einflusse berührt zu werden, an sich hatte vorübergehen lassen, der vom Leben sich so leise, so mild abgelöst, daß er nur, um Fennimor Gesellschaft zu leisten und ihre Existenz unangerührt zu lassen, das Leben fest gehalten hatte als eine noch nicht gelöste Aufgabe – ihm sank mit jedem Tage, jetzt, wo Fennimor ein neues Dasein ergriffen, das er kindlich unwissend durch Crecy's Herz für gesichert hielt, die Lebenssonne tiefer herab. Er fühlte in sich schon den Tag nahen, wo sie ihm versinken würde, und seine Züge trugen das Lächeln der Verklärung, wie einen liebevollen Trost, um die bleichere eingesunkenere Wange. Schon nahmen die sanften Laute der brechenden Stimme bei jeder liebevollen Anrede Abschied von dem Lebenden, und Crecy sah mit tausend bangen Gedanken, wie die schwankenden Schritte verriethen, daß die ehrwürdige Gestalt sich nicht mehr aufrecht zu tragen vermochte, [173] und die weißen Locken dem müden Haupte nach über die Brust zusammen fielen.

Fennimor sah die Veränderung ihres Vaters, aber sie kannte den Tod nicht, sie hatte noch nie daran gedacht, ihr Vater könne sterben, und so hatte sie immer eine neue Erklärung für seinen veränderten Zustand, wenn Crecy zuweilen schonend den Versuch machte, sie auf den immer unvermeidlicher werdenden Ausgang vorzubereiten. Oft wurde sein besorgter Blick von dem Greise errathen, dann reichte er ihm lächelnd die Hand. »Du wirst Fennimor jetzt meine Stelle ersetzen,« sagte er – »ich fürchte nicht mehr mein nahes Ende, und ein Vaterland wird sie überall finden, wo sie geliebt wird.«

Crecy hatte oft nicht den Muth, in solche Andeutungen einzugehen, aber er fühlte dennoch immer lebendiger heraus, wie groß und Besorgniß erregend die Veränderung sein würde, die Sir Reginalds Tod jetzt hervorbringen müßte, wo seine Verhältnisse Fennimor für den Augenblick weder eine Zuflucht bei ihm, noch Rechte darauf geben konnten.

Es findet sich am häufigsten, daß wir einen eigenen Fehler überwinden lernen, wenn wir ihn an Andern in seiner ganzen Stärke, mit allen seinen Nachtheilen hervortreten sehen, denn indem die Folgen unser Interesse gefährden, lernen wir selbst uns davon frei machen, indem wir uns dagegen zu sichern suchen.

So gern Crecy die Zukunft erwartete und der Gegenwart ohne weitere Anstrengung in unthätiger Muße angehörte, so war dies bei Sir Reginald, entweder durch den zuletzt erwähnten Zustand, oder aus dem kindlich ruhigen Einschlafen eines langen, einförmigen Lebens hervorgehend, in noch viel höherem Maaße der Fall, und dies ruhige, sorglose Erwarten der besorglichsten Zukunft, ohne auch nur mit einem Gedanken dafür eine Einrichtung treffen zu wollen, weckte nun Leonin zu Betrachtungen [174] darüber, die ihn eine Berathung mit Sir Reginald dringend wünschen ließen. –

Als sie sich so einst wieder errathen hatten und Sir Reginald, wie früher, jede Sorge für Fennimor in ihm erledigt hielt, dankte ihm Leonin herzlich für sein Vertrauen, und da Fennimor's Abwesenheit ihn unbehindert ließ, suchte er ihn zu einer berathenden Mittheilung zu bewegen: »Fennimor wird als meine Gattin, hoffe ich zu Gott, allen Schutz genießen, den Ihr mit Recht voraussetzt; aber denkt selbst, daß ich Euch bald verlassen muß, daß ich nicht wissen und bestimmen kann, wie lange mich die Fundirung meiner Angelegenheit, die ich zu Fennimor's Gunsten selbst nicht übereilen darf, von dieser lieben Stelle trennen wird; denkt, daß Fennimor bis dahin keine Rechte an mich hat, und ich keine an sie vor der Welt darf geltend machen, und fühlt dann meine Besorgnisse für ihre nächste Zukunft, wenn indeß der schmerzliche Augenblick einträte, dessen Ihr jetzt so oft gedenkt, daß Ihr mich selbst sein Möglichkeit habt annehmen lassen.«

Sir Reginald schwieg nach diesen Worten lange, und blickte ernst und mit sichtlicher Erweichung in die Ferne. »Mein Sohn,« sprach er dann – »Du bist weiser für die Welt bei Deiner Jugend, als mich das Alter, das uns von der irdischen Sorge bei ihrer erkannten Geringfügigkeit abzieht, erhalten hat. Du hast Recht – es liegt bis zu Fennimor's sicherer Zukunft an Deiner Seite noch ein Zwischenraum, den mein Tod für dieses theure Kind unsanft ausfüllen könnte, und in Wahrheit wäre ihre Lage bei ihrer weichen Seele alsdann bedroht genug. Ich würde sie bis zu Deiner Rückkehr sicher, wenn auch unerwünscht für das liebe Kind, der Lady Gersey haben anvertrauen können; doch ihr Aufenthalt in Edinburg und ihre großen Verhältnisse dort mit all' der Unruhe einer solchen Erbschaft überhäuft, machen dies unzulässig. Mein Sohn lebt leider so entfernt [175] und als Geistlicher an den Platz gefesselt, den er übernommen, daß ich ihn nicht veranlassen dürfte, zu Fennimor herüber zu kommen, so sehr sein edles brüderliches Herz dazu auch bereit sein würde; auch, glaube ich, steht ihm selbst eine Reise nach London bevor, da er sich dort zu vermählen denkt.« – Er schwieg, nachdem er so selbst die Schwierigkeiten hervorgehoben, die Fennimor aus seinem Tode erwachsen konnten, und sichtlich wußte er sich keinen Rath.

Nicht besser ging es Leonin, und tausend Mal wünschte er diese unselige, unerläßliche Reise schon hinter sich, um mit der ausreichenden Vollmacht eines unabhängigen Mannes Fennimor's Gatte zu werden, und sie gegen jede Zufälligkeit hinlänglich schützen zu dürfen.

»Am liebsten,« hob der Alte mit dem Tone an, dem man die erregte Besorgniß anhörte, »am liebsten wird sie Dich hier erwarten wollen, und bei Emmy Gray und ihrem Manne bleiben; aber dies ginge wohl, wenn sie Deine Frau wäre, wo sie für sich stehen könnte und man ihr keinen Vorwurf darüber machen dürfte, daß sie mit ihren Domestiken allein bliebe, bis Du zurück kehrtest; so aber würde sie unschicklich handeln, was wir nicht zugeben dürfen, da das gute Kind von der Welt noch nichts weiß und stets geneigt ist, das Natürlichste für das Beste zu halten – auch ist mir schon der Nachfolger ernannt, denn der Lord Gersey will seine Gemeinde nicht ohne geistliche Fürsorge lassen, und dieser mir wohl bekannte Kaplan wird mit einer starken Familie bald hier einziehen, wenn meine Augen sich schließen, und Fennimor würde viel Schmerz erleben, hier das Haus als Fremdling bewohnen zu müssen, wo sie einst so sinnig schuf und ordnete.«

Leonin hörte dem Alten mit Erstaunen zu. Erweckt über diesen Gegenstand nachzudenken, durchschaute er mit folgerechter Klarheit alle daliegenden Schwierigkeiten, und hatte sie doch [176] so lange, wie nicht existirend, bei Seite schieben können, wo der Gegenstand, den sie betrafen, ihm doch der wichtigste, theuerste auf Erden war. Leonin fühlte die Nothwendigkeit, hier entscheidend zu helfen, und doch sah er weder eine Möglichkeit dafür, noch gestattete ihm sein zärtliches Gefühl für den geliebten Greis, so ohne Schonung den unglücklichen Fall anzunehmen, der diese Verhältnisse alsdann herbeiführen mußte.

Da sagte plötzlich der alte Mann, aus tiefem Nachdenken erwachend: »Das Beste wird sein, mein geliebter Sohn, wenn ich Dir Fennimor zum Weibe gebe, ehe Du nach Frankreich gehst; dann hat sie mit dem ehrwürdigen Range einer verheiratheten Frau das Recht, sich überall hinzubegeben, wo Du es für gut hältst, und Emmy Gray und ihr Mann werden, bis Du sie nach Frankreich in Deine Besitzungen führst, hinreichend sein, da sie dann nur treue Diener braucht.« –

Es ist unmöglich, den Eindruck zu schildern, den Leonin von diesen Worten empfing – es war ein. Sprung in seinen Empfindungen, der so ungeheuer groß war, daß er ihm den Athem zum Ersticken versetzte, und er von den angeregten Gefühlen und Gedanken so überwältigt ward, daß er mit den Worten: »Vater, Vater, welch' ein Ausspruch!« zu seinen Füßen sank und seine Hände mit einer an Angst grenzenden Empfindung an seine Brust preßte. – Dies namenlose Glück, das zu erreichen, alle seine Träume, alle seine Wünsche umschloß, es erschreckte ihn, der Erfüllung so nah'. – Er fühlte eine plötzliche Unsicherheit, als könne er es nicht verdienen, nicht festhalten, was ihm mit so engelreinem Vertrauen geboten ward. Riesengroß stieg das ganze Gebäude von Hindernissen auf, das ihn in der Heimat erwartete, und das er durch diesen Schritt nur vermehrt sah. Aber der Gedanke, Fennimor solle ihm schon jetzt gehören, nicht die Last jener Wiederwärtigkeiten sollte dazwischen liegen – welch' ein Glück! Er frug nach einem zweiten, wie [177] dieses, und dennoch fühlte er sich davon bis zum Erschrecken, bis zum Verzagen überrascht, und blieb betäubt vor dem arglosen Spender dieses wunderbaren Geschenkes knieen, ohne es zu wissen, und ohne seiner Erschütterung Herr werden zu können.

Der sanfte Greis bemerkte es nicht; von der Anstrengung dieser Berathung ermüdet, sah er still vor sich nieder.

»O, Vater,« sprach Leonin endlich – »ist das Euer Ernst? wollt Ihr mich so bald, so ohne Bedenklichkeiten glücklich machen?«

Da erwiederte er mit dem sterbenden Lächeln eines Verklärten, als öffneten sich vor seinen Augen die Pforten der Zukunft: »Da sehe ich meine Fennimor an Deiner Seite vor mir am Altare knieen, und von ihrem Vater gesegnet, erfüllt sich ihres Herzens Wunsch; sie wird Dein Weib, und ich gehe ein zur ewigen Ruhe!« – Wieder schwieg er lächelnd, müde das Haupt gesenkt, und Leonin hatte eine wunderbare Bestätigung gewonnen – wie ein Engel hatte die Ueberzeugung ihn aus diesen Worten angeredet, er stand auf und sagte entschlossen: »Ja, mein Vater, es sei so, wie Ihr edel vertrauend mir anbietet! Zwar bin ich noch nicht majorenn, noch nicht unabhängiger Herr meiner Handlungen, aber ich fühle mich in meinem Geiste eben fähig, mir selbst die Unabhängigkeit zuzusprechen, und ich werde jede Verpflichtung zu vertreten wissen, die ich hiemit übernehme! – Aber sagt,« frug er nun mit dem vollsten Ausdrucke der Liebe, »wird Fennimor einwilligen wollen, so bald mein Weib zu werden?«

»Fragt sie selbst,« sagte Sir Reginald – denn eben trat Fennimor in die Thür und flog sogleich mit ihrem leichten Schritt auf Leonin zu.

»Fennimor, meine geliebte Fennimor,« rief er, sie an seine Brust drückend – »weißt Du, was der Vater so eben über uns bestimmt hat?«

[178] »Sag' es mir,« erwiederte Fennimor, heiter zu ihm aufblickend, »es ist gewiß recht was Gutes.«

»Ja Fennimor, das ist es,« fuhr Leonin noch belebter fort – »Du sollst, wenn Du mich nicht zurückweisest, noch ehe ich nach Frankreich gehe, mein Weib werden, und der Vater will uns selbst einsegnen vor dem Altare!«

»O, mein Gott,« – rief Fennimor, faltete schnell ihre Hände und fiel auf ihre Knie vor den Vater hin – »hältst Du mich denn jetzt schon so hohen Berufes würdig? Kann ich denn schon eine Frau sein zu Gottes Ehre, wie es doch so schwer und hochwichtig sein soll?«

»Du wirst das ja mit Gottes Hülfe lernen, mein theures Kind,« sagte der Vater ruhig, »und anfangen müßtest Du ja immer einmal, und wäre es nach Jahren erst.«

»Ja,« sagte Fennimor, »anfangen müßte ich immer einmal, da hast Du Recht, und Gott müßte mir doch später auch helfen, wie er mir jetzt helfen wird, da ich der Hülfe noch mehr bedürftig bin. Ach,« – rief sie nun, als habe sie den Ernst der Sache abgethan, und stand schnell, gegen Leonin gewendet, auf – »und dann bin ich Dein Weib, und Du mußt um so eher wiederkommen, und Deine Mutter ist gleich meine Mutter, und sie wird mich um so schneller lieb haben, wenn Du ihr Grüße von ihrer Tochter bringen kannst.«

Crecy verbarg sein Gesicht in ihre Locken, es ging ein trüber Schatten drüber hin, sein Herz ward zusammen gedrückt, sie hatte selbst ihre drohende Zukunft in ihm herauf beschworen.

Aber selbst diese Anregung, wie hätte sie nach Fennimor's Einwilligung die Macht haben können, das Glück zu trüben, von dem er sich bald allein noch erfüllt fand; die Zukunft mochte senden, was sie wollte, ihm gehörte die Gegenwart, mit jedem Zauber für das Herz ausgestattet, und er wollte Alles vergessen, um sie vollständig zu schätzen.

[179] Wenige Tage vor seiner Abreise sollte seine Vermählung mit Fennimor in der Kirche der Abtei stattfinden. Nach reiflicher Ueberlegung beider Männer sollte dieselbe ein Geheimniß bleiben, so lange Sir Reginald am Leben bliebe, und Fennimor erst im Fall des Alleinstehens das Recht haben, sich in der unabhängigen Stellung einer verheiratheten Frau zu zeigen. Dies schien Leonin höchst nöthig, um seine Mutter langsam auf seine Entschlüsse vorzubereiten, und ohne daß er diesen Grund gerade hervor hob, fand der Wunsch, seine Aeltern selbst von seiner Vermählung zu unterrichten, bei Vater und Tochter die größte Billigung – denn an jener Einwilligung zweifelten Beide nicht nach Leonin's Zusicherung derselben; und nachdem Fennimor den zärtlichen Brief der Marschallin an ihren Sohn gelesen, worin sie, besorgt für sein Vergnügen, ihm dort wegzugehen rieth, hielt sie seine Mutter für den Inbegriff aller Güte und Liebe, und hing schon jetzt mit kindlicher Zärtlichkeit an ihr.

Emmy Gray und ihr Mann sollten die nöthigen Zeugen abgeben, darüber von Crecy und Sir Reginald ein Dokument aufgesetzt werden, welches von Allen unterzeichnet, die Legitimation dieses priesterlichen Aktes enthalten sollte, und alle Theile hielten sich damit für gesichert und beruhigt; wobei von Fennimor natürlich nicht die Rede sein konnte, welche, in gänzlicher Unwissenheit über diese Formen, ihnen vollkommen gleichgültig zusah. Ueberhaupt konnte nichts ihren Schmerz über die nahe Trennung von Leonin zerstreuen. Sie begriff nicht, wie sie leben könnte ohne ihn, und empfand eine solche Herzensangst bei dem Gedanken, ihn nicht mehr sehen und hören zu sollen, daß Todtenblässe sogleich ihre Stirn bedeckte und der Schmerz wie ein körperliches Leiden sie ergriff. Sie versuchte Leonin's Freude über diese Vermählung zu theilen, aber sie hatte nie, wie er, Schwierigkeiten für ihre dereinstige Erfüllung gesehen, sie konnte daher auch keine größere Sicherheit dadurch gewinnen; und der [180] Gedanke, eine Frau zu sein, wovon sie sehr schwerfällige, ernste Vorstellungen hatte, die sie um ihr heiteres, kindliches Umherschwärmen zu bringen drohten, erfüllten ihren Geist mit bangen Bildern, die nur durch Leonin's Freude und seine erhöhten Liebesbeweise zuweilen zerstreut wurden.

Was dazu beitrug, Fennimor's Herz zu quälen, war die laute unverholene Mißbilligung, welche Emmy Gray bei der Mittheilung dieses Entschlusses aussprach.

Niemals hatte sie so, wie die übrigen Mitglieder des Hauses, sich an Crecy anschließen können. Als Spielkameradin, Dienerin und Freundin, durch die Jahre, die sie älter war, und die sie sogar zur Frau und Mutter gemacht, hatte sie über Fennimor mehr Gewalt bekommen, als sich zuerst darlegte, und indem sie mit enthusiastischer Liebe an ihr hing, bewachte sie zugleich mit der größten Eifersucht das Leben eines Wesens, wogegen Mann und Kind ihr fast gleichgültig waren, und das sie, indem sie sich stets bereit fühlte, ihr ganzes Interesse dafür hinzugeben, auch als eine Art Eigenthum für sich zu erhalten strebte.

Für Fennimor's Ehre, Ansehn und künftiges Glück trug sie die übertriebensten Vorstellungen in sich. Was Crecy an Namen, Rang und Vermögen ihr bot, schien ihr nur grade so, wie es ihr zukam; sie dachte diese Vorzüge durch eine große öffentliche Vermählung erst recht ins Licht gestellt zu sehen, und hoffte dadurch alle die Kammermädchen der Lady's auf dem Schlosse zu lehren, wie die Ansprüche ihrer jungen Herrschaft genau so groß seien, als die der ihrigen.

Ernsten, finsteren Gemüths legte sie überhaupt auf Heirathen keinen Werth, ja, sie hatte die ihrige, obwohl John Gray der beste Mensch und ihr innig zugethan war, schon längst bitter bereut, und nur, weil er ihr vollkommene Freiheit ließ, nach wie vor ihren Dienst bei Fennimor zu verrichten, ertrug [181] sie dies Verhältniß, erhielt ihm ihre kühle Liebe und bestellte mit rechtschaffener Strenge ihr gemeinschaftliches Haus.

Crecy's Erscheinen trennte sie zuerst von der ununterbrochenen Gemeinschaft mit dem Abgotte ihres Herzens, zu dem sie Fennimor gemacht, und das Glück, das sie durch diese Liebe über jene verbreitet sah, konnte sie, indem sie dieselbe nicht zu verstehen vermochte, auch nicht mit ihrem dadurch erlittenen Verluste versöhnen.

Es trat ein fast unbezwingliches Zürnen gegen denjenigen ein, der es wagen wollte, ihr Fräulein so zu lieben, wie sie selbst, ein anderes höheres Glück ihr zu bieten, als sie es ihr bisher bereitet. Nur ihr Ehrgeiz und die Erwartung, wie sie durch den hervortretenden Glanz ihres Lieblings dereinst Alle auf Schloß Stirlings demüthigen wollte, versprach ihr Ersatz und einigen Genuß, wobei sie mit milderen Empfindungen gegen Crecy sich dessen Mitwirkung versprach.

Wie mußte sie daher die Nachricht aufnehmen, daß von allem diesem bei der beabsichtigten Vermählung nichts sich ereignen würde!

Ihre Empörung kannte keine Grenzen. In Thränen gebadet, warf sie sich ihrer jungen Gebieterin zu Füßen und bat sie, diesen ehrlosen Vorschlag nicht einzugehen, nicht wie ein verlorenes Mädchen heimlich und ohne den Glanz, der ihr zukäme, den Altar zu betreten.

»Ja, Emmy,« – sagte Fennimor betrübt – »ich habe auch immer geglaubt, ich müßte dies einmal ganz öffentlich thun, so wie Du damals, wo Dir die Jungfrauen alle folgten, und die Kinder Blumen streuten, und es so schön den ganzen Tag war.«

»Ach, und ich – was bin ich gegen Euch!« rief Emmy. – »Ihr, die ein Fürst hätte wählen können und sich damit geehrt hätte – Ihr, Ihr sollt nun so hinter dem Altare herkommen, als müßtet Ihr Euch schämen vor der großen Ehre, [182] die ein so fremder Graf Euch erzeigen will; und zwei so schlechte Leute, wie ich und John, sollen Zeugen sein, wo die ganze Grafschaft hätte eingeladen werden müssen, und die Ladys Gersey's Euch die Schleppe tragen.«

»Ach,« sagte Fennimor, rasch von ihrem Schemmelchen aufstehend, vor dem dies Gespräch vorfiel – »wenn die ganze Grafschaft hätte dazu kommen müssen, und die Gersey's meine Schleppe tragen, dann ist es mir doch viel lieber, daß wir so recht still bei einander bleiben können und die Andern gar nichts davon wissen, denn lustig kann ich doch nicht sein, weil Leonin zwei Tage darauf abreisen muß.«

»Ach,« weinte Emmy, »Ihr redet, wie Ihr es versteht, und das ist eben schändlich, daß man Eure Unwissenheit benutzte, Euch so um Euren besten Lebenstag zu betrügen; wer weiß, was der fremde Herr Graf, dem ich nie getraut, gegen Euch im Schilde führt!«

»Schweig'!« rief Fennimor schnell, mit der vollsten Energie einer Gebieterin, »wie kannst Du in Deiner Thorheit ihn angreifen wollen, der Alles aus Liebe zu mir thut? Hüte Dich mit Deinen unbesonnenen Worten, jetzt will ich nie mehr davon hören! – Was er will und mein Vater gut heißt, das ist das Rechte, und wie froh bin ich, daß ich Deine ganze Grafschaft und die dummen Gersey's los bin, die ohnehin denken, ich kann nicht schreiben und lesen.«

»Nun, so sei Euch Gott gnädig!« rief Emmy, heftig aufstehend, »und namenloses Elend bis ans Ende seines Lebens mag über den kommen, der Euch nicht glücklich macht, und Euer und Eures Vaters Vertrauen mißbraucht! – Mir ahnet heilloses Unglück von dieser Heirath, so verstohlen betrieben, als wären wir Alle Betrüger; und der Traum Eures Vaters wird wohl Recht gehabt haben, denn grade den Tag, wo die selige Mutter ihm erschienen und so um Euch geweint hat, da [183] haben wir den Herrn Grafen zuerst gesehen – o, hätte mich doch lieber der Eber zerrissen, als daß ich Euer Unglück sehen muß!« –

»Aber, Emmy, Emmy,« rief Fennimor, minder erzürnt und durch den heftigen Kummer ihrer Dienerin besänftigt – »hier ist ja gar nicht von Unglück die Rede – das einzige Unglück ist ja, daß er bald abreist, und daß mein Bruder nicht hier ist; sonst ist es mir ja viel lieber, daß wir ganz allein sind, denn eine Schleppe ziehe ich gar nicht an, und Du bist mir ja tausend Mal lieber, als die ganze Grafschaft und alle Gersey's!«

Diese letzten Worte verfehlten nicht, Emmy einigermaßen zur Ruhe zu stellen, und obwohl Fennimor ihren ersten Kummer fühlte, war es doch nicht der, der Emmy unter tausend Thränen die Nacht auf ihrem Lager wach erhielt.

Indessen war diese Stimmung der armen Emmy nicht dazu geeignet, die bange Erwartung ihrer jungen Gebieterin zu zerstreuen, die mit ihrem tief ergriffenen Herzen in jeder Vorkehrung zu ihrer Vermählung zugleich die nahende Abreise Leonin's heraussah, und so fast mit Schauder darauf einging, immer mit der Ahnung eines tödlichen Schmerzes im Herzen, überdeckt noch von dem Zauber der Gegenwart, den Beide festhielten, als läge dahinter ein bodenloser Abgrund.

Wunderbar entwickelte dieser erste heiße Schmerz an Fennimor die Verwandlung des fast kindlichen Mädchens zu einer höheren Stufe; denn wir müssen es dem Schmerze zugestehen, daß er am schnellsten das Innere des Menschen zeitigt und, indem er ihnen die Blüten von den leicht geschwingten Zweigen streift, die kein irdischer Frühling ihnen wiedergiebt, doch das innere Mark des Lebens emportreibt, was dann erst die bildende Kraft für die in der Blüte nur angedeutete Frucht wird.

Kein Mensch hätte Fennimor jetzt, wie wenige Wochen früher, noch für ein Kind halten können. Dieses Gefesseltsein [184] am Augenblicke, dieser auf das Nächste gerichtete lachende Blick, der sonst nur mit dem Ernste wechselte, den gute Kinder zeigen, wenn sie aufmerken sollen, was Alte wollen – wie war das Alles weggewischt von Fennimor! Sie war nicht minder schön, ja, vielleicht noch anziehender, wenn man den seltenen Genuß vergessen hatte, der ihre frühere Erscheinung durch den Ausdruck einer vollkommen ungetrübten Seele fast zu der eines Engels machte.

Ihr rundes Kinn hatte sich fein gesenkt und ein liebliches Oval aus der Kinderform gebildet, die Nase war länglich durchsichtig aus den sonst sie verkleinernden vollen Wangen hervorgetreten, und die Augen zeigten erst jetzt ihre leuchtende Größe, wo sie von dem unschuldigen Lächeln kindlichen Frohsinns nicht mehr so oft in die Länge gezogen wurden. Größer war sie auch geworden und schlanker, oder diese regelmäßige Gestalt zeigte sich erst, da sie langsamer ging und ein Auge gewonnen hatte für ihre Kleidung durch Leonin's Freude daran. Dabei war der Zauber einer unsäglichen inneren Befriedigung um sie verbreitet, die, unabhängig von dem jetzt damit verbundenen Schmerze, ihr durch Leonin's Liebe gänzlich befriedigtes Herz andeutete und ihren Worten, dem Ton ihrer Stimme, dem Blick ihres Auges den vollen warmen Hauch der schönsten Begeisterung gab. Und dennoch war sie nicht mehr glücklich! – Sie hatte nach einem höheren Lebensgute gegriffen, als das Spielzeug der Kinderstube, und schon mußte sie den Tribut zahlen; denn neben dem höchsten Glück erwartete sie schon der Schmerz, und sie fühlte, noch behütet von der Liebe, doch schon seinen eisigen Hauch über sie hinstreichen.


[185] Einige Tage später ließ sich bei sinkender Sonne auf dem festen Landwege, der von der Edinburger Landstraße ab nach Stirlings-Bai führte, der Hufschlag eines Pferdes hören. Der Reiter hielt die Zügel an, als er die Meierei zu erkennen glaubte, die man ihm als passend zum Nachtquartier bezeichnet, und alsbald folgte den hinter den Hecken lauschenden Kindern, die auf schnellen Füßen nach dem Hause zu verschwanden, eine rüstige Frau, welche sich durch Gruß und Anrede als die Wirthin bezeichnete. – »Weit des Weges?« frug sie, ohn' Bedenken den Steigbügel ergreifend und dem Gaste vom Pferde helfend.

»Weit genug, um gern bei einer freundlichen Wirthin ausruhen zu mögen,« erwiederte der Reisende, jetzt als ein junger, gewandter Mann sich der aufmerkenden Hausfrau zeigend.

»Was wir haben, mag Euch gehören« – war die bereitwillige Antwort, doch mit ernster, gleichgültiger Miene gesprochen.

Sie traten darauf in das Haus oder vielmehr in den großen Hausraum, der eigentlich in seiner Zusammenstellung die ganze Existenz der Familie umschließt, und ihre ganze Chronik uns zu erzählen wüßte, da in seinem Umfang Alles bewirkt und verrichtet wird, was ihr einfaches Leben erfordert. Von der mühseligsten Arbeit an bis zu den seltenen Festen, von dem Nahrung spendenden Heerde und der langen daran stehenden Eßtafel, die alle Mitglieder versammelt, bis zu den kleinen, kaum ausreichenden Verschlägen, wohinter Aeltern und Kinder, Kranke und Alte ihre Ruhestätte finden, umfaßt dies alles der Hausraum, und sanft wiegt die Müden auf ihrem Nachtlager das leise Schnalzen der wiederkäuenden Kühe ein, deren Ställe mit diesen Lagern in enger Gemeinschaft stehen, und welche ihre Vorrathskammer, ihre Chatulle, ihr größter Besitz, ihr einziger Stolz sind.

Wie sehr der Reisende, der hier eingeführt war, auch in seiner ganzen Weise die Verwöhnung der höheren Stände verrieth[186] – die bisher zurückgelegte Tour hatte ihn bereits bekannt gemacht mit den Erwartungen, die man von einem Nachtlager, fern von der großen Straße, hegen durfte, und seine Stimmung war ganz geeignet, ihn gegen die zu erwartenden Mängel gleichgültig zu stimmen. Das Feuer, welches bald aus seiner dumpfen Ruhe zum lustigen Lodern aufgeweckt war, tröstete ihn, da seine Kleider feucht und von Nebel durchnäßt waren, bald für das Uebrige, und er fand seine schweigsame Wirthin geschickt genug, die gebratenen Speckstücken in Eier zu backen und den Becher mit Ale aus einem guten Fasse zu füllen. – Schwerer hielt es, ihr Rede abzugewinnen. Ihre Verrichtungen schienen ihre Gedanken in den Händen fest zu bannen; dabei krochen nach und nach fünf bis sechs zerlumpte Kinder aus den Winkeln, wohin sie sich vor dem Fremden geborgen hatten, hervor, und da sie nicht unempfindlich für das Abendbrod desselben blieben, hatte die ernste Mutter zu wehren, zu zanken und zu strafen, welches allgemach ein ziemlich lebhaftes Treiben hervorrief, aber nicht zu Gunsten des Fremden, der noch immer an seinen Fragen behindert blieb. Eine Schüssel Milch und gleichmäßige Portionen Brod versammelten endlich die junge Gesellschaft auf einen Punkt, und es trat Ruhe ein.

»Wie lange habe ich morgen bis nach dem Schlosse?« hob jetzt der Fremde aufs Neue an.

»Nun,« erwiederte die Wirthin – »um die Bucht herum seht Ihr die Abtei, da geht's bergan, doch eine Meile trägt's nicht aus! – Wollt Ihr dahin?« frug sie jetzt selbst.

»Es ist vorläufig mein Ziel,« sprach der Fremde.

»Die Essen rauchen dort nicht, und die Wälder sind einsam worden,« fuhr das Weib in ihrer Weise fort – »sie sind in Trauer und beerben die Ahnfrau in Edinburg.«

Der Fremde schien nichts Unerwartetes vernommen zu haben; er frug ohne Erwiederung fort: »Und findet sich Niemand [187] zum Empfange von Fremden? Haben denn Alle das Schloß verlassen?«

»Diener genug, Zimmer genug – aber die Essen rauchen nicht, und der Herrenraum ist leer.«

»Und doch erwarte ich, dort einen Fremden zu finden, der das Schloß nicht verließ, wie ich weiß, und für den sicher Sorge getragen ward.«

Die Wirthin blickte jetzt zuerst auf, und indem sie die Hand über die Augen hielt, überliefen ihre Blicke schnell und prüfend den Fremden – sie schwieg nach dieser Bewegung und blickte wieder vor sich hin.

»Nun, könnt Ihr mir nicht sagen, ob ein solcher Bewohner im Schlosse zu finden ist?« –

Eine Bewegung zwischen Lachen und Hohn verunstaltete augenblicklich das Gesicht der Frau; dann stand sie müde auf, ergriff einen Kienspahn, den sie über das Feuer hielt, und erwiederte, schon im Abgehen: »Die Abtei ist groß, der Heerd versorgt, und für Jugend und Müßiggang ist der Tag zu kurz! Wenn sie morgen läuten, wird's nicht umsonst sein – Blumen wird Keiner streun – die Krähen hacken den Rasen auf dem Kirchhofe, sie wissen, was für Arbeit kömmt – nirgends war Rosmarin voller, als an der Abtei-Pforte. Aber noch wissen sie alle nicht, wie viel unter der schwarzen Decke Raum haben – nur, wer in der Mondwende geboren ist, sieht das Gespenst. – Ihr, denke ich, werdet es ihnen lehren!«

Es war, als ob ihre Gestalt im Abgeben wuchs; der flackernde Kienspahn, den sie trug, malte ihren Schatten riefengroß an der Wand – der Fremde fühlte eine Berührung aus einer Welt, die er belachte und verachtete – es half ihm nicht, daß er raisonnirend dies Weib unter die träumerischen Monosüchtigen versetzte, an denen Schottland reich ist; er konnte die Kälte und Erstarrung, die ihn befallen, erst nach einigen Minuten [188] beseitigen, und es steht zu glauben, daß diese äußere Anregung mit einem ihm wohlbewußten Zustande seines Inneren zusammengefallen war.

Als die Wirthin wiederkam, war der eben hervorgetretene Trieb verschwunden; gleichgültig zeigte sie ihm das frische Heu, was sie für ihn aufgeschüttet, und er fand, mehr als er gehofft, zwei reine Decken darüber gebreitet.

Wir sollten billig erstaunen, daß der Reisende einen so festen Schlaf auf seinem Lager fand, daß er die Frühstunde der Abreise versäumte und erst er wachte, als ein kleines Mädchen, welches sich neugierig über den Schläfer gebogen hatte, ausglitt und, queer über sein Gesicht fallend, jetzt in Schreck und Angst gesetzt, ein lautes Geschrei ausstieß. Das gegenseitige Aufraffen brachte die vollständigste Ermunterung des Gastes hervor – und er mußte sich bald überzeugen, daß außer dem eben so kleinen Buben, der die schreiende Schwester wegführte, er der einzige Anwesende im Hause war. Sein Pferd war gesattelt und an die Thür gebunden – auf dem Eßtische stand eine Schale mit Milch und Brot daneben, und selbst die Bewohner der Ställe waren verschwunden. Es kümmerte ihn wenig, und schnell gerüstet, legte er ein Geldstück neben das gut befundene Frühstück, und bald sehen wir ihn auf dem Rücken seines ausgeruhten Pferdes die Höhe erreichen, von der aus der See mit dem Schlosse von Stirlings und darüber die mächtigen Thürme der Abtei sichtbar wurden.

Er schenkte diesem wahrhaft bezaubernden Gemälde wenig Theilnahme, obwohl die Sonne in der späteren Stunde hervorgetreten war und es zu verklären schien; den See mit seinem dunklen, ruhigen Spiegel hatte sie noch nicht erreicht, aber die Thürme der Abtei und die Wipfel des rund herum ausgebreiteten, vom Herbste bunt gefärbten Waldes erleuchtete sie mit einem Glanze, daß die majestätische Schönheit von Beiden imponirend [189] die Seele erfassen mußte. – Aber der Mensch legt in jedes Bild der Außenwelt hinein, was in seinem Innern vorherrscht.

Der Fremde dachte, indem er den Zügel seines Pferdes nachdenkend anhielt, wo er am schnellsten dies gute Thier unterbringen könne, um alsdann unbemerkt und zu Fuße das Terrain näher zu umschleichen, wohin seine Gedanken nur in einer Beziehung gerichtet waren. In demselben Augenblick erhoben die Glocken ihre harmonischen mächtigen Stimmen – und der See schien aufzuwallen, als höbe sich seine ruhige Tiefe den heiligen Klängen entgegen; um die Wipfel der Wälder lief ein leises Rauschen, und sie bogen die riesigen Häupter, als käme der Morgenwind, den sie begrüßten, mit dem Klange der Glocken.

Und der Fremdling hörte ihren Ton, um sich zu erinnern, daß das Weib in ihrer weitsichtigen Redeweise darauf hingedeutet, als ein Ereigniß verkündigend – die letzte Mahnung an sein Gewissen ward von dem festen Beschluß eines gegen höhere Einflüsse gesicherten Herzens überhört. Er benutzte die erste Hütte am Wege, um dem müßig davor kauernden Knaben die Zügel seines Pferdes zuzuwerfen, und es unter dem breiten Schatten eines Ahorns gesichert haltend, nahm er den Rath über den kürzesten Weg nach der Abtei-Kirche von dem Knaben an, überschritt die heilige Schwelle derselben ohne Bedenken und barg sich, dem Hochaltare gegenüber, in einem hochbelehnten Chorstuhle, der nichts, als ihn selbst, der Beobachtung entzog.

Der Früh-Gottesdienst war beendigt bis zum Segen, der so eben mit einer tiefen, bewegten Stimme über die Anwesenden gesprochen ward. Der Greis, der den Hochaltar bediente, stand in der Verklärung eines Apostels da – seine Augen ruhten einen Augenblick auf der kleinen knieenden Gemeinde – aber dann suchten sie, wie seine Seele, den Himmel, und als sie sich erhoben, ruhte der Glauben drinnen, der Berge versetzt – und [190] er sagte mit diesem Blicke zum ganzen Leben: Es ist in Deiner Hand! –

Die Gemeinde verließ die Kirche, und der Fremde, den wir begleiten, würde vielleicht gefolgt sein, da es schien, als habe er hier nichts mehr zu thun – hätte ihn nicht der wunderbare Greis mit ahnungsvoller Neugierde gefesselt. Er hatte auf den Stufen des Altars seine müden Kniee gesenkt, und unter dem Schatten seiner weißen Locken hing der Kopf in betender Demuth auf der gebeugten Brust. Der scharfe Beobachter hatte hier bald eine ungewöhnliche Gemüthsstimmung erkannt, und seine Augen suchten unruhig nach der Ursache.

Ein alter Diener der Kirche zeigte sich endlich – er verschloß den Ausgang nach dem Wege, den die Gemeine gegangen, und öffnete gegenüber eine große Bogenthür, welche den Wald mit seinen Buchensäulen und seinem schimmernden Rasenteppich in solchem Glanze der Sonnenglut zeigte, daß er ein blitzender Edelstein erschien in der kunstreichen Fassung der schönen architektonischen Thürwölbung. – Weiter fuhr der Alte fort, mit leisem Schritt einen Teppich zu entwickeln, den er von der Schwelle an bis zum Hochaltar ausbreitete, und belegte die untern Stufen des Altars mit zwei Kissen. Er war jetzt nicht mehr allein; eine junge Frau in stattlicher ländlicher Kleidung war aus dem Walde zu ihm getreten, sie trug in ihrem Arme Blumen, wie der Herbst sie noch sammeln ließ, und ordnete sie kunstreich auf dem Teppich und um die Stufen des Altars.

Die Nähe des betenden Greises schien beiden ein ehrfurchtsvolles Schweigen aufzulegen, und die Thränen, die aus den Augen der jungen Landfrau, wie aneinander gereihte Perlen, flossen, wurden alle leis in einem Tuch aufgefangen, und jeder Laut der kämpfenden Brust unterdrückt. Dann verließ sie nach Beendigung ihrer Ausschmückung die Kirche, und der alte[191] Küster erschien nun im vollen Schmucke seines rothen Chorrockes, und nahm in ehrfurchtsvoller Erwartung an dem Eingange der Thüre Platz.

Es war kaum möglich einen großartigern Eindruck zu empfangen, als hier in der Wirkung von zwei gleich erhabenen Erscheinungen lag, die, so verschieden, doch eines inneren Zusammenhanges nicht entbehrten. – Der Wald zeigte mit dem riesenhaften Baue seiner Buchenstämme und seinen hochgewölbten Aesten, daß die Natur in ihrer unendlichen Schönheit die Lehrmeisterin des Menschen war, und die Bewunderung, die sie in der Seele desselben zu wecken wußte, die Pfeiler in Marmor und Stein heraufwachsen ließ, und sie wie Laubwerk geformte Bogen überwölbte, eine kühne, erhabene Nachbildung des Natur-Heiligthums, woraus die Andacht mit den wachsenden Schätzen sich retten wollte gegen den unerbittlichen Wechsel der Jahreszeiten.

Wer durfte zweifeln, daß der Wald, der in seinem vielhundertjährigen Alter auf jede in seinem Bereich entstehende Schöpfung niedergeschaut, die Seele des Künstlers erfüllt habe, der Pfeiler steigen ließ und Bogen ineinander schlang, als habe die Natur in ihrer harmonischen Schönheit den harten Stein mit dem Leben der Vegetation durchdrungen, und, die sehnsüchtige Inbrunst des frommen Bauherrn erhörend, sich den Schmuck ablauschen lassen, womit sie in ihrer verschwenderischen Mannigfaltigkeit immer anders, immer schön und doch im großartigen Zusammenhange zu schaffen versteht. Es war ein Dom in den andern hineingewachsen, oder eine Kapelle in dem himmelanstrebenden Dome der Natur, der sie von allen Seiten umschloß.

Und aus diesem großen Dome der Natur überschritten jetzt zwei Wesen die Schwelle der Kapelle, leicht getragen von Jugend und Schönheit – klar in dem holden Schein einer Andacht, [192] die ihnen Heiterkeit und Entzücken gab, und so leise und ehrfurchtsvoll nahend, wie Engel den Dienst des Herrn erfüllen mögen. Das Mädchen hatte den bedeutungsvollen Kranz über den Schleier gesetzt, die vollen Locken, die wie ein Heiligenschein in dunkler Fülle mit goldenen Lichtern das himmlische Antlitz umsäumten, schienen sich so warm und lebendig hervorzudrängen, als begehrten sie den fremden Schmuck zu entfernen – und man hätte versucht werden können, die Flügel zu suchen, die dieser kindlichen Jungfrau den leichten Fuß verliehn, der unter dem langen weißen Gewande wie ein Hauch über den Boden glitt. Die Blumen, die auf ihrem Wege lagen, schienen ihre Gespielen, die sie lächelnd wiederfand – sie neigte sich wie eine Nymphe und hielt schon eine weiße Aster in der Hand, welches die junge Frau, welche sie gestreut und jetzt an der Seite eines Landmannes ihr folgte, nur mit der Freude sah, die sogleich in Thränenströmen sich ergoß. Aber auch der Jüngling, der im heil'gen Entzücken an den Fingerspitzen das Engelsbild zum Altare führte, wie war er schön geworden, und jung und unschuldig und fromm! Das große Leben der Höfe hatte ihn vergeblich vollenden sollen nach der Sitte der Welt – die Liebe hatte ihn umgeformt, das Erlangte paßte nicht in die Unschulds-Welt, in die sie ihn führte, und war vergessen, und die Spuren verwischt aus dem menschlich verklärten Antlitz auf den Stufen des Altars.

Der betende Greis ahnete die ehrfurchtsvll hinter ihm Harrenden. – Er fand, als er sich aufrichtete, die beiden Hände zu seiner Unterstützung, die er sogleich vereinigen wollte. Kindlich knieten sie dann vor ihm nieder, und er blickte sie an. Vielleicht waren sie damit eingesegnet und vor Gott vereint; denn der Blick eines Vaters in der Segensfülle zärtlichster Liebe muß alle Funktionen der priesterlichen Weihe umschließen, ja, sie fand daher vielleicht ihren Ursprung. Doch durchdrungen von [193] diesem, ihrem wahren Sinne, ward die Weihe des Priesters wirklich ein höherer Segen, welcher die Empfangenden mit heiligendem Feuer berührte und den Greis über die Gewalt des beugenden Alters, über die Weichheit irdischer Betrachtung emporhob zum Gottgeweihten Priester, zum Wiedergeber des göttlichen Segens, den er empfangen. –

Der große Moment war vorüber. Der Vater drückte noch vor dem Altare beide junge Leute an seine Brust, und legte dann ruhig die Tochter in die Arme ihres jungen Gemahls. Der Kirchendiener breitete indessen auf dem Altar eine Schrift aus, der sich Alle näherten, die selbst von den beiden ländlichen Zeugen mit einer ihnen möglichen Unterschrift oder Zeichen versehen ward, und die der Kirchendiener dann wieder zusammenschlug und den Voranschreitenden nachtrug. Dies Mal führte der Geistliche das junge Paar an beiden Händen, als wolle er sie so der Welt, der sie nunmehr verfallen waren, entgegen führen. –

Schon lange hatte die lautloseste Stille in den eben so belebten Räumen ihre alte Wohnung genommen, und kein wichtigeres Ereigniß blieb zu erwarten nach dem eben vollbrachten; auch war es nicht die Hoffnung darauf, die den Fremden noch an seinen Platz fesselte – sondern sich selbst gönnte er eine äußere Ruhe, die er hier vollständig fand, und deren sein, von dem Vorhergegangenen fast überfüllter, Geist benöthigt schien. Er hatte hier, indem er diese ganze Ceremonie zugelassen, eine Stellung genommen, über die selbst sein rascher Geist nicht gleich die völlige Klarheit gewann, denn er konnte sich nicht verhehlen, daß nicht allein sein böser Wille das Ereigniß zugelassen, sondern daß das Ereigniß selbst mit seiner klaren, bestimmten Folge, welches das, was er ergründen wollte, außer Zweifel und abgeschlossen vor ihm hinstellte, ihn zu einem willenlosen Zeugen gemacht hatte, was er jedoch, [194] wie es ihm erschien, niemals würde eingestehen wollen. Auch war das nächste Resultat der Selbstberathung, so unbemerkt, als möglich, für den heutigen Tag den Rückzug zu nehmen und erst am andern Morgen anzukommen. Nach diesem Beschlusse blickte er lächelnd auf die Karten, die, zu seinen Gunsten gemischt, alle Farben enthielten, und die nur die Hand des geschickten Spielers zu erwarten schienen. –

Auf wenige Augenblicke hatte sich am andern Morgen der Graf von Crecy von seiner jungen Gattin getrennt, um in Schloß Stirlings seine vielleicht auffallend werdenden Angelegenheiten zu motiviren, als seine Worte darüber von dem alten Haushofmeister unterbrochen wurden, der ihm die Meldung eines Fremden machte, der, aus Paris angekommen, den Herrn Grafen zu sprechen wünsche.

Als ob einem süß Träumenden eine kalte Hand auf die Stirn gepreßt würde, so erschütterte diese Nachricht den jungen Mann. Ein Hauch aus jener Welt, die der seinigen nur widersprechend entgegen treten konnte, schien den Schmelz zu zerstören, der so zart wie der Duft einer Blume, dem armen Menschenherzen nur bei dem ersten frischen Entfalten eines Glückes zu Theil wird und, eben so schnell zerstört wie entstanden, die Sehnsucht danach allein zurück läßt. Erschrocken, ahnungsvoll und durchaus ohne Fassung für eine schnell hereinbrechende Katastrophe, die er selbst einzuleiten gedachte im Laufe der Zeit und seinem jetzigen Glücke noch aus dem Wege gerückt glaubte, fühlte er sein Nachdenken erlahmt, und es trat die dann so natürliche Hast ein, womit wir uns den Befürchtungen entgegen stürzen, dunkel hoffend, von ihren Anforderungen die erschreckten, erlahmten Kräfte wieder zu gewinnen.

»Wo, wo?« rief der junge Graf, und der Ton seiner Stimme klang, wie die zerreißenden Seiten eines Instruments – »wo ist der Fremde, der mich zu sprechen wünscht?«

[195] Der alte Haushofmeister schlug bloß die Augen auf und verneigte sich, der Graf blickte sich um – und der Marquis de Souvré stand vor ihm.

»Großer Gott, Ihr selbst!« rief der Graf und überließ es dem Andern, die Auslegung dieser Worte in seinen bewegten Zügen zu suchen – »ist es möglich! Was führt Euch aus Paris hierher in diese Einsamkeit, an diesen für Euch so freudenlosen Aufenthalt?« –

Der Marquis schien sein ewig blasses Antlitz zu noch größerer Blässe gezwungen, die scharfen, nach Innen gesenkten Züge noch fester verschlossen zu haben, und die Festigkeit, womit er, von dem jungen Grafen einige Schritte entfernt, Platz behielt, zu benutzen, um diesem die ganze Ansicht einer eisernen Persönlichkeit zu gewähren. – »Ihr habt Recht, Herr Graf, mit den Bezeichnungen dieses Aufenthalts, und ich kam bloß, um zu erfahren, was Euch unter solchen Umständen mit diesen Mängeln auszusöhnen vermochte, oder in wie fern ein so weit getriebener Gehorsam gegen die früheren Wünsche Eurer Frau Mutter sich von ihrem durch ihre Liebe gesandten Boten bewältigen lassen.« –

»Ach, Marquis, wie viel Güte! wie soll ich Euch danken! Ihr selbst, Ihr, das Schooßkind von Paris, über das Meer – durch die wilden Bergpässe Schottlands, ohne Eure Gesellschaften, ohne Eure Beschäftigungen – wie sehr fühle ich mich als Euer Schuldner!«

Es war eine Hast, eine Ungeduld in der Aufzählung der anerkannten Verpflichtungen, die den Marquis de Souvré keinen Augenblick zweifeln ließen über die beinahe verzweifelte Stimmung, womit der junge Mann sich so zur ungelegenen Zeit von ihm überschlichen sah, und es schien ihm der Augenblick gekommen, mit einem sicheren Verfahren diesen ganz in seine Gewalt zu bekommen. »Lassen wir das, lieber Graf!« – [196] sprach er in minder gemessenem Ton und zog ein abwehrendes spöttisches Lächeln um seinen Mund. »Wir wollen und wir können uns nichts weiß machen, und Eure Lage, die, wenn ich nicht sehr irre, mißlich genug ist, würde, denke ich, sich nicht verbessern, wenn Ihr gegen mich die Rolle des Höflichen spielen wolltet, da Ihr mich über Eure wahre Stimmung keinen Augenblick täuschen könnt. Laßt mich hinzusetzen« – fuhr er vertraulich fort, »daß Eure Dankbarkeit gegen mich in anderer Richtung vielleicht wahr werden kann, aber nicht für den Augenblick, da Euch meine Erscheinung an eine ernstere Seite Eures Lebens erinnert und das romantische Schäferspiel zu unterbrechen droht, dem Ihr Euch hier gänzlich überlassen.«

»Ihr kommt an, lieber Souvré,« rief der junge Graf, noch ein Mal einen Sprung in die Weite versuchend und das ihn so nah umzogene Garn überspringend – »in dem Augenblicke, wo ich mich zur Abreise zu rüsten dachte. Uebermorgen wollte ich nach Edinburg, um mich dort vom Grafen von Gersey zu beurlauben.«

»So!« sagte der Marquis gemessen – »und darf der alte Freund Ihres Hauses fragen, ob Ihr diese Gegend als freier unabhängiger Mann verlaßt, ob Ihr derselbe sein könnt in den Verhältnissen, die Euch dort die zärtlichste Liebe einer Mutter mit der klügsten Umsicht zu den größten und ausgezeichnetsten Verbindungen vorbereitet?« –

»Ja, Marquis, gerade als freier Mann denke ich dort wiederzukehren – und wenn nicht alle klugen Pläne meiner Mutter mehr erfüllt werden können, denke ich doch die, welche ihre zärtliche Mutterliebe für mich hegen konnte, auf eine Weise auszuführen, die vielleicht ihre eigenen Pläne übertrifft.«

»Hofft das nicht!« sprach hier der Marquis mit Wärme – »hofft nicht, daß sie den leisesten Wunsch, den kleinsten Plan, den sie bis hieher nährte und führte, aufgeben wird – [197] zweifelt nicht, daß Ihr, in Widerstand dagegen tretend, einer ununterbrochenen Reihe von Leiden und Verfolgungen entgegen geht, die ein so edler Mensch, ein so guter Sohn, als Ihr, schwerlich ohne den Verlust seiner Ruhe bestehen könnte; denkt, daß, wenn Ihr hier Wünsche genährt, wenn Ihr Schritte gethan, die Euch irgend einen theuren Gegenstand zum Schutze übergeben, dann Eure Lage schwieriger ist, als Ihr übersehen könnt – und glaubt mir, daß ich genug davon unterrichtet bin, um für Euch und Eure Zukunft zu zittern.« – Er hatte diese Rede mit einer Energie gesprochen, die ihr volles Gewicht dadurch bekam, daß sie Wahrheit enthielt. Er wußte sehr wohl, daß der junge Graf sie als solche empfinden mußte und die Wirkung ihm denselben in die Hand geben werde. Wir wissen es, wie er gegen den Einfluß dieser Ueberzeugung angekämpft, in welchem völlig fremden Gegensatze die Welt seiner Mutter zu der seiner Liebe ihm erschienen war, und wie jene nur endlich besiegt zurück wich, da ihr augenblicklicher Einfluß fehlte, und diese ihn zugleich als Mensch vervollständigte und veredelte.

Aber die Wahrheit, die der Marquis auszusprechen wagte, sie lag nur zurückgedrängt in ihm – und er fühlte sie in ihrer ganzen Stärke hervortreten, und mit ihr den Ernst seiner Lage – ach, den er so gern diese wenigen Tage noch von sich abgelehnt hätte! Der Blick, der, aus seinem Innern hervortretend, seinen ganzen tief und leidend bewegten Zustand verrieth, hätte an keinem menschlichen Herzen ungerührt vorüber streifen müssen – der Marquis bestimmte blos danach die erreichte Wirkung einer Worte.

»Es ist vergeblich« – rief der junge Mann, von dem plötzlich erregten Sturm erschöpft in einen Sessel sinkend, – »Euch die Lage, in der ich bin, und meinen Seelenzustand zu entziehn! Gott gebe Euch den Willen und das Herz, mir beistehen zu wollen, da es gewiß in Eure Macht gegeben ist.« –

[198] »Haltet ein, lieber Graf, – mit einem zu schnellen Vertrauen und bedenket wohl, ob das, was Ihr mir sagen wollt, nicht bloß mich durch seine Kenntniß in Verlegenheit setzen wird – denn, wenn ich gern Frieden stiftend einschreiten will, so vergeßt doch in diesem Augenblicke nicht, daß ich mich mit Wort und Ehre gegen Eure Mutter verpflichtet habe, über Euer unläugbar auffallendes Betragen Euch selbst zu befragen und Euch mit meiner – vielleicht größeren – Lebenserfahrung beizustehn, wenn Eure Jugend Euch auf irgend eine Weise verwickelt haben sollte. Daher mein lieber Freund – ich warne Euch vor mir, ich bin der Agent Eurer Mutter, ich muß redlich bleiben gegen sie – und damit, denke ich,« setzte er lächelnd hinzu, »auch gegen Euch!«

»O!« rief der junge Graf mit unschuldigem Enthusiasmus – »wie erkenne ich die Sprache eines Ehrenmannes in Euch! Wie tief fühle ich eben, Ihr, gerade Ihr thatet mir Noth! Vergebt, daß die schmerzliche Ueberraschung des ersten Augenblicks, die mich in Euch nur die Störung des seligsten Erdenzustandes erblicken ließ, mich Euch kalt und ohne Haltung gegenüber stellte – innig bereue ich es jetzt, und gut will ich es machen, wenigstens durch unbedingtes Vertrauen!«

»Ich bitte Euch, mein lieber Graf, haltet ein! Ich habe nichts in Eurer Weise vermißt, weil ich nichts Anderes erwartet habe; auf irgend eine Art mußtet Ihr darauf ausgehn, Eure Verhältnisse zu uns los zu werden, das war mit halbem Blicke zu übersehen, und die Erinnerung daran durch meinen Anblick konnte nicht erwünscht sein.« –

»Nein, nein, bei Gott im Himmel, nicht los wollte ich mich von meinen alten, und mir gewiß heiligen und theuren Verhältnissen machen – was ich empfinden lernte, hat mich nur mit festerer Ehrfurcht an Alles gefesselt, was die Natur in jenen Verhältnissen mir schenkte; nur in Uebereinstimmung [199] trachte ich durch langsam schonendes Vorschreiten die Widersprüche auszugleichen, die, aus verschiedenartigen Lebensverhältnissen entstehend, hier möglicher Weise die edelsten Menschen, jeden auf seinem Standpunkte in gleichem Rechte, zu entfernen vermöchte, ohne mein vorbereitendes vermittelndes Einschreiten.«

Der Marquis zuckte die Achseln leise und wie sich verbeugend, und in seinen niedergeschlagenen Augen war keine Entgegnung zu lesen.

Bei weitem muthloser fuhr der junge Graf fort: »Was ich Euch zu sagen wünsche, wird Euch allerdings überraschen – so vorgeschritten, so abgeschlossen werdet Ihr die wichtigsten Verhältnisse meines Lebens nicht wähnen.« – Das Herz stand ihm hier still vor der wichtigen Entdeckung. Er hielt inne. – »Aber häufig thun wir in dem Augenblicke der Entmuthigung, wo uns die Dinge in bedrohlicher Zudringlichkeit nahe rücken, und wir zwischen dem Wunsche, ihnen zu entrinnen, und dem, sie zu beendigen, mitten inne stehen, einen verzweifelten Sprung gerade hinein – welches leicht den Anblick eines kräftigen Entschlusses gewährt und oft, so weit davon entfernt, bloß das Uebertrennen der inneren Schwächen verrathen könnte!« Der junge Graf war gewiß mehr im letzteren Falle, als er, plötzlich heftig aufspringend, mit lauter Stimme dem Marquis zurief: »Ich bin vermählt! vermählt seit gestern früh!«

»Unglücklicher!« stöhnte der Marquis, sein Gesicht verhüllend, als erschütterte und überraschte ihn die Mittheilung dessen, was er selbst mit angesehen.

»Unglücklicher?« rief der Graf jetzt – »Unglücklicher? O, sagt lieber: Glücklicher! Glücklicher, als ich es je ahnete und träumte, glücklicher, als ich es ahnen konnte, da mir der Sinn erst erweckt werden mußte für ein solches Glück durch dies Glück selbst! Glücklicher, mein Freund, als Ihr es kennt und zu bieten habt in Euren Pallästen, unter Euren Festen, in Euren[200] geträumten Vorzügen, Begünstigungen und Besitzthümern – ein Glück, mein Freund, so groß, so heilig, so veredelnd, daß, wem es einmal die Brust erweitert, wem es einmal, wie die Glorie eines höheren Lebens, die Stirn berührt – eingeweiht ist unter die Begünstigten des Himmels, und bliebe es ihm nur als Geschenk eines Augenblicks, berührte es ihn nur, wie der Duft einer Blume!« – Er hatte sich leicht geredet, mit dem Geständniß war der Schatten verjagt, und seine Seele fand Kraft, das Entzücken auszudrücken, das noch in voller Stärke ihn beherrschte. Aber wem gab er in jugendlicher Kurzsichtigkeit dies Paradies seines Herzens hin – einem Feinde, der vor Allem mit brennenden Neide fühlte, daß dieser von ihm so verachtete Jüngling aufs Neue ein Glück gefunden hatte, was seine Seele bis zur Begeisterung erhob. Gleich war es, was er gefunden, ihm als ein solches erscheinen konnte, und hätte er es noch so tief verachtet, hätte es kein Lächeln über ihn zu erzwingen vermocht, es war genug, daß es diesem ewig glücklichen Thoren so er schien, um es ihn mit bitterem Zorne beneiden zu lassen. Wie fern schien ihm der Augenblick, wo er endlich jenen dem Leben verfallen sehen, wie ferne, wo der Günstling äußerer Vorzüge sich ein Bettler fühlen sollte!

Der Graf war kein Physiognomiker, er verstand die jähen Blitze nicht, die das Gesicht seines Gefährten überzuckten, und dieser gab der Beobachtung nie lange Zeit zu Entdeckungen.

»In der Stimmung, worin Ihr seid, mein lieber Graf,« hob er so nüchtern und kalt an, als habe er selbst auch nicht den entferntesten Antheil daran – »würde es ein müßiges Geschäft sein, Euch über die nothwendig entgegengesetzte Seite, die Euer Glück haben muß, die Wahrheit aufzudecken. – Ihr habt mir jetzt entweder zu viel oder zu wenig gesagt, Ihr mußtet entweder auch gegen mich schweigen, oder Ihr müßt mir jetzt mehr sagen, denn so kann ich Euch nur schädlich werden, [201] und so ungern ich mich mit den Geheimnissen Anderer belaste, dem alten Jugendgefährten gegenüber darf ich mich der Last nicht entziehen.«

Der unschuldige junge Mann eilte in die spröde Umarmung des Marquis, und legte ihm dann ein Geständniß ab, worin der ganze Inhalt sich auf Gefühle bezog – so ohne Thatsachen, so ohne Gewicht, ohne Gehalt in den Augen des Zuhörenden, eine so alberne Schäfergeschichte, daß er seiner ganzen Selbstbeherrschung bedurfte, um nicht in Lachen auszubrechen, und welche ihm nur dann wichtiger ward, wenn er sah, wie auch diese Kinderei das Herz des Erzählenden so überschwänglich beglückt hatte, und die sich aus ihrem Nichts nur dann erhob, wenn er bedachte, wie das von ihm so geschickt zugelassene Ende des Schäferspiels die verderblichsten Verwickelungen über seinen Gegner bringen mußte.

»Sie ist mir nun fürs Leben gesichert,« schloß der junge Graf seine rührende Erzählung, »und obwol es mir das Herz bricht, sie jetzt verlassen zu müssen, ich fühle die Nothwendigkeit davon und werde sie ja nur verlassen, um ihre Zukunft vorzubereiten. Ich werde meine Majorennität, die Uebernahme von Ste. Roche abwarten und dann meinen theuren Aeltern meine Vermählung eingestehen. Ich täusche mich nicht, es wird keine angenehme Nachricht für sie sein – aber wenn sie den Engel sehen werden, den ich ihnen zuführen kann, dann werden sie Alles begreiflich finden, und da Fennimor's Vater einer vornehmen Familie als jüngster Sohn angehört, so ist auch ihre Geburt keine Beleidigung für dieselben. Als meine rechtmäßige Gattin bleibt Fennimor hier vor den Augen der Welt noch so lange verborgen, bis der Fall eintritt, dessen Möglichkeit uns zu diesem Schritte bewogen, und wenn Gott ihr durch den Tod ihres Vaters die sichere Heimat raubt, begiebt sie sich alsdann unter dem Range meiner Gemahlin, der all ihren [202] Schritten die anständigste Freiheit sichert, nach Frankreich – und ich führe sie nach meinem Eigenthume, nach Ste. Roche, bis meine Aeltern mir erlauben, sie ihnen vorzustellen.«

Was hätte der Marquis dagegen zu erinnern gehabt! Hätte er doch selbst es nicht klüger einleiten können, um die freiste Hand für die Umstaltungen zu gewinnen, die dieser leichte, rosige Himmelsweg erleiden mußte; und mit vermehrter Verachtung gegen den Knaben, der unklug und spielend das Leben nach seiner Laune zu leiten dachte, und so blind für die Hindernisse war, die sich riesengroß ihm entgegenstellten, hätte er ihn vielleicht zu gering für seine Machinationen gehalten, hätte der Neid ihm nicht einen geheimnißvollen Reiz verliehen. Freundlich lächelnd stand er daher auf, und den glühenden Erzähler auf die Schulter klopfend, rief er: »Und welche Rolle habt Ihr mir dabei zugedacht? die des Verräthers gegen Euch oder gegen Eure Mutter, die mir gänzlich vertraut?«

»Die des theilnehmenden, liebevollen Freundes gegen uns beide!« rief der Graf vertrauungsvoll. »Seid der, der einst, wenn ich mein Bekenntniß ablege, vortreten kann und sagen: ›Vertraut ihm, ich kann Zeugniß ablegen, denn ich selbst sah den Engel, den er Euch als Tochter zuführt.‹«

»Seid sicher, Graf,« entgegnete der Marquis lachend – »dies Zeugniß wird Euch wenig fruchten. Wenn dieser Engel nicht unter dem heiligen Scheine einer Fürsten- oder Grafen-Krone vor Eure Mutter treten kann, wird sie ihr immer die unwillkommene Tochter sein – doch für mich ist hier mit dem besten Eifer, den Wünschen Eurer Mutter gemäß, nichts mehr zu thun und zu ändern, und diese Ueberzeugung macht mich für den Augenblick zu einem willenlosen Werkzeuge in Eurer Hand.«

»Nun, so folgt mir denn! – Diese Hand soll Euch in eine Welt führen, die Euch mit Staunen und Entzücken [203] erfüllen wird, und wofür Ihr in der Euren keinen Maaßstab, keine Aehnlichkeit finden könnt.«

»Das glaube ich selbst!« – erwiederte der Marquis gedehnt, und Beide verließen das Schloß, um sich nach der Abtei zu begeben. –

Die junge Frau saß unter den hohen Schattengewölben des Buchenwaldes in dem weichen Moose, welches ihre Leonin zu einem kleinen Sitz angehäuft hatte, und in ihr war, über alles Erlebte hinweg, nur der eine einzige Gedanke, daß Leonin abreisen werde. – Der schöne Nacken, mit dem gedankenschweren Haupte war vorn übergebeugt, und die zarten Finger lagen in einander, als wären sie im Gebete vergessen, in einem Gebete, das nur lautes Reden mit Gott war über ein unaussprechliches Weh, das er ihr auferlegte, worüber sie ihn betend befrug, und ihm vorstellte, wie sie es nicht ertragen könnte. Ihr unschuldiges Herz sträubte sich unter den ersten Wunden des Schmerzes, sie dachte immer: da wird es Gott plötzlich wenden, wenn ich ihn bitte. – Sie saß, als ob sie auf ihn wartete, und sehnte sich nach ihm mehr, als nach dem Geliebten, denn sie wußte ihn damit einbegriffen, wenn Gott das sendete – was, das mußte eben Gott wissen, weil sie es nicht finden konnte; nur jedenfalls mußte es nicht Trennung sein. – So erschrak sie fast, als Leonin früher aus den Bäumen hinter ihr hervortrat, als sie das Erbetene von Gott erhalten. – Ihre Wünsche erfüllten sich bisher in dem Kreislaufe ihres Lebens von selbst, und ihr Gemüth war so milde geleitet worden, daß sie es nicht wußte, wenn ihr der Vater leis ein oder den andern Wunsch hinweg nahm, und indem sie that, was er wollte, schien es ihr immer eine Erfüllung des Selbstbegehrten. Es gehörte zu dem patriarchalischen Pathos ihrer Erziehung, ihrer Gemeinschaft mit der heiligen Schrift, ihrem wichtigsten Geschichtsbuche, daß Gott eine redende Person für sie war, der Erzvater, zu dem sie [204] mit großem Ernste sprechen durfte. Wie Abraham aus der Hütte trat und die Engel begrüßte, die der Herr sandte, Sodom und Gomorra zu zerstören; wie er mit ihnen liebreich hin und wieder redete, und ihnen die möglich dort gerecht Befundenen abhandelte, und sie ihm nachgaben, weil er nicht nachließ zu bitten – so erschien ihr ein Jeglicher zu Gott gestellt, und sie fand sich in dieser Beziehung vollkommen sicher und berechtigt. – »Ich will mich nicht von Dir trennen,« sagte sie, als Leonin sich zu ihr setzte, und richtete sich ruhig, wie für Lebenszeit, an seiner Brust ein, »und ich wartete eben auf Gott wie es werden soll.«

»O,« rief Leonin, »daß er uns den Ausweg sendete, der das Härteste von uns abhält, was uns treffen kann – und doch sehe ich ihn noch nicht!«

»Ich auch nicht,« sagte sie – »darum muß er von dort her kommen, denn ich kann Dich nicht lassen! – Aber was hast Du nur?« fuhr sie fort und richtete sich auf – »Du hast ja was Fremdes! Was ist Dir? – Du bist nicht so still – es ist Dir was vorüber gegangen?« –

Erstaunt blickte Leonin sie an und bemerkte an ihrem unruhig forschenden Blick eine Bewegung, über die er erschüttert ward.

Nachdenkend fuhr sie fort, als redete sie mit sich selbst: »Der alte Tobias sagt: Der Böse geht umher und macht erst ein Zeichen an dem, den er haben will, das kennt er wieder, wenn's auch noch so fein ist, aber die Engel merken es gleich und bemühen sich, es auszulöschen mit ihren Thränen.«

»Nun,« lächelte Leonin und zog die sanft von ihm Abgebogene wieder an sich – »wie fällt Dir das bei mir ein? Bemerkt mein Engel Fennimor ein solches Zeichen?«

»Still, still,« sagte sie mit andächtiger Furcht, »nur die himmlischen Engel kennen das, und die behüten sehr lange die [205] Menschen, damit es nicht geschehe.« – Sie richtete sich auf, und sah ihn so forschend und befremdet an, als suche sie das Zeichen. Er erhob sich nun auch lächelnd, das wunderbare Wesen betrachtend, und ihre Augen erhoben sich zu dem Aufgerichteten, als sie plötzlich den Baum streiften, der hinter ihnen stand, und sie entsetzt zusammen fahrend, an Leonins Brust stürzte.

»Fennimor! Fennimor!« rief Leonin, außer sich – »was ist Dir, mein geliebtes Kind? Fürchte Dich nicht, Du bist ja bei mir, an meiner Brust!«

»Die Schlange! die Schlange!« stöhnte Fennimor, ihr Antlitz angstvoll verbergend – »der Böse ist doch da!«

Fortgerissen von der phantastischen Erregung seines kindlichen Weibes, wandte er sich schnell um und sah noch, wie der Marquis de Souvré, der auf Crecy's Bitte nicht zugleich mit ihm hervorgetreten war, um Fennimor's Vorbereitung abzuwarten, den Kopf zwischen den an diesem jüngern Baume noch niedrig hängenden Zweigen zurückzog. Leonin konnte leicht denken, daß Fennimor, die in ihrer Bibel die Abbildung der Schlange hatte, die mit einem Menschenkopfe durch die Zweige des Baumes der Erkenntniß blickt, das bleiche, aschfarbene Gesicht des Marquis dafür angesehen hatte. Aber so natürlich die Erklärung war, so nah' es ihm lag, dem armen bebenden Kinde diese Auslegung zu geben – ein unaussprechliches Gefühl hatte seit Ankunft des eben so wunderlich verwechselten Mannes allen Lebensmuth in ihm niedergedrückt. Ein betäubendes Sinnen erfaßte ihn, das Wesen noch schützend in seinen Armen haltend, das von ihm allein das ganze Leben hoffte, und mit so leiser Ahnung die Berührung empfunden hatte, die er aus seiner alten, ihr so gefährlichen Welt erlitten. – So geschah es, daß er unentschlossen schwieg, sie sanft aufrichtend durch das Gefühl seiner Nähe, seiner Liebe, seines Schutzes.

[206] Fennimor vertiefte sich auch bald gänzlich in dieses ihr am verständlichsten gewordene Gefühl, und sagte bloß, ängstlich aus ihren Händen mit den thränenschweren Augen zu ihm aufblickend: »Was war es denn?«

»Was ich versäumt habe, Dir gleich zu sagen, theure Fennimor! Ein Freund aus Paris, den ich im Schlosse auf mich warten fand, ein Freund, dem ich entdeckt, daß Du mein liebes Weib bist, und der nun kommt, Dich als solches zu begrüßen.« –

»Ach nein, ach nein!« sagte Fennimor – »das soll er lieber lassen, denn – denn ich wollte lieber, ich brauchte ihn nicht zu sehn, da er der Schlange gleicht, vor der ich mich immer so gefürchtet habe.«

»Das wirst Du nicht finden, wenn Du ihn näher kennst, gute Fennimor; denn davon behält er nichts, wenn Du mit ihm reden wirst – und ich möchte gern, daß Du zu ihm freundlich wärst.«

Fennimor schauderte leis zusammen, aber wie ein gutes gehorsames Kind strich sie die Locken von der Stirn und sagte mit unsicherem Tone: »Wenn Du es denn gern haben willst, da will ich mich nicht mehr fürchten und will ihn geschwind sehen, damit es vorbei ist.«

Dieser zärtliche Gehorsam war so von der Angst beflügelt, daß Leonin mit innigem Mitleiden zu ihr nieder sah – ach, und wie viel hätte er darum gegeben, sie den Blicken entziehen zu dürfen, die sie so ängstlich fürchtete! Es war ihm, als könnte er sie nicht aus seinen schützenden Armen lassen, als gehörte sie ihm nur so lange sicher, als jene Welt sie noch mit keinem Hauche berührte.

Aber sie selbst machte sich los, richtete sich auf und schaute den Baum an, der nichts zeigte; dann that sie einen Seufzer, an dem sie sich erholte, und entdeckte nun selbst den Marquis, indem sie in den Wald zeigte, wohin er, ihnen den Rücken zuwendend, [207] zurückgekehrt war. Beide gingen ihm nach – Leonin eilte voran – und als er ihn erreicht, blieb Fennimor stehen – und sah ihn daher kommen neben ihrem Liebling – und die Angst stieg in ihrem Herzen auf – und sie sah, wie unähnlich sie sich waren – und es wollte ihr unmöglich scheinen, daß sie zusammen gehören könnten.

Aber Leonin lächelte ihr freundlich entgegen, das bezwang Alles in ihr, das weinerliche Gesichtchen hellte sich auf, und sie ging jetzt auch vorwärts. »Sie sind Leonin's Freund – das ist recht schön und macht Ihnen gewiß viel Vergnügen;« sagte sie, leis grüßend und das Haupt beugend, zum Marquis – »wir wollen Sie zum Vater bringen, und Sie sollen von uns allen sehr freundlich gegrüßt sein!« Jetzt athmete sie tief auf und suchte nach Luft, die mit einem Mal weg war – und blickte auf Leonin, ob er mit ihr zufrieden sei.

Ach, wie hätte er nicht, da er wußte und in jedem schwerfälligen Worte fühlte, wie gepreßt ihr Herz war, und wie sehr sie sich bemühte, ihm gehorsam zu sein. Ein Blick, der dies Alles enthielt, stärkte mehr, als jedes Andere, ihr wunderlich gelähmtes Innere.

Der Marquis konnte wohl nicht eigentlich in Verlegenheit kommen, nur verweilte er sich lange bei dem Anblicke der nunmehrigen Gräfin Crecy, und sie schien ihm unergründlich schön, das heißt eine Schönheit, der es nicht gleich nachzuweisen, warum sie es war.

»Sie sind sehr gnädig,« sagte er, sich tief verneigend, – »Jemand willkommen zu heißen, der Sie, fürchte ich, unangenehm erschreckt und das Gespräch mit Ihrem Freunde unterbrach. Lassen Sie mich hoffen, daß es mir später gelingen wird, Sie mit diesem Eindrucke zu versöhnen.« –

»Nicht wahr, Fennimor, Du bist schon wieder ganz ruhig?« rief Leonin, verlegen über das Schweigen, womit sie die Worte [208] des Marquis anhörte – »hier in unserer Einsamkeit treffen wir fast nie auf einen Fremden. – Sieh', liebes Kind, der Herr Marquis Souvré kommt von Paris von meiner Mutter.«

Augenblicklich änderte sich Fennimor's ganzes Wesen. Aus ihrer Erstarrung erwachend und Alles über diese Nachricht vergessend, schlug sie freudig die Hände in einander, und dem Gegenstande ihrer Furcht näher tretend, als sehe sie in ihm nicht mehr denselben, rief sie freudig aus: »O, sagt, sagt – von unserer lieben Mutter, von der schönen, herrlichen Fürstin Soubise? Kommt Ihr darum hieher? Soll ich gleich mitkommen? Nicht wahr, es ist ganz gleich, ob er majorenn ist oder nicht? Ihr wird das auch gleich sein. – Leonin! Leonin!« rief sie, in ihren feurigen Combinationen jetzt an den Punkt gekommen, der alle überbot – »das – das ist der Ausweg, Leonin! Dein Freund, den die Mutter schickt, der schon Alles weiß – das ist der Ausweg, den Gott sendet!«

Leonin versuchte sie an seine Brust zu ziehen. Er wollte ihr den Ausdruck verbergen, der sein Gesicht einnahm, und der ihre Hoffnungen widerlegte, aber sie hielt ihn von sich und suchte mit leuchtenden Blicken die Antwort ihm abzufragen.

»So weit ist es zwar noch nicht, mein geliebtes Kind,« sprach er sanft und traurig, »doch soll uns ein redlicher Freund, wie dieser, Trost und Rath ertheilen, und wir werden durch seinen Beistand leichter das Rechte finden.«

»O thut das,« sagte sie innig und tief bewegt, »o thut das! Seid uns ein redlicher Freund und lehrt uns, wie wir es machen müssen, um uns nicht zu trennen, denn das thut weher – weher, als der Tod!« –

Der Marquis konnte kaum das Zucken der Achseln hindern, womit er dies ihm so jämmerlich erscheinende Schäferspiel vor seinen Augen gern begleitet hätte, und er verzeichnete nur zwei Dinge in seinem Gedächtnisse, ihre romantische [209] Schönheit und Crecy's unverkennbar große Leidenschaft für sie – Hoffnung genug, ihm durch die Ansprüche, die feindlich dieser Richtung entgegen traten, die Sicherheit des Glücks zu entreißen. –

»Der Graf Crecy weiß, daß ich erst hier von dem Vorgefallenen unterrichtet ward – die Frau Gräfin hat keine Ahnung von dem Vorgefallenen, und ich kann nicht verhehlen, daß ihr vielleicht diese Nachricht mehr unerfreulich scheinen möchte, da sie bisher an das treue und vollständige Vertrauen ihres Sohnes gewöhnt war.«

»Ach,« sagte Fennimor tief seufzend, »da sprecht Ihr ein wahres, verständiges Wort! Das hat mir immer vorgeschwebt – aber ich wußte es nicht zu sagen, und muß mich jetzt recht wundern, daß es Dir und dem Vater nicht eingefallen ist. Die arme Mutter! Das hat gewiß keine Mutter verdient, und Deine Mutter am wenigsten.« – Sie hatte sich während dessen in das Moos gesetzt, und unwillkürlich thaten es beide Männer ihr nach. Wie tief bekümmert sah sie aus, und der Marquis war zu guter Menschenkenner, um nicht zu wissen, sie war die Betrügerin nicht; also der Vater – schloß er sicher weiter.

»Die Umstände,« erwiederte der Graf ernst, »haben Schritte nöthig gemacht, die, wenn sie auch der Abweichung von einer ehrwürdigen Pflicht sich scheinbar schuldig gemacht haben, doch ihre innere Rechtfertigung nicht entbehren. Ich hoffe meine Mutter hievon zu überzeugen, um so mehr, da sie einsehen wird, daß ich mir ein so seltenes Glück, als Gott mir in Deinem Besitze zuführte, nur sichern konnte, wenn ich die ehrenvollsten und sichersten Mittel zu Deinem Schutze aufrief. Als meine Gattin kann ich Dich selbst allein stehen lassen, wenn meine nächsten Pflichten dies vorerst nöthig machen, und dieser Rang wird Dir Freiheit geben, mir überall zu folgen, undmir das süße Recht, überall Dein Beschützer zu sein.«

[210] »Ach,« sagte Fennimor, erquickt durch diese Worte – »das wird gewiß Deine liebe, herrliche Mutter eben so einsehen; denn, wenn Du sprichst, dann fühle ich immer, daß Du Recht hast, und bin um Alles ruhig. Nur das Eine, nur, daß wir uns trennen sollen, das, hoffe ich immer, wird nicht geschehen, weil es so sehr unnatürlich ist. Glaubt Ihr das nicht auch, Herr Marquis, und wollt Ihr uns nicht Rath geben, wie wir Alles thun können, was nöthig ist, um dies Unglück zu vermeiden?« –

»Es stimmt vollkommen mit Eurer Unschuld und mit der völligen Unkenntniß der Verhältnisse der Welt, wie mit den besonderen des Grafen Crecy zusammen, daß es Euch so schwer fällt, einzusehen, in welche Schwierigkeiten derselbe sich durch sein Verhältniß zu Euch gestürzt hat. – Seiner Liebe zu Euch, scheint es, ist es zu schwer gefallen, sie Euch aufzudecken, und vielleicht ist darum meine Ankunft eine rettende Auskunft zu nennen, wenn ich Euch Eure wahre Lage enthülle, deren geringe Zugeständnisse Ihr dann bald einsehen werdet – oder doch unfehlbar Euer Vater, der wohl schwerlich aus Unkenntniß der damit herbeigeführten Schwierigkeiten die rasche Handlungsweise meines Freundes zulassen konnte.«

»Ich muß Euch bitten, Marquis,« hob hier der Graf mit beleidigtem Stolz an, »meine Gemahlin nicht unnütz mit den Thorheiten der Welt bekannt zu machen und ihre reine Seele durch die Ansichten zu trüben, die dort als wichtig hervortreten; sie soll von ihnen nicht getrübt werden, und ich werde das Glück meiner Verbindung nicht eher aussprechen, bis ich ihr dort die Wege geebnet und sie sicher gestellt habe gegen die abweichenden Anforderungen, von deren dort geltender Wichtigkeit sie, Gottlob, eben so wenig, als ihr verehrungswürdiger Vater eine Ahnung hat!«

»Nicht zu läugnen, daß diese naive Unkenntniß aller Verhältnisse Euch bei dieser Dame und ihrem eben so unwissenden [211] Vater ein leichtes Spiel gaben!« sprach der Marquis mit absichtlich kaum verhehltem Lächeln. –

»Meint Ihr mit diesem Ausdrucke meine Vermählung mit Miß Lester? wodurch sie für Alle, die es wissen, rechtmäßige Gräfin Crecy ist?« –

Der Marquis verneigte sich bloß, wie Jemand, der nichts erwiedern will, und als auch Leonin ungeduldig aufstand, sprach Fennimor ruhig und zutrauensvoll: »Wir wollen zum Vater gehen – denn er versteht Alles am Besten, und wenn Ihr nicht einig seid, wie mir scheint, wird er Euch angeben, wir Ihr das machen müßt.«

»Ich weiß nicht,« sprach der Marquis frostig, »ob es dem Herrn Grafen gemäß scheinen wird, einen so unwillkommenen Gast, als mich, dort einzuführen, wo er für gut gefunden hat, Verhältnisse unerörtert zu lassen, die gerade ich, von seiner verehrungswürdigen Mutter gesandt, in Erinnerung bringen sollte.«

»O,« rief Fennimor lebhaft, »theilt uns Alles mit, was diese von uns so hochverehrte Mutter Euch aufgetragen hat, da seid Ihr,« setzte sie lächelnd hinzu, »am rechten Orte – von nichts höre ich so gern, wie von der schönen erhabenen Mutter meines Leonin's, und all ihre Verhältnisse möchte ich eben gern wissen, denn Alles ist gewiß hoch-herrlich und erhaben an ihr.«

Beide Männer schwiegen einen Augenblick vor Fennimor's unerschütterlich unschuldigem Vertrauen, und wenn Leonin fast mit Andacht den sicheren Frieden anschaute, mit dem sie allen nur zu verständlichen Warnungen des unerweichten Marquis entgegen stand – so konnte dieser, der ihre Sicherheit gleichfalls erkannte, nur mit bitterem Unwillen in diesem geringen, unberechtigten Wesen dieselbe Sorglosigkeit gewahren, die immer nur auf Glück zählt, den Gegensatz noch nicht kennend, und welches dieselbe Eigenschaft war, mit der ihn Leonin so bitter erzürnt hatte.

[212] »Doch,« setzte sie mit dem ernsten Pathos hinzu, der ihr so eigenthümlich war, »doch hatte ich mir immer gedacht, ein Freund, der daher käme, zeigte größere Weisheit; denn Ihr sagt so wenig von den schönen Dingen, die man begreifen kann, daß sie dort geschehen, und dagegen viel Unverständliches. Es muß dort ganz anders sein, auch die Sprache – doch nicht wahr, Deine erhabene Mutter redet so schön, wie – etwa mein Vater – und Naimä, die Schwiegermutter Ruth's, oder die Königin Esther vor Ahasverus, oder wie die Königin Elisabeth zu dem Volke? Ach, wenn ich sie nur erst sähe und hörte! Wie habe ich mich immer gesehnt, eine erhabene Frau zu erblicken nach Gottes Willen.«

»O,« rief Leonin, aufs Tiefste gerührt, »wer kann Dich hören und sehen, und nicht überzeugt werden, Deine Welt sei die eigentlich menschliche Sphäre, alles Andere eine Larve – ein Trug – eine elende Komödie, die der Natur des menschlichen Daseins Hohn spricht, und der Absicht Gottes!«

»Nein, nein!« sprach Fennimor hastig; »was sagst Du da? – Du weißt ja, meine Welt, wie Du es nennst, ist noch eine ganz kleine, darum muß ich eben die andere dazu kennen lernen, wenn ich Gottes ganze Herrlichkeit begreifen soll – und die Welt, worin Deine Mutter herrscht, die ist eben die große wichtige, wo die Könige leben und das Volk in den unermeßlichen Ländern! – Darum denke ich an diese Mutter so gern, die mich umfassen wird und schützend verbergen, wenn ich erbeben werde vor so viel Weite, Größe und Gewalt.«

»Versteht Ihr jetzt dies Wesen?« rief Leonin halb zürnend, halb entzückt dem Marquis zu.

»Vollkommen!« erwiederte der Marquis mit einem Ausdrucke, der jede Auslegung zuließ – »und ich überlasse es Eurer eigenen Beurtheilung, welche Rolle ihr mit diesen Begriffen zufallen wird inEurer Welt und vor Eurer Mutter.«

[213] Leonin's Herz zog sich mit einem Schmerz und einem Unwillen zusammen, wie er ihn um so bitterer empfand im Gegensatze zu der Reinheit des jetzt erst hier erkannten Lebens, welches keinen Widerspruch gegeben hatte, weil die Meinungen der sich Gegenüberstehenden immer offen da lagen, und nur ein liebevolles Forschen um das gegenseitige Verstehen eintrat, was dann leicht gefunden war, und womit sich Alle befriedigten, selbst bei hervortretender Verschiedenheit.

Nichts giebt uns mehr das Gefühl einer unübersteiglichen Schranke, als wenn wir mit unsern höheren Ueberzeugungen vor Menschen treten, welche uns weder verstehen wollen, noch können, weil auf dem Wege, den sie verfolgen, sich nur die materielle Seite der Dinge offenbart.

Je freisinniger, je umfassender, je geistiger wir das Leben zu erforschen suchen – je seltner sind wir frühzeitig fertig mit Ansichten und Meinungen, denn nur das geringere Bedürfniß schließt schnell mit dem kleineren Gesichtskreise ab. Wer mit weiterreichendem Streben den Weg beginnt, möchte nicht mit jenem Zustande tauschen, wenn er auch anscheinend in Vortheil setzt, den Dingen das Geheimniß des materiellen Gelingens, ihrer subjektiven Brauchbarkeit abfrägt und mit diesem Inhalte eine beruhigende feste Stellung zu ihnen giebt. Aber es entsteht dann von jener Seite eine ironische Ueberlegenheit, die sich durch den sichtbaren Erfolg zu rechtfertigen scheint, die sich das Lob der Menge und ihre eigene Befriedigung sichert, und den begeisterten Forscher belächeln läßt, der in dem Leben, das sie so bequem handhaben, noch einen Geist entdecken will, dessen Flügelschlag er hört, und dessen Gemeinschaft er aufzufinden trachtet in demselben Leben, das sie in ihrer Auffassung schon ausgebeutet glauben.

Wenn wir mit dem Verlangen, verstanden zu werden, in die Kreise dieser Frühfertigen gerathen, wird unsere fromme [214] Unsicherheit verspottet, und wir haben Mühe, unser Selbstgefühl zu retten, welches wir oftmals nicht durch Beweise vertreten können, da Geister sich nur citiren lassen, wo die Zauberformel verstanden wird. Rette sich, wer kann, bei Zeiten! denn der dornenvolle Weg zwischen Ergreifen und Verwerfen, zwischen Erkennen und Erblinden, zwischen Hoffen und Verzweifeln, den der sehnsüchtige Forscher wandelt, hat als Ziel, als Ideal aussöhnende Ruhe in allen Erscheinungen der Erde, vor Augen; den großen Zwecken gegenüber, vom Selbstgefühle verlassen, imponirt ihm die materielle Ruhe, die ihm so sicher von jener Seite entgegentritt, und er wird ihre sich unterordnende Beute, oder er geräth in Zweifel, die sein höheres Bedürfniß anfeinden oder es langsam zerstören.

Leonin rettete sich nicht, obwol er die Hand fühlte, die sich nach ihm ausstreckte, bereit, gleich einem Wachsbilde sein neu begonnenes Leben zu erdrücken; ein Schauer beschlich ihn, aber er war nicht geboren, das wogende Innere durch kräftige Gedanken zur Ruhe und Klarheit zu bringen; er ließ unheimliche Anregungen sich mehren, ohne sie zur Rechenschaft zu ziehen, und wartete stets auf die Hand, die von Außen kommen möchte, in ihm aufzuräumen. Und noch wachte ja sein guter Engel über ihm und hielt ihn fest auf dem heil'gen Boden, wo ihm ein so reiches, tief gehendes Verständniß geworden war.

Aber zuerst ließ Fennimor seine Hand los, um allein nach dem schon sichtbaren Hause zu gehn; ihre ahnende Seele fühlte die Gemeinschaft mit dem Geliebten verkümmert durch den Fremden, der sich von ihren Vorstellungen nicht bezwingen ließ.

Leonin genoß ihren Anblick, wie sie vor ihnen herschritt, und der Marquis prüfte mit eifersüchtiger Schärfe ihren Anstand. Wie schwer ward es ihm, über sie einig zu werden. – Dieser kindliche, spielende Schritt, dieser gleitende Fuß, der noch nie fehl trat, oder die leichte Gestalt im unebenmäßigen [215] Takte bewegte, wo hatte sie es gelernt unter ihren hohen Bäumen? Sollte er der Natur ein Recht zugestehen müssen, was hier nicht einmal vertreten ward durch den Ursprung hohen Blutes? – Er zog sich zusammen vor jeder Combination, die ihn seinem festgeschlossenen Ideenkreise entführte; aber dies Wesen streifte ihn wie ein Geheimniß, das sich nicht von selbst enthüllen wollte, und er grollte ihr um so mehr.

Beide Männer folgten so, beherrscht von demselben Gegenstande, ihrem leichten Schritte – Beide wußten sich aber nichts zu sagen, Jeder von der abweichenden Meinung des Andern überzeugt und dennoch sicher, in der nächsten Zeit sich demselben noch nicht entziehn zu dürfen.

So war Fennimor schon länger hinter den Thüren verschwunden, die von dem Wohnzimmer in den Wald führten, ehe die langsam Folgenden diesen näher kamen, und schon kehrte Fennimor zurück und öffnete leis und mit Vorsicht die doppelten Flügel, zurückschauend, ob die Strahlen der Sonne den Lehnstuhl erreichen würden, auf dem jetzt der Greis sitzend zu sehen war, der, wie es schien, vom Schlummer gebeugt, das Haupt auf die Brust gesenkt hatte. Fennimor bemerkte die Nahenden nicht; in anderer Art angeregt, gab sie sich dieser Richtung ohne Theilung hin. Die Männer sahen sie vor dem Greise niederknieen und seine Hände fassen; sie schien sie erwärmen zu wollen und legte dann ihre flache Hand auf seine Stirn – sie schauderte. »Du bist so kalt, mein Vater – wache auf!« sagte sie leise – und als er, der sonst von dem schwächsten Hauche ihrer Stimme erwachte, unbeweglich blieb – da wiederholte sie den Ruf mit einem Tone, der von der Ahnung eines unermeßlichen Weh's geschwellt war.

Leonin stürzte diesem Rufe nach in den Saal. Fennimor war aufgestanden, sie lehnte das schwere, widerstandslose Haupt des Vaters mit Mühe zurück, und bestrebte sich, die beschattenden [216] weißen Locken von der Stirn zurück zu legen. Der Ausdruck von Eifer, von Sorgfalt und Liebe in ihren Zügen, war von einem Entsetzen beschlichen, welches sie starr blicken ließ, und erbleichen; sie wußte noch den Namen nicht für die Ursache, denn sie kannte den Tod nicht. Aber Leonin war fast außer Zweifel. So prägt nur der letzte Bote an das Leben die Züge der Menschen um; widerstandslos, in heitere Träume versunken, hatte er den Greis gefunden, und ihn leis hinüber geführt, wohin seine kindliche Seele schon längst reichte, ohne durch irgend einen Kampf die Trennung zu verrathen, die schöne Hülle selbst noch ehrend und ihr einen Abglanz der Verklärung des Geistes schenkend, der sie verlassen.

Fennimor sah ihren Vater so schön, so lächelnd, als schwebe der Segen noch für sie auf den erblaßten Lippen; sie faßte nicht, was geschehen war, und schauderte doch vor der verständlichen Veränderung und der nie gefühlten Kälte.

»Der Vater, der Vater!« sagte sie immer wieder – »Leonin, der Vater!« Weiter fand sie kein Wort, die Ahnung stand dazwischen und hinderte jeden Versuch, ihr Gefühl zu bezeichnen. Endlich ließ sie die Hände ab von ihm und blickte Leonin an – und dieser Blick führte sie ihrem Schicksale näher, denn in seinen Zügen fand sie einen Schmerz, einen Jammer ausgeprägt, der sie überzeugte, er sähe mehr, als sie. »Ist er krank? ist der Vater sehr krank?« rief sie mit stockendem Athem – »sag', was fangen wir an?«

Er antwortete nicht, zog sie aber an seine Brust und fühlte mit einer unbeschreiblichen Heiligung aller seiner Gefühle, daß sie nur ihn noch auf dieser Welt habe. »Geh', Fennimor, rufe Emmy Gray – der Vater ist sehr krank – aber fasse Dich und denke, daß er mich gestern eingesegnet hat, daß ich Dir an seiner Statt Vater sein soll, wenn Gott ihn zu sich rufen möchte.«

[217]

»Was sagst Du!« rief sie, verwirrt aus seinen Armen fahrend – »Gott wird ihn aber jetzt nicht wollen – nein, nein! Er lebte, wie wir in den Wald gingen – es ist nicht lang' – ich war ja nicht bei ihm – er lebt! er schläft! – Großer Gott, erbarme Dich! er schläft! mein Vater, erwache! Gott, wo bist Du? Nein, nein, Du hast ihn nicht gewollt, mein Gott; denn ich bin ja bei Dir gewesen, Du gabst mir kein Zeichen!« So kämpfte sie mit Todesangst gegen die Ueberzeugung, die sich ihr mit der Gewalt ihrer unverkennbaren Wahrheit aufnöthigte, und erlag endlich den bloß noch in Worten ankämpfenden Zweifeln, und stürzte plötzlich mit einem Jammergeschrei, der ihrem Herzen das erste Erfassen des neuen, entsetzlichen Schmerzes gab, über dem Greise zusammen. Leonin kniete in Thränen neben ihr, und so fand der Marquis die Gruppe, als er endlich die Schwelle überschritt.

»Dieser Heil'ge hat geendet!« rief ihm Leonin mit Schmerz gebrochener Stimme entgegen – »Gottlob, daß sie mein Weib ist!«

Ob wir den Tod, wo er seinen himmlischen Stempel abgedrückt, aushalten können, das möchte die Probe sein für manches im Bösen verhärtete Herz. Sie stehen fest gegen die Erscheinungen der Welt, deren höheres Misterium sie verlachen oder übersehen, und wissen dessen Beziehung von sich fern zu halten – aber der Tod ist die geheimnißvolle Macht, der sie sich nicht entziehen können, und haben sie auch die Brücke zerstört, die der Gläubige aus diesem Uebergange nach jener Welt baut – und trotzen sie auch dem Leben die Ueberzeugung ab, es sei in ihm der Anfang und das Ende ihres ihnen selbst gehörenden Daseins – ganz im Geheim erreicht sie doch das fürchterliche Grauen vor dem tiefen Schweigen, worin die Natur ihr letztes geheimnißvolles Geschäft hüllt, und sie können den Anblick des Todes nicht ertragen, der auf Einzelnen seine Zeichen zurück läßt, als einen sichtbaren höheren Fingerzeig.

[218] So jähling ward der Marquis hier vor den gehaßten Anblick geführt, daß er fast zweifelte, ob es sein könne, und um alle Fassung gebracht, war es mehr Zorn, als Theilnahme, was ihn zu lebhaften Aeußerungen trieb, von Allen jedoch überhört, bloß zur Nahrung seiner eigenen Stimmung. –

Doch war dies Ereigniß bestimmt, Leonin zu der tiefsten Erkenntniß seiner übernommenen Pflichten zu führen. – Der Reif, den der Marquis mit dem Hauche aus der alten, lang gewohnten Welt in seine frisch duftenden Blüten gesenkt, er war zerronnen in Thränen heißen Schmerzes um den Verlust eines Menschen, wie er nur selten, unter den günstigsten Conjunkturen zu reifen vermag. – Leonin hatte ihn mit seiner durch ihn gereinigten Seele zu verstehen und zu lieben vermocht; er wußte, er fand nie seines Gleichen wieder, und er betrauerte seinen Verlust mit tiefster Wehmuth und stärkte sein Herz für die große Aufgabe, die Fennimor's Loos ihm nunmehr übertrug. So neu auch alle Verhältnisse, so groß die vorliegenden und die zu erwartenden Schwierigkeiten sein mochten, sein Herz ward sein Lehrmeister, und dies giebt immer den Rath, den wir befolgt sehen von denen, die uns lieben, und welcher den Verstand und die Erfahrung zu überholen vermag, wenn es von einem wahren Gefühl erfüllt ist.

Daher konnte der Marquis auch nur die kürzeste Zeit Zuschauer dieser Verwandlung bleiben, die ihn um jeden Einfluß zu bringen drohte, weil gar nicht mehr von ihm die Rede war, indem Leonin, völlig überzeugt, der Marquis könne ihm gar nicht bei so abweichenden Verhältnissen rathen, diesen auch nie aufrief, seine Meinung zu sagen, und daher sein Kommen und Bleiben zu einer Unbedeutenheit herabsank, die er bloß zu erkennen brauchte, um ihr so schnell, als möglich, ein Ende zu machen. Dessen ungeachtet mußte er, um nicht ganz ohne alle Erfolge zurückzukehren, die Ankunft des Grafen Gersey [219] abwarten, welcher, von dem Tode des Kaplans unterrichtet, am nächsten Tage erwartet wurde.

Leonin hatte nämlich jede Unsicherheit abgeworfen und war fest entschlossen, seine junge Gemahlin sogleich mit sich nach Frankreich herüber zu führen und sie nach Ste. Roche, welches er schon als sein Eigenthum ansehen durfte, zu bringen, bis er Zeit gefunden, seine Mutter von diesem Schritte zu unterrichten und, wie er hoffte, damit zu versöhnen. Er theilte diesen Vorsatz dem Marquis mit der größten Sicherheit mit und schlug jeden Einwand desselben mit der Leichtigkeit zurück, die eben so wohl fester Wille, als Unkenntniß der ganzen Größe der ihn erwartenden Schwierigkeiten war.

»Eure Pläne«, antwortete der Marquis mit der stolzesten Kälte, »sind allerdings mit einer Schnelle und Sicherheit gefaßt, die es unmöglich machen, gegen sie einzuschreiten, und so lästig mir von Anfang an eine Einmischung in Eure Familien-Angelegenheiten war, so fühl' ich sie doch dadurch noch erhöht, der Zeuge von Euren Handlungen sein zu müssen, da mir dies die Vorwürfe Eurer Mutter zuziehen wird, welche ich allerdings schwer werde überzeugen können, daß ich wirklich Beschlüsse zulassen mußte, die so Euer nothwendiges Unglück herbeiführen müssen, und die so wenig durch die Umstände gerechtfertigt werden.«

»Es ist nicht Mangel an Vertrauen,« erwiederte Leonin ruhig, »daß ich Euren Rath so wenig gesucht habe, sondern das Gefühl, so und nicht anders handeln zu müssen, was durch keine abweichende Meinung umgestimmt werden konnte und jede Berathung darüber zu einer überflüssigen machte. Meine schnelle Vermählung, die meiner Gemahlin Schntz und Ansehn geben sollte, im Fall das Ereigniß, was wir jetzt so plötzlich erlebt, während meiner Abwesenheit eintreten möchte, giebt ihr das vollgültigste Recht, mich jetzt nach Frankreich zu begleiten, und [220] ich danke Gott, daß ich ihr in ihrem tiefen und großen Schmerze den Trost geben kann, den sie allein aufzufassen vermag, den nämlich: mich nicht von ihr zu trennen. Es scheint mir demnach dies Verfahren vollständig durch die Umstände gerechtfertigt, und ich muß Alles im Voraus zurückweisen, was Ihr andeuten wollt, indem Ihr dies nicht so anseht.«

»Wir sind also beide entschlossen,« sprach der Marquis, und es drängte sich diesen Worten aus der Tiefe seines erbitterten Inneren eine Fülle des heftigsten Grolles nach – »und wir wollen uns beide über das, was wir thun und zulassen müssen, eine Sicherheit und Rechtfertigung verschaffen, mit der wir uns vor uns selbst und den Anforderungen der Welt zu behaupten vermögen.«

»Thut das!« erwiederte Leonin und verließ seinen Gefährten, noch wohl gerüstet für seine Absichten durch die heil'gen und theuren Ansprüche, die an ihn in jedem Augenblicke ergingen.

Der Marquis hatte die Wohnung, in die der Tod eingekehrt war, nicht wieder betreten, er hatte das Schloß bezogen und erwartete, gleich Leonin, die An kunft des Lord Gersey mit größter Ungeduld.

Dagegen war seit dem Tode des ehrwürdigen Greises der junge Graf von Crecy gegen seine Dienerschaft, wie gegen die Bewohner des Schlosses unverholen mit seiner Vermählung hervorgetreten, und hatte seine Wohnung in der Abtei genommen, um seiner leidenden Gemahlin jeden Trost gewähren zu können, dessen sie so sehr benöthigt war. Zugleich war ein Bote nach Edinburg zum Grafen Gersey gegangen mit der doppelten Anzeige des Todes und der Vermählung, und nachdem die Ueberreste des ehrwürdigen Vaters der Erde übergeben waren, verständigte sich der junge Graf mit Emmy Gray über die Anstalten zur Abreise, welche er zu beschleunigen trachten mußte, [221] da er vor der festgesetzten Zeit seiner Rückkehr nach Paris, Fennimor nach Ste. Roche führen mußte, und dort durch seine Gegenwart ihrem Verhältnisse die Ehrbarkeit verleihen, die er ihm vorzüglich zu sichern trachtete.

Er fand auch, trotz der früher erwähnten Ansicht, jetzt in Emmy eine willige und bereite Stütze, der es, sobald die Dinge, denen sie dienstbar sein sollte, ihre Zustimmung hatten, keinesweges an Verstand und Ueberlegung fehlte, die sie bald in volle Thätigkeit setzte, um ihre junge Herrschaft mit allem Erforderlichen auszurüsten. Erst jetzt, nach dem Tode ihres angebeteten Herrn, sah sie die Stütze ein, die ihre junge Herrin durch ihre Vermählung erhalten, und fing an, sich um so lieber mit dieser Maaßregel auszusöhnen, da der junge Graf, ganz gegen ihre argwöhnische Befürchtung, bemüht war, sein Verhältniß auf alle Weise zu ehren, und von seinen übernommenen Pflichten vollkommen durchdrungen schien.

Zuerst ward daher der armen müdgeweinten Fennimor von ihrer eifersüchtigen Gefährtin der süße Trost zugeraunt, daß ihr Gott ja einen Gatten zur rechten Stunde gegeben, der ihr den Vater sicher ersetzen würde.

Wir können nicht läugnen, daß Emmy kein Mittel hätte ersinnen können, wirksamer, das Herz der Leidenden aus ihrem maaßlosen Grame zu erheben, als diese Worte, die ihr den Geliebten aufs Neue sanktionirten, und das von der einzigen feindlichen Macht, wie sie wähnte, die der neuen Richtung ihrer Hoffnungen bis jetzt entgegen getreten war.

Und so handelten alle drei in Uebereinstimmung, wobei Fennimor freilich nicht selbst thätig, sondern nur sich fügend anzutreffen war.

John Gray hatte seiner despotischen Gattin versprechen müssen, sich ihrem Willen in nichts zu widersetzen; und selbst wenig eigene Gedanken hegend, war er hierauf willig eingegangen. [222] Sie erklärte ihm, ihre junge Gebieterin vor's Erste nicht verlassen zu wollen, und gab ihm die Hoffnung zu ihrer Rückkehr erst, wenn die Verhältnisse derselben dort ihre Anwesenheit unnöthig machten; dagegen begehrte sie, daß er sich augenblicklich nach ihrer Abreise mit ihrer kleinen einjährigen Tochter auf den Weg nach England machen, und sie dort dem Bruder der jungen Gräfin Crecy, dem Pfarrer Lester, der in Yorkshire und jetzt verheirathet lebte, zum Schutze und zur Erziehung übergeben solle. Ob er selbst dort bleiben oder nach der Heimath zurückkehren wolle, stellte sie ihm mit der größten Gleichgültigkeit anheim; und überzeugt, der Pfarrer Lester, der Emmy Gray, als Spielkameradin und treue Pflegerin der Familie, wie eine Schwester liebte, werde ihrem Kinde die Aeltern ersetzen, glaubte sie ihr Haus völlig versorgt zu haben und widmete ihm keine Aufmerksamkeit mehr.

Fennimor meldete ihrem Bruder in einem Briefe, so ausführlich sie es jetzt vermochte, den Tod des Vaters und die eigene Schicksalsveränderung, und bat ihn um seinen Segen für ihre Zukunft. –

Auf Niemanden jedoch machte die Entdeckung des Vorgefallenen vielleicht einen größeren und unangenehmeren Eindruck, als auf Lord Gersey. Der Tod des Sir Reginald war ein so erwartetes Ereigniß, daß es ihn völlig unberührt ließ, besonders, da er mit praktischer Umsicht schon für einen Nachfolger gesorgt, und dieser bereit war einzuziehen. Was kam aber der Bestürzung gleich, womit ihn die Vermählung des jungen Grafen von Crecy erfüllte? – dieses Jünglings, der ihm anvertraut ward mit einem Aufgebote von Vertrauen, welches ihn auf sich selbst stolz gemacht hatte, den man bei ihm vor jedem bösen Einflusse gesichert gehalten, und der ihn selbst durch sein ganzes Verhalten so gänzlich zu täuschen gewußt hatte, daß er in die jämmerliche Lage kam, jetzt eingestehn zu müssen, er [223] habe diesen jungen Mann nicht zu beurtheilen vermocht, dessen Geistesfähigkeiten er doch so weit unter sich geschätzt hatte. Sein Zorn verwirrte ihn zuerst über die Macht, die ihm zustand, er wollte augenblicklich den jungen Mann zwingen, seine Vermählung widerrufen zu lassen, er war ganz außer sich, und fast in derselben Stunde schon auf dem Wege nach Stirling-Bai.

Die Zeit, die er im Reisewagen hatte, Alles noch ein Mal zu bedenken, klärte ihn zwar etwas mehr über seine bedingte Stellung gegen den jungen Grafen auf, konnte aber nicht hindern, daß er mit allen Zeichen der lebhaftesten Empfindlichkeit auf dem Schlosse anlangte.

Hier fand er zuerst den Marquis de Souvré, der, nachdem er sich ihm zu erkennen gegeben hatte, ihm die beschämende Zusicherung gab, daß die Frau Marschallin selbst in Paris den veränderten Zustand ihres Sohnes gemerkt habe, von dem der Lord in der Nähe keine Ahnung bekommen. Er ließ sich dann von ihm, seiner Ansicht gemäß, das Geschehene ausführlich erzählen, und theilte die Verzweiflung des Marquis, zu spät angekommen zu sein, um eine so recht- und pflichtwidrige Handlung verhindern zu können.

Wie lange jedoch Beide deliberirten – die Anwesenheit des jungen Grafen konnte erst ihre verschiedensten Pläne und Rathschläge zur Reife bringen, und der Lord mußte ihn zu einem Besuche auffordern lassen, so sehr er sich auch gegen ihn erzürnt fühlte.

Unterdessen hatte der Marquis Zeit, den Lord zu sondiren, und obwol er in ihm den Mann sehr bald erkannte, der außer Stande war, mit seinem Verstande einen Einfluß auf Leonin auszuüben, fand er doch in seiner stolzen beleidigenden Haltung und seiner Ansicht über die Handlungen eines Minderjährigen, Stoff genug zur Benutzung für seinen augenblicklichen Zweck, [224] den jungen Grafen in allen seinen Empfindungen zu verletzen und ihn aus der stolzen Sicherheit zu treiben, die dem Marquis unerträglich war an diesem gering geachteten Jünglinge. Zugleich fühlte er, daß der Lord ihm vollkommen vertraue, und er hoffte, ihn bei den ferneren Schritten leiten zu können.

Der junge Graf dagegen empfing die Nachricht von der Ankunft des Schloßherrn mit lebhaftem Vergnügen. Er fühlte sich so im guten Rechte, so leicht und befriedigt durch Liebe und gutes Gewissen, daß er nach dem Schlosse eilte, bloß Beides darzuthun und dann seine Abreise anzusetzen.

Schon die Dienerschaft, leicht die Umstimmungen ihrer Herrschaft errathend, empfing ihn mit bloß feierlicher Haltung, und als er in das Zimmer des Lords trat und ihn dort neben dem Marquis erblickte, – schallte ihm nicht der Ton der rauhen Lustigkeit entgegen, womit er sonst von ihm begrüßt ward, sondern man ließ ihn den Weg bis zu dem Platze, wo Beide saßen, ohne Beachtung zurücklegen, und kurz erhob sich dann der Lord, ihn zu begrüßen: »Euer Gnaden haben mir den Vorzug entzogen, Sie, wie bisher, als meinen Gast hier begrüßen zu können. Doch darf ich meine Gastfreundschaft Niemandem aufdrängen, wie ich eingesehen habe, denn wie bereit ich auch war, hierin die Wünsche Ihrer Frau Mutter zu erfüllen, ich konnte mir das Recht nur durch einige Höflichkeiten bei Ihnen erwerben, die jedoch sich unzureichend erwiesen haben.«

»Mein theurer Lord,« lächelte Crecy, völlig harmlos – »es kann Euch mit diesen Worten nicht Ernst sein; die Umstände, denke ich, rechtfertigen so vollständig diesen Umzug, daß es gar keiner Erklärung meinerseits bedarf, eben so, wie Sie mir glauben müssen, daß ich Ihnen aufs Innigste dankbar bin und den Aufenthalt bei Ihnen zu den größten Segnungen meines Lebens rechnen werde.«

[225] »Und ich, junger Mann,« schrie hier Lord Gersey, durch Leonin's Ruhe um alle Haltung gebracht, »ich werde diesen Aufenthalt wegen seiner heillosen Folgen für das fluchwürdigste Ereigniß meines Lebens halten, und nun mögt Ihr selbst danach urtheilen, was ich von dem wahnsinnigen Schritte denke, den Ihr Eure Vermählung nennt!« Er wollte bei diesen Worten aus dem Zimmer stürzen, seine eigene Aufregung befürchtend, aber dem Marquis war dieser Anfang um so weniger gelegen, wenn er zugleich das Ende sein sollte; er eilte ihm nach und hielt ihn an der Thür mit dringenden Bitten zurück.

»Laßt mich, laßt mich, Marquis!« rief der Lord, indem er zögernd widerstand, – »ich tauge nicht dazu, hier die Beichte der jugendlichen Tollheit zu hören, und bringe mit so viel Unwillen im Herzen die Sache nicht zu Stande.« –

»Und doch bedenkt, Mylord, Ihr seid es Eurer Freundin, der Frau Marschallin, die Euch ganz vertraute, schuldig, liebevoll, väterlich dem jungen Manne beizustehen. Denkt, wie seine Jugend ihm das Wort um Milde und Nachsicht spricht.« –

Er führte den grollenden alten Lord zurück, und es entstand eine ungefällige Pause unter den Dreien, weil Zwei sich im vollkommen gleichen Rechte des Zürnens wähnten, und der Dritte sich die listige Zurückhaltung zu sichern trachtete, die nur, was jene veranlaßten, ohne Nachtheil benutzen wollte. Dessen ungeachtet mußte dieser Dritte mit der Sprache zuerst heraus, denn hochroth vor Zorn blickte der Lord finster zur Erde, und ihm gegenüber hatte Crecy die kalte Haltung des Beleidigten angenommen, der das Entgegenkommen des Andern glaubt erwarten zu müssen.

»Ihr seht, Herr Graf,« wandte er sich gegen Crecy, »wie ich nicht der Einzige bin, der in abweichender Meinung von der Eurigen diese Sache ansieht, und Ihr dürft es nicht zurückweisen, einen alten Freund Eurer Frau Mutter darüber zu hören.«

[226] »Dies zu thun, kam ich hieher«, erwiederte Crecy – »und wahrlich, mit aller Achtung, die ich Sr. Herrlichkeit schuldig bin, war ich gesonnen, sowol meine Verhältnisse offen darzulegen, als den Rath des Verständigen zu hören; dies hat mir aber die augenblickliche Heftigkeit des Lords abgeschnitten, und ich muß jetzt erwarten, ob mir dies überhaupt noch möglich gemacht wird, und welche Form Mylord dazu einzuleiten gedenkt.«

»Mein junger Herr,« rief hier Lord Gersey, noch immer mit dem rauhen Tone des Zorns, »es kann, denke ich, hier von vielen Einrichtungen unter uns gar nicht die Rede sein; wie unleidlich meine Stellung durch Euer unbesonnenes Betragen gegen Eure Mutter geworden, müßt Ihr übersehen, wenn Euch auch die Leidenschaft noch so toll gemacht hat. Mir waret Ihr anvertraut von Eurer Mutter – ich sollte Euch vor Mißgriffen und Thorheiten bewahren, bis Ihr unter den Schutz Eurer Aeltern zurückkehrtet, – und ich durfte diese Verpflichtung übernehmen und sie angeloben, denn Ihr lebtet hier nur in den ehrbarsten und würdigsten Verhältnissen. Aber der Neigung zur Thorheit ist überall der Ausweg eröffnet, so mußt' ich an Euch lernen – mein Vertrauen habt Ihr betrogen; mit dem alterschwachen Greise, dessen Kenntniß der Welt von jedem Kinde überboten werden konnte, habt Ihr Freundschaft geschlossen, um Euch von der Thörin, seiner Tochter, verführen zu lassen.« –

»Haltet ein, Mylord!« rief hier Crecy, indem er mit Heftigkeit aufsprang, – »wenn Ihr es wagt, mit dieser Bezeichnung die Tochter des ehrwürdigen Sir Reginald zu meinen, so vergeßt nicht, daß sie Gräfin von Crecy und meine Gemahlin ist, gegen die jede Beleidigung zur meinigen wird!«

»Gräfin von Crecy!« höhnte der Lord – »die Tochter eines Kaplans von Stirlings-Bai! ein Mädchen ohne Rang, ohne Vermögen, die sich darum nicht einmal zur Gesellschafterin [227] meiner Töchter eignete, Gräfin von Crecy! die Schwiegertochter der Fürstin Soubise! und des ersten Marschalls von Frankreich, des ältesten Geschlechtes dieses Landes! – Junger Mann,« fügte er mit heiserem Lachen hinzu, »wem wollt Ihr das weiß machen? Wer, denkt Ihr, daß Euch dies glauben wird? Dankt dem Himmel, daß die Komödie Eurer Heirath so in allen Formen kindisch, lächerlich, formlos gewesen ist, und daß Eure Minderjährigkeit selbst die anscheinend gesetzlicheren Bande so gänzlich annullirt hätte, daß diese Thorheit wenigstens nur dem Mädchen zur Last fallen wird, die so unberufen den reichen Erben zu gewinnen dachte.«

»Es ist genug!« rief Crecy hier und erhob sich mit Ungestüm – »ich werde Euch verlassen, Mylord, um durch so unerhörte Beleidigungen nicht dahin gebracht zu werden, daß ich ganz vergesse, wie viel Dank ich Euch für Euer früheres Bezeigen schuldig bin. Die Beleidigungen, die Ihr gegen mich und meine Gemahlin ausstoßt, widerlegen zu wollen, hieße mich und diese Verhältnisse wirklich erniedrigen – ich werde sie zu rechtfertigen wissen in den Augen meiner Familie und der ganzen Welt.«

»Ich gratulire zu diesen Vorsätzen, junger Herr!« entgegnete der Lord mit verbissenem Zorne. »Wahrlich, Ihr habt nicht umsonst meine Bibliothek in der kurzen Zeit ausgelesen – Ihr führt eine vollkommen romantische Rittersprache, zum Weinen rührend. O, junger Mann, junger Mann, hättet Ihr lieber das unschuldige, fröhliche Waidmannsvergnügen mit den ehrlichen unerschrockenen Gefährten durchgemacht, als Euch in dürres, wüstes Büchergeschwätz versenkt, um Stoff zu sammeln für das Schäferspiel, das Ihr zu spielen dachtet!«

»Wir sind zu Ende, Mylord!« sagte Crecy empört – »erlaubt, daß ich mich bei Euch und diesem Hause auf immer beurlaube; ich eile zurück, um sogleich die Anstalten zu meiner [228] Abreise zu treffen, und bitte Euch nur um so viel Zeit noch in den Mauern der Abtei – die jetzt allerdings zu Eurer Bestimmung steht – bis meine Gemahlin zur Abreise gerüstet sein wird. Nehmt meinen Dank für Eure frühere Güte; es schmerzt mich tiefer, als Ihr glaubt, daß die Gefühle, die Ihr mir einzuflößen wußtet, eine so grausame Störung erfahren mußten.«

»So lasset auch uns von einander Abschied nehmen!« sprach jetzt der Marquis de Souvré zu Crecy. »Ich reise noch am heutigen Tage nach Paris ab, denn ich kann durch meine Gegenwart hier nicht länger Euren Handlungen einen Schein von Billigung geben, den ich aufs Bestimmteste verweigern muß. Dessen ungeachtet frage ich Euch, ob Ihr mir irgend eine Weisung für Eure Frau Mutter zu geben habt, aus der sie Trost zu schöpfen vermöchte, wenn ihre Fragen mich drängen werden?«

»Ich überlasse das Euch selbst; ich hatte gewünscht, der Erste sein zu können, der ihr meine Verhältnisse vortrüge – aber ich fühle, Euch die Verpflichtung zum Schweigen aufzuerlegen, wäre bei den Fragen, denen Ihr zu begegnen haben werdet, zu viel verlangt. Gott lenke daher Eure Worte! Denkt, daß so viel vom ersten Eindrucke abhängt; denkt, daß es der einzige Sohn der Frau ist, der Ihr so ergeben seid, und daß Ihr so wohl versteht, Eure Ansichten vorzutragen!« –

Kein Laut verrieth die Meinung des Marquis auf die herzliche, dringende Anrede; stumm verneigte er sich mit zu Boden geschlagenen Augen und wendete sich dann zu Lord Gersey. »Und Ihr, Mylord – was habt Ihr mir zu befehlen?«

»O, Marquis,« rief der Lord – »was soll ich Euch an die edle, tugendhafte Frau für Aufträge mitgeben, die sich durch mich verrathen glauben wird, und mir Vertrauen und Achtung versagen für immerdar. Nein, nein, niemals kann ich diese Kränkung verwinden! Sagt Ihr, ich mache keine Ansprüche auf ihre Verzeihung, und wollte ihre Feindschaft, ihre Geringschätzung [229] als lebenslängliche Strafe ertragen. Aber das fügt hinzu,« und bis zum dumpfen Brüllen steigerte sich sein Ton – »finde ich diese Copulation im Kirchenbuche verzeichnet, so lasse ich es auf offenem Platze vor der Kirche verbrennen, und John Gray und sein Weib und der Kirchendiener, die sich Zeugen zu nennen wagen, werden noch heute aus der Kirchengemeinde ausgestoßen, und der Büttel soll sie über die Grenze jagen, daß sie sich nie wieder zu Stirlings-Bai zählen dürfen!«

Schon hörte der Unglückliche, gegen den dieser neue Schimpf ausgestoßen ward, das Ende dieser zornigen Befriedigung, welche sich der Stolz und der Hochmuth eines der untadelhaftesten Barone des alten Schottlands verschaffte, nicht mehr. Mit tausendfach verwundetem Herzen, bis zur Raserei gereizt und gekränkt sich fühlend, war der ganze Himmel seines idyllischen Glückes entweiht und beschimpft, und es schien ihm, als könne er nie wieder einen Hauch des seligen Friedens empfinden, den er wenige Tage früher noch als ein unzerstörbar gewonnenes Gut betrachtete. – Vielleicht hatte er Recht; denn sein Herz hatte eine unheilbare Wunde empfangen, um so nachhaltiger, da die heftigen Worte, denen er ausgesetzt war, die Grundsätze und Ansichten, die er gehört, ein ausschließlicher Besitz seines Standes waren, unter deren Einfluß er groß geworden, und denen er überall mit dem Wiedereintritte in die Welt zu begegnen sicher war.

So stürzte er dem mechanisch gefundenen Wege nach der Abtei zu und ward sich erst seiner selbst wieder bewußt, als er in den grünen Dom der hohen Buchen trat, die ihr großartiges Naturleben in heiliger Unabhängigkeit fortführten, das kleinliche Treiben der Menschen, was seit Jahrhunderten an ihnen hingegangen, mit hohem Blicke übersehend, als wollten sie dem keuchenden Wanderer zurufen: »Geduld! Du und Deine Leiden [230] verfallen der Zeit, und Du gehst mit ihr vorüber, ein kleines Atom in dem großen Zellgewebe der göttlichen Weltordnung!« – Vielleicht nicht dasselbe, aber doch etwas, einer Erquickung, einem Troste ähnlich, drang in die blutende Brust des tödtlich Gereizten – er schlug die glühenden Augen auf, und der sonnenhelle Glanz der grünen Gewölbe leuchtete wie Himmelsthau in sie hinein. Krampfhaft preßte er die Hände in einander, einem Schrei des Schmerzes glich der Seufzer, der sich losriß, und bebend vor Aufregung stürzte er in das weiche Moos und verbarg sein Gesicht in dessen duftendem Schooße.

Wir wollen es nicht belauschen, womit auch der Mann in dem Augenblicke sich erleichtern darf, wo sein Herz die krampfhafte Starrheit sprengt, in die ein überwältigendes Ereigniß ihn versetzt; mag er der Mittel theilhaftig werden, die Gott der Menschheit gegeben, da er sie nicht schützen konnte gegen das unendliche Weh, das sie sich bereitet.

Leonin gewährte es seinem Schmerze, sich zu erschöpfen. – Er hatte kein Herz von der Natur erhalten, was sich in eigner Kraft behaupten konnte, es mußte gestützt und in beifälliger Ruhe erhalten werden durch die nächsten Menschen, durch Verhältnisse, wenn es sich selbstvertrauend bleiben sollte. Matt und todtenbleich ging er dem offenen Gemach entgegen, vor dessen Thüren das geschmähte unschuldige Opfer dieser fremden Anmaßung in der tiefen Trauerkleidung mit dem heil'gen Scheine des frömmsten Kummers um die schönen Züge, auf einem niedrigen Stuhle saß und dem lieblich lächelnd entgegen blickte, der den ersten harten Wurf der Welt nach ihrem stillen Glücke so eben aufgefangen hatte, doch nicht ohne selbst davon verwundet zu werden.

Tief bewegt von ihrem Anblicke kniete er neben ihr hin, und sie mit einem vielfach vermischten Gefühle an sich drückend, rief er wehmüthig: »O, Du armes, armes gekränktes Wesen!«

[231] Wie hätte diese feine weibliche Seele nicht die Veränderung fühlen sollen, die dem Geliebten geschehen?

»Was hat man Dir gethan?« sagte sie sanft forschend und faßte sein bleiches Gesicht in ihre beiden Hände. »War der Lord nicht, wie es Recht ist? Hast Du Dich erzürnt? Wird er mich besuchen?«

»Ach,« rief Leonin, »laß uns abreisen! laß uns in die Wälder von Ste. Roche fliehen und die Welt vergessen, und uns fern von ihr halten, die weder unser Glück versteht, noch uns ein anderes gönnen will, als was sie dafür erkennt.«

»Meinte so der Lord?« frug Fennimor – »ja, ich konnte es denken! Sie sind da oben durchaus anders, wie wir, und immer waren sie mir nicht gut genug; aber wir wollen sie lassen – die haben mich nie erzürnen können, sie waren so klein, so ungeschickt und konnten nie verstehen, wie ich's meinte.«

Dies stolze, feste Herz erschütterte mit ihren einfachen unschuldigen Worten mächtiger in Leonin die imponirende Wichtigkeit des eben Erfahrenen, als seine eigenen durch frühere Eindrücke bedingten Betrachtungen es vermocht hatten.

Er erhob sich an der festen Hoheit dieser reinen Seele, und ein Schimmer des früheren Glückes kehrte ihm wieder in der größeren Berechtigung, die sie ihm theils in ihrem eigenen Werthe, theils in der strengen Kritik über seine Widersacher gegeben. – Er raffte sich zusammen und besann sich, was ihm zunächst läge – und alle Weisheit der Liebe kehrte ihm zurück. Er eilte, die heil'ge Unschuld seines Weibes vor der Schmähung der Welt zu bewahren, und hüllte den ganzen Vorgang in gleichgültige Worte ein. Dann begab er sich zu Emmy Gray, um ihr, wenn auch nicht Alles, doch das Wichtigste seiner gehabten Unterredung mitzutheilen und die Nothwendigkeit klar zu machen, dies Haus wo möglich andern Tags zu verlassen.

[232] »Ja wohl, Herr,« rief sie mit stolzem Zürnen, »laßt uns schon morgen dies Haus verlassen, was jetzt dem gehört, für den wir zu gut sind, ihm irgend Dank zu schulden. Eben so soll John heute noch sein Bündel schnüren und nie diese Stätte wieder betreten. Gut, gut, Mylord, daß diese unweisen Männer, die ein Sakrament lästern, nicht Gewalt haben über die heiligen Dinge der Erde! Laßt es sie nicht hören, sie ist noch zu jung, um Unrecht zu begreifen, das Leben zeitigt früh genug dazu!« – So verließ sie den Grafen, und sein Selbstgefühl, was durch die Schmähungen, die er erduldet, in ihm gestört worden war, kehrte langsam unter Menschen zurück, in deren Werth er fühlte, nicht als ein Thor gehandelt zu haben. –

Die schnelle Abreise der Verfolgten verhinderte, daß die strengen Maaßregeln des Lord Gersey sie erreichten, und John Gray war schon auf seinem kleinen Karren, worauf er sein Kind und seine beweglichen Habseligkeiten geladen, längst über die Grenzen von Stirlings-Bai, ehe sich der Lord seines Vorsatzes erinnerte. Bald kehrten die mit seinem Willen Beauftragten zu ihm zurück, um ihm anzuzeigen, daß die Abtei leer von allen ihren Bewohnern sei, und nur noch auf der Landstraße nach Edinburg die Reisekutsche des Grafen von Crecy habe gesehen werden können.


Der Himmel lag so fest und grau, wie eine Kuppel von gegossenem Stahl, über dem schmucklosen Herbsttag, und der Wind streifte mit eisiger Schärfe über die leeren Felder und durch die laublosen Wälder, als wolle er die Erde zerreißen und ihr die Macht fühlen lassen, die er umsonst an der festen Nebeldecke des Himmels erprobte.

[233] Vergeblich versuchte der junge Schloßherr von Ste. Roche diesem lang vernachlässigten Aufenthalte einen Anstrich von Wohnlichkeit zu geben, an den seine junge Gemahlin gewöhnt war, und der sie nach einer langen und schwierigen Reise, der ersten ihres Lebens, so sehr benöthigt schien.

Es half ihm wenig, daß ihm die Auswahl im ganzen Schlosse frei stand, überall fanden sich Schwierigkeiten, die am wenigsten für einen Mann zu beseitigen waren, der von dem Erschaffen einer häuslichen Einrichtung so wenig Begriff bekommen hatte. In seiner bisherigen Lage, die ihm alles Benöthigte fertig überlieferte und so jene unmännliche Verwöhnung erzeugte, in welcher die Fürstin Soubise ihn so sorgfältig zu erhalten verstand, hatte er keine Gewandtheit lernen können, und es konnte daher nicht fehlen, daß Emmy Gray mit ihrem entschlossenen und thätigen Geiste nur kurze Zeit das unsichere, erfolglose Umhertappen des Grafen mit ansehen konnte. Mit glücklichem Ueberblicke wählte sie den gewandten Kammerdiener desselben zu ihrer Hülfe, und nachdem sie mit dem alten Kastellan das Schloß durchstreift, fand sie, wenn auch aus einem andern Jahrhunderte, doch kostbares und brauchbares Material genug, eine Wohnung einzurichten.

Sobald die Art der Thätigkeit sich zeigte, die erforderlich war, trat auch der junge Schloßherr mit dem liebenswürdigsten Eifer ihr bei, und die höheren Anforderungen seines Standes, die Emmy fremd geblieben, wurden durch ihn selbst und den damit vertrauten Kammerdiener zu den Nothwendigkeiten gefügt, die sie zuerst ins Leben zu rufen gewußt.

Wenn anfänglich zu fürchten war, daß Fennimor durch den Aufenthalt in einem großen wüsten Schlosse, welches mit seiner wunderbaren Gestaltung und seinen fremdartigen, uralten Constructionen jede, auch die ruhigste Phantasie mit geheimen Schauern anzuregen vermochte, sich unheimlich und erschrocken [234] fühlen würde, so zeigte sich bald, dem entgegen, eine so lebhafte, bewundernde Theilnahme für diese außerordentliche Erscheinung, daß die anderweitigen kleinlicheren Anregungen ihrer Umgebungen, von denen selbst Leonin nicht ganz frei blieb, unverstanden an ihr vorüber gingen. Ihr Geist war frei geblieben von jedem Hauche des Aberglaubens, für jeden Eindruck von übernatürlichen Erscheinungen; ihre Spielgefährtin, Beschützerin und Pflegerin war Emmy gewesen, welche, wo möglich, noch furchtloser, als ihr Zögling, diesen nicht dazu verführen konnte. An geheimnißvolle Zustände in dem Geiste des Menschen hatte sie in Schottland, diesem Lande mondsüchtiger Träumer und vom Geiste der Ahnung berührter Propheten, wohl glauben gelernt, aber alles, was an Geistererscheinungen und an das Grauen, das selbst leblose Dinge, wie Möbel und Zimmer, da durch gewinnen, streifte, verwarf sie als gemein und für sie nicht passend.

Es zeigte sich daher bald eine große Annäherung zwischen dem alten Kastellan und seiner jungen Gebieterin; denn nicht minder, als von ihm selbst, sah er die alten, werthvollen Ueberreste des einst königlichen Besitzes, von denen er die Chronik des kleinsten Gegenstandes zu erzählen wußte, geehrt.

Es fanden sich daher in Folge dieser entstehenden Zuneigung immer mehr Gegenstände ein, welche zum Gebrauche sich nützlich zeigten, und die der beunruhigte Alte zu Anfang mit eifersüchtiger Scheu zu verbergen bestrebt gewesen war.

Die Familie der Kastellane von Ste. Roche waren dieser Besitzung treuer gewesen, als die Herren derselben.

Die St. Albans waren schon unter Katharina von Medicis auf diesem Posten gewesen, und vom Urahn her hatte Sohn auf Sohn bei allem Wechsel der Verhältnisse diesen Platz behauptet. Jeder Nachkommende war unter den Chroniken von Ste. Roche aufgewachsen, und jeder Schrank, jede Tapete, jedes Geräth [235] war für sie ein heiliges Vermächtniß, was Jeder von Kindheit an hatte pflegen sehen, und was vor den Einflüssen der Zeit zu bewahren, der Stolz jedes Einzelnen ward.

Katharina von Medicis, die hier zuerst einen Hof von einigen Wochen während der Jagdzeit hielt, hatte das Fundament einer Einrichtung gelegt, da das Schloß zu weit von Paris entfernt war, um, wie bei anderen Umzügen des Hofes, für dessen kurze Anwesenheit von dort aus mit Möbeln und Geräthen ausgestattet werden zu können. – Später hatte der erste Besitzer aus dem Hause Crecy längere Zeit mit großem Aufwande hier gelebt, und aus allen diesen Zeiten befanden sich noch wohl erhaltene Ueberreste, die allerdings nur ihr Bestehen der solideren Beschaffenheit verdankten, die den Ausstattungen der früheren Jahrhunderte eigen war, und den Rang und Reichthum der Besitzer darlegen mußten.

Fennimor hatte auf der langen Reise die Muße benutzt, sich von ihrem Gemahl eine Uebersicht der Geschichte Frankreichs geben zu lassen – und mit großem Interesse alles vernommen, was sich auf Katharina von Medicis, diese angestaunte Schwiegermutter der unglücklichen Maria Stuart, bezog. Was sie durch diese Mittheilungen erfahren konnte, war ihrer Unschuld gemäß in verhüllende Andeutungen eingekleidet worden, und so jubelte sie bei dem Gedanken, in das Schloß dieser mächtigen Königin einzuziehen, worin noch ihre Zimmer sich vorfinden sollten, und Möbel und Geschirre, die ihr zugehört hatten.

Es zeigte sich, daß der junge Graf eben so fremd in seiner neuen Besitzung war, als seine junge Gemahlin, denn diese Güter wurden nur wegen ihrer Revenüen geschätzt, zum Bewohnen schienen sie der Marschallin von Crecy, die sich nie vom Hofe trennte, völlig unpassend.

Beider Geschmack vereinigte sie daher in dem Wunsche, unter Anleitung des alten Kastellans, der eine lebendige Chronik [236] des Schlosses zu nennen war, dasselbe in seiner ganzen Ausdehnung zu besichtigen und in chronologischer Ordnung mit dem ältesten Theile desselben zu beginnen.

Dieser ruhte auf dem höchsten Felsgrunde, der das Ganze trug – er ward der Klaudia von Bretagne zugeschrieben, die hier nach der Gefangennehmung ihres Gemahls, Franz des Ersten, in schwermüthiger Zurückgezogenheit bis zu ihrem Tode lebte, und deren Grabmal sich auch in der Hauskapelle als einziges Ueberbleibsel ihrer Existenz vorfand, denn dieser älteste Theil, der in der Mitte des funfzehnten Jahrhunderts entstand, zeigte nur Thurmzimmer, rohe Wände, gepflasterte Fußböden und die kleinen Schießscharten-Fenster, die wenigstens Landschlösser nicht entbehren konnten.

Die flüchtige Besichtigung erregte wegen der erloschenen Erinnerungen, die überdies in einem frommen, tugendhaften weiblichen Leben selten durch hervorragende Situationen sich lange dem Gedächtnisse der Menschen einprägen, wenig Interesse. Aber sie gewannen in der Betrachtung erst ihren Platz, wenn man dies einfache Bedürfniß der königlichen Klaudia mit dem verglich, was die stolze Medicäerin dafür nöthig hielt.

Die Räume, von Flur und Treppen an, die der Aufenthalt ihrer Leibwachen und Diener waren, und die alle noch die Ueberbleibsel von Einrichtungen zeigten, die sie zu Eß- und Trinkgelagen passend gemacht hatten, die weitläufigen Zimmerreihen, die, sämmtlich mit Namen bezeichnet, Erinnerungen an das mannigfach gestaltete Leben dieser Frau erregten, die kolossalen Möbel, Kamine, Bettnischen, die kostbaren und unverwüstlichen Tapeten von Gobelin, vergoldetem Leder und Sammet, die auch zu Teppichen und Bezügen der Stühle, Ruhebetten und Fenster-Umhängen dienten, und von Marmor, Skulpturen und Vergoldungen in reicher Ueberladung unterstützt wurden – sie zeigten ein verwegenes Ergreifen äußerer Mittel, [237] um ein Schaugerüst empor zu thürmen, wohinter sie den krankhaften Zustand ihrer aus tausend Wunden blutenden Zeit um so lieber verbarg, da sie an Heilung nicht dachte und das Wundfieber, in welchem bald diese, bald jene Partei im Wahnsinne die Obergewalt fand, bloß zu ihren Zwecken verbrauchte.

»Ach,« sagte Fennimor inmitten dieser Räume, »welch' ein Glanz! – und Klandia hatte nur ihr Bett – ihre Kapelle und ihre Spinnstube!«

Der alte Kastellan schlug die Augen nieder, als müsse er sich schämen vor den so wohl behüteten und so hoch von ihm geehrten Schätzen, und der fast unbewußten Geringschätzung, womit er die Räume der frommen Klaudia vorgezeigt – zuerst fühlte er den Gegensatz.

Er zögerte fast, weiter zu gehen, obgleich er doch noch so viele kleine Schätze hatte, die er zeigen und erklären wollte, worauf er heimlich stolz war. »Gewiß,« sprach er zuletzt, »die fromme Königin Klaudia hinterließ keine werthvollen Besitzthümer, es findet sich in den frühesten Verzeichnissen der Kastellane nichts bemerkt, was darauf hinweisen könnte, sonst würde es gewiß erhalten sein.«

»Ja, das glaube ich,« erwiederte sinnend die junge Gräfin – »sie hatte allen Schmuck in sich; das wird bei ihr gewesen sein, wie der Vater erzählte von der Mutter der Grachen.« – Freundlich gab sie sich jedoch bald den mannigfachen Gegenständen hin, die ein zu fesselndes Interesse besaßen, um ihren jugendlichen Sinn nicht zu beschäftigen, und der alte Kastellan führte, zu seiner Wohlgemuthheit zurückkehrend, seine jungen Herrschaften in den großen Banketsaal der Königin, der mit Thronhimmel und Gobelins verziert war, und an dessen Wänden reiche Schränke standen, die in Ebenholz mit Gold und Silber, die kunstreichst geschnittenen Hautreliefs aus den [238] Chroniken des alten Testaments zeigten. Sie dienten theils zur Ausschmückung, theils zum Aufbewahren kostbarer Geschirre, oder zu Schenk- und Vorschneide-Tafeln.

»Hier befände sich noch manches der Beachtung Werthe,« sprach der alte Kastellan und öffnete das kunstreiche Schloß eines der größeren Schränke, welcher noch mehrere schwerfällige Silbergeschirre enthielt, so wie eine große Anzahl Becher in Gold und Silber, mit Wappen und Sinnbildern, und einige von den schönen leichten venetianischen Glaspokalen, die, der jungen Frau noch niemals vorgekommen, ihr höchstes Erstaunen erregten.

»Diese kostbaren Geschirre,« sagte der Kastellan, »sollen alle damals hergeschafft worden sein, als die Frau Königin dies Schloß überhaupt mit so großer Pracht für den kurzen Besuch der vornehmen polnischen Magnaten ausrüstete, die sie eingeladen und lieber hier, als in Paris empfangen wollte, da sie diese Großen des damals von den verschiedensten Parteien zerrissenen Landes sich geneigt zu machen trachtete, um die Wahl des neuen Königs dermaleinst auf ihren geliebten Sohn, den Herrn Herzog von Anjou, unsern nachmaligen allergnädigsten König, zu lenken. Es ist hier nicht mehr Alles beisammen, was damals an großem Glanze diese Räume erfüllte, aber die alten Tagebücher der Kastellane, woraus die Chronik besteht, und welche sich noch vorfinden, sagen darüber große Wunder.«

»Warum ist diese Thüre mit dem eisernen Balken verwahrt?« frug die junge Gräfin, der Thüre neben dem Throne sich nahend.

»Dies sind die Geheimzimmer der Frau Königin Katharina,« erwiederte zögernd der Kastellan; »sie sind auf Befehl der Herren Grafen von Crecy immer auf diese Weise von den übrigen Gemächern getrennt gewesen.«

[239] »O, die möchte ich sehen!« rief Fennimor – »könnt Ihr sie öffnen?«

»Das steht allerdings jedem Kastellane zu bewerkstelligen frei,« sprach der Alte, »wenn es befohlen wird, aber sie sind voll böser Luft, Euer Gnaden – auch wurden sie auf Befehl weder gelüftet, noch vom Staube gereinigt – es ist für eine so zarte gnädige Herrschaft, wenn ich's zu sagen mich unterstehen dürfte, kein passender Aufenthalt.«

»O, doch, doch, guter Albans!« – rief die junge Gebieterin – »ich muß sie sehen, gerade sie! – Nicht wahr, Leonin, Du willst sie auch sehen?«

Dieser fühlte wohl, der Alte habe etwas ganz Besonderes bei diesen Zimmern auf dem Herzen, da er sich aber nicht näher erklärte und die Wünsche Fennimor's ihm das Gegengewicht hielten, so gab der Graf das Zeichen, daß er sie öffnen möchte; die verrosteten Schlösser zeigten, wie lange das nicht geschehen war – erst nach vieler Anstrengung gelang es dem Alten, die Riegel zurückzuschieben.

Es waren zwei an einander hängende Gemächer von mäßiger Größe, beide mit vergoldetem Leder bekleidet. Die Luft drang den Eintretenden wirklich mit Grabesbauch entgegen – die bunten Scheiben waren erblindet von der Zeit und den Spinnweben, und ließen daher nur ein Halbdunkel in der Beleuchtung zu. – Aber diese Vernachlässigung hatte einen andern Reiz behalten, der die jungen Schloßbewohner auch näher trieb und gerade darin lag, daß hier nichts bei Seite geräumt war, wie in den andern Räumen, sondern daß, fast zum Erschrecken, mitten in der vollen Lebensthätigkeit dieser ungeheuren Frau eine Unterbrechung, ein Stillstand eingetreten sein mußte, der die verschiedenen Gegenstände, die sie umgaben, erstarrt zu haben schien, und ihnen noch die eben verschobenen Falten der Draperien, den schief gerückten Sessel, genug, jedes Zeichen plötzlich unterbrochener Benutzung erhalten hatte.

[240] Die Mitte des ersten Zimmers ward von einem kolossalen Schreibtische eingenommen, dessen Aufsatz von schwarzem Ebenholze auf Füßen von weißem Marmor ruhte, und mit einigen künstlichen Vorrichtungen zum Schreiben versehen war, nebst einem hoch darüber ragenden Crucifixe von Elfenbein und mehreren schweren, kostbar eingebundenen Büchern. Herum standen drei Armsessel, mit dem Stoff der Tapeten bedeckt, die verschoben waren, als sei dies eben beim Aufstehen geschehen.

»Dies war ihr geheimes Konferenz-Zimmer,« sagte St. Albans leise – »dieser schöne Schrank enthielt die laufenden Akten und Briefe; in diesem mittelsten Sessel saß die Königin, hier die Räthe oder die andern betheiligten Personen – hier an der Wand, auf dieser Bank, die Hoffräulein, wenn sie bleiben durften – auch soll sie gern während der Berathungen in der Fenster-Nische über dem Stickrahmen gesessen haben, aber der damals anwesende Kastellan Hieronimus verzeichnete darüber: Alle hätte ein Fürchten beschlichen, wenn jene, so das Gesicht zur Stickerei abgewendet, Rath gehalten hätte; sie solle dann noch mehr, als gewöhnlich habe verüben können! Seht, der eingespannte Silberstoff, an dem sie damals gearbeitet, ist noch sichtbar, aber freilich erblindet, verstäubt und keine Reinigung mehr aushaltend. Ach, es sind kostbare Dinge hier nach gerade untergegangen durch den Befehl, diese Gemächer abzusperren.«

»Aber warum geschah das?« frug die junge Gräfin.

»Das hatte traurige Gründe, die Gott richten wird in Barmherzigkeit – aber, so wie Euer Gnaden es hier sehen, so ist Alles verblieben, mitten im Gebrauch! Lautes glänzendes Leben den einen Tag, am andern Morgen Alles leer, zu Pferde, zu Wagen, auf und davon, Keiner sein Gepäck nehmend oder nachfordernd – und auf Befehl der zuerst fliehenden Frau Königin wurden diese Zimmer abgesperrt, und kein Stück ihres [241] hier vorhandenen Besitzes durfte ihr nachgesandt werden; sie floh sogar in dem Pelzmantel eines Hoffräuleins. Damals hatte sie es dem ersten Grafen von Crecy-Chabanne, der hier Besitzer ward, geschenkt, und dieser gar heftige Herr hatte, wie man sagte, besondern Grund, den Befehl der Königin gut zu heißen. Da verblieb es dann so, und die tugendhaften Nachfolger dieses ersten Herrn wollten es immer so belassen.«

»Da sind wir wohl die Ersten, die das alte Gebot überschreiten?« sagte Leonin, von unheimlichen Empfindungen angeregt.

»Ob die Ersten, Euer Gnaden, kann ich nicht bestimmen – bei meiner Zeit jedoch die Ersten; denn Dero Herr Vater haben die Herrschaft Ste. Roche nie beehrt.«

Zur Rückkehr geneigt, wollte Leonin dies eben Fennimor vorschlagen, da bemerkte er, daß sie von seiner Seite in das Nebenzimmer geschlüpft war, und in demselben Augenblicke rief sie ihn von daher zu sich: »O, Leonin, komm' geschwind, und sieh', was ich hier Reizendes gefunden habe!«

Er eilte ihr nun nach und trat in das düstere Schlaf gemach der Königin, in dessen Hintergrunde das riesige Himmelbett mit dunkelrothsammetnen Vorhängen stand. Ihm entgegen aber trat Fennimor und hielt einen schönen goldenen, mit Edelsteinen verzierten Becher in der Hand. – »O Leonin,« rief sie, »welch' ein Kunstwerk! Sieh', wie herrlich das gemacht ist! O, laß' ihn mir, ich will ihn zum Andenken behalten und täglich daraus trinken!« In demselben Augenblick setzte sie ihn an die Lippen, als versuche sie ihn.

»Großer Gott, erbarme Dich!« schrie der alte Kastellan, und ehe noch die Lippen den Rand des Bechers umschlossen, riß er ihn aus Fennimor's Hand und stellte ihn dann schaudernd nieder, als habe er sich daran verletzt – aber zur Besinnung kommend, hatte er einige heftige Worte von seinem sichtlich [242] beleidigten jungen Herrn zu bestehen, und beschämt beugte der alte Mann sein Knie vor seiner jungen Gebieterin und flehte um ihre Verzeihung. »Ich habe mich schwer vergangen, Euer Gnaden, aber vielleicht vergebt Ihr mir um der Veranlassung willen. – Sehen Euer Gnaden den trüben Grund des Bechers? – Als er zuletzt gefüllt ward, ist Gottes herrliche Gabe zum Frevel benutzt worden, und der helle Wein der Bourgogne ward mit Tropfen tödtlichen Giftes gemischt – niemals hat ihn seitdem das heilige Wasser gespült, und er ist erblindet, wie Ihr ihn hier sehet.«

Schaudernd wendete sich Fennimor ab, und St. Albans winkte den Grafen bei Seite, und setzte schnell und ängstlich hinzu: »Der Herr Marquis Spinola folgte hieher seiner Geliebten, der Frau Königin Katharina – aber sie hatte Neigung, ihn los zu werden, und es fand sich dazu ein Großer ihres Hofes, den sie bevorzugte. Obwol nun der Dolch in seinem Schlafgemache auf ihn harrte, so fürchtete Katharina doch den Widerstand des muthigen Marquis; als er sie am Abend verließ, reichte sie ihm selbst diesen Becher, dessen schnelle Wirkung sie noch an der plötzlich gebrochenen Kraft des Unglücklichen beobachtete, und entließ ihn dann. Aber er ahnete das Geschehene, und als der erste Dolchstoß ihn traf und der tödtliche Schmerz des Giftes ihn zugleich zerriß, stürzte er in das Schlafzimmer der Königin zurück, von seinem Mörder verfolgt – und schrecklich hier das Geschlecht Beider verfluchend, schleuderte er der Königin den Becher an den Kopf, daß er weit hin zur Erde rollte – dann verschied er auf ihrem Bette, Bäche von Blut vergießend, so daß die Frau Königin, von seinen Flüchen verfolgt, aus diesem Bette nicht entfliehen konnte, ohne bis an die Knöchel in Blut zu waten. – Da reiste sie zur selben Stunde aus dem Schlosse, und Alles, wie von Geistern gejagt, hinter ihr her, und nie betrat sie es wieder, Niemand durfte je seinen [243] Namen vor ihr nennen. Den Becher aber rührte Keiner wieder an – es war der Königin Lieblingsbecher, darum verfluchte der Herr Marquis Jeden, der daran die Lippen setzen würde.«

Der Graf hörte mit tiefem Schauer die schnelle Mittheilung des Greises und sah sich hastig nach seinem jungen Weibe um, das zuerst den schrecklichen Bann überschritten hatte.

Sie lehnte sich bleich und erschüttert gegen das Bett der Königin, und als Leonin zu ihr eilte und sie liebevoll in seine Arme schloß, erleichterte sie ein Strom von Thränen.

Doch der Alte war ihnen nachgeschlichen und zupfte mit trauriger Miene den Grafen am Kleide. »O, führet die gnädige Herrschaft hier fort!« sprach er leise, indem er, von Fennimor unbemerkt, auf die großen dunkeln Flecke am Fußboden zeigte; und Leonin fühlte, das sie auf dem Blute des Spinola standen, der hier das Geschlecht der Crecy verfluchte; denn was der alte Kastellan aus Ehrfurcht verschwieg, war Leonin zufällig bekannt und bezeichnete in dem erwähnten Mörder den Grafen Theophim von Crecy.

Sanft strebte er, die zitternde Fennimor aus diesem traurigen Bereiche zu ziehen, willig folgte sie ihm, und der Kastellan, der schnell die Thüren dieser Unglückszimmer mit Schlössern und Querbalken wieder verwahrte, öffnete in dem Banketsaale eine Seitenthür, die nach einer offenen Gallerie führte. Wenn auch noch älter an Ursprung, war sie doch in diesem Augenblicke eine wahre Erquickung, da die Herbstsonne warm und duftig auf sie schien, und die zierlich gemauerte und vielfach durchbrochene Einfassung mit Moos und niederhängenden Eibenbäumchen durchflochten war, welches Alles dem unschuldigen Leben der Natur näher führte; obwol hier das Zeichen des überhand nehmenden Verfalls, von dem die Vegetation mit ihren vielfach anmuthigen Mitteln sogleich Besitz nimmt, deutlicher hervortrat. Hier beruhigte sich Fennimor, und ihr trübes Auge gewann seinen vollen Glanz wieder, und Lippen und Wangen ihre Farbe.

[244] »Wo sind wir denn jetzt?« – frug sie, auch sogleich zu ihrer alten Neigung zurückkehrend und die Fensterreihe hinter sich prüfend, wovor diese Gallerie entlang lief.

»Dies waren die verschiedenen Zimmer der Hoffräulein« – sprach der Kastellan; »sie sind ohne Werth, und haben eine besonders feuchte und kalte Luft.« –

»Aber jener Thurm, an dessen Thüre sich diese Gallerie endigt, wo führt er hin? – O, sieh' doch, Leonin, wie reizend dort das Ende eines Altans hervorschaut! Welch' herrliche Aussicht muß man von ihm in das Thal von Ste. Roche haben, da er mehr nach jener Seite zu liegt!« und schon eilte Fennimor auf der Gallerie voran, das Schloß an der kleinen Thür gab nach, und sie stand in dem Thurmzimmer, ehe der Graf ihr folgen konnte, was St. Albans mit sichtlichem Widerstreben that.

Auch dies war ein großes, rundes Schlafzimmer, jedoch in seiner Ausstattung von bedeutenderen Ansprüchen, obgleich diese mehr, als in den übrigen Zimmern, gelitten hatte, da der Altan zwar mit seinen großen Thüren das Fenster bildete, aber, den Unbilden des Wetters preisgegeben, Regen und Schlossen eindringen ließ. Da liefen an den vergoldeten Lederbehängen der Wände kunstreich geschnittene Bänke von Eichenholz um das Zimmer her, und neben dem Kamine von schwarzem Marmor stand das große Bett, welches, wie gewöhnlich, an Vorhängen und Verzierungen der Holzschneidekunst den meisten Aufwand früherer Zeit zeigte. Vorzüglich aber betrachtete Fennimor ein schönes Betpult mit Knieschemmel, an dem ein zusammengesunkener kleiner Harfion, eine kleinere Art dieses später erst vergrößerten Instruments, wie die Damen ihn leicht in einer Hand zu tragen vermochten. Dies kleine Instrument, wenn jetzt auch ohne Saiten, mit verrosteten Wirbeln, war doch mit dem größten Fleiße in Elfenbein und Gold gearbeitet, und zeigte an, daß hier ein Fräulein gehaust, da nur Frauen [245] dies Instrument spielten. – Die Vorhänge des Bettes waren nicht zugezogen, und Fennimor sah die Kissen und Matratzen von dunklem Damast, und die reich gestickte Decke, wenn auch Alles von Staub und Feuchtigkeit geschwärzt erschien, und kaum noch in seiner früheren Beschaffenheit kenntlich. –

Schon ein paar Mal hatte Fennimor gefragt, wem dies Zimmer gehört habe – da sie ihre Frage wiederholte und den alten Mann dabei befremdet ansah, erwiederte er schüchtern: »Es ist der Eudoxien-Thurm.«

»Eudoxia? Nun, wer war das?« frug sie weiter.

»Eudoxia, das schöne Fräulein von Nemours, war auch eine Hofdame der Frau Königin Katharina – aber sie hatte nicht Glück davon. Der König, sagt man, habe sie lieber gehabt, als erlaubt war, und er fand sie hier einstmals auf ihrem Lager, daß sie ihm blos noch die blutende Wunde in der Brust zeigen konnte, und ihm sagen, wie ihr befohlen war: die Königin habe dies gethan. – Dann ist sie verschieden. Drauf, sagt man, säße sie noch immer hier auf diesem Altane in ihrem weißen Kleide und warte auf den König, wie er sonst durch das Thal herauf zog.«

»Heil'ger Gott,« rief Fennimor und barg ihr Antlitz an Leonin's Brust, »eine Königin und morden! Ist denn das möglich? Sie sagen ja, sie sind von Gott erwählt – können sie denn da morden? Das ist vielleicht nicht wahr! O, Leonin,« fuhr sie wemüthig fort, »sprich doch, Du mußt es ja wissen!«

»Laß' das jetzt, Fennimor! Kehren wir lieber zurück – hier unten liegen unsere Zimmer auch freundlich von der Sonne erhellt, da wohnen keine schrecklichen Erinnerungen. Mein Ur-Großvater ließ sie gastlich einrichten – dort wollen wir Alles vergessen.«

»Ja wohl,« sprach der Kastellan, »von diesem guten gnädigen Herrn sind nur schöne, heitere Nachrichten in der Chronik zu finden. Er benutzte auch nie diese oberen Gemächer oder doch nur jene Seite drüben, die königlichen Prunkgemächer, [246] nie den eben besuchten Banketsaal, weil er auf den großen finstern Hof mit dem Grabmal des Herrn Grafen Theophim herabsieht.«

Die vielfach bewegten Wanderer kehrten in ihre jetzt schön und ansprechend eingerichteten Zimmer zurück, und hier erst zeigte es sich, wie tief erschüttert Fennimor war, denn bleich und wortlos sank sie in einen Stuhl am Feuer hin, hörte nicht, was Leonin sprach, und schien mit offnen Augen bewußtlos.

Leonin fühlte bald, daß er sie nicht gewaltsam wecken dürfe, und gönnte es ihr, sich selbst auszuträumen, mit seinen liebevollen Blicken ihr blos ein zärtlicher Wächter bleibend.

Mit einem tiefen Seufzer löste sich endlich ihr beklommener Zustand – sie erkannte Leonin und sank weinend an seine Brust. – »O, Leonin,« rief sie – »daß in der offenen, schönen Welt, wie sie von Gott kömmt, noch so eine finstere geheime Welt ist, die gar nicht dazu gehört, gar nicht Gottes Welt sein kann – und bei der nicht zu begreifen ist, warum die Menschen sie in die andere große Gottes-Welt hineinsetzen, und damit die andere verderben und Gott kränken! – O, Leonin, ich glaube, mein Vater wußte gar nichts von der falschen, gemachten Welt!«

»Wohl hast Du Recht,« – sprach Leonin, »daß dies nicht die rechte, sondern eine falsche Welt ist – und es schmerzt mich, daß Du mit der Kenntniß des Schlosses, die Du so wünschtest, einen so düstern Blick hinein thun mußtest. – Laß' uns diese Welt, die uns so fern liegt, vergessen, und richte Deine Blicke auf die Gegenwart, die kein Schrecken birgt. Obwol ich durch Unterricht und Lebensweise diesen Beziehungen näher getreten bin, so sind sie von mir doch noch nicht selbst erlebt, und ich ahne mehr den Stoff, dem ich zerstreut in der Welt begegnet bin, als daß ich ihn in dem eignen Leben bisher nachzuweisen wüßte. Es ist ein schwermüthiges Geschäft, sich in die Fragen zu vertiefen, die sich uns darüber aufnöthigen wollen, wie sich die Zulassung der schrecklichen Verbrechen, [247] welche die Erde besudelt haben, mit der Gerechtigkeit Gottes verträgt, wie, daß wir oft den Unschuldigen untergehen sehen und den Verbrecher triumphiren. – Laß' uns denken, daß dessen ungeachtet die göttliche Gerechtigkeit sich ausreichend erweist, daß solche Triumphe, wie das Untergehen der Unschuld nur scheinbar sind, und der innere Zustand Beider in der ausgleichenden Hand Gottes ruht.«

»Ja, so wird es sein,« – sagte Fennimor, welche ihn mit gläubiger Zuversicht angehört hatte: »aber gewiß giebt Gottes schöne Welt zum Bösen keine Veranlassung, und Jeder dürfte gut sein nach seinen Kräften.«

»Und doch ist dieser Streit, dieser Kampf nöthig – dadurch gerade, daß wir mit dem Bösen und gegen das Böse kämpfen, entwickelt sich das Höhere in der menschlichen Natur, und der, welcher den Kampf erregt, ist ein Werkzeug in Gottes Hand, eben so, wie es der Streiter für das Gute ist; wie schwer würde es uns werden, das Maaß ihres Verdienstes oder ihrer Verschuldung zu finden – das ist unserm Auge entrückt.«

»Ach, Du bist weise!« sagte Fennimor, die trüben Augen zu ihm aufschlagend. Dann ließ sie sich, von so vielen Eindrücken ermüdet, von Emmy Gray nach ihrem Bette führen, und bald heilten ihre unschuldigen Träume die Wunden ihrer Seele aus. –

Wie liebevoll auch Beide den immer näher rückenden Augenblick der Trennung vor einander zu verhüllen suchten, er nahte sich darum doch, und Fennimor rang mit der Einwilligung zu dem größten Schmerze, den sie glaubte erleben zu können. Aber noch immer sträubte sich ihre stolze und kräftige Natur gegen eine solche Zumuthung; fast zürnend blickte sie auf Umstände, die sie dazu nöthigen wollten; und wunderbar fühlte sich Leonin von dieser Forderung, die er in jedem Worte, in jedem Blicke dieses Naturkindes erkannte, verschüchtert. Alle Rücksichten, von denen er sich beherrscht erkennen mußte, versanken [248] vor einem Geiste, dem die natürlichen Verhältnisse der Menschen allein eine Geltung hatten, und er fühlte theils Scheu, ihr die Erscheinungen der Gesellschaft, wie sie ihm bekannt und bedeutend geworden, zu schildern, theils fühlte er Zweifel, ob sie ihnen den Einfluß zugestehen würde, da sie ihre Fassungskraft übersteigen mußten. – Aber wir können oft nach Außen hin uns gegen das Andringen einer gefürchteten Veränderung mit entschiedenen Worten wehren, dennoch ergreift schon die Ueberzeugung, daß wir ihr nicht entrinnen können, unsere ängstlich Wache haltenden Gedanken, und wir betreffen uns gegen unsern Willen auf kleinen Handlungen oder Einrichtungen, die nur darauf Bezug haben können, daß wir selbst jene gefürchtete Veränderung für unabweisbar halten und ihr instinktartig schon entgegen kommen.

So machte Leonin, wie Fennimor Einrichtungen und Pläne zu Beschäftigungen und kleinen Erheiterungen im Freien, die ihre Zeit auszufüllen strebten, wobei eine stillschweigende Anerkennung durchblickte, daß sie dann ihres Gatten beraubt sein würde – und doch umschlichen Beide das entscheidende Wort, und nicht selten schaffte sich Fennimor nach solchen Anregungen, die ihre Seele beklemmten, durch ein paar angstvolle Worte Luft, die jede Andeutung verläugnen sollten.

Da hatte sie der Abend vor dem hohen Lesepulte gefesselt, und Fennimor las mit langsamer Aussprache, aber richtigem Accente und dem rührend unschuldigen Tone ihrer kindlichen Stimme, die unsterblichen Stanzen des Cid von Corneille. Wie glühten ihre zarten Wangen, wie schön hoben sich im verwandten Gefühle der eigenen hochherzigen Empfindungen die schön geschweiften Lippen, um den edlen Stolz, die reine ritterliche Liebe des Helden auszudrücken, wie hätte sie lieber selbst ihm gleich geantwortet, und wie gespannt lauschte sie der Antwort Ximenen's, hoffend, es sage ihrem eigenen hochbegeisterten Gefühle zu, was sie antworte.

[249] Wer vermöchte zu schildern, mit welchen Gefühlen Leonin, zwischen Sehen und Hören getheilt, vor ihr saß; leise war er von ihrer Seite weggerückt, ihr fast gegenüber, ihren vollen Anblick genießend und sicher, daß sie in ihrer begeisterten Hingebung an den großen Dichter und seinen Helden ihn selbst vergessen würde.

Die Kerzen, die über dem künstlich geschnittenen Pulte von Eichenholz in schweren silbernen Armen ruhten, beleuchteten von oben das runde Haupt mit seinen reichen, lichtbraunen Locken und warfen das hellste Licht auf die weiße, zartgewölbte Stirn. – Der Schatten hätte den schönen Untertheil des Gesichts verhüllt, wäre nicht von dem weißen Blatte des Buches, vor dem sie gebeugt saß, ein Reflexlicht dazu aufgestiegen, welches Farbe und Form magisch verschönte.

Die kostbaren Stoffe, die Leonin seiner Gemahlin nur passend hielt, waren ihr längst im täglichen Gebrauche bequem, und der reiche blaßblaue Seidenstoff, der von ihrem schlanken Leibe in vollen Falten zur Erde fiel, ward um Schultern und Busen mit reichen Spangen gehalten. Sie trug und paßte das Alles zu einander mit dem vollkommenen Geschick, was, von der Schönheit unterstützt, so oberflächlich unter die Rubrik einer natürlichen weiblichen Koketterie verwiesen wird, und vielmehr der edeln, reinen, allgegenwärtigen Empfindung zuzurechnen ist, welche eine Frau leitet, sich selbst zur Befriedigung, nur das Schöne und Vollkommene an sich leiden zu mögen.

Gewiß fühlte Leonin mehr, wie je, den unaussprechlichen Zauber seiner Liebe, und sein Blick schweifte einen Augenblick an den hohen, schwerfällig verzierten Wänden des schönen alterthümlichen Gemachs umher, und schien die verdüsterten Familienbilder herauszufordern, ihm ein würdigeres Modell zu zeigen für die Nachfolge in ihren Reihen.

Da war Fennimor an das letzte Wort gekommen, womit Cid von Ximene'n Abschied nimmt, überwältigt schlug das feurige [250] Kind die Hände zusammen, und Leonin's Augen suchend, rief sie: »O, wie göttlich schön ist es, solchen Schmerz zu fühlen!«

Leonin eilte ihr näher, aber ein schnell hervorbrechendes Schluchzen des holden Wesens zeigte ihm, wie tief die poetische Erschütterung war, die sie erfahren, und er schämte sich fast, mehr ihrer Schönheit, als der herrlichen Dichtung gedacht zu haben.

Doch sollte ihm keine Zeit bleiben, ihr seinen halben Antheil zu verbergen. Schritte wurden im offenen Nebenzimmer gehört; der Graf ging dem eintretenden Kammerdiener entgegen und nahm ihm einen Brief ab, der so eben aus Paris mit einem reitenden Boten angekommen war, der Tag und Nacht den Weg gemacht hatte.

Es durchzuckte Leonin, als er, den Lichtern näher tretend, durch wenige Zeilen des Marquis de Souvré von dem tödtlichen Erkranken seines Vaters benachrichtigt ward, und dem Begehren desselben, seinen Sohn noch einmal zu sehen.

Er erhob den Blick von dem verhängnißvollen Blatte zu Fennimor empor, die ihn gespannt beobachtend noch an derselben Stelle saß; er wollte noch ein Mal den Eindruck zurückrufen, dem er sich einen Moment früher so ganz hingegeben fühlte, aber schon hatte der Ausdruck seiner Züge, die sie so scharf beobachtet hatte, von ihrem Gesichte jene poetische Verklärung verwischt, die nur eben in dem Zurücktreten unserer eigenen Existenz Raum findet. Ahnungsvoll blickte sie ihn an, und er fand keine Worte; stumm reichte er ihr den Brief, dessen Inhalt, in wenigen Worten bestehend, sie eben so schnell überflogen hatte. Fennimor erblaßte wie der Tod, und einen Augenblick schien der ungeheure Schmerz ihre Gestalt mit Erstarrung zu berühren. Leonin wagte nicht, sie länger anzublicken; gebeugt stand er, an das Pult sich lehnend. – Da hörte er, wie sie aufstand; bald sah er sie vor sich stehen.

»Leonin,« sagte sie leise, aber fest und innig, »das ist Gottes Gebot! Dein Vater ruft Dich! – Du mußt[251] fort – schnell reisen! O, eile, eile, damit er Dir seinen Segen giebt, Du nicht, wie ich, die stumme, kalte Leiche findest!« –

»Fennimor, heil'ger Engel, Du sendest mich selbst von Dir, Du willst mir das Allzuschwere mit Deiner frommen Kraft erleichtern!« –

»Ja, Leonin, das will ich, und Dich rüsten helfen, damit Du schnell Deinen Weg antreten kannst, und will standhaft sein und Dich nicht entkräften durch meinen Weiberschmerz, damit Du ein Mann bleibst, ein Held, wie Cid – das hätte Ximene auch gethan.«

»Ha,« rief Leonin und drückte sie an seine Brust – »Corneille, welch' ein Lorbeer sproßt heute um Deine Stirn! Das ist Dichterberuf, die Begeisterung hervorzurufen, die das empfängliche Gemüth Dir nachfliegen macht und dem Leben den Karakter der Erhabenheit aufdrängt, mit dem Du es erfüllt hast!«

Sie sah ihn fragend an – sie wußte es nicht, daß es so war – aber, als sie an ihm vorüber aus dem Zimmer schwebte, die Worte zu verwirklichen, war in ihrer Gestalt eine Sicherheit und Ruhe, eine Erhabenheit, als schwebe der Goldreif Ximenen's um ihr jugendliches Haupt. –

Und so hatte der helle Dezember-Morgen kaum den leichten Frost der Nacht in Thautropfen verwandelt, da zog durch das Thal von Ste. Roche der beflügelte Reisezug des jungen Grafen Crecy, und aus Eudoxiens Thurm wehte ein weißer Schleier als letzter Liebesgruß, während die fromm beherrschten Thränen jetzt wie Bäche aus den schönen Augen Fennimor's, vielleicht auf dieselbe Fensterbrüstung fielen, wo einst Eudoxia dem königlichen Geliebten nachgeweint.

[252]

[1] Zweiter Theil

Das Gefühl, seinem sterbenden Vater entgegen zu eilen, verschlang jede andere Betrachtung in dem jungen Grafen von Crecy, und so war er weit davon entfernt, an die schwierigen Verhältnisse zu denken, mit denen er sich unter andern Umständen beladen gefunden haben würde. Eile war das Einzige, was er nöthig zu haben glaubte, und die Thürme von Paris tauchten aus dem Nebelmeere rauchender Essen und dem Dunstkreise einer zusammengedrängten Volksmasse schon am Abend des dritten Tages vor dem ungeduldigen Sohne auf, und übten auch auf ihn die magische Wirkung einer von Sehnsucht und Freude gemischten Rührung aus, von der sich vielleicht Keiner ganz losgegeben fühlen wird, der nach langer Abwesenheit die Vaterstadt zuerst wieder sieht.

Die schmerzliche Erwartung, der er entgegen eilte, verschwand vor dem Anblicke dieser bekannten Spitzen und Kuppeln und machte einem kurzen Aufjauchzen seiner Brust Platz; und als ob ihn schon geliebte Augen anlächelten, so blickte er zärtlich auf ihre im Nebel schimmernden Riesenbilder. – Es war ihm, als würde er sich seiner selbst erst bewußt, als wäre Alles, was er erlebt, bloß darum erlebt, um es hier durchzufühlen, an dieser Stelle ihn zu dem zu erheben, was er in unbestimmten Umrissen kreisen gefühlt hatte von Jugend auf; und als ob sie die erste uud unabweisliche Autorität wären, die ihn zur Rechenschaft ziehen könnte, so bang bewegt ward sein Herz, obwol sie ihm zugleich eine Verheißung von versöhnender Liebe, ein Verständniß mit ihm und allen seinen Zuständen erschienen, wie jedes andere Gefühl dagegen zu einem fremden und oberflächlichen [1] ward. Es sind auch gerade diese, an unser frühestes, harmlosestes Bewußtsein geknüpften jugendlichen Erinnerungen, welche den unaussprechlichen Zauber weben, von dem wir uns beim Wiedersehn des Vaterlandes ergriffen fühlen. Es ist die Hoffnung, verstanden zu werden; diese stete Sehnsucht des strebenden Herzens, die uns so leicht zu erfüllen scheint, den langvertrauten Gegenständen gegenüber, und uns jedes erfahrene Mißverständniß vergessen läßt, uns nur an das erinnernd, was wir dort empfingen; so viel in dieser ersten Jugendzeit, daß es jeden neuen Gewinn zu sichern scheint!

Und jetzt umschlossen ihn schon die engen, geräuschvollen Straßen von Paris – und je näher er der Fauxbourg St. Germain kam, je mehr ward seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen durch die schwerfälligen Karossen, welche, mit Dienern und Pagen behangen, einem Ziele entgegen strebten.

Sein leichterer Reisewagen und sein immer ungeduldigeres Antreiben bahnten sich endlich einen Weg, der ihm bei einer schnellen Wendung das Hotel Soubise vor die Augen führte, welches seine Eltern bewohnten, und das zu seiner nicht geringen Ueberraschung das Ziel der um ihn rasselnden Karossen war, die schon in breiten Gassen davor aufgereiht standen.

»So muß mein Vater leben!« rief Leonin. – Und eben rollte sein Wagen unter das Portal des Schlosses.

Bekannte Gesichter, ein lauter Jubelruf empfingen den jungen Erben, der mit einem Sprung über die Tritte hinweg unter den treuen Dienern stand, die jetzt Hände, Rockschöße und Füße mit Küssen bedeckten.

»Mein Vater! mein Vater!« stammelte Leonin, fast erstickt von Gefühlen.

»Er lebt, gnädiger Herr! er lebt! Gott hat ihn erhalten!« drang es aus aller Munde. »Kaum war der Bote fort, als die Genesung eintrat.«

[2] »Und wo, wo, meine Mutter?« – Er wies Jeden mit seinen Armen zurück und flog, Alles vergessend, überrennend, an den prachtvoll geschmückten Gästen, welche die Treppen bedeckten, vorüber, in die glänzenden Zimmerreihen, in denen er die Mutter suchen mußte.

Die Marschallin von Crecy verbarg unter der feinen Miene gesellschaftlicher Höflichkeit, die sie ihr vollständiges Eigenthum nennen konnte, das unruhig bewegte Herz einer Person, welche unaufhörlich irgend eine Absicht, irgend einen Plan verfolgt, und von Allem, was sich um sie her bewegt, hauptsächlich verlangt, daß es sich nach ihrer Ansicht, ihrer Bestimmung gestalte. Es war oft bloß die Ausübung dieser Herrschaft, die ihren Entwürfen Reiz verlieh, da sie sich selten über die Geringfügigkeit derselben täuschte, und eine bittere Verachtung gegen Menschen und Verhältnisse fühlte, die sich beherrschen ließen. – Man konnte sie so durch ihre eigenen Neigungen bestraft nennen; denn, indem sie ihren ganzen Scharfsinn aufbot, jeden Widerstand um sich her zu entkräften, machte es ihr doch gerade die übelste, finsterste Laune, daß sie Niemanden fand, der ihr gewachsen war, obwol er nur Gegenstand ihres ungemessenen Zornes, ihrer rastlosen Verfolgung gewesen wäre.

Es dürfte nicht schwer werden, hiernach die augenblickliche Stellung gegen ihren Sohn zu folgern. Sie war außer sich, daß er Widerstand wagte; aber sie ward dadurch belebt und zu einer Thätigkeit erhoben, die alle ihre Kräfte anregte. – Und daß sie gerade in ihrem Sohne den Gegenstand finden mußte, der das Wagniß versuchte, ihren Willen zu lenken, machte sie stolz auf ihn und flößte ihr den Grad von Achtung ein, der ihn ihr zum würdigen Gegner machte, der Mühe werth, ihn zu besiegen; – denn besiegen, einen andern Gedanken hatte sie freilich nicht!

Das tödtliche Erkranken des alten Marschalls, wodurch die schnelle Einberufung des Sohnes vollständig motivirt ward, [3] war ihr kaum willkommen. Dies Ereigniß unterstand sich, ohne ihren bestimmten Willen ins Werk zu richten, was sie sicher war, doch zu erreichen. Sie fühlte sich fast dadurch beleidigt und regte keine Hand, es zu unterstützen; sah sich aber doch genöthigt, die Hebel, die sie für spätere Zeiten in Bereitschaft hielt, jetzt um so viel vorzurücken.

Nothwendig bedurfte sie einer Collision der Verhältnisse. Das Eintreten ihres Sohnes durfte nicht das Hauptereigniß sein; es hätte ihn ihr zu nahe, zu imponirend entgegen gestellt, und das Mittel fand sich sogleich.

Mademoiselle Louise, ihre einzige Tochter, erhielt in dem Kloster der Benediktinerinnen einen Besuch von ihr, und die Marschallin zeigte sich hier so vollkommen zufrieden mit der sechzehnjährigen Tochter, daß sie der Aebtissin ihre Absicht aussprach, die Erziehung der jungen Kostgängerin vollendet zu erklären, und Mademoiselle Louise begleitete ihre Mutter nach Paris zurück.

Mit eben so sicherer Hand ward hier die Präsentation des jungen Fräuleins bei der königlichen Familie bewirkt; und jetzt war Mademoiselle Louise ein Mittelpunkt, um den sich der gesellige Glanz des Hauses Crecy-Chabanne sammeln konnte – Grund genug, das Interesse und die Gedanken der Marschallin in den Zerstreuungen von ihrem Sohne abgezogen erscheinen zu lassen.

Sie hatte genau seine Ankunft berechnet. Denn, daß sich die Gesinnungen des Sohnes nicht verläugnen würden, dessen war sie gewiß; und wenn sie auch nicht ahnte, durch welche Ueberredung er so schnell herbei geführt wurde, so war sie doch außer Zweifel, er müsse kommen, und ein Fest müsse ihn empfangen. Darauf waren alle folgenden Tage angewiesen; und das Befinden des Marschalls legte ihr kein Gebot des Anstandes mehr in den Weg.

[4] So empfing sie heute die vornehme Welt von Paris, um die Glückwünsche anzunehmen, die ihr über die Präsentation ihrer Tochter bei Hofe zukamen.

Das Palais Soubise, welches so als Eigenthum der Marschallin genannt ward, glänzte in der vollen Pracht aller aristokratischen Vorrechte, welche diese so wohl zu erhalten und hervor zu heben wußte; ein Talent, das sie zu der ausgezeichnetsten Person des Hofes und Adels erhob und ihren Ansichten und Entscheidungen die Huldigung der Untrüglichkeit verschaffte.

Sie war das vollkommenste Muster der unzähligen Abstufungen der Etikette, die einer Frau von Stande damals so hoch angerechnet wurden; und wer sie beobachtete, konnte nie über den Rang der Personen in Zweifel sein, die sich ihr nahten.

Nie verwechselte sie eine Anrede oder Erwiederung mit der anderen, und die Kürze oder Länge derselben, der leisere oder stärkere Ton ihrer Stimme, ob sie dem Gegenstande gerade gegenüber oder seitwärts gewendet blieb, mit halbem oder ganzem Blicke begegnete, das waren Nüancen einer damals hochgeschätzten Feinheit und ein sicheres Zeichen über die Ansprüche der Personen. Die Marschallin war über fünfzig Jahr alt und eine konservirte Frau. Das gleichmäßige Embonpoint ihrer Gestalt gab dem Teint ohne künstliche Mittel eine große Frische, die besonders Personen von röthlichem Haare lange behaupten. Die unsinnige Mode, dicke Lagen von Schminke zu tragen und diese Sitte als ein Vorrecht des Standes mit der Verläugnung aller Natur- und Schönheitsregeln auszuüben, gab der ältesten wie der jüngsten Dame ein gleiches Ansehn. Nur Unverheirathete genossen diesen Vorzug nicht; und so erschien oft die frischeste Jugend mit der Farbe der Gesundheit wie bleiches Siechthum, wenn sie in eine Reihe mit den verheiratheten Damen gerieth.

[5] Die Marschallin gehörte sowol durch Geburt, wie durch Vermählung zu den Familien, welche die Ehren des Louvre genossen; und so sehen wir in ihrem Audienz-Saale einen Thronhimmel, unter welchem die Marschallin in einem breiten, vergoldeten Fauteuil saß und sich erhob, oder sich bloß neigte, oder die Stufe, welche ihn erhöhte, hinab steigen zu wollen schien – Alles in untrüglicher Ordnung, dem Range der nahenden Gäste gemäß. Die Stickereien ihrer Robe waren so kostbar und breit, daß man die Farbe des Sammets nur bei einer Wendung in den hinteren Falten sehen konnte. Das Unterkleid dagegen zeigte auf Drapd'or den ganzen Wahnsinn des damaligen Geschmackes, indem mit bunter Folie, Perlen und Juwelen eine Landschaft darauf gestickt war, der es weder an Thürmen, noch Bäumen, noch an der gehörigen Staffage von Menschen, Hunden und den verschiedensten Thieren des Waldes fehlte.

Der Aufwand einer solchen Kleidung, zu welcher noch die reichsten Aufsätze und die kostbarsten Geschmeide gehörten, überstieg allen flüchtigen Modewechsel späterer Zeiten; und es fanden sich nur wenige Damen unter dem reichsten Adel, welchen es gestattet war, mehr wie zwei oder drei Galla-Anzüge ihr Lebenlang zu besitzen. Doch auch in dieser Beziehung war die Marschallin eine von den Begünstigten, welche ihre Toilette bei jeder sich zeigenden Veranlassung in eine neue Form zu bringen wußte, und zwar mit der vollkommen gleichgültigen Miene, welche diese Angelegenheit bloß zu einem Geschäfte ihrer Kammerfrauen herab wies, das ihre Beachtung wenig verdiene.

Doch sah man bei den Festen der Marschallin jedenfalls ein unverkennbares Streben der erscheinenden Damen, der Frau vom Hause ihr Uebergewicht bestreiten zu wollen; und es war eine wohl aufgenommene Artigkeit, wenn man versicherte, daß [6] sich nirgends eine höhere Eleganz der Damen zeigte, als in ihren Salons.

Wir beschränken uns jedoch auf die gegebenen Andeutungen. Der Glanz einzelner Personen, das Zusammenwirken einer solchen bunten, strahlenden Masse wird sich uns von selbst aufnöthigen, und wir bezeichnen nur noch eine junge, heiter lächelnde Mädchengestalt, die, sich an dem Stuhle der Marschallin lehnend und den leicht gegebenen Winken derselben folgend, jeden Ankommenden mit den respektueusen Verbeugungen der Jugend begrüßt. Es ist Mademoiselle Louise, die Tochter der Marschallin, welche der bequeme Vorwand für die Absichten ihrer Mutter ward; da allerdings nach einer Präsentation bei Hofe, die Etikette eine Reihe von Festen verlangte, welche die Freude über einen solchen Vorzug sowol dem Adel, als vor Allem dem Könige darlegen mußte.

Am heutigen Tage nahm die Marschallin indessen noch außerdem mit besonderem süßem Lächeln und einer Bewegung des Fächers, die allgemein bewundert ward, da sie einen sanften Schmerz ausdrücken sollte, die Gratulationen über die Genesung des Marschalls an, und sie erwähnte gegen einzelne Auserwählte, daß selbst Ihro Majestäten sich ihrer liebsten Umgebungen beraubt hätten, um ihr Glück wünschen zu lassen.

Auch konnte gewiß nur die finstere Herzogin von Bellefond, welche selbst außer den Zimmern der Königin nie ohne ihren kleinen Elfenbeinstab erschien, der ihr als Oberhofmeisterin gebührte, mit der Frau Marschallin den Platz unter dem Thronhimmel theilen; da sie gewissermaßen durch ihren besonderen Auftrag von Seiten der Majestäten zu einer geheiligten Person erhoben war.

Zur andern Seite stehend, befand sich der Marquis von Vieuville, der Ehrenkavalier der Königin, der mit der vollkommensten Kenntniß jeder einzelnen Person des Hofes und [7] ihrer Verhältnisse sich den Ruf einer immerwährenden sarkastischen Laune zu erhalten wußte, daher, halb gefürchtet, halb gehaßt, der Gegenstand der verbindlichsten Aufmerksamkeiten war, und eine Höflichkeit und Zuvorkommenheit an den Tag legte, die ihm sehr bequem ward bei der Beachtung, mit der man seine Aeußerungen entgegen nahm.

Die Marschallin wußte, während sie empfing, anredete, antwortete und für Jeden die passende Verbindlichkeit bereit hatte, stets einige pikante Bemerkungen über ihre Schulter dem ihr sehr vertrauten Marquis Vieuville zuzuwerfen, und der Marquis empfing diese Bemerkungen stets, um sie, mit reichen Zugaben versehen, seiner Gönnerin zurück zu geben; während sein wunderlich schmales und trockenes Gesicht, von einem fein beschnittenen Puderstreifen eingefaßt, außer der Bewegung der Lippen keine Veränderung zeigte, und jedes spähende Auge sich vergeblich daran versuchte.

»Madame,« sagte er, indem die Marschallin sich abgewendet mit dem Herzoge von Gêvres unterhielt – »Sie sind heute dazu bestimmt, ganz Paris zu zeigen, wie die vollkommenste Dame des Hofes die zartesten Gefühle als Gattin und Mutter mit der bezauberndsten Eleganz zu vereinigen weiß, die auch dieses Genre aus dem rohen Naturzustande erhebt, worin es uns so beschwerlich fällt – Sie werden, wenn Sie sich gnädigst wenden, den jungen Grafen von Crecy erblicken!«

Einen Augenblick genoß der Marquis das schnelle Vibriren auf dem Angesichte der Frau Marschallin und begleitete es mit einem Lächeln, welches sagte: Sie sind doch noch nicht vollkommen Meisterin ihrer selbst! als diese auch schon, ohne aufzublicken, völlig sicher über ihren ironischen Beobachter, mit dem Lächeln der höchsten Sammlung sich dem ihr entgegen Eilenden zuneigte und es nicht ungern versäumte, ihm zuvor zu kommen, als er sich mit kindlichem Enthusiasmus ihr zu Füßen warf.

[8] »Also zu einem dreifachen Feste erheben Sie durch Ihre Ankunft diesen Tag!« rief sie mit anmuthigem Eifer. – »Stehen Sie auf, mein theurer Sohn! Wenn Sie leider nur der Segen Ihrer Mutter hier empfängt, so erhielt Ihnen doch die Gnade Gottes den Vater, den Sie so liebevoll zu erreichen strebten. Mein Herz dankt Ihnen für diese lebendige Theilnahme! Und lassen Sie mich hinzusetzen: ich erwartete nichts Anderes von Ihnen! – Mademoiselle Louise, umarmen Sie Ihren Bruder!«

Zurückgedrängt mit allen seinen Gefühlen, erkannte der junge Graf, indem sein natürlicher Stolz die Oberhand gewann, wohin seine Mutter ihn vorläufig verwies; und aus dem hingerissenen Zustande kindlicher Liebe und Freude sich empor raffend, rief er sich die Sitten der vornehmen Welt, die eine lange Gewöhnung ihm bequem werden ließen, zurück, um sich auch jetzt vor der klugen Beobachtung seiner Mutter damit zu behaupten.

Er fühlte daher auch bald, daß er es sein müsse, der sich einer Gesellschaft entzöge, welcher er vor seiner Präsentation nicht zugehörig sein konnte, und fand die Bestätigung dieser Voraussetzung in der entschiedenen Haltung der Marschallin, die auch nicht die kleinste Bewegung zu einer Vorstellung ihres Sohnes an die ihr durch Ihren Rang am nächsten stehenden Personen machte, sich nach der Umarmung mit seiner Schwester, mit ihm wie in ihrem Privatkabinette unterhielt und dadurch alle Theilnahme der sie Umgebenden ablehnte.

Sie beobachtete dabei mit geheimen Vergnügen, wie stolz und gewandt seine Haltung und seine Worte waren, und mußte diese Beobachtung noch bestätigt fühlen, als er ihr jetzt selbst seine Bitte vortrug, die Gesellschaft verlassen und seinen Vater aufsuchen zu dürfen.

Nachdem sie ihn beurlaubt, setzte sie ihre Unterredung mit dem Herzoge von Gêvres so ruhig fort, daß sie eine Anspielung [9] auf das eben Erlebte Jedem unmöglich machte, und so das plötzliche Auftreten des jungen Erben anscheinend unbemerkt vorüber ging.

Nur Zwei in diesem Kreise hatten das Ereigniß tief empfunden, und wie verschieden auch ihre Gefühle waren, Beiden schien es gleich wichtig. Louise de Crecy hatte den Bruder umarmt; die einzige Sehnsucht ihres unschuldigen Herzens war erfüllt. Sie wußte ihn nun in ihrer Nähe, diesen Schutzheiligen ihrer klösterlichen Träume, an den sie alle unverstandenen Wünsche ihres Herzens knüpfte, den sie so fest und sicher sich gewonnen glaubte, daß über den Rand ihrer Silberrobe, die wie ein Bollwerk ihre jugendliche Heiterkeit einfing, ihr kein Hinderniß mehr für das fröhlichste Leben mit ihm möglich schien, und ihr Blick dem Davoneilenden mit dem bezaubernden Lächeln der Befriedigung folgte.

Auch die Augen des Marquis de Souvré folgten dem Jünglinge, und gleich der unschuldigen Louise, glaubte auch er ihn jetzt sicher zu haben. Aber, wenn Beiden die Stunde der Erfüllung schlug, war doch Beider Gefühl so ungleich, als Fluch und Segen!

Er mußte es hören, wie der Eindruck dieses flüchtigen Erscheinens, den die Marschallin nur in ihrer nächsten Umgebung zum Stillschweigen zu verweisen vermochte, um ihn her eine große Bewegung erregte; und so sehr er mit den Schwächen der Menge vertraut war, so sehr er ihr Urtheil verachtete und genau wußte, daß unbedingtes Lob, wie es hier dem jungen Erben nachtönte, nur eben in diesem ersten, bedeutungslosen Auftreten zu suchen sei, das noch kein Interesse berührte oder durchschnitt – so reizte es ihn dennoch, seine schöne stolze Gestalt, seine feine Haltung bewundern zu hören.

Während dessen durcheilte Leonin mit klopfendem Herzen die prachtvollen Gemächer und lenkte schnell in die abführenden, [10] nur matt erleuchteten Corridore, die nach dem Gartenflügel führten, in welchem sein Vater in unabänderlicher Form und Weise seine Zimmer eingerichtet hatte. Welch' ein Wechsel drängte sich in diesen hohen, alten Rüstkammern dem Beobachter auf! Es schienen nur Zelte und Wachtfeuer zu fehlen, um hier ein Lager zu vergegenwärtigen, und das Feuer fehlte auch nicht in den weiten Kaminen; denn diese hohen Marmor-Säle, mit eisernen und stählernen Rüstungen bedeckt, von marmornen Heldengestalten unterbrochen, athmeten eine so erstarrende Kälte aus, daß die Flamme in den Kaminen niemals fehlen durfte. Eben so war das Schlafgemach; nur kleiner, aber von jedem verweichlichenden Luxus der Zeit entfernt, mit kahlen Wänden, ohne Vorhänge, nur mit dem eisernen Feldbette des Marschalls möblirt, zu welchem die hölzernen Stühle und Tische, die einst sein Zelt bedient hatten, hinzu kamen, und mit einem über dem Bette befestigten Bündel Fahnen, welche weit überhangend, es zu schirmen schienen und dem Gemache das unverkennbare Ansehen eines Zeltes gaben.

Auf diesem Ehrenbette, von harten Kissen gestützt, ruhte der Marschall von Crecy, bloß mit einem ungeheuern Reitermantel bedeckt, und hörte den Gesprächen zu, die der Kaplan des Hauses mit dem Arzte des Grafen zu seiner Unterhaltung zu führen suchten – als die hastigen Schritte, welche Allen vernehmbar den Vorsaal durchmaßen, schnell die Thür des Schlafgemaches erreicht hatten, und in demselben Augenblicke der Sohn mit kaum verständlichen Lauten des Entzückens zu den Füßen des Vaters lag.

»Holla, das ist mein Sohn!« rief der alte Marschall, und das eiserne Feldbett fuhr rasselnd ineinander von der heftigen Bewegung, womit der riesige Greis den müden Körper aufraffte, das Kind seines Herzens, den einzigen noch warmen und lebendigen Punkt desselben zu ergreifen.

[11] Er hielt ihn jetzt an beiden Schultern wie ein Kind in die Höhe, und das alte braune und benarbte Gesicht, das weder vom Alter, noch von der Krankheit sich seine Energie hatte rauben lassen, lachte dem Liebling in die Augen mit dem vollen Sonnenglanze unverkümmerter Zärtlichkeit.

»Ha,« fuhr er fort mit kurzem Lachen, indem ein Paar dicke Thränen ihren Weg über sein Gesicht nahmen – »ha, mein Junge, bist Du da, hast Du Dein altes Gesicht – Dein altes Herz mitgebracht?«

Aber die Antwort erdrückte er, indem er ihn fest an seine Brust schloß und ihn dann von sich stieß, bloß um ihn anzublicken.

»Seht, Ihr Herren,« fuhr er fort, »da hab' ich einen Sohn! Nun könnt Ihr nur gehen, Doktor, mit Euren Pillen und Pflastern, jetzt hat der alte Marschall Anderes zu thun, als krank zu sein! – Nicht, mein Junge? hab' ich nicht Recht?« –

»Gewiß habt Ihr das, theurer Vater! Und immer habt Ihr mir gelobt, daß Ihr mich erwarten wollet, mir selbst die Sporen zu schenken bei meiner Rückkehr!«

»Ja, ja, der Junge hat ein gut Gedächtniß!« lachte der alte Marschall. »Seht Ihr wohl – Der braucht mich noch! Dem bin ich noch nöthig! Dem muß ich noch die Leine halten, damit das junge Kampfroß den freien Lauf lernt!«

»So ist es, lieber, lieber Vater!« rief Leonin mit überströmender Zärtlichkeit – »Aber sagt mir auch, wie es Euch geht, ob ich gewiß an Eure Genesung glauben darf. – Welche Angst hat mich auf meinem Wege verfolgt!«

»Was das für ein Sohn ist!« rief der erschütterte Greis. – »Doch laß das, mein Kind, und glaub' mir, es waren unnütze Schwätzereien von Deiner Frau Mutter und dem Herrn Doktor da – Dein Vater war gar nicht krank; und hätten sie mich nicht all das Zeug verschlucken lassen, was der dort zusammen [12] gehext, und meinen armen Körper in Ruhe gelassen, der ehrenvollere Wunden trägt, als ihre elenden Pflaster zogen – ich wäre längst gesund!«

»Gemach, Euer Gnaden!« rief der angegriffene Arzt – »Die Genesung täuscht uns leicht über die überstandene Gefahr und macht uns ungerecht gegen die empfangene Hilfe. Es war dies Mal nicht in die Willkür Euer Gnaden gestellt, zu genesen. Verdächtigen der Herr Marschall unsere Kunst nicht bei dem jungen Herrn!«

»Du siehst, Leonin,« lachte der Marschall, dem Gekränkten versöhnend die Hand reichend, »er muß immer Recht behalten; aber ich werde es ihm jetzt zeigen, wer Herr ist!« – Und schnell warf er den Mantel zurück und stand völlig gekleidet, wie er fortwährend blieb, vor den Zurückweichenden.

»Jetzt sagt mir, daß ich krank bin!« rief er und richtete sich mit einer Kraft empor, die wirklich jede Befürchtung niederschlagen mußte.

Leonin begrüßte nun den würdigen Kaplan, der zugleich sein religiöser Führer und Beichtvater war, während der Marschall, noch immer im Streite mit dem Alles verweigernden Arzte, Alles durchsetzte, was er beabsichtigte; da sein natürlicher Starrsinn dies Mal von einem Jubel des Herzens unterstützt ward, der zu rührend und verständlich für alle seine ihn herzlich liebenden Diener war, um nicht jeden ausgesprochenen Befehl, trotz aller Gegenreden des eben so halb erweichten Arztes, aufs schnellste in Erfüllung zu bringen.

»Denn – mein Junge,« schloß er den kurzen, raschen Befehl an seine Diener, die Abendtafel in seinem Zimmer anzurichten – »Du läßt wohl heute Deine Frau Mutter ihre Galla allein genießen und bleibst bei Deinem einfachen alten Vater, der wenigstens wie ein Mann lebt.«

[13] Zärtlich eilte Leonin in die Arme des geliebten Vaters, und seine Worte ließen immer neuen Sonnenglanz über das alte Heldenantlitz streifen.

Bald fand sich Alles so eingerichtet, wie der Marschall es sich ausgedacht, und auf den hölzernen Feldstühlen saßen Alle um die Tafel, an der die Einfachheit des Marschalls ihre Grenze fand; wie er überhaupt dieselbe nur als eine Laune für sich anerkannte und allen aristokratischen Aufwand zuließ und verlangte, seine launenhafte Einfachheit zu umgeben. Seine Tafel glänzte von Gold und Silber, seine zahlreichen Diener waren in Stickereien gehüllt und so steif frisirt, wie in dem Antichambre einer Dame. Im Vorzimmer befand sich, so wie die Tafel bereitet war, ein Musikkorps, welches mit den lärmendsten Instrumenten die Märsche und Tänze aus der früheren Lebensperiode des Marschalls spielen mußte, der es nicht ungern sah, daß man, sich die Stunde seines Diners merkend, ihm aufwartete, wenn er mit einigen Freunden oder auch ganz allein, da er nie mehr mit seiner Gemahlin speiste, zu Tische saß. Man mußte mit ihm gleichen Ranges oder aus den Umgebungen der Majestäten sein, wenn er den Wink gab, einen Sessel herbei zu holen; im anderen Falle ließ er Alle um sich her stehen, während er mit der heitersten Laune die allgemeinste Unterhaltung zu beleben und den Hochmuth seines Verfahrens durch die sorgloseste Fröhlichkeit zu versöhnen wußte.

Auch fehlte es ihm nie an diesem kleinen Hofstaate; denn alle jungen Edelleute, die früher unter ihm gedient und jetzt theilweise schon zu hohen militairischen Posten gestiegen waren, bewahrten ihrem ehemaligen Anführer eine so innige Liebe und Verehrung, daß sie seine Nähe mit Freude zu der Stunde suchten, die ihm die angenehmste war.

Die Rückkehr des Sohnes schien wirklich den letzten Krankheitsnebel von dem Marschalle genommen zu haben, und gewiß [14] konnte man nicht ohne Interesse die rührende Lebendigkeit gewahren, mit der er erzählte, fragte und hörte. Die Kinderjahre Leonin's tauchten heute in ihm auf – und diese Erinnerungen mit ihrem weichen, innigen Karakter schlossen sich so wohlthuend an seine augenblicklichen Empfindungen, ohne sie zu sehr zu verrathen, daß Leonin, ganz hingegeben an die Worte des liebenswürdigen Alten, ihm mit allen Beweisen der Zärtlichkeit entgegen kam, um so seinem Herzen die vollste Befriedigung zu gewähren, ohne den Stolz des alten Kriegers durch das Zeigen zu großer Weichheit zu verletzen.

Spät erst willigte er in die Bitten des Arztes, den kleinen Kreis zu entlassen; und als Leonin aus den Zimmern seines Vaters in den vorderen Theil des weitläufigen Palais trat, überraschte ihn der merkwürdige Wechsel der Gegenstände, die in kaum größerer Verschiedenheit in einem Verhältnisse zu denken waren, das seiner Natur nach die vollständigste Uebereinstimmung hätte zeigen sollen.

Die Marschallin hatte ihre Gäste entlassen – Leonin blieb unbemerkt auf einer Galerie stehen, die ihn einen blick in die Vorsäle thun ließ, durch welche sie jetzt mit eben dem ceremonieusen Pompe nach Hause zogen, wie sie angekommen waren. Mehrere bestiegen ihre reichen Portechaisen schon in diesen Vorzimmern; Andere ließen sich von zahllosen Dienern mit hohen Windlichtern umgeben, indem die Damen, von ihren Verwandten und Freunden begleitet, mit aller Grazie, welche die Ermüdung noch zuließ, ihre Fingerspitzen auf den Arm oder auf die Schulter der sie begleitenden Cavaliere legten und den Pagen die Mühe überließen, ihre weitfaltigen Schleppen vor dem Gedränge zu schützen.

Von diesen Gruppen richtete Leonin den Blick zu den prachtvollen Zimmern, denen sie zur glänzenden Staffage dienten. Jeder Luxus war hier verschwendet, den Reichthum, Sitte und [15] Mode nur zu ersinnen gewußt; und die Laune des alten Marschalls für die Ausstattung seiner Gemächer trat um so grillenhafter hervor.

Sinnend lenkte Leonin seine Schritte nach den eignen Zimmern und fand hier die alten Diener seiner früheren Jugend, die ihn mit der zärtlichen Ehrerbietung begrüßten, zu der sein gütiger und sanfter Karakter seine Umgebungen berechtigte.

Hier hatte jedoch der verschwenderische, glänzende Geschmack der Marschallin auch ihn erreicht. Die Zimmerreihe war vermehrt, eine herrliche Bibliothek, eine Gallerie mit den ausgezeichnetsten Gemälden und Kunstwerken, ein schöner Musik- oder Gesellschaftssaal war den Räumen hinzugefügt, die sein früheres Bedürfniß befriedigt hatten, und die, nun glänzender als je ausgestattet, dem jungen Erben sogleich anzukündigen schienen, die Zeit unscheinbarer Zurückgezogenheit sei vorüber. Die Ansprüche, die ihm aufgenöthigt wurden, wollten jedes Zurückweisen durch sich selbst unmöglich machen.

Auch lag dies nicht in den Gefühlen, mit denen der junge Graf aus den Händen des alten Kammerdieners den neuen Besitz übernahm – er war nicht umsonst der Sohn dieser Aeltern – der Glanz und der Stolz, der ihm so reiche Nahrung bot, war ein bedeutender Antheil seines Blutes, und er wußte die ihm überall eingeräumte Wichtigkeit sehr wohl in sich zurecht zu legen. Auch wirkte gerade das, was häufig den Anregungen dieses Sinnes entgegen trat, sein tief und zart fühlendes Herz, dies Mal nur, jene Gefühle zu verstärken und ihnen eine Seele und höheren Genuß einzuhauchen; denn er konnte sich seines Empfanges nicht bewußt werden, ohne die unaussprechliche Güte seiner Eltern aufs Neue zu empfinden – und wenn er, von seinem Vater so eben mit dem reichsten Strome seiner Liebe überschüttet, mit heimlicher unbefriedigter Sehnsucht nach dem mütterlichen Herzen hier eintrat, wie mußten da die Erzählungen [16] des alten Kammerdieners ihn beglücken, die nur von der Sorgfalt handelten, welche die Marschallin mit eigner Anordnung und Aufsicht diesen Räumen geschenkt!

»O, wie sie mich liebt!« sagte er leise vor sich hin, und ihm geschah, was so wunderbar das Herz zu beschleichen vermag – er liebte die spröde Mutter mit ihren kargen Gefühls-Aeußerungen in diesem Augenblicke, wo er fast heimlich, hinter ihrem Rücken in ihr Herz sah und ihre Weichheit für ihn herausfühlte, mit mehr Wärme, als den alten überströmenden Vater.

Dieser letzte Augenblick vollendete den schönen Tag, der ihn mit einem Glücke überrascht hatte, auf welches er nicht gewagt zu hoffen, und das um so berauschender für ihn war, je mehr es in Uebereinstimmung blieb mit Allem, was ihm von Jugend auf theuer und erlaubt erschienen und dadurch ihn in der vollständigsten Selbst-Billigung erhielt.

Als er endlich allein war und sich, der natürlichen Müdigkeit einer so großen Aufregung folgend, mit Behagen auf seinem Lager ausstreckte, trat Fennimor's Bild vor ihn hin und schien ihn zu fragen: welchen Antheil sie an den Eindrücken dieses Tages behalten, wohin er sie verwiesen in diesen prächtigen Räumen.

Ach, es war ein tiefer Seufzer, den er nur als Antwort hatte; es war ein Gefühl, dem Schmerze ähnlich – aber er hätte keine Erwiederung gewußt, und hätte sie die Frage selbst an ihn gerichtet. Sein böser Engel wiederholte ihm aber die Worte des Marquis de Souvré: ich überlasse es Euch zu denken, wie sie in die Welt Eurer Mutter passen wird; – und ehe er sie zum Schweigen verweisen konnte, schrieen alle Stimmen in ihm: hier ist kein Raum für sie, nicht für den kleinsten Schritt ihres zarten Fußes! Aber so fremd, so herausgerissen aus jenem ihm erst zu spät durch Fennimor enthüllten Zustande des Lebens, fühlte er sich hier, auf der alten Stelle der Heimath, [17] wo seine frühsten Ueberzeugungen wurzelten, von ihnen aufs neue und in so überraschender und schmeichelhafter Art umschlungen, daß er sich mit Schrecken bewußt ward, wie jene Existenz – ein eben so heiliges Recht an ihm gewonnen.

Aber, wenn körperliche Ermüdung zu einem überfüllten Seelenzustande hinzutritt, der uns doch die augenblickliche äußere Ruhe gönnt, pflegt die erstere zu siegen und der Schlaf die Pforten des Lebens zu verschließen. Leonin schlummerte so sanft, als ob das erste Wiegenlied ihn eingesungen.


Die Marschallin von Crecy wußte genau, in welcher Stimmung ihr Sohn nach den Erlebnissen des gestrigen Tages sein mußte, und sie war ihrer Sache so gewiß, daß der Marquis de Souvré auch nicht das kleinste Zeichen des Einverständnisses von ihr empfing, als er ihrer Einladung zum Frühstücke Folge leistete. Leonin war wirklich nur Sohn. Seine ganze Empfindung für seine Mutter war zurück gedrängt von dem kurzen, kalten Empfange und nur dadurch angewachsen; und der Morgen vor der Stunde, wo sie ihn zu sich beschieden, hatte nur jedes Gefühl höher gesteigert, da er sich überschüttet von ihren Aufmerksamkeiten fand, und in jedem Anspruche überboten durch die erweiterten Ansichten, womit die Bildung und der steigende Luxus der Hauptstadt in gleichem Maaße hervortraten.

Doch fühlte er sich geneigt, auch diese ausgezeichnete Ausstattung mehr dem Verstande und der hohen Bildung seiner Mutter zuzurechnen, da keines der durchreisten Länder ihm dafür einen Maaßstab hatte geben können; denn Frankreich stand damals in jeder Hinsicht an der Spitze Europas, und die wohlbewanderte Marschallin hatte eben deshalb nur das Vorhandene zu sammeln gebraucht. Dennoch trieb ihn seine[18] Devotion anzunehmen, als habe sie alle diese Dinge erst ins Leben gerufen.

Zu dieser Stimmung fügte die Marschallin nun noch ihren Empfang, als er am Morgen in einem zauberisch eingerichteten kleinen Saale, der in die herbstlich gefärbten Laubpartien des Gartens blickte, ihr entgegen eilte. Dieser schöne Raum trug den ganzen Wohllaut der Ruhe und des geistvollen Luxus, der die Seele zugleich zu berauschen und zu erheben scheint.

»Hab' ich Dich wieder, mein lieber Flüchtling,« sagte sie mit dem süßesten Ton ihrer Stimme und zog ihn auf das Fauteuil nieder, auf dem sie behaglich in ihrem Morgenkleide ruhte – »jetzt wollen wir uns gehören und die lange Entbehrung nachholen. Wie viel näher wirst Du mir gerückt sein durch so vorgeschrittene Bildung, wie diese schönen Reisen Dir gewährten. – Das wird das Herz der Mutter erquicken, die darum lange darbte!«

Mit welchem Entzücken sah Leonin, während sie sprach, in die immer noch schönen und jetzt so milden und weichen Züge der Mutter, indem er seine Augen antworten ließ, und immer und immer wieder ihre Hände küßte.

»O, möchtet Ihr Euch nicht täuschen, meine theure, theure Mutter!« rief er endlich, »möchten Eure Erwartungen, Eure Opfer, Eure große Güte sich einigermaßen belohnen durch das, was Ihr in Eurem Sohne finden werdet!«

»Nun«, lachte die Marschallin, »werden wir vor allen Dingen nicht zu tragisch! Eine Mutter, sagt man, soll nicht schwierig sein, in ihren Kindern einige Wunder von Liebenswürdigkeit zu entdecken, und so bilde ich mir zum Beispiel ein, Louise, die dort hinter Dir, wie ein Jäger auf dem Anstande, steht, ist das artigste Schooßkind der Erde!«

»Louise, Louise!« rief Leonin und schloß das schöne Kind, das nur mit Mühe der Mutter Worte schweigend angehört hatte, jubelnd in seine Arme:

[19] »Mein holdes Kind! meine Louise! bin ich auch noch Dein liebster Bräutigam, wie Du mich immer nanntest – hast Du auch nichts vergessen?«

»Ach, Leonin,« rief Louise – »wie hätte ich denn in meinem Kloster andere Gedanken haben sollen, als Dich! Die Nonnen nannten Dich meinen Schutzheiligen, weil ich – sieh' hier, da ist es! – dies kleine goldene Herz, das Du mir einst schenktest, aufgehangen hatte, und darunter einen kleinen Altar gebaut, worauf Blumen standen und Kerzen.«

»O, Du süßes Kind!« rief Leonin, und in diesem Augenblicke dachte er zuerst mit der alten Liebesstärke an Fennimor; denn eben erst hatte er die Stelle gefunden, wo sie hinpaßte – seine Schwester würde sie lieben und verstehen! – O, welch' ein Wonnehauch erschütterte seine Nerven bei dem ersten Einklange seiner jetzigen Welt mit jener stilleren auf Ste. Roche!

»Mutter, Mutter,« rief glühend in der doppelten Empfindung Leonin – »welch' ein holdes Kind ist unsere Louise geworden! Wie engelgut, daß Du sie jetzt herriefest – mir diesen Boten des Glückes auf die Schwelle stelltest!«

»Nun diesen Dienst,« sagte die Marschallin trocken, »hat sie sich selbst gethan; denn sie war ein frommes, fleißiges Kind bei ihren Nonnen, und wie ich sie so fand, war ich ihr die Gerechtigkeit schuldig, sie der Welt vorzustellen. Nun wollen wir sehen,« fuhr sie mit dem schmeichelhaften Lächeln der Ueberzeugung fort, »wie sie sich hier machen wird.« – »O, gut! gut! vortrefflich!« rief Leonin, sie wieder an sich ziehend, »ihre unverdorbene Seele wird sie überall den rechten Weg führen.«

»Auch habe ich keine Furcht deshalb,« fuhr die Marschallin in etwas höherem Tone fort, »es ziemte mir als Mutter sehr wenig, nach der Erziehung, die ich meinen Kindern gab, zu bezweifeln, daß sie stets dessen eingedenk sein werden, wozu ihre hohe Geburt und ihre großen Besitzthümer sie verpflichten. – [20] Dies ist eine Gabe des Himmels und eine strenge Anforderung zugleich, uns jederzeit über die Masse zu erheben; denn wir bleiben auf solchem Höhenpunkte der Gesellschaft nicht unangefochten von anmaßlichen Ansprüchen, denen wir zu begegnen lernen müssen. – Doch mache kein so langes Gesicht, meine kleine Louise, komm' her und sei getrost! Schwer nur ist das Ungewohnte, und Dir, mein holdes Kind, waren die Sitten der Crecy und Soubise schon in der Wiege Schutz für spätere Tage.« –

»Laßt uns jetzt, wie in alten Zeiten, gemeinschaftlich frühstücken, ich will heute Nichts als eine glückliche Mutter sein und, wenn ich zwischen Euch sitze, träumen, Ihr wäret noch dieselben kleinen Kinder, die aus meinen Händen bedient sein wollten. – Marquis,« rief sie dem eintretenden Souvré entgegen, »Ihr müßt heute durchaus mit mir empfindsam sein, so sehr sich dagegen auch Euer Naturell sträubt – eine Mutter, die so lange kinderlos war als ich, hat auch ihr Recht!«

»Ha!« lachte der Marquis und umarmte den ihm tief bewegt entgegen eilenden Leonin – »seid sicher, Frau Marschallin, ich kam in derselben Stimmung hieher und denke Eure bezaubernde Empfindsamkeit gewiß so lange zu theilen, als Ihr es selbst aushalten werdet.«

»Thut das, mein liebenswürdiger Kavalier!« sprach die Marschallin, an der Tafel Platz nehmend. »Ihr habt immer die présence d'esprit, zu fühlen, was gerade passend ist. – Ein vollkommener Edelmann, mein Sohn,« fuhr sie fort, »von dem Madame Henriette letzthin zum Könige sagte: er hat die Feinheit des Verstandes, zu errathen, was wir nothwendig denken müssen, wenn wir selbst noch damit fremd sind.«

»Ach,« rief Souvré lachend – »Madame findet es oft sehr bequem, wenn der Freund des Grafen Guiche vorher weiß, was sie denken wird.«

[21] »Lassen wir das!« – schnitt die Marschallin seine Rede ab. – »Du wirst über unsern Hof erstaunen, mein Sohn, und wahrscheinlich um so mehr, nachdem Du andere Höfe kennen lerntest – er muß nothwendig der vollkommenste in Europa sein, da hier sich die höchsten Tugenden, die bezauberndsten Schönheiten mit der erhabensten Geistesbildung vereinigen.«

»Es kann uns auch schwerlich entgehen,« erwiederte Leonin, »daß der Ruf dieses außerordentlichen Hofes seinen Einfluß über alle anderen erstreckt, und jeder seinen Anspruch auf Feinheit und Glanz, durch einige mehr oder weniger glückliche Nachahmungen des Versailler Hofes zu legitimiren sucht. Es entstehen jedoch daraus viele Mißgriffe, die oft äußerst lächerlich werden; denn zu den erhabenen Formen, die unser König seinem Frankreich verlieh, gehört auch das Naturell des Franzosen, sie aufzufassen. Besonders bieten die deutschen Höfe manches komische Schauspiel einer Nachahmungssucht, zu der ihnen jede Naturgabe fehlt.«

»Sie werden es, denke ich, noch theuer bezahlen, unsere Lachlust gereizt zu haben;« lächelte der Marquis vor sich hin – »wer sich aufs Nachahmen einläßt, versäumt immer, seine eigenen Fähigkeiten kennen und anbauen zu lernen. Ich gönne es zwar als guter Franzose dem übrigen Europa, daß es sich müßig in die Fenster seiner Reiche legt und neugierig nach Frankreich ausschaut, wie es thut und läßt; aber das Haus, welches hinter ihnen liegt, bleibt um so länger wüst und unheimlich, da sie den Blick davon abziehen; und wenn solche rohe und barbarische Staaten versuchen wollen, uns nach zu kommen, so wird daraus doch bloß ein eitler Firniß, der kaum die ursprüngliche Rauhheit überglättet.«

»Ja,« sagte die Marschallin scherzend, »ich schließe es immer in mein Dankgebet ein, in Frankreich geboren zu sein, besonders in Paris, und in Verhältnissen, welche [22] mir gestatten, dem größten Fürsten, den Gott je der Erde gab, mich nahen zu dürfen.«

»Der Marquis Vieuville hatte die Aufmerksamkeit, mir gestern zu sagen, daß die Majestäten nach Dir, mein Sohn, gefragt und Dich ohne die Probe des Adels-Heroldes zu empfangen denken, welches allerdings eine Ehre ist, die man Deinen Eltern erzeigt. Aber außer dem Grafen Harcour, der auch, wie unsere Familie, zu den Vettern des Königs gehört, und welcher mit unserem erhabenen Monarchen in einem Zimmer erzogen ward, ist eine solche Auszeichnung, mir erinnerlich, nicht geschehen. Als dieser junge Graf von Harcour von seinen Reisen kam, und der König es vernahm, sagte Seine Majestät zu dessen Vater: ›wen mir der Graf Harcour als seinen Sohn zuführt, der soll die Ahnenprobe geleistet haben.‹« –

Dieses behagliche Gespräch, in welchem die Marschallin sich nur in ihrer Natur brauchte gehen zu lassen, um ihren Nebenzweck dennoch zu erreichen, den Sohn zugleich in alle Interessen zu verflechten, die ihn von seiner romantischen Richtung abzuziehn vermöchten, ward plötzlich durch die Meldung unterbrochen, daß der Marschall von Crecy seine Zimmer verlassen habe, sich hierher begebend.

Ein dunkler Schatten glitt zürnend über das Gesicht der Marschallin bei dieser Nachricht, und Leonin mußte noch überdies gestehen, daß er vergessen habe, seiner Mutter diesen Besuch zu melden, den der Marschall ihm schon bei seinem früheren Morgenbesuche angekündigt.

Louise war aber nach dieser Botschaft sogleich freudig aufgesprungen und ihrem Vater über die Vorsäle entgegen geflogen. Jetzt hörte man auch schon die rauhe, lachende Stimme des alten Herrn, der mit Louisen scherzte, und seine Gemahlin hatte noch eben Zeit genug, die prätensiöse Ruhe wieder anzunehmen, die sie einen Augenblick bei der unwillkommenen Botschaft erschüttert zeigte.

[23] Louise halb im Arm tragend, trat der Marschall auch jetzt ein und ging kräftigen Schrittes auf seine Gemahlin zu:

»Aha, Madame, hier sind Sie im Neste mit ihren Küchleins! Nun, ich muß Sie überraschen und bei der Veranlassung Dank sagen für geleistete Pflege und Glückwünsche abstatten zu dem wiedergekehrten Sohne!« – »Marschall, Marschall,« rief seine Gemahlin, »es scheint mir, Sie machen sich zu früh heraus! Ich fürchte, Sie werden meine Pflege aufs Neue nöthig machen. – Nehmen Sie meinen Glückwunsch zurück, ich zweifle nicht, daß er in Erfüllung gehen wird.« – »Ich auch nicht, Madame;« sagte der Marschall, »denn er scheint mir ein tüchtiger, offener, treuherziger Junge! – Nun, nun, Schelm, halte die Ohren zu, wenn ich Dich lobe – wirst tolle Streiche genug gemacht haben, das liegt den Crecy's für ihre Jugendzeit in den Gliedern! Also, da sei weder hochmüthig, noch verzagt; denn ich hab' es in Deinem Alter eben so gemacht – aber dann war es auch vorbei. Als sie mich einrangirten in die Reihe der großen Herren, die den Thron tragen, mein Sohn – da war ich mit eins nur der Graf von Crecy – und Du hättest sehen sollen, wie sie Alle die Augen aufsperrten, als der tolle, wilde Junge seinen Platz überall einnahm, wie die Andern! Aber sie hatten vergessen, daß es den Crecy's im Blute liegt, daß sie nicht die alten Sitten und Rechte ihrer Väter zu lernen brauchen. Später ersah mir die Königin die rechte Braut – denn das muß man Deiner Mutter lassen, die Soubise's sind so alt, wie die Crecy's, daran war kein Tadel; und so sind denn alle Thorheiten vernarbt, und der Name Crecy in Ehren geblieben. –«

Der Marschall ahnte nicht, wie seine Rede, die er mit voller Ueberzeugung sprach, hier die verschiedenste, aber in Allem gleich bedeutende Wirkung hervorrief. Die Marschallin wendete fast mit Verachtung die Blicke von dem Redenden, [24] während sie sich nicht verhehlen konnte, er habe eine ihrer Minen ungeschickt, aber nicht wirkungslos in die Luft gesprengt. – Der Marquis de Souvré aber genoß mit einem kalten Lächeln die Ueberzeugung, wie weit die Aeußerungen beider Aeltern Leonin von seinem arkadischen Glücke verschlagen mußten – während dieser mit gesenktem Kopfe und Auge den Strom über sich ergießen fühlte, der ihm seine Hoffnungen, seine Erinnerungen fast weg zu spühlen drohte. Wo nur anfangen – diesem felsenfesten Baue hundertjähriger Ansichten gegenüber, die von dem sich empor schwingenden Zustande des Landes und ihres stolzen Königs eine neue Wichtigkeit, einen höheren Werth noch erhielten. In sich fühlte er weder Trost, noch Rath, und nur das gewöhnliche Auskunftsmittel blieb ihm übrig – er hoffte auf die Gaben des Zufalls.

»Wahrlich, Marschall,« erhob jetzt seine Gemahlin die Stimme, »Sie stellen das höchst passende Bild eines würdigen Lebens dar, und gewiß belehrend für Ihren Sohn, wenn auch das erste Kapitel Ihrer Jugend billig überschlagen werden könnte.«

»Ja, ja,« lachte der selten so milde angeredete Marschall, »so sind die Frauen! Was sie nicht verstehen, das tadeln sie. Habt erst Blut in den Adern, Sehnen und Muskeln, wie die unsrigen, und dann fragt nach, ob man nicht erst seine Luftsprünge machen muß, ehe man am Kamine hocken bleibt und mit dem Haushofmeister die Rechnungen durchsieht? – Weiß Gott, ich möchte keinen Jungen, der nicht ein Paar dumme Streiche auf der Rechnung mit nach Hause brächte. Aber dann auch quittirt, mein Junge, und das sein, was von Gottes Gnaden den Crecy's obliegt!«

Er hatte Leonin wieder bei den Schultern und schüttelte ihn nach seiner derben Liebesweise, indem er sein Auge suchte; aber dies lag noch trübe gesenkt, und die Lippen waren so trocken, daß er ihnen kein Wort zumuthen konnte.

[25] »Sieh' mal, wie der Junge heute blaß und matt aussieht! – Ja, ja, Madame,« fuhr er etwas erzürnt fort, indem er die Augen umherwarf, »das ist der Parfum Eurer sybaritischen Gemächer; die entnerven den Sinn des Mannes und machen ihn zum Schwächling. Hier würde ich auch zum Narren!« –

»Mäßigen Sie sich, Marschall, und schätzen Sie es wenigstens, daß ich Ihnen diese Räume nie zu Ihrem Gebrauche aufnöthige. Das Hotel Soubise hat Waffensäle genug, denke ich, in denen Sie Ihren Geschmack befriedigen können; schlecht würde es zu unserem Ansehn passen, darin die Gemächer zu vermissen, welche im Geiste des glänzenden Hofes eingerichtet sind, den zu behaupten, auch uns zukommt.«

»Sie haben immer Recht, Madame!« sagte der Marschall spöttisch; denn er fühlte sich stets von ihrem Verstande überboten. Aber er grollte um so mehr der unliebenswürdigen Form, in der sie ihn zurecht zu weisen, nie unterließ. »Auch,« fuhr er fort, »kam ich nicht her, mich an Ihren Bedürfnissen zu ergötzen, sondern, um meinem Sohne anzukündigen, daß ich ihn selbst seinem Könige und Herrn vorzustellen entschlossen bin.«

Nach Dank aussehend, richtete er liebevoll seine Augen auf Leonin, und dieser eilte auch, ganz seine Güte fühlend, ihm zu danken.

»Könnte ich nur diesen Beweis Ihrer Liebe ohne Furcht für Ihre Gesundheit annehmen, mein theurer Vater – was könnte mir dann Ehrenvolleres, Lieberes geschehen, als meinem angebeteten Könige an der Seite meines Vaters zuerst nahen zu dürfen?«

»Laß das Geschwätz von meiner Krankheit, Junge!« entgegnete der Vater mürrisch; »bin ich krank? – Sieht so ein Kranker aus? – Ich erwarte den Ceremonienmeister, Herrn von Dreux, und werde das Nöthige mit ihm verabreden; denn Du sollst mir, je eher je lieber, die große Taufe der ersten [26] Kniebeugung erhalten. Dann sind Sie daran, Madame, dann mögen Sie ihm ein Fräulein aussuchen, auf deren Schultern ein Wappenschild ruht, neben dem das der Crecy-Chabanne sich zeigen mag – das überlasse ich Ihnen; denn mit dem Weiberzeuge weiß ich nicht Bescheid!«

Die Marschallin hatte diese ganze Rede ohne Unterbrechung sich entwickeln lassen, da Vieles ihr darin zu Hülfe kam, und das, was ihr nicht behagte, mit einem Worte von ihr widerlegt werden konnte. Sie saß daher so ruhig in ihrem Armstuhle, als wäre sie völlig allein, und spielte gleichgültig mit den Frangen ihrer Morgen-Mantille.

»Haben Madame noch etwas zu erinnern?« rief der Marschall, ungeduldig über ihr beleidigendes Schweigen.

»Sie sind, wie immer, zu rasch, mein Herr!« erwiederte sie mit höflichem Lächeln, »und werden Herrn von Dreux in Verlegenheit setzen; denn, was soll er Ihren Anfragen entgegnen, da seine erste Erkundigung sein müßte, ob der junge Graf schon majorenn, und von seiner Familie in den Rang eingesetzt ist, der ihm allein den großen Anspruch der Präsentation sichert.«

Der Marschall drehte sich so wild ab, als hätte er einen Stich erhalten – seine Gemahlin fuhr mit der höchsten Ruhe fort: »doch ist Ihre Genesung um so willkommener, da jetzt kein Hinderniß mehr vorhanden scheint, diese Familien-Angelegenheit dem Ansehn unseres Hauses gemäß auszurüsten. Unsere Vettern, die Herzöge von Lesdiguères und Tremouille, sind mit ihrer Gegenwart bereit, und der Prinz von Courtenaye, wie der Marschall von Tessé wünschen zu unterschreiben. Ich zweifle nicht, daß die Majestäten Jemanden beordern werden, den Tag zu ehren, und ich habe, in Voraussetzung Ihrer Genehmigung, diesen Tag auf morgen festgesetzt.« – Der Marschall hörte diese wohl geordnete Entgegnung seiner Gemahlin [27] unter so wilden Grimassen seines alten, vernarbten Gesichtes an, daß, wer ihn kannte, genau wußte, er war geneigt, mit seiner kalt überlegten Gemahlin in die Esse des Kamins zu fahren; obwol er zur Erhöhung seines Zornes einsah, daß ihm keine Stelle blieb, die er angreifen, an der er seine Wuth kühlen konnte, sondern, daß ihm, wie immer, die Rolle eines Schulknaben zufiel, der sich seiner Unzulänglichkeit überführt sieht und schweigend den Verweis hinnehmen muß.

»Nun,« brummte er, dumpf und zornig blickend, »Madame sind, denke ich, nicht minder rasch, als mir so eben vorgeworfen ward; ich habe, wie immer, mich nur in Ihre Anordnungen zu fügen – doch später, Madame, später werde ich meine Pflicht bei Seiner Majestät erfüllen!«

»Herr von Vieuville,« fuhr die unerschütterliche Marschallin fort, »hat mir gesagt, daß Seine Majestät unseren Sohn zuerst in den Apartements der Madame Henriette von England im kleinen Zirkel sehen will, um ihn dann später bei der Königin als schon bekannt zu finden. Die Auszeichnung, ihn ohne weitere Ceremonien als unseren Sohn anzuerkennen, findet so am besten ihren Platz. Gewiß wird sich Madame freuen, bei dieser Gelegenheit den Marschall von Crecy in ihrem Privat-Zirkel zu sehen!«

»Nun,« schrie der Marschall, dem dieses letzte Abschneiden seiner Pläne zum offenen Ausbruche seines schwer bekämpften Zornes verhalf, »so mögen mich doch alle Geier aus dem Wappen der Crecy zerreißen, ehe ich in diese Narrenbude von Bänkelsängern und Gauklern bei dieser weinerlichen Madame Henriette eintrete! Den Erben eines der größten französischen Namen dort seinem großen Könige vorzustellen, hieße über den Helmsturz die Weiberhaube ziehen! – Für dies Geschäft danke ich, Madame; und da Sie Alles so wohl eingerichtet haben, Alles zu verderben, worauf mein altes Vaterherz sich gefreut hatte, [28] so überlasse ich Ihnen auch den Rest, den auszuführen ich zu stolz bin!« – Und damit stürzte er, wie ein verwundeter Löwe, aus dem Salon, und die Diener, die, schnell vor ihm her eilend, die Thüren aufrissen, wußten das oft Erlebte, daß der Marschall sich dem Willen seiner Gemahlin hatte unterwerfen müssen.

»Du wirst Dich wundern, mein Lieber,« fuhr die Marschallin mit der größten Ruhe fort, »Deinen Vater noch so lebhaft zu finden. Gottlob es ist ein sehr tröstliches Zeichen seiner wieder gewonnenen Kraft; wir wollen die kleine Störung verschmerzen, die doch eine glückliche Verkündigung seiner Genesung ist. – Denn so sehr es zu beklagen bleibt, daß der Marschall niemals den Ueberblick seiner Verhältnisse behält, so muß man ihm doch zugestehen, daß er mit vielem Takte sich leicht in die Anordnungen Anderer findet, denen er durch Länge der Zeit sein Vertrauen schenkte. Wir vereinigen uns stets dem allgemeinen Interesse gemäß; denn der Marschall liebt den Glanz seines Hauses so sehr, als ich selbst.«

Man hätte glauben können, der innigste Familienrath sei so eben von einer zärtlichen Gattin mit ihrem Gemahle gehalten, so glitt die kalte Seele der Marschallin über jede Erschütterung hinweg, bemüht, sie ihren Umgebungen so darzustellen, wie es ihr zweckmäßig erschien.

Der Sohn war nicht in dem Falle, seine etwa abweichende Meinung zu äußern, und Louise begriff so Vieles auf diesem ihr fremd gewordenen Boden nicht, daß sie das eben Gehörte, was sie ganz anders empfunden hatte, auf die große Rechnung des Unverständlichen setzte. Nur der Marquis Souvré, der Alles verstand und Nichts zu schonen hatte, sah die Marschallin mit dem vollständig unverschämten Lächeln an, welches die große Welt sich statt des Faustschlages aufgehoben hat; da nicht die Empfindung, nur die Aeußerung derselben sich verändert hat.

[29] Die Marschallin fühlte dies vollkommen; aber schon war sie nicht mehr frei. Der gewandte Gegner hatte ihr das Netz übergeworfen, sie mußte sich eingestehen, daß sie ihn schonen müsse.

Mit Widerwillen wandte sie sich von dieser Ueberzeugung – zugleich erhob sie sich, die Zeit des Beisammenseins war beendigt. –

Mit welchen Gefühlen Leonin sich bald darauf in seinen Zimmern allein fand, wird uns schwer werden, auszusprechen; denn in ihm selbst fanden sich eigentlich nur Andeutungen, und zu viel war auf ein Mal angeregt, um jetzt schon die Kraft bezeichnen zu können, welche die anderen besiegen, und die vorherrschende bleiben würde.

Wenn wir ihn von der Absicht der Marschallin von Crecy geleitet denken, dürfen wir nicht übersehen, wie die Zeit in dem Augenblicke gerüstet war, diese stolze und ehrgeizige Frau zu unterstützen. Frankreich war in einem Rausche, der jedes Individuum, jeden Stand ergriffen hatte, und der Dünkel einer Naturberechtigung, eines absondernden Vorzuges war nicht aristokratisches Element allein. Die ganze Nation fühlte diesen Stolz, als französische Nation, und dies Gefühl war der Heerd, um den sich alle Kräfte, wie die Mitglieder einer Familie, sammelten und damals zuerst den unzerstörbaren Corporations-Geist entwickelten, durch den Frankreich so national erstarkte, dem Auslande so gebietend, fremdem Einflusse später so unzugänglich wurde.

Und wer mußte nicht mit Antheil auf ein Volk sehen, das endlich unter den Flügeln seines jungen königlichen Adlers sich sammelte und, in einem Gefühle zusammengehalten, von keiner Parteiung mehr bis in das Herz der Familien zerrissen, sich Muth gewann, auf dem eignen Boden sein Bürgerrecht zu üben.

[30] Und dieser Boden war der Boden des schönsten Landes der Erde, das der Menschenhände nicht wartete, sich selbst ausstattend zu schmücken, und jeden seit Jahrhunderten in seinen Schooß niedergelegten Keim geistigen Lebens, treu bewahrt darbot, als es sich frei erklärte, seine Schätze zu sammeln und sie zur vollen Reife zu bringen. Denn gewiß würden wir nur unvollkommen die außerordentliche Periode in der Entwickelung Frankreichs, die unter Ludwig dem Vierzehnten fiel, betrachten können, ließen wir den ihr vorangegangenen Entwickelungen nicht ihr Recht, und fänden sich nicht in ihnen schon als Keime die Andeutungen der großartigen Erscheinungen, die uns später so imposant überraschen, und die, als nicht zur Reife gekommene geistige Bestrebungen, dem materiellen Uebergewichte früherer Zeiten weichen mußten. Wir dürfen den Blick nicht abwenden von dem rohen Kampfe unbezähmter Leidenschaften, der die Blätter der Geschichte mit seinen blutigen Bildern zu beflecken scheint; wir müssen mit jenem antheilvollen Staunen darauf merken, welches uns den Blick frei erhält für den Zusammenhang, in welchem auch dieser rohe Kampf seine Ordnung findet und das Individuum seiner Zeit dienstbar darstellt, als unterliegendes oder siegendes Mittel neuer Erkenntniß. – Wir sollten vielleicht mit eben so leidenschaftsloser Betrachtung diesen Zuständen folgen, als wir den großen Eruptionen der Natur gegenüber bleiben, welche ohne Zweifel analog sind mit den wilden, Bahn brechenden Kämpfen der Menschen, die wir eben so wenig in der organischen Entwickelung der geistigen Welt zu entbehren vermöchten.

Und so dürfen wir mit mehr Antheil, als Unwillen auf die grauenhaften Bilder der Periode Frankreichs blicken, die wir eine vorbereitende der bedeutenden Zeit Ludwigs des Vierzehnten nennen dürfen; und den Samen zu ihren glänzenden Früchten dort aufzufinden, das wird vermittelnd zwischen uns [31] und die Bilder ihrer rohen Willkür, ihrer wilden Leidenschaftlichkeit treten; denn diese gerade, werden wir finden, riefen, wenn auch scheinbar bloß zu ihrem Dienste, doch die Keime höherer geistiger Entwickelung ins Leben.

Italien stand wie ein Baum, der zwei Mal in einem Jahre mit Blüte und Frucht geprangt, ermüdet von der überschwenglichen Leistung mit welken Zweigen, die keine neue Ernte verhießen, als vertraue er den Vorräthen, die er um sich angehäuft. – Frankreich lag diesem Ueberflusse zunächst, und alle seine Erfordernisse, sein Klima, die organische Gestaltung seiner Bewohner, ihr heißes Blut, ihre bewegliche Phantasie, vor Allem ihr erwachender Ehrgeiz – Alles machte sie zu Erben Italiens.

Geschickt und mit treuem Eifer sehen wir die Geister Frankreichs sich erheben, den fremden Einfluß erfassend, um ihn für das Vaterland zu verarbeiten und den Boden zu reinigen für die neue Saat. Wie auch die Eruptionen der Massen noch dazwischen stürzen, sie zerstören den zart sich fortspinnenden Faden höherer Kultur nicht mehr, und mit vieler Klugheit werden zwei Mal Fürstinnen aus jenem reichen Lande auf Frankreichs Königsstuhl gerufen; Beide aus dem Stamme der Medicäer, diesem Brennpunkt italienischer Größe und Bildung.

Sie traten aus den glänzenden Hallen, wo die Götter der alten Welt ihre Heimath behalten, gestützt von dem Kultus ihrer unsterblichen Sänger, deren zauberische Stanzen aus den Sälen der Fürsten bis in die Hütten des Volkes erklangen; das Blut, genährt von jedem Sinnenreiz, geneigt, die Anforderungen desselben auf jedem Boden zu erneuen. Denn dort in der Heimath der Kirche, welche die alten Götter verdrängte, schien nur der Name gewechselt zu sein, und in den Hallen des Vatikans, in ihren Himmel anstrebenden Domen, umschaart von Heiligen und deren bilderreichem Dienste, von dem [32] berauschendsten Pomp aller Schätze der Erde unterstützt, unter Wonne athmenden Hymnen, in süßen Weiheduft gehüllt, suchte die christliche Kirche ein gleiches Recht über die Sinnenwelt zu erhalten, und mit ihren reichen Mitteln sich des materiellen Menschen zu bemächtigen, den Geist verflüchtigend, erstickt von den Mitteln, ihn zu verherrlichen.

Katharina von Medicis war geschickt, jeden Fortschritt ihres Vaterlandes zu verbreiten, und an ihre Epoche in Frankreich hängen sich die erstaunenswerthesten Erscheinungen, die vielleicht zu voreilig mit ihrem persönlichen Einflusse bezeichnet werden, um ihr gerecht sein zu können; da sie von der Zeit eben so fortgerissen ward, als sie der zeit den Einfluß überlassen mußte, der an ihrer Person haftete. – Wir dürfen den nicht stark nennen, der zufällig der Stärkste ist – eine Frau nicht so bezeichnen, die, von dem Vulkan eines materiellen Innern zum Sklaven gemacht, diesem eigentlich opfern mußte, ohne Wahl und ohne Plan – und wenn die schrankenlose Willkür, mit der sie die Zustände ihrer Zeit verbrauchte, auf ein Uebergewicht in ihr zu deuten scheint, so vernichtet die kleinliche Geringheit ihrer Absichten doch stets jedes Prädikat der Größe, und wir müssen einsehen, wie die Begebenheiten außer ihr daherschritten und sich bloß an sie anhingen, weil sie den Höhenpunkt einnahm, um den der Kampf kreiste. Aber dieser Standpunkt machte, daß sie die mitgeführten Schätze fremder Bildung, fremden Geistes um sich weiter verbreiten konnte, und bloß sich selbst den lang gewohnten, reich geschmückten Heimathsboden schaffend, ward sie ein Sammelpunkt neuer, glanzreicher Entwickelung für tausend ihr entgegen blühende Kräfte, die, angeregt, nicht überschattet werden konnten von dem schnöden Dienste, den ihre geringe sinnliche Natur ihnen widmete. Im Gegentheil gewinnt das Begonnene in Heinrich dem Vierten, in Sully's weiser Hand schon sichereren Boden; [33] die augenblickliche Ruhe läßt das Gesammelte schon überschauen als französisches Eigenthum. Maria von Medicis erscheint endlich in einem Augenblicke als Regentin, wo diese Anklänge bedroht sind. Die Stürme, die sie weder aufhalten, noch lenken kann, und die diese höheren Blüten zu knicken drohn, finden in ihr noch Schutz und Anregung, und sie erscheint in ihrem kleinlichen, inkonsequenten Walten, als habe sie das Schicksal bestimmt, diesen einen Punkt zu hegen, bis ihr Alles abgenommen würde, um in die große Hand Richelieu's über zu gehen, der zuerst zu gesammter Handhabung sich kräftig zeigte.

In wie fern Richelieu sich des Planes, eine unbeschränkte Monarchie zu stiften, bewußt war, der seiner klugen Regierung jetzt nothwendig untergelegt werden muß, möchte eben so schwer, als erfolglos zu ergründen sein. Indem sein stolzer und befähigter Geist ihn an der Seite Ludwigs des Dreizehnten zum wirklichen Regenten Frankreichs machte, mußten die nothwendigen Anforderungen dieses Karakters ihm die Unterdrückung der übermüthigen Großen des Landes, welche immer ein Familien-Oberhaupt an ihre Spitze lockten, um dahinter ihre anarchischen Absichten zu verbergen, zu einer fast persönlichen Befriedigung machen, wenn nicht zugleich anzunehmen wäre, daß sein großes Genie, sein heller und der Zeit voraneilender Geist in dieser Unterdrückung das Mittel erkannt habe, Frankreich zu bürgerlicher Ruhe und den König zum absolutesten Herrschen zu führen.

Unbezweifelt hat das Getriebe, das er mit starker Hand zu lenken wußte, die ersten sicheren Resultate erzielt, und Ludwig der Eilfte, der den Kampf mit der Anarchie und mit dem aristokratischen Uebermuthe seiner großen Vasallen so rastlos verfolgte, würde mit Neid auf die Ernte dieses großen Staatsmannes geblickt haben, der die Erfüllung der Idee erlebte, der [34] er mit allen seinen Bestrebungen nachjagte, ohne die Zustände bewältigen zu können.

Dessen ungeachtet erschreckten noch die Waffenklänge des Bürgerkrieges die Knabenjahre Ludwigs des Vierzehnten – bei erwachendem Bewußtsein mußten er und seine Mutter vor den Erfolgen der Fronde flüchten, und zu dieser Schmach noch jeden Mangel hinzugefügt sehen, den der schnelle Aufbruch des Hofes mehr als ein Mal veranlaßte.

Aber schon war so viel anderweitiges Interesse im Volke erweckt, daß es den dämonischen Anforderungen eines Bürgerkrieges nur ungern Gehör gab, ihn nicht mehr zu seinen gewinnreichen Erwerben zählte, sondern darin eine lästige Störung seines heranblühenden Wohlstandes sah, und daher den Adel nur lau unterstützte, der, hierdurch geschwächt, den klugen Machinationen Mazarin's nachgeben mußte, und endlich den Frieden herbeiführte, der zuerst nach so langen Stürmen das erschöpfte Land erquickte.

Diese Ruhe, die ein wirkliches Bedürfniß war, und die nicht durch Traktate, Geißeln und das Recht des Stärkeren erhalten ward, sondern sich schützte durch dieselben Mittel, die das Bedürfniß hatten entstehen lassen – sie mußte nothwendig das Gesammtleben Frankreichs zum Bewußtsein und zur Anschauung erheben, und den Bildungspunkt namhaft bezeichnen, der damit hervortrat.

Ludwig der Vierzehnte war der vollkommenste Repräsentant dieser Periode; er war das nothwendige Erzeugniß derselben und so innig mit ihr verbunden, daß jeder Franzose ihn als sein Banner erkennen mußte – als die lebendig gewordene Idee einer Entwickelung, der sich jedes Bewußtsein entgegen drängte. Es kann daher von diesem Standpunkte aus, weder von seinen Tugenden, noch von seinen Fehlern, nach dem gewöhnlichen Maaßstabe der Berechtigung, die Rede sein. – [35] Beide waren die Erscheinung der Zeit – er stand weder über, noch unter ihr – er dankte ihr Alles, aber er gab ihr auch Alles, was sie eben forderte, wenn auch nicht mit dem Bewußtsein ihres Bedürfnisses, sondern weil er an sich selbst einen neuen Zustand herzustellen trachtete, der jedoch eben derjenige war, dessen Frankreich bedurfte. Von der Natur selbst zu einem vollkommenen Franzosen gebildet, besaß er die herrliche Gabe, seine Fähigkeiten hervortreten zu lassen, sich ihrer mit Takt und Gefühl bei allen vorkommenden Gelegenheiten zu bedienen. Wenn schon das gewöhnliche Leben die tiefsten und bedeutendsten Seelenkräfte dieser Fähigkeit beraubt, in Nachtheil stellt gegen den glücklichen Gebieter geringer Mittel, die ihm jeden Augenblick dienstbar sind, so ist der Einfluß solcher Gabe auf einem Throne, bei bedeutenden und nationalen Kräften eines Herrschers, ganz der zauberhaften Wirkung gemäß, durch die wir Ludwig den Vierzehnten die Höhe der Gunst ersteigen sehen. Sie erbaute ihm aus dem Enthusiasmus seines Volkes einen Thron, auf den ganz Europa staunend hinblickte, und der den Gedanken der Weltbeherrschung, in solchem Fundamente begründet, zu einem erhabenen Fluge des Geistes machte, den wir als Menschen, ohne nationelle Beschränkung, mit Liebe und Bewunderung betrachten müssen. Diese unläugbare Befähigung Ludwigs des Vierzehnten machte es ihm aber auch nur möglich, sich aus dem Schlamme zu erheben, den die Erziehung um seine Füße spülte, und wir müssen, wenn wir das kräftige Emporarbeiten Frankreichs aus dem Elende des Bürgerkrieges verfolgen, dem jungen Könige das Recht eines eben so rüstigen Streiters zugestehen; denn seine Arbeit ehrte ihn nicht minder.

Der Ueberdruß, ja der Abscheu, den die Nation gegen die Gewalt roher Willkür und Gesetzlosigkeit zu empfinden begann, entwickelte sich in ihrem Könige zu dem Schranken-System einer Etikette, die ihm dasselbe Bedürfniß befriedigte, eben das einer [36] unangreiflichen, gesicherten Stellung, um zum Genusse seiner persönlichen Vorzüge auf dem erhabenen Standpunkte seiner Geburt, gelangen zu können. Welchen Ausartungen dieses System im Verlaufe seiner Dauer auch unterworfen war, zu welcher, einer späteren Entwickelung lächerlich erscheinenden, Karrikatur es herabgesunken dastehen muß, wir dürfen seine Entstehung nicht gering achten, den Geist nicht verkennen, der es erschuf. Es hatte einen tiefen psychologischen Grund, der ohne alle Frage das höhere geistige Fluidum der Nation entwickelte, und den beispiellos hohen Rang bestimmen half, den Frankreich in diesem Zeitlauf in Europa einnahm, seinen Einfluß über Alles erstreckend, was um den Preis einer feineren Sitte rang; denn es lag darin die Fessel der Rohheit. Der despotische Zwang, den diese Formen über jede Willkür ausübten, ward ein Bollwerk, hinter welchem die Anstürmenden in dem glänzendsten Kultus zauberhafter, neuer Einkleidung den Hof ihres Königs gewahrten – ein zur höchsten Poesie erhobenes Wunder fremder, blendender Schaubilder, dem näher zu treten, bald die Sehnsucht und der Ehrgeiz Aller ward, und das zu erreichen, eben dieses Bollwerk nur einer bestimmten Auswahl gestattete; und diesen Auserwählten wieder nur, indem sie sich selbst bezwangen und mit gefesselten Trieben nicht sich, sondern der Zauberformel jener Etikette gehorchten, in welcher Alle vor dem Nymbus dieses Thrones eingefangen lagen. Wie der Gegensatz zu diesem despotischen Sittengemälde sich auch finden mußte, welchen empörenden Entartungen in der Religion, Moral und Sittlichkeit wir auch zur selben Zeit begegnen mögen – der Impuls zu einer gesellschaftlichen Existenz, wie sie keine Zeit ihr ähnlich darzustellen vermag, mit allen Versuchen, eine höhere Gesittung über alle Verhältnisse des Lebens zu verbreiten, gehört als unbestreitbares Verdienst dieser Epoche an. Sie erregte eine Bewegung, deren Einfluß wir [37] noch jetzt nachzuweisen vermögen, wenn auch durch die frei gewordene Herrschaft des gebildeten Geistes losgesprochen von dem Zwange des Gesetzes, welches festzuhalten, nachdem es leer geworden seiner früheren Bedeutung, zu der mit Recht gering geachteten und bespöttelten Karrikatur eines Ceremoniels oder absondernden Schutzes herab gesunken ist, der keinen Grund mehr findet in vorhandener Rohheit.

Zu jener Zeit aber machten sie den Hof, als Anhang des Königs, als den Zauberkreis, in dem er seinen wunderbaren Ritus übte, zu einem wahrhaft unerreichbaren Standpunkte, und noch war es die Zeit – ja sie erwachte erst – wo das Volk sich von seinen Souverainen imponiren zu lassen wünschte, und die Absonderung, die fast an göttliche Unterscheidung grenzte, mit einer Art von Stolz mehr unterstützte, als verringerte.

Die Mittel zu großen Ergebnissen boten sich dem herrschenden Oberhaupte in allen Beziehungen dar, und unter den Händen Colbert's entwickelten die reichen Kräfte des strebenden Landes fröhlich ihre hundertfältigen Adern und athmeten Lebensfülle und spendeten den segensvollen Reichthum, der immer wieder den großen Kreislauf belebender Thätigkeit erneuerte, den der Glanz des Thrones sowol, als sein politisch zu behauptendes Ansehn erforderte.

Wenn die Meinungen über diese Zeit oft bis zum Anbeten ihrer Erscheinungen, oft bis zum Herabwürdigen unter den geringsten Standpunkt geschichtlicher Momente gewechselt haben, dürfte Beides eine Berechtigung nachweisen können, wenn wir bloß die materiellen Fakta ohne ihren geistigen Zusammenhang gelten lassen wollen. Denn wir sehen allerdings in demselben Rahmen, der Ludwig's Lebensperiode umschließt, einen Höhenpunkt glänzender Erfolge, wie er uns hinreißen muß, und am Ende derselben einen Schrecken erregenden Verfall, der ohne Zweifel die Keime der großen Erschütterung nachweisen ließe, [38] die den Urenkel des Platzes verlustig machte, auf dessen unbestrittenem Besitz Ludwig der Vierzehnte seine Dynastie unzerstörbar begründet glaubte. – Aber wir dürfen bei dieser niederschlagenden Betrachtung nicht übersehn, daß das Volk in dieser ersten glänzenden Epoche dennoch ein Pfand empfangen, welches den Werth dieser Zeit unbestreitbar macht – ein Pfand, mit welchem es wuchern konnte, das zu zerstören nicht mehr in der Willkür seines Herrschers lag – und daß dessen ausartenden persönlichen Neigungen, die wir mit dem Verfalle der Zeit bezeichnen, doch in ihrer jugendlichen Entstehung Schritt hielten mit den Bedürfnissen seines Volkes, und über alle Zweige menschlichen Wissens den Zauber der Ermunterung, der Förderung und der Anerkennung verbreitet hatten. So müssen wir seiner ausartenden Eroberungssucht sicher den Vorwurf machen, das Land erschöpft und mit Schulden belastet, und, gegen jedes moralische Prinzip anstoßend, sein persönliches Ansehn herabgesetzt zu haben. Aber das Volk hatte Früchte geerndtet, die es in seinen Erfolgen nicht allein damals an die Spitze der Kriegskunst stellte, sondern an deren Nachahmungen sich noch die nachhaltigsten Einrichtungen aller Nachbarländer knüpfen lassen. Wenn wir eben so vor den Bauwerken dieser Zeit, vor den zügellosen Ausstattungen aller königlichen Besitzungen und der ihnen anhängenden Bedürfnisse – vor ihren Festen, ihren Beschäftigungen und ihrem zahllosen unbeschäftigten Dienertrosse stehen, und bloß bedenken wollen, wie dadurch der Schatz erschöpft werden mußte, und dem betäubten Gewissen die Wege geöffnet zu Erpressungen und Bedrückungen des Volkes, die wir mit Unwillen endlich auch verfolgt sehen: so werden wir doch dadurch immer nicht die Wirkungen annulliren können, die in diesem üppigen Leben des Genusses den Segen aller künstlerischen und wissenschaftlichen Erscheinungen entwickelten, und sie zu einer Ausbreitung und [39] Wichtigkeit erhoben, welche dem versinkenden Leben Italiens eine neue Heimat, dem übrigen Europa eine Brücke zu bis dahin zu entfernt liegenden Schätzen baute.

Gewiß müssen wir zugestehn, daß Ludwig der Vierzehnte nicht die Kraft hatte, an der Spitze seiner Nation zu bleiben, daß er ihr nur ein Mittel war, das anfänglich nicht größer zu sein brauchte, als er war, daß ihn seine Erfolge, nachdem sie ihn weit überholt hatten, auf einem geringen Standpunkte zurück bleiben ließen, und im Stillestehn ihn seiner Zeit entfremdeten und feindlich gegenüber stellten, geschützt noch von dem monarchischen System welches zu mächtig war, um Widerstand zu finden. Der hierarchische Despotismus erkannte wachsam den Augenblick, wo Ludwig sich von seinem Volke trennte, um ihn, sich ihn als Beute sichernd, jeder freieren Anschauung zu entziehn, die ihn fähig gemacht hätte, den hochherzigen Aufschwung religiöser Entwicklung verstehen zu können, der damals aufs Neue vergeblich die Schwingen einer freieren Erkenntniß regte, und dessen unvollkommene, in vielfachen Ausartungen kreisende Erscheinungen vielleicht die ewigen Erschütterungen Frankreichs zu erklären vermöchten, das, von dem Triebe freier religiöser Entwickelung verjagt, in den materiellsten Freiheitswünschen die gestörte Entwickelung zu befriedigen suchte. –

Die Zeit, in der Leonin den vaterländischen Boden betrat, war der Höhenpunkt jener früheren Periode, der so schnell, so überraschend erreicht war, daß der Schwindel zu erklären ist, mit dem man die Grenzen eines so begonnenen Zustandes nicht glaubte übersehen zu können, und die ausschweifendsten Eingebungen der Phantasie überall anzuknüpfen, ein Recht zu haben meinte.

Der Aachner Friede war geschlossen – Ludwig hatte die Lorbeeren zweier glorreichen Feldzüge gesammelt, die Aufmerksamkeit Europa's geweckt und Erfolge errungen, die so das [40] Maaß zu überschreiten schienen, daß es ihm leicht ward, beim Abschluß des Friedens mit anscheinender Großmuth den Theil der Eroberung zurück zu geben, der von seinen bestürzten Gegnern mit der vollen Besorgniß gefordert wurde, die so schnelle, so siegreiche Fortschritte – für das Europäische Gleichgewicht, welches zu zerstören, in seine Hand gegeben schien, nothwendig einflößen mußten. Auch machte der Abschluß dieses Friedens, der einen Theil der gemachten Eroberungen wieder aufgab, keinen ungünstigen Eindruck auf die Nation. Schon sah sie sich als den reichen Mann an, der dem übrigen Europa Almosen geben könnte; schon kam ihr kein Zweifel, daß sie besitzen könnte, was sie besitzen wollte; und gerade so erschien ihr der junge König in einem neuen Nimbus – dem der Großmuth und der Mäßigkeit.

Auch lag, dies Gefühl zu unterstützen, ganz in der ungemeinen Begabtheit des jungen Königs, der damals noch den vollendeten Stolz besaß, der die Eitelkeit entweder nicht aufkommen läßt oder sie noch nicht besitzt.

Sein Volk, sein Hof mochte seine Siege anstaunen, anbeten, er verhielt sich zu ihnen mit der gleichmäßigen Ruhe, die audeutete, daß er über ihnen stände, und die größten Erfolge eben nur Ausströmungen seiner selbst wären, die ihn nicht zu überraschen vermöchten. Er haßte und unterdrückte jede rohe Schmeichelei, und die Hofleute mußten eine Mimik für ihre Anbetung studiren, die sich wie der Schauer der Andacht anließ, um seine stolze Zurückweisung nicht zu erfahren.

Es war in dieser vollen Blütenzeit seiner Existenz noch so viel Wahrheit in ihm, daß er sich ohne Selbstbetrug des Eindruckes erfreuen durfte, den er hervorrief; und seine ganze Natur war durch die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung, die seine eigne Entwicklung mit der seines Volkes hatte, so bedeutend verstärkt und erhöht, daß jeder Erfolg ihm zu einem ungemeinen [41] Selbstgefühle verhelfen mußte. Er war in Wahrheit ein großer Mann – er war es durch seine Zeit, wie durch sein schönes Naturell, das ihr genug that.

Später hatte das Feldlager mit dem Glanz eines Hoflagers gewechselt, dessen an Zauber und Wunder grenzende Ausstattungen einen taumelartigen Zustand erregten, den industriellen Geist aufs höchste belebten – Künstler, Dichter und Gelehrte schufen, und eine Hingebung aller Kräfte des Geistes und des Vermögens veranlaßten, die ein Gelingen herbeiführte, das in seiner überraschenden Wirkung den jungen König als ein übernatürliches Wesen erscheinen ließ, da seine Neigung, seine Andeutungen oder Befehle dies Alles ins Leben riefen.

Und diesem Zustande der Dinge nahte sich jetzt Leonin – diesem vergötterten Monarchen sollte er in kurzem vorgestellt werden, und zwar nicht, um ihn unter dem Gesichtspunkte zu betrachten, wie wir es jetzt thun, sondern unter dem, wie man ihn damals ansehen mußte, beschränkt von der Gegenwart und ihrem beengenden Einflusse, als eine sichtbare Gottheit, als eine Alles besiegende Autorität – als den Inbegriff aller Vollkommenheiten. Es war die natürliche Folge dieser Ansicht, daß Alle, die des Glückes theilhaftig wurden, seine Nähe zu erreichen, seine Worte zu hören, sich selbst dadurch zu größeren Ansprüchen berechtigt hielten, und als Geschöpfe seines Winkes, doch sich erhoben fühlten über die Masse, die diesen Vorzug nicht theilen durfte. –

Die Majorennitäts-Erklärung des jungen Grafen war vorüber, und unaufgefordert strömten die höchsten Personen zusammen, ihre Glückwünsche zu diesem Akte darzubringen. Das Hotel Soubise konnte die Zahl der Gäste kaum fassen, und die Marschallin hatte nicht umsonst auf den Antheil des Königs ge rechnet. Nur im Vorbeigehen fragte derselbe beim[42] Lever seinen Bruder, ob er von dem Feste seines lieben Marschalls von Crecy gehört habe, und dies war hinreichend, damit Monsieur zur bestimmten Stunde in dem Hotel Soubise auf zwei Minuten erschien – und der Name Ludwig von Orleans prangte an der Spitze von Unterschriften, die fast alle erlauchte Namen Frankreichs enthielten. Denn das Land versammelte die lebenden Repräsentanten derselben an dem Hofe – und Ludwigs Wunsch, sie dort zu sehn, war der Magnet, dem Niemand sich entziehen konnte.

Der Marschall war versöhnt mit den schlauen Einrichtungen einer Gemahlin, die endlich seine unvollkommenen Wünsche, die er nie ins Dasein zu rufen vermocht hätte, in die Erreichung ihrer eignen mit einzuschließen wußte. Der Glanz seines Hauses trat auf eine imponirende Weise hervor, und dem Herzen des Vaters ward in der schmeichelhaften Anerkennung des Sohnes das vollste Genügen.

Wie sollen wir aber den innern Zustand dieses Sohnes schildern, der seit seinem Eintritt in dies Haus fast nicht zur Besinnung gekommen war?

Seit seiner Abwesenheit hatten sich alle Zustände so gesteigert – sein eignes Bewußtsein, sein Auge sich so dafür entwickelt, daß es ihm schien, er käme in eine vorher gar nicht gekannte Welt. Es war, als ob das Unglück aus den Kreisen der Menschen ver schwunden sei. Jeder Tag schien ein Fest, das Allen gehörte. Witz, Laune, Leichtsinn und Heiterkeit durchdrang die Menge von der höchsten bis zur niedrigsten Klasse. Es war keine Zeit für irgend ein tiefer liegendes Gefühl, und der Rausch, der über Alle seine Zauberruthe schwang, hieß Ludwig – Versailles – Frankreichs Ruhm! – Es trat ein Stolz, ein Selbstgefühl bei jedem Individuum hervor, das aber gerade so entwickelnd wirkte; denn Niemand wollte nachbleiben, Alle strebten, rangen und erreichten in irgend[43] einer Beziehung Etwas. Aber mitfliegen mußte man; das galt mehr wie das Leben; das galt, sich als Franzose zeigen!

Und in diesen rauschenden Massen, durfte sich Leonin eingestehn, als der Erbe eines so bedeutenden Namens und Ranges bemerkt zu werden, zu Ansprüchen erhoben zu sein, die mit dem edelsten Neide verfolgt wurden, mit dem Neide, dem Göttersitze des Königs nah' und persönlich dienstbar sein zu können.

Diese Tage mit ihren Anforderungen hatten eine Menge schlummernder Eigenschaften in ihm hervorgerufen. So ins Auge gefaßt von der hohen Aristokratie des Landes, fühlte er plötzlich den vollsten Trieb des Ehrgeizes, sich ihnen in allen Punkten gleich zu stellen und jede Unsicherheit des Betragens abzuwerfen, die einen Zweifel über die Befähigung zu dem hohen Standpunkte seiner Geburt aufkommen lassen könnte. Er wollte nichts sein, als eine neue Zierde dieses glänzenden Hofes. Man sollte dieses anerkennen müssen, und er hätte bei schärferem Nachdenken sich selbst in den Erscheinungen nicht wieder erkannt, die dieser Einfluß hervorrief; denn er ward nun erst Franzose und rechtfertigte vollkommen den Zustand jener wunderbaren Zeit.

Nur, wenn er in tiefer Nacht sein einsames Schlafgemach betrat, die Diener entlassen hatte, und lautlose Stille ihn umfing, blieb er wie ein Träumender stehen. Wo war Fennimor's Gatte, wo war der einsiedlerische Schloßherr von Ste. Roche und die patriarchalischen Vorstellungen, die alle seine Wünsche umschlossen hatten? – Ob er sich diese Fragen wahrhaft beantwortete? Wir fürchten, nein! Aber noch war er innig überzeugt, was jetzt geschehe, was er thue und treibe, es sei nur die Brücke zu ihr zurück. Noch fühlte er ihre Schönheit, ihren Werth; noch brauchte er nicht an seine Pflichten gegen sie zu denken. Aber schon gab es auf dem ganzen Schauplatze [44] seiner jetzigen Existenz keinen Punkt, wo er sich ihrer erinnern konnte, ohne den stechenden Schmerz zu fühlen, der uns belehrt, daß wir in gefahrvollen Widerspruch gerathen sind, und Pflichten sich drohend berühren, denen wir gleiche Heiligkeit zugestanden. Er verschob selbst den Moment einer Eröffnung gegen seine Mutter, theils aus Scheu und Unentschlossenheit, theils weil er glaubte, erst diesen öffentlichen Pflichten genug thun zu müssen. Er ahnte nicht, wie seine Mutter Alles in ihm sah und vorher gewußt, und wie fest sie beschlossen hatte, ihm eine solche Erklärung unmöglich zu machen, bis die Verhältnisse ihn so umsponnen hätten, daß er sie ihr nicht mehr zu machen wagen würde.

Sie hinderte es daher nicht durch die leiseste Bemerkung, wenn sie erfuhr, wie Boten mit Briefen und Gepäck den Weg nach Ste. Roche nahmen; denn dies Alles, wie es auch dort Ansprüche und Neigung unterhalten, und gefährliche Gedanken in Leonin nähren mußte, schien ihr doch weniger unheilbringend, als eine zu voreilige Erklärung, ehe sie Zeit gewonnen hätte, dies sein Gefühl in sich selbst absterben zu lassen.

Jetzt befand man sich zu Versailles, da man Paris nur bewohnte, um Familien-Feste zu feiern, die in die Nähe des Königs zu verlegen, eine Art Indiskretion scheinen konnte. Außerdem liebten alle Große des Hofes, in Versailles zu leben, da der König eine fast unbezwingliche Abneigung gegen Paris hegte, welches ihm als Kind, während der Kriege der Fronde, mehrere Male die Thore verschlossen hatte.

Madame Henriette, die Gemahlin Monsieur's und die Tochter des unglücklichen Karls des Ersten von England, war der Parnassus des Hofes. Um sie versammelten sich alle Künste, und Gelehrte und Helden warteten an ihrem poetischen Throne auf das Wort ihrer Anerkennung, ihrer Ermunterung. Der König hatte ihr eine so zärtliche, ritterliche Galantrie gewidmet, [45] sie verstand dieselbe so geistreich zu fordern, und so fein und erhaben zu gestalten, daß dem Berühren dieser beiden romantischen Geister die Entwickelung billig zuzurechnen ist, die das Verhältniß der Männer zu den Frauen zu einer abgöttischen Huldigung erhob. Auch hier ging der mit allen Elementen der Liebe und Poesie ausgerüstete jugendliche König mit dem Beispiel einer Frauenhuldigung voran, die wie ein neuer Impuls in der Courtoisie hervortrat.

Zwar hatte das Verhältniß des Königs zu Madame Henriette den Karakter wärmerer Zärtlichkeit verloren; aber sie behauptete noch immer den Rang der schönsten und geistreichsten Frau, und ihr Einfluß auf den König in allen geistigen Beziehungen blieb noch unbestritten. Er selbst fühlte die wahrste Freundschaft für sie, ihr Hof zählte ihn noch immer zu seinem Besitz, und er that Alles, ihr diesen geistig hohen Standpunkt durch seine Achtung und Anerkennung zu erhalten. –

Schon füllten sich die Vorzimmer der schönen Henriette, und alle Anwesenden zeigten die Belebtheit und Spannung, die die Versicherung hervorgerufen, Madame erwarte den König! Ein Jeder fragte sich in der Stille, wer er wäre, was er zu denken, zu sagen habe, mit welcher Berechtigung er die große Gunst erwarten dürfe, vor ihm zu erscheinen.

Das Gespräch lief wohl lebhaft umher; aber nur Wenige verbargen die Zerstreutheit, mit der das leiseste Geräusch in den Höfen plötzlich Alle verstummen oder abbrechen ließ. Doch blieb von den Anwesenden dieser Zustand ziemlich unbemerkt, denn Jeder theilte ihn.

Nur einzelne Personen verschwanden in die Zimmer, in denen Madame ihren hohen Gast erwartete; dies waren besonders dazu Bestellte – und sie zogen eben so stolz diesem Rufe entgegen, als ihnen die Blicke des Neides nur zu sicher folgten.

[46] Madame ruhte auf einer Ottomanne von meergrünem Atlas, und der Glanz der Beleuchtung war vor diesem etwas erhöhten, bequemen Sitze mit einem Geschicke gemildert, daß es schien, der Mond erleuchte diesen Platz, im Gegensatze zu dem Vordergrunde des Zimmers, der Tageshelle, von Spiegelwänden reflektirt, zurückstrahlte. Der blaßrothe Seidenstoff ihres Kleides war mit Silber durchwirkt, und in ihrem wunderschönen Haare trug sie eine einzige, aber prachtvolle Rose von Brillanten.

Da sie die schönsten Arme und Hände hatte, so stand es ihr sehr gut, daß sie die Etikette etwas verletzte und nur einen Handschuh trug, während sie den andern, wie zum Gedankenspiele, durch die zarten Finger zog. Sie hatte die glänzendsten Farben, die lebhaftesten Augen, und schien immer von Gedanken angeregt, die sie auch, schnell und fließend sprechend, stets bereit war, an den Einen oder Andern zu adressiren.

Um sie her standen die Damen und Herren ihres näheren Kreises. An der linken Seite ihres Ruhebettes aber lehnte eine Frau von mittlerem Alter, mit großen Resten ehemaliger Schönheit und mit einem bezaubernden Ausdrucke von Geist und Gefühl. Sie war in dunkeln Sammet gekleidet, und die feinen Spitzenbarben ihres Bonnets gaben ihrer prächtigen, aber bescheidenen Tracht eine nonnenhafte Decence; sie hielt ein Blatt in der Hand, was sie vorgelesen hatte, und hörte der lebhaften Prinzessin zu, welche, mit ihr sprechend, anmuthig seitwärts blickte.

»Nein, liebe Sevigné,« rief sie, »sein Sie nicht zu bescheiden! – Nur Sie, behaupte ich, nur Sie allein können ein so bezauberndes Geständniß über die Gefühle einer Mutter ablegen, Sie repräsentiren die Mutterliebe in Frankreich, wie sie das Ideal jeder edeln weiblichen Brust werden muß, auf Sie wird hingewiesen werden, wenn wir schon alle in Staub [47] zerfallen sind; und die entarteten Mütter dieses Landes werden nicht sagen dürfen, wir wußten nicht, was Rechtens war; denn man wird ihnen antworten können, daß Madame de Sevigné lebte!«

Die berühmte Frau neigte ihr feines Antlitz noch tiefer, und der erhöhte Ausdruck zeigte eine Rührung, die keinen Hauch von Eitelkeit trug.

»Es ist so natürlich, was ich auszudrücken wagte,« sagte sie sanft, »daß ich mich kaum in dem schmeichelhaften Lobe Eurer Königlichen Hoheit wieder erkenne. Wer könnte mit dem Glücke begnadigt werden, Mutter zu sein, ohne mehr oder weniger dasselbe zu fühlen, was ich hier bloß sammelte, aneinander reihte. Die Erscheinung einer Mutter bleibt in jedem Individuum eine Art göttliches Mysterium, und auf allen Stufen dieses rührenden und erhabenen Zustandes ließe sich die unmittelbarste Gemeinschaft mit dem höchsten Geber nachweisen, und darum auch sicher Anklänge der Seligkeit, die nur von dem harten Drucke der Außenwelt zuweilen verkümmert hervortreten.«

»O, wie schön, meine edle Sevigné, ist Ihr frommer Glaube!« rief die Prinzessin mit einer Aufregung der Gefühle, die nur zu klar das ewig unbefriedigte Sehnen nach dem Glücke einer Mutter, das sie so tief nachzufühlen verstand, ausdrückte. – »Möchte ich,« setzte sie leise und mit feuchten Augen hinzu, »noch dereinst Ihre Schülerin werden können!«

Frau von Sevigné drückte die dargereichte Hand nicht mit höfischer, sondern mit menschlicher Zärtlichkeit an ihre Lippen und fügte leise Worte der Hoffnung hinzu, welche die junge Fürstin kopfschüttelnd anhörte.

»Eine Stuart! eine Stuart!« sagte sie blaß werdend, mit Bitterkeit und Schmerz – »denken Sie, meine Liebe, ob sie Hoffnung auf Glück nähren darf – ob ihnen geschieht nach der Ordnung der Natur!«

[48] »O, Madame,« rief die Sevigné, »so werden Sie wenigstens dazu bestimmt sein, uns zu lehren, wie man die Unbilden des Schicksals durch die Erhabenheit der Gesinnungen zu besiegen vermag!«

»Meinst Du, süße Trösterin?« erwiederte die Prinzessin mit dem sanften Ausdrucke von Schwermuth, der zuweilen über den frischen Glanz ihrer Schönheit wie ein Wolkenschatten glitt. »Doch hier,« fuhr sie fort, alles persönliche Gefühl augenblicklich unterdrückend, »was wollen wir mehr? Welch' ein schöneres Bild mütterlichen Glückes können wir nach den Mittheilungen unserer Sevigné finden, als unsere theure Marschallin von Crecy?« Und so neigte sie sich mit der vollen Anmuth einer Fürstin über die indeß zwischen Leonin und Louise eingetretene Marschallin, welche mit der eigenthümlichen Grazie, die einer vollendeten Dame von Range zukam, ihren Sohn der Prinzessin vorstellte.

Leonin erschrack fast vor dem blendenden Glanze der Schönheit, der er nun gegenüber stand, und die unglückliche Henriette, die das zärtlichste Herz vergeblich in ihrer Brust trug, mußte sich mit den kleinen Triumphen zerstreuen, die ihr jeder Mann, der ihr zu nahen wagen durfte, bereitete.

Sie sammelte lächelnd das Geständniß der Bewunderung von Leonin's sprachloser Blödigkeit ein, und erhob sich sodann; denn das Rauschen der Thüren und die plötzliche tiefe Stille des Vorzimmers zeigte an, der König sei gekommen!

Ludwig der Vierzehnte stand auf dem Punkte des Alters, wo die Frauen den Männern erst das Prädikat des Interessanten beilegen, was für sie so wichtig ist, daß keine Jugend, keine Schönheit ohne diese Zugabe der Zeit ihnen die anmuthige Eigenschaft des Gefährlichen verleiht. Ludwig hätte nicht König zu sein brauchen, um allen Frauen als schön und ausgezeichnet zu erscheinen – aber als König rechnete man ihm die Vollendung [49] als Mann um so höher an; und in der That konnte sich Niemand ihm zur Seite stellen, er wäre im einfachsten Kleide in den hintersten Reihen der Erste geblieben.

Als er eintrat, hatte er den Kopf halb über die Schulter gewendet, um den Herzog von Lauzun anzuhören, der ihm einige Worte sagte. Heiterkeit, Geist und Scherz lagen dabei auf seinem Antlitz ausgedrückt, und man konnte unmöglich anmuthiger lächeln, als eben der König, wie er dem Herzog einige Worte erwiederte.

Jetzt aber erblickte er Madame Henriette, die mit der Lebhaftigkeit der Huldigung ihm entgegen eilte.

Die leichte Haltung der kurzen Besprechung mit Lauzun war sogleich verschwunden – jetzt war er der huldigende Ritter, welcher, der Schönheit gegenüber, nur ihr Diener sein kann, und den Stolz, den er fühlen darf, nur von der Ehre ihrer Nähe empfängt. Als er die glänzende, blühende Fürstin zu ihrem Sitze zurückführte, hielt er ihre Hand so, daß er sie den Versammelten darzustellen schien; und indem er selbst den gebieterischen erhabenen Anstand entfaltete, der seine Schönheit so imponirend machte, schien er nur stolz sein zu wollen als ihr Führer, von Allen für sie allein die Huldigung fordernd.

Und doch war diese ihm fast ungetheilt zugewendet – denn er war Jedem in irgend einer Art ein Vorbild – ein erfülltes Ideal.

Selbst Leonin hatte die schöne Henriette vergessen und alles Blut drängte sich zu seinem Herzen, als er den angebeteten Monarchen jetzt in einer Vollendung vor sich sah, die er früher weder Gelegenheit hatte zu beobachten, noch zu fassen.

Der König zog ein Tabouret vor den Sitz, den die Prinzessin einnahm, und setzte sich nieder, als habe er Lust, knieend den lebhaften Worten derselben zuzuhören. Er hielt jedes Mal mit der Prinzessin auf diese Weise ein kurzes Zwiegespräch, [50] welches anscheinend von Keinem der Hofleute beobachtet ward; und doch war gewiß kein Wechsel der Miene oder der Farbe, kein Lächeln, kein Seufzer, welcher nicht von der argwöhnischen Schlauheit ihres Hofstaates belauscht wurde.

Leonin aber sah Alles ohne Beziehungen und Berechnungen. Verloren war er in dem Anblicke dieser ungewöhnlichen Erscheinung, und Alles schien ihm gerechtfertigt, was er seit seiner Rückkehr von dem überschwänglichen Enthusiasmus der Menge erfahren, und was ihm mindestens überraschend geschienen.

Als einen Helden, als einen Feldherrn hatte er ihn nennen hören, kühn, scharfsichtig und großartig im Rathe; er hatte gefürchtet vor den ernsten Pathos eines römischen Imperators zu treten. Und jetzt sah er einen heiter lächelnden jungen Mann, mit einer Anmuth und Leichtigkeit der Bewegung, mit einem poetischen Schmelze der Augen und des Mundes – einen der schönsten Männer, der sich dessen nicht bewußt sein wollte, um den Frauen allein eine Huldigung zu gestatten, auf die er sie durch seinen Willen anwies, allen Männern auch hierin zur Richtschnur dienend.

Leonin fühlte, daß diese Vereinigung etwas Erstaunenswürdiges, fast Berauschendes hatte, und daß man sich eben dem Zauber seiner Persönlichkeit so völlig ohne Rückhalt hingab, weil man seiner übrigen Herrscherfähigkeit gänzlich vertraute. Sein Alter hatte ihn vom Hofe entfernt gehalten, er hatte den König nur bei öffentlichen Veranlassungen als Zuschauer gesehn, die zu Anfange seiner Regierung nicht häufig waren. Erst in Leonin's Abwesenheit trat der Glanz des Hofes auf solche Weise hervor, wie auch die Liebenswürdigkeit des Königs erst zur vollen Blüte kam.

So beherrschte dieser anmuthige junge Mann alle seine Umgebungen. Nicht, wie ihn Leonin sich unwillkürlich gedacht [51] hatte, als einen ewigen Repräsentanten mit Krone und Zepter sah er ihn; aber dennoch von einer Atmosphäre der Hoheit umgeben, daß die jugendliche Anmuth niemals auch nur zu einem vertraulichen Gedanken hätte verführen können. Im Gegentheile fühlte Leonin eine Beklommenheit, die ihn fast betäubte, bei dem Gedanken, dem Könige heute gegenüber zu treten. Seine Größe wuchs, indem sie verdeckt lag – aber wie groß mußte er sein, da er sich ihres Scheines absichtlich entäußern konnte!

»Madame hat Briefe aus England erhalten,« sagte der Marschall de la Ferté zu Madame de la Fajette, die mit etwas verdorbener Laune in Leonin's Nähe stand; »der König wird wohl seine Absicht mit Dünkirchen durch ihre geschickten Unterhandlungen erreichen.«

»Wenigstens thäte Madame besser, nur solche Angelegenheiten zu dem Gegenstande ihrer Beurtheilung zu machen,« erwiederte Madame de la Fajette – »in allem Uebrigen fühlt man immer, daß sie kein französisches Blut in den Adern hat. Es ist komisch oft – ihr Urtheil über unsere Literatur!«

»Ach so! Euer Gnaden meinen ihre Bewunderung für die Marquise de Sevigné!« rief der Marschall – »ja, ja, Madame trägt stark auf, wenn sie spricht. Doch glaube ich nicht, daß ein so unbedeutendes Produkt, wie uns vorgetragen wurde, Eindruck machen würde, belebte sie nicht dasselbe Verlangen, das Madame de Sevigné als erfüllt darstellte.« –

»Ja, so ist es, mein Herr Marschall – die gute Sevigné gehört nach der Kinderstube, nicht an den Schreibtisch! Ich versichere Sie, daß sie nicht im Stande ist, orthographisch richtig zu schreiben, und damit müßte man doch wohl anfangen, wenn man eine Schriftstellerin sein will.« –

»Wäre es nicht wichtiger,« erwiederte hier ein junger Mann in einfacher geistlicher Tracht, »erst richtig zu denken? Wie Viele mögen den Vorzug besitzen, richtig zu schreiben, ohne [52] einen einzigen Gedanken so ausdrücken zu können, wie Madame de Sevigné – ohne Gefühle in sich zu haben, wie sie hier eine Zierde der Menschheit werden!«

Die Gräfin de la Fajette blickte etwas hoch auf, und ihre sich spannenden Augenbrauen verriethen, daß sie nicht geneigt sei, den halb vorwurfsvollen Ton dieser Erwiederung milde hinzunehmen; als sie aber die sanften, edeln Züge des Jünglings erblickte, der zu ihr gesprochen, mußte sich die kluge Frau gestehen, er habe gar nicht daran gedacht, daß seine Erwiederung sie träfe, sondern sich in den Gegenstand vertieft, ihm sein Recht gönnend und damit eine Beleidigung unmöglich haltend.

»Vollkommen richtig bemerkt, mein lieber Salignac!« sagte die Gräfin daher, schnell gefaßt: »wer hätte hierüber zu entscheiden mehr Recht, als Sie, der Sie der Verkündiger der edelsten und frömmsten Gesinnungen sind!«

»Nein, Madame, nein!« rief der junge Mann mit schwärmerischem Eifer, »über den ganzen Werth der Gedanken und Gefühle, die Madame de Sevigné uns mitgetheilt, wird nur eine Frau entscheiden können, in die Gott ausschließlich die Seligkeit einer Bestimmung ausgeschüttet hat, der wir nur aus der Ferne mit der Verehrung zusehen können, die an dieser außerordentlichen Bevorrechtung des Himmels uns die erhabene Bestimmung ihres Geschlechtes ahnen läßt!«

»Liebenswürdiger Schwärmer!« rief die Gräfin, fast gerührt; »da wir heut im Prophezeihen sind, und Madame Henriette der Frau Marquise de Sevigné schon das Prognostikon ihrer Zukunft gestellt hat, so verkünde ich Ihnen, daß Ihre sanfte jugendliche Weisheit, zum Manne erstarkt, das Zeitalter retten wird, in dem Sie leben; daß Salignac la Motte Fenelon Platz finden wird in den Büchern unserer Geschichte, trotz des Größten, den wir darin verzeichnen!«

[53] »Gottlob, Madame,« fuhr der junge Mann ohne alle Zeichen des Eifers fort, »daß ich Ihnen nicht glaube! Die Geschichte mit ihrem Namensverzeichnisse hat keinen Reiz für mich – meine Gedanken haften an dem mühevoll heiligen Geschäfte des Augenblickes; es ist so schwer, ihn zu bestehen, ohne vor Gott erröthen zu müssen, daß ich ihm alle meine Kräfte zuwende, und mir wenig Zeit übrig bleibt, die Zukunft mit eiteln Wünschen zu bestürmen.«

»Darum that ich es für Sie!« lachte die erheiterte Gräfin, die wohl ein wenig schriftstellerische Wallungen besaß, aber zu klug und zu edel war, um sich von diesen Gefühlen dauernd beherrschen zu lassen.

Die Gesellschaft erschütterte ein kleiner elektrischer Schlag. – Ludwig war aufgestanden, und sein königlicher Blick überflog den Kreis, als nähme er erst jetzt seine Existenz wahr. Die Thüren nach den Vorsälen waren geöffnet' – die inneren Gemächer hatten sich gefüllt, Jeder rang um den Preis, mit Ludwig dasselbe Zimmer zu betreten. Die Möglichkeit eines Blickes, eines Wortes war die Hoffnung, die Jeder unausgesprochen nährte.

Auch schien das strahlende Auge, womit er Jeden zu finden wußte, Jedem eine solche Hoffnung erwecken zu sollen; doch, als er nun, sich von Madame beurlaubend, vorschritt, stockte selbst das Bemühen, die leichte Unterredung fort zu spinnen, welche bisher geherrscht. Zerstreuung, Erwartung unterdrückte jede andere Geistesthätigkeit; höchstens gelangen einige leichte Worte, von denen der Sprechende hoffte, sie kleideten ihn, und die, da dies von den Andern schnell errathen ward, entweder mit Kälte aufgenommen, oder in derselben Weise und Absicht erwiedert wurden. Leonin hatte trotz seiner Befangenheit Auge und Ohr gehabt für die sonderbaren Zustände seiner Umgebungen, und indem er vergeblich auf den Sinn der Worte[54] horchte, die um ihn her gesprochen wurden, und die seltsamen Grimassen sah, mit denen man sie begleitete, überzeugte er sich, daß dies der Hofton sei, von dessen bezaubernder Leichtigkeit und Eleganz Europa voll war, und um dessen unaussprechlichen Reiz zu erreichen, Jeder seine Eigenthümlichkeit, sein tieferes geistiges Bedürfniß verläugnen mußte, wenn er nicht verlassen oder ausgelacht sein wollte.

Es bemächtigte sich seiner eine kränkende Unheimlichkeit: er wußte mit Allem, was er besaß, hier nichts anzufangen. Seine Kenntnisse, seine Gefühle, seine Ansichten – Alles, was ihm als Material zum Sprechen dienen sollte, schien hier umsonst, ja, ganz unbrauchbar – und ein geheimnißvoller Ritus von Worten, Bezeichnungen und Andeutungen überall zu herrschen, der ganz andere Zustände voraussetzte. Diese nicht zu kennen, zu verstehn, erschien ihm als ein Ungeschick, ein Mangel, von dem seine Eitelkeit sich trostlos verletzt fühlte. Sein Selbstgefühl verließ ihn, er konnte nicht denken, daß hinter der sicheren Haltung dieser Leerheit, hinter diesem Mißbrauche von Worten, Lächeln und Mienen nicht ein Sinn liege, der bloß seiner Unerfahrenheit entginge. Er würde an jedem andern Orte sich in der langweiligsten Gesellschaft geglaubt haben; hier aber wagte er sich dies nicht einzugestehn. Der Anspruch, mit dem Alle ihr Verfahren durchführten, imponirte ihm; er dachte nur daran, es ihnen nachzumachen, überzeugt, den Inhalt später zu entdecken.

Madame machte, während der König langsam anredend auf der einen Seite den Kreis durchschritt, an der andern Seite die Tour. Beide waren von einigen vertrauten Personen ihres Hofes gefolgt. Madame redete aufs neue die Marschallin von Crecy an und rief dann Leonin mit einem huldvollen Lächeln herbei.

»Sie müssen mir noch Viel von meinem Bruder erzählen; ich weiß, er sah sie gern an seinem Hofe, und ich« setzte sie [55] hinzu, indem sie schnell und schmerzlich die Lippen zusammendrückte, »ich sah ihnlange nicht!«

»Eure Königliche Hoheit würden noch eben so, wie früher, die Schönheit, wie die liebenswürdige Laune Seiner Majestät bewundern können! Wo er erscheint, hat die Freude ihren Thron erbaut,« erwiederte Leonin, in höchster Bewegung, zuerst in diesen Räumen seine eigne Stimme zu vernehmen.

»Ist das ein Lob für einen König?« rief hier Henriette von England mit einem auffallenden Gemische von Laune und Unwillen.

Erschrocken wollte Leonin begütigend antworten, als Alle schnell zurück wichen, und der König, der rasch und unbemerkt näher getreten war, plötzlich neben Madame Henriette und dicht vor Leonin stand.

»Belehren Sie mich, meine schöne Freundin,« sprach er, ihre Worte auffassend, »wie das Lob eines Königs lauten muß, um Ihrem strengen Tadel zu entgehen!«

»Verzeihen Euer Majestät,« antwortete Henriette, »ich fühle, ich bin als Französin zu sehr verwöhnt, um als Engländerin mich mit den Tugenden meines Bruders, insofern ich darin den König erkennen soll, genügsam erweisen zu können. Ist das ein Fehler, haben Euer Majestät mich dessen schuldig gemacht!«

Der König überhörte mit einem hohen Lächeln die schmeichelhaften Worte, und schien bloß die schöne Sprecherin zu bewundern.

»Unser liebenswürdiger Bruder in England sollte in Ihnen, Madame, eine sanftere Richterin finden. Ich zweifle nicht, daß der Hofstaat, den Seine Majestät vorfand, es benöthigt war, durch die Würde eines rechtmäßigen Herrschers in seine Schranken zurück geführt zu werden; und wenn der vollkommenste Cavalier, für den Karl Stuart bei allen Damen von St.[56] Germain galt, dieser Eigenschaft einige gute Laune hinzugefügt, wollen wir dies dem ernsthaften England gönnen, da wir ihm überdies Nichts mehr zu beneiden haben, indem wir ihm Alles geraubt, was ihn über uns hätte erheben können.«

Madame belohnte mit einem holden Erröthen die anmuthsvolle Verbeugung des Königs, der schnell jetzt fragte, wer ihre böse Laune gegen den König gereizt habe?

»Wahrlich,« sprach die Prinzessin begütigend, »diese Absicht lag nicht zum Grunde. Der Sohn unserer lieben Marschallin, der junge Graf Crecy-Chabanne, erscheint seit seiner Abwesenheit im Auslande hier zuerst vor Euer Majestät. Ich verzeihe es ihm, wenn das Andenken an alle Herrscher Europa's, die er sah, hier vor ihm zusammen sinkt.«

Der Blitz aus dem Auge des Königs traf Leonin, der ihn aufnahm unter die Begünstigten, die sich sagen durften: Er kennt Dich!

Die Marschallin, bis zur Erde sich neigend, legte die Hand auf den Arm ihres Sohnes, ihn bezeichnend als den ihrigen – Leonin wollte das Knie beugen. –

»O nicht doch! nicht doch!« rief der König – »hier nicht!« Und schnell verhinderte der Marquis von Vieuville Leonin an dieser Bewegung, indem er ihm zuflüsterte: »hier ist das nicht Styl!«

»Der Marschall von Crecy,« sprach die Marschallin mit unerschütterlicher Haltung, »hat vergeblich auf das Glück gehofft, seinen Sohn Euer Majestät vorstellen zu können. Er ist müde geworden in dem heiligen Dienste für Frankreichs erhabene Herrscher, und die Mutter fühlt aufs tiefste die Gnade, seine Stelle ersetzen zu dürfen.«

»Madame,« erwiederte der König, »der Marschall von Crecy gehört zu den Männern, die selbst, wenn sie aufhören persönlich zu repräsentiren, ein Eigenthum des Vaterlandes [57] bleiben – deren Einfluß so unvergeßlich ist, als ihr Name! Müssen wir den Marschall entbehren, so wissen wir ihm Dank, Madame, uns durch Ihre Gegenwart entschädigt zu haben.«

»Junger Mann,« sprach er dann zu Leonin mit wohlwollendem Tone, »wir freuen uns, den besten Namen unseres Frankreichs fortblühen zu sehen – es ist ein Name, der Sie auszeichnet, es ist zugleich ein Name, den Sie zu fürchten haben, da ein Anspruch jeglicher Tugend mit ihm verknüpft ist, der ein ernster, Viel fordernder Aufruf an Sie selbst wird.«

»Sire, der Wille ist Alles, was ich Euer Majestät zu Füßen legen kann,« erwiederte Leonin mit glühendem Antlitz; »aber er ist, auf Frankreichs Boden von seinen Wundern erzeugt, ein Ausfluß dieser Segnungen, der ihn zu Thaten ausprägen wird!«

Der König streifte mit einem wohlwollenden Lächeln den jugendlichen Anlauf dieser Rede und wendete sich zum Marquis Fenelon, der in devoter Erwartung neben dem jungen Geistlichen stand, den Leonin mit so vielem Gefühle gegen Madame de la Fajette sich hatte äußern hören.

Diesen jungen Mann unterwarf der König der aufmerksamsten Prüfung; und da er ihn unverändert bescheiden, ohne alle Bestrebung, ohne alle Erwartung verharren sah, schien er sichtlich von seiner Erscheinung überrascht.

»In Wahrheit, mein lieber General,« sprach er zu dem Marquis Fenelon, »Sie haben in Ihrem dreiundzwanzigjährigen Neffen einen Philosophen erzogen, der das graue Haupt der Weisheit beschämt. Es thut mir leid zu hören, daß Sie die glänzenden Erfolge unterbrechen wollen, die seine Kanzelreden sich mit Recht erworben. – Ich habe selbst mit Vergnügen seine Rede: Ueber die Wahrheit gegen sich selbst, gehört. Ein wichtiges, unendlich wichtiges Thema, dem wir nicht genug Aufmerksamkeit schenken können! – Und Sie, Abbé Fenelon, [58] bedauern Sie es nicht, einen Schauplatz zu verlassen, der Ihnen so bedeutende Erfolge gab?«

»Mein Oheim,« erwiederte der junge Abbé – der später so berühmte Verfasser des Telemach – »hat sich mehr meinen Wünschen gefügt! Es schienmir schwer, der Aufregung zu widerstehen, in welche dieses öffentliche Auftreten mich versetzen konnte. Der Weg, der mir vorliegt, ist noch so weit, ich habe noch keine geistlichen Pflichten zu erfüllen gehabt; – diese Kanzelreden waren noch nicht gerechtfertigt durch eigne Erfahrungen; – sie mußten mich zum Heuchler machen – zu einem blos leeren Verbrauche des schon Vorhandenen führen – von dem Wege eigner Forschung mich ablenken.«

»Den Karakter fremder, bloß angenommener Ueberzeugungen trugen Ihre Reden nicht,« fuhr der König ernst fort; »ein Geist der Inspiration belebte sie, der oft die Erfahrung überbietet und einer inneren Wahrheit, selbst bei Ihrer Jugend, nicht zu entbehren braucht.«

»Dies dürfte ich mir auch bis jetzt noch zugestehen,« erwiederte ruhig der junge Fenelon. »Der Augenblick, der uns zuerst vor versammelten Christen von den göttlichen Dingen reden läßt, deren Erkenntniß wir unser Leben weihten, ist gewiß von einem Hervortreten aller Kräfte begleitet. Solche Augenblicke überflügeln unsere Fähigkeiten, sie verrathen uns und Andern vielleicht, was erst die Zeit aus uns machen wird. Aber ihr wirklich vorgreifen durch den frühzeitigen Verbrauch dieser Stimmung, ihre Dauer damit verlangen, würde uns in äußerliche Bestrebungen ziehen, die gerade von der Entwicklung unseres Innern ablenken müßten, von der wir doch allein die fortdauernden Gefühle frommer Begeisterung hoffen dürfen.«

Der König betrachtete ihn mit einem Ausdrucke von Achtung, den nur Fenelon übersah, da er ihn nicht veranlaßt [59] glaubte durch jene ruhige Erklärung, die ihm die eigenen Gedanken ganz erfüllte.

»Gehen Sie denn Ihren Weg, Herr von Fenelon,« sprach Ludwig mit Wärme – »Ihr König wird Sie mit seinem Antheile begleiten und, so bald Sie selbst sich reif erklären wollen, den Platz zu finden wissen, welcher Ihnen den würdigen Wirkungskreis sichert, der einer solchen Entwicklung zusagend ist.«

Eben wollte der König sich wegwenden, da ging der Marquis Fenelon den Monarchen an und bat ihn für seinen Neffen um die Erlaubniß, in den geistlichen Orden von St. Sulpice in Paris treten zu dürfen, um unter der Leitung des Subpriors Tronçon das Stadtviertel dieses Namens bedienen zu können.

»Erstaunenswürdig!« rief der König – »der beschwerlichste Dienst von ganz Paris! – Herr von Fenelon, Sie haben meine Einwilligung nur unter der Bedingung, daß Sie Versailles von Zeit zu Zeit zu Ihrem Kirchsprengel zählen.«

Jetzt überzog wirklich ein freudiger Ausdruck das Antlitz des jungen Fenelon. Der König hatte ihn dem unscheinbarsten, mühevollsten Dienste gewidmet; – und als alle Hofleute ihm Glück wünschten, damit die Entrées in Versailles nicht verloren zu haben, zeigte es sich, daß der junge Fenelon diesen Nachsatz überhört hatte, und ihn jetzt erst und ohne alle Exklamationen erfuhr. Man bewunderte ihn laut – aber mit der Ueberzeugung, entweder einen Thoren oder einen vollendeten Heuchler vor sich zu sehen.

Auf Leonin machte dagegen der junge Mann einen Eindruck, der dem Vorwurfe glich. Diese Ruhe, diese Haltung bei den sichtlichsten Zeichen der Gunst, bei dem Bewußtsein, selbst dem Könige Bewunderung und Erstaunen eingeflößt zu haben, griff an sein unruhig klopfendes Herz. Er sagte sich, [60] wie er, durch den bloßen Anblick dieses Hofes aus sich selbst verjagt, ängstlich nach den Erfolgen des Augenblickes haschend, auf dem Wege sei, sich mit der bloßen Nachahmung von Zuständen zu begnügen, die er mindestens als ihm selbst unverständlich erklären mußte. Er war beschämt; aber dies offene Geständniß rettete sein Selbstgefühl und riß ihn aus der kleinlichen Richtung, die ihn verwirrt hatte.

Er bat Herrn von Dreux, ihm dem jungen Fenelon vorzustellen; er wollte dem ehrend nahen, dem er so eben Dank schuldig geworden.

Als sie sich im Gedränge Platz machten, erreichten sie ihn im Augenblicke ernster Unterredung mit einer schönen jungen Dame, die vor dem Jüngling in fast devoter Stellung stand.

»Ach, mein Herr,« sagte sie mit innigem Tone – »Sie durften Ihrem Berufe nicht mißtrauen – und wenn Sie nichts erreicht hätten, als das Gemüth unserer herrlichen Königin gestützt und gestärkt zu haben. Dachten Sie nicht, wie Sie Ihren hartherzigen Entschluß vollführten, an das, was ich Ihnen so viel früher schon über den wunderbaren Eindruck sagte, den die Königin von Ihren Kanzelreden empfing? Ach, und wäre es nur dies gewesen, da es doch so viel mehr noch war, was Sie erreichten – es wäre genug, um zu bleiben!« –

»Halten Sie ein mit Ihren Vorwürfen, die so ehrend, so rührend für mich sind – gegen die fest zu bleiben, so schwer fällt! Niemand bewundert mehr, wie ich, die schöne Hingebung, mit der Sie die theure Frau Königin umgeben; doch lassen Sie mich hinzufügen, Sie erfüllen damit Ihren Beruf; jede Ueberzeugung Ihrer Seele fällt mit Ihren Pflichten hier zusammen. Nicht so bei mir! Ich hörte auf, meinem Berufe etwas zu sein, wenn ich mit der gelegentlichen Einwirkung auf eine Einzige mich begnügen wollte. Der Geist treibt mich anders! In diesen geringen Hofverhältnissen würde ich verschmachten oder [61] falsche Keime treiben – und dann ginge ich auch der Königin verloren.« –

»O, Ihr Männer,« rief hier die junge Dame, und sandte aus Ihren schwarzen, glänzenden Augen einen seltsamen Blitz, halb Unwillen, halb Bewunderung ausdrückend, auf Fenelon – »es ist vergeblich, einen von Euch über den andern erhaben zu glauben; am Ende seid Ihr Euch alle gleich! Das Nahe, der sichere kleine Erfolg, sei er so schön, so edel, als Ihr zu träumen vermochtet, er reizt Euch nicht – Ihr verwerft ihn! Weit in die Ferne müßt Ihr Pläne und Unternehmungen richten – ein Weltruhm muß Euch zu Theil werden, wenn Euer ehrgeiziges Herz befriedigt werden soll!«

»Ob ich vom Ehrgeize frei bleiben werde, mag Gott wissen!« erwiederte der junge Fenelon. »Der Trieb, der uns zu unserer Entwickelung mit Sehnsucht, mit Eifer, mit Entzücken die Füllhörner nach allen Richtungen ausstrecken läßt, um das zu erkennen, was uns förderlich werden könnte, der Trieb ist schön und herrlich – ihn möchte ich nicht jetzt schon durch die Befürchtung in mir verdächtigen, er könne Ehrgeiz werden!«

»Unverbesserlicher!« rief das junge Mädchen – »Ich hätte Viel darum gegeben, wenn ich Ihnen böse werden könnte; denn Sie haben mich empfindlich gekränkt durch Ihr stolzes Zurücktreten. Aber warum sind Sie so unerträglich sanftmüthig – ich sollte es gar nicht unternehmen, mit Ihnen zu streiten, ich behalte niemals Recht!« –

»Und doch haben Sie eben so Recht, als ich, und Keiner sollte dem Andern zürnen wollen, weil er gern seiner Pflicht getreu bleiben will – es muß uns nicht über unsere Absicht verwirren, daß wir in verschiedener Richtung sie erfüllen müssen. Ich verehre Sie so sehr in Ihrer treuen Anhänglichkeit an die Königin, daß ich selbst die gegen mich gerichteten Vorwürfe[62] fast gern höre; denn sie sind eine Konsequenz Ihres vortrefflichen Innern!« –

»Ich will nicht von Ihnen gelobt sein! Sie wissen doch nicht, wie ich's meine – kein Mensch braucht das zu wissen – sie sind mir hier alle gleich! Aber Sie, Fenelon, obwol ich Sie jetzt hasse – Sie hätten mein Verbündeter bleiben müssen!«

»Und das bleibe ich, wenn Sie mich auch jetzt zurückstoßen – Ihr Herz denkt anders, und vielleicht treffen unsere Wege noch einmal wieder zusammen.«

»Mit dem Geistlichen von St. Sulpice?« erwiederte sie, fast weinend. »Wo soll ich den wiederfinden? Nein, nein, ich will gleich und für immer von Ihnen Abschied nehmen! Adieu, Fenelon, stolzer Fenelon!« – Sie wollte gehen – sie blieb stehn – kindlich lächelnd, setzte sie halb leise hinzu: »Lieber Fenelon, kommen Sie morgen noch zur Königin?«

»So lange ich in Versailles bleibe, alle Abende,« sagte der junge Geistliche.

»O, Sie guter, edler, bester der Menschen!« rief sie und wendete sich von ihm in dem Augenblicke, wie Herr von Dreux mit den Worten vortrat: »Herr von Fenelon, der Graf von Crecy-Chabanne wünscht Ihnen vorgestellt zu sein.«

Die junge Dame blieb stehen; der kälteste, hochmüthigste Blick dieser glanzvollen Augen streifte Leonin – sie erwartete seine Anrede mit der bizarrsten Verletzung der Schicklichkeit, wendete sich dann so geringschätzig als möglich ab und war bald unter der Menge verloren. – Kaum war seine flüchtige Unterredung mit Fenelon vorüber, als er gespannt, erschrocken fast Herrn von Dreux fragte, wer die Dame gewesen, mit der Fenelon gesprochen habe? –

»Es ist die Tochter des Herzogs von Lesdiguères, das erste Hoffräulein der Königin, und trotz ihrer Jugend die Freundin und Vertraute der erhabenen Frau!« –

[63] Als er zu seiner Mutter zurückkehrte, fand er sie im Gespräche mit einer älteren und einer jungen Dame; in Letzterer erkannte er Mademoiselle de Lesdiguères. Die Marschallin von Crecy rief ihn sogleich heran. »Madame,« sagte sie zu der älteren Dame, »erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Sohn vorstelle. – Die Frau Herzogin von Lesdiguères,« wandte sie sich zu Leon in, »hat Deine Mutter von Jugend auf mit ihrer Freundschaft beglückt. Schon von Fräulein von Reetz genoß Fräulein Soubise diesen Vorzug – jetzt, nach langer Trennung, finden wir uns wieder.«

»In Wahrheit,« rief die alte Dame, den Jüngling mit vielem Kopfnicken begrüßend – »Mademoiselle de Soubise war unser aller Bijou, als wir Kostgängerinnen waren bei den Ursulinerinnen; und es freut mich, daß ich in Ihnen einen schönen jungen Mann sehe – das wird Ihnen lieb sein, meine Theure; denn immer hatten Sie ein stolzes Herz, wie Ihnen das zukam, und ich es gern leiden mag. – Victorine,« fuhr sie fort, Leonin's Antwort unterdrückend und sich zu ihrer Tochter wendend, »Du mußt mit dem jungen Manne gut Freund werden; was die Mütter anfingen, müssen die Kinder fortsetzen.«

»So viel Güte, so viele glückliche Aussichten zu verdienen und zu rechtfertigen,« erwiederte Leonin, fast seine Worte aufdrängend, »wird eine schwere, aber zu theure Aufgabe sein, um nicht mit allen Kräften nach ihrer Lösung zu ringen.«

»Bemühen Sie sich nicht darum« – erwiederte Mademoiselle de Lesdiguères, »ich liebe so etwas nicht mit anzusehen! Auch, denke ich, hat Madame de Crecy eine Tochter, der ich mich schon anschließen will.«

Alle lachten bei diesen Worten, und das Fräulein selbst sah nicht so bös aus, als ihre Worte klangen.

»So stolz zurückgestoßen,« rief Leonin, »fordern Sie mich gerade damit zum Kampfe auf. Ich gelobe Ihnen hiermit [64] feierlich, wie Sie auch meine kleine liebe Louise mir eben vorziehen, ich will nicht eher ruhen und rasten, als bis Sie, gerade Sie meine Freundin sind!«

Sie sah ihn hochmüthig an, lachte aber dann einen Augenblick mit den Andern, und indem sie Louise an sich zog, rief sie: »Ist das der liebenswürdige Bruder, von dem Du mir so Viel erzählt hast? Ich erkläre ihn für den anmaßendsten Mann des Hofes.«

»Thun Sie, was Sie wollen,« lachte Leonin, »mein Entschluß bleibt derselbe, und ich rathe Ihnen, machen Sie sich den Rückschritt nicht zu schwer, indem Sie sich so weit von mir entfernen.«

Victorine zuckte mit den Achseln und überflog ihn mit halbem Lächeln. Die Marschallin aber, bemerkte Leonin voll Erstaunen, die ein so formloses Wesen sonst nur allzu schnell mit einigen Worten würde zu dämpfen gewußt haben, sah mit der huldvollsten Miene auf das junge Mädchen und lachte mehr, als sie sonst für schicklich gehalten hätte. Madame de Lesdiguères aber schien überhaupt, von völlig ungezwungenen Manieren, keine Rücksichten zu kennen, als die ihr bequem waren.

»Sagt' ich es Ihnen nicht, liebe Soubise, das Mädchen hat einen Kopf von Erz – den will ich sehen, der etwas Anderes hineinbringt, als was sie selbst hereinthut. Aber ich war eben so, und es macht mir jetzt Spaß, daß sie vor meinen alten Augen meine alten Jugendstreiche mir wieder vorspielt.« –

Es war der Frau Herzogin schwer zu glauben, daß sie wie ihre Tochter gewesen, wenigstens, daß es ihr so gut gekleidet; denn man konnte keinen größeren Gegensatz sehen, als diese kleine, kugelrunde Gestalt gegen den hohen, schlanken Wuchs der Tochter, und ihr blasses, regelmäßiges Gesicht gegen das breite, rothe, verzeichnete Gesicht der Mutter. Dabei zeigte die Tochter nur eine nöthige Eleganz; die Mutter aber[65] war mit Perlen, Juwelen und Stickereien beladen und trug dies alles ungeschickt an sich herum, wie eine schwere, aber nothwendige Pflicht.

»Nun, Marschallin,« fuhr sie fort, »das soll ein Spaß werden, zuzusehen, wie die Beiden sich necken werden! So machte ich es auch mit Monsieur de Lesdiguères, der damals noch nicht Herzog war. Man hätte denken können, wir haßten uns – aber nichts weniger, als das! In Jahr und Tag war ich seine Gemahlin.«

Sichtlich bemüht, diese Worte zu unterbrechen, hatte die Marschallin versucht, sich Victorinen zu nähern, die, glühend vor Zorn, Leonin den Rücken zugewendet hatte, als der König plötzlich Victorinen entgegen trat. – Die Etikette verhinderte jetzt jeden Schritt, aber auch jedes Wort, und so war die alte Herzogin wenigstens zum Schweigen gebracht.

»Es scheint mir ein gutes Zeichen für das Befinden der Königin, Sie hier zu sehen,« sprach Ludwig und legte eine auffallende Verbindlichkeit in seinen Ton.

Victorine verneigte sich bis zur Erde und blieb dann starr, mienenlos, ohne einen Laut zu erwiedern, vor dem Könige stehen.

»Haben Sie die Königin bei ihrer heutigen Spazierfahrt begleitet?« fuhr er nach einer Pause fort, in welcher er unruhig auf Antwort gehofft hatte.

»Zu Befehl!« entgegnete Mademoiselle de Lesdiguères mit festem, kaltem Tone. – »Doch dauerte diese Fahrt nicht lange; Ihre Majestät ließen an dem Hotel Biron umlenken, da der Wagen durch den Ausbau des Palais von Gerüsten und Arbeitern am Weiterfahren gehindert ward; und da die Frau Königin sich nach der Rückkehr übel befanden, so befahlen Sie uns, Madame Ihre Entschuldigungen zu bringen, und behielten allein Molina (ihre spanische Kammerfrau) bei sich.«

[66] Der König hörte gespannt und mit sichtlicher Unruhe zu. »Ich fürchtete das nicht, obwol man mir sagte, daß die ungebührlichen Bauanstalten vor dem Hotel Biron die Königin belästigt hätten. – Die strengsten Befehle sind gegeben, sie spurlos zu beseitigen. Ich werde die Königin heute noch besuchen und sehe Sie am liebsten in der Nähe meiner Gemahlin!«

»Vielleicht,« erwiederte Mademoiselle de Lesdiguères mit plötzlich verändertem Wesen und freudestrahlenden Augen, »erlauben Euer Majestät, daß ich mich sogleich zu meiner gnädigen Gebieterin begebe, sie auf diese Freude vorzubereiten?« –

»Thun Sie das, meine Liebe! Ich weiß, Sie sind uns beiden ergeben,« erwiederte der König mit der huldvollsten Herablassung – und die junge Dame verneigte sich und war augenblicklich verschwunden.

Es lag ein Schatten auf der Stirn des Königs, und Niemand wagte ihm zu nahen – als Henriette von England vortrat, und der König in demselben Augenblicke die Töne eines im Nebenzimmer beginnenden Concerts hörte. Mit der verbindlichsten Anmuth nahm er die Einladung der Prinzessin an und folgte ihr in die Zauberhallen, die sich vor ihm öffneten, und aus denen, hinter den vollsten Gebüschen von Orangen, Rosen und Myrten die hinreißendsten Gesänge und Musikstücke erklangen, die Jean Baptiste Lully mit seinem wohlgeübten Orchester aufführte, und von denen der König, der den Künstler zu seinem Kapellmeister und Liebling erhoben hatte, stets sich entzückt zeigte. Er war der Schöpfer der französischen Musik, der alle die damals angestaunten Wunder der Töne, Modulationen und Tempi ersann, wie sie vor ihm nicht existirt hatten. – Während dem führten in den anmuthigsten Windungen die schönsten Kinder, als Genien gekleidet, pantomimische Tänze zwischen den Gebüschen auf, welche in sinnvollen Gruppen, in leisem, [67] flügelartigem Dahinschweben, wie personifizirte Töne, die Harmonieen des verborgenen Orchesters zu verstärken schienen. Es war kaum möglich, daß der König bei einem Feste gegenwärtig sein konnte, ohne irgend eine schmeichelhafte Beziehung für sich zu erfahren. Doch dies Mal war es schwer, sie zu entdecken; denn das ganze reizende Schauspiel zog sich wie eine Chiffernsprache vor den Augen der Andern hin. Madame schien allein den Schlüssel dazu zu haben, und mit anmuthigen Worten und Mienen während der Dauer der Aufführung dem Könige die Erklärung zu geben. Alle Uebrigen sahen nur eine Pantomime. – Einmal zeigten sich die Wappen Englands und Frankreichs, beide, wie angedeutet war, auf französischem Boden; dann schwebte der Genius der Gerechtigkeit herab und löste das englische Wappen vom französischen Boden, damit entfliehend. Das französische Wappen wuchs, und Genien umkränzten es.

»Habe ich nicht Recht mit Dünkirchen?« flüsterte der Marschall Tessé dem Herzoge von Rochefaucault zu – »die schlaue Prinzessin hat Seiner Majestät die Schlüssel von Dünkirchen übergeben, und nun muß die Gerechtigkeit das Wappen Englands vor den Augen des Königs von dem Boden Frankreichs fortschleppen!«

»Ja,« lachte der Herzog – »hier besiegt immer Einer den Andern – ich halte heute Fräulein von Lesdiguères für die Siegreichste in diesem Kreise!« –

»Das macht, weil sie eine schon halb überwältigte Festung vorfand,« fiel ihm der Marquis de Souvré ins Wort; »ich möchte nicht derjenige sein, der die Befehle für die Ausstattung des Hotel Biron überschritt!«

»Sollen denn die Bevollmächtigten eines königlichen Willens, der selten den kleinsten Aufschub gestattet, auch bedenken, welche Veränderung ein solcher Wille in vier und zwanzig Stunden erleiden kann?« sagte der Herzog von Rochefaucault.

[68] »Nun,« meinte Madame de Sablière, »die Nerven der Königin hätte ich mir abgehärteter gedacht. Die neue Herzogin von Lavallière wird ihr Hotel nur vier und zwanzig Stunden später beziehn, und Nichts wird unterbleiben, was hier eingeleitet ist. Wenn die Erschütterung vorüber, die Seine Majestät durch den Unfall der Königin erfahren, werden die Anstalten ihren alten Gang vorwärts gehn.«

»Darunter wird Niemand mehr leiden, als Madame de Lavallière selbst,« bemerkte der Marquis de Souvré; »in ihr möchte Seiner Majestät das größte Hinderniß zu besiegen haben.«

Alles horchte auf und blickte den Marquis erwartungsvoll an. Jeder war überzeugt, er wisse mehr; man wünschte, er theilte sich mit – doch schwieg er mit der überlegenen Miene, mit der er sich stets zu sichern schien, und geschäftig trat ein Kammerdiener von Madame an ihn heran und rief ihn zur Prinzessin.

Der König hatte sich erhoben. Obwol das obige Gespräch nur flüsternd vorging und durch hunderte von Menschen vom Könige getrennt war, so schwieg dennoch augenblicklich Jeder, als er sich erhob, und sein königlicher Blick die Versammlung überflog.

»Die Prinzeß de Lesdiguères hat gesiegt,« sagte der Herzog von Rochefaucault – »er nimmt Abschied von Madame und geht zur Königin!«

»O,« rief der Graf Guiche, »wie schwer mag es ihm werden, die einsam weinende Lavallière ohne Trost lassen zu müssen. Welche Widersprüche mögen sein edles, gefühlvolles Herz bewegen!«

»Sein Sie nicht zu gefühlvoll, Graf Guiche!« lächelte der Herzog. »Solch' hervorstechendesMitgefühl richtet die Blicke auf Sie – man macht Folgerungen – man glaubt Sie zu verstehen – genug, das sind alles Dinge, die ein junger [69] Mann, wie Sie, nicht gebrauchen kann. Nähern wir uns lieber jetzt – der König ist fort – Madame sucht ihre zurück gebliebenen Freunde.« –

Als Leonin spät in der Nacht die Zimmer der schönen Henriette von England verließ und sich endlich in den seinigen allein sah, wollte er es unternehmen, an Fennimor zu schreiben; da am andern Tage sein vertrauter Diener nach Ste. Roche gehen sollte, beladen mit den anmuthigen Schätzen, die Paris dem Reichthume darbot. Aber er suchte sich vergeblich dazu zu sammeln. Der König – Madame Henriette – sein eigenes Betragen – Fenelon – und vor Allen die junge Prinzessin von Lesdiguères traten mit Ansprüchen an seine Gedanken dazwischen, die er nicht abzuweisen vermochte. Er war nichts weniger, als zufrieden mit sich – er hatte es weder vermocht, sich dem neuen Tone anzuschließen, wie es seiner Eitelkeit genug gethan hätte, noch war er sich selbst getreu geblieben, den Zwecken und Absichten gemäß, die er verfolgen mußte, um Fennimor's Glück zu begründen. Die Ausbeute des Augenblicks hatte ihn allein in Anspruch genommen. Er war sich einer Menge Vorsätze und Einflüsterungen bewußt, die er mit innerlicher Heftigkeit verfolgt hatte, und deren Gelingen nothwendig eine andere Zukunft herauf führen mußte.

Er trat an das Fenster, um Luft zu schöpfen. Es war eine milde Nacht, wie sie der Winter Frankreichs zu erhalten weiß. Das Palais Crecy gestattete einen Blick auf die Gärten von Versailles. Die geschnittenen Bäume und Hecken behielten Körper und gaben Schatten, obwol vom Laube entkleidet, und der Mond zeichnete sie auf den zierlichen Parterres der Gärten, während über die dunkeln Bassins Schwäne segelten, als zögen sie den Sternbildern nach, die auf dem ruhigen Spiegel vor ihnen schimmerten. – Dahinter lag das große Schloß mit seinen vorspringenden Pavillons, mit allen Vorzügen, die der [70] Mondschein der Architektur verleiht, anscheinend in Stille versenkt, von keinem Lichtschimmer mehr erhellt.

»O,« rief Leonin, zur Ruhe gesprochen von diesem unerschütterlichen Walten der Natur, »wie ist Dein Bereich das einzig wahre Element für eine bessere menschliche Existenz! Wie findet man in Dir Harmonie und Gleichmaaß der gestörten Empfindung wieder – wie giebst Du uns unsern bessern Theil zurück, wenn in dem Bereiche der Menschen Alles verdrängt und verjagt wird, was in ihre angekünstelten Zustände störend eingreifen will! – Und doch haben sie Macht über mich,« fuhr er schmerzlich fort »doch ward ich von ihnen verführt und trachtete in ihnen unterzutauchen – so groß ist ihr falscher Schein!«

»Fennimor, mein unschuldiges reines Naturkind – wie würdest Du erstaunt Deinen Liebling anblicken und das Zeichen fühlen, das der Böse macht, um seine Opfer wieder zu erkennen! O, sende Deine Engel,« rief er, die Hände ringend, »damit ihre Thränen es auslöschen!«

Er blieb so stehen, mit einem Schmerze, der größer war, als ihn dieser Abend hatte verschulden können. Aber er strafte die Ahnung daran geknüpfter größerer Verschuldungen für die Zukunft, und Leonin schob die Schwäche, mit der er sich diesen Lockungen hingegeben, auf Rechnung ihrer Stärke. Er erkannte nicht, daß, wenn er einen Karakter gehabt hätte, er ihn gerade da hätte behaupten können, wo die verschiedensten Elemente Platz neben einander fanden. Er vergaß, daß Fenelon in der Einsamkeit seines Studirzimmers wahrscheinlich eben so war, wie er ihn vor dem Könige gesehn, und er hob jetzt die eitle, triviale Seite so stark hervor, nicht allein um sich damit zu trösten, sondern, weil ihr anmaßendes Hervortreten, ihr scheinbarer Glanz ihm am schnellsten imponirt hatte; weil er durch den Versuch, sich ihr anzuschließen, in seiner eignen Achtung verlor und diese auf dem falschen [71] Wege wieder zu erlangen trachtete, daß er sich das Maaß der Versuchung vergrößerte.

Wie aber halbe Selbstgeständnisse immer einen trüben Grund zurücklassen und die Mittel zu unserer Besserung verdecken, so fühlte Leonin auch jetzt keine Erquickung von seinem Selbstgespräche, sondern ein Zürnen mit der Außenwelt, und doch ein Verlangen nach äußerer Hülfe – und so entstand eine lange nicht empfundene Sehnsucht nach Fennimor; und wenn sie dies Gefühl auch nicht auf dem reinen Wege erreichte, der ihr gebührte, so führte es ihn doch zu ihr zurück – er verschloß das Fenster und eilte an seinen Schreibtisch. Hier lag ihr letzter Brief. – Dieses holde Reden mit ihm, was ihr Leben geworden war, diese rührenden, arglosen Liebesbeweise, diese Erinnerungen an jede Stunde, deren Wichtigkeit sie von ihm getheilt glaubte – wie trafen sie sein Herz, da er sie erst jetzt las oder früher übersehen hatte, weil er sich nicht gleich die Beziehungen zurück rufen konnte.

»Den Eudoxien-Thurm habe ich ganz herstellen lassen,« schrieb sie, »ohne daß man die Ueberreste der armen Gemordeten berühren durfte. Der Kamin ist geräumt, täglich erhellt ihn die Flamme, und der Altan ist nun auch ein schönes Plätzchen geworden! Wenn die Sonne scheint, trete ich hinaus und übersehe den Weg, den ich Dich zuletzt dahin eilen sah, und fühle dann an meinem Herzen einen Schmerz, der so wehe thut, wie die blutende Wunde der armen Eudoxia. Dann bete ich oft vor ihrem kleinen Betpulte und bitte Gott um ein frommes Herz, damit ich Dich nicht Deinen Pflichten entziehe, sondern stille harre, bis der Segen der Aeltern Dich zu mir zurück führt. – Wie viel Thränen mag hier die arme Eudoxia geweint haben. Wenn ich das kleine kunstreiche Pult betrachte, so denke ich oft, ich müsse die Spur ihrer Thränen noch darauf entdecken können; und als ich sie heute Morgen [72] wirklich entdeckte, erschrak ich fast; denn ich hatte vergessen, daß es meine eigenen waren.

Den Harfion hat mir ein Mönch aus der Abtei Tabor neu besaitet. Er lehrt mich die Stimmung und die eigene Weise, ihn zu spielen. Schon habe ich Fortschritte gemacht – da ich aber nur in Eudoxiens Zimmer spiele, so ist mein Fleiß nicht groß.«

In dieser Weise waren viele Blätter angefüllt, zierlich und fein geschrieben mit der eigenthümlichen Geradheit der Linien und Buchstaben, die ihren Schriftzügen fast eine Portraitähnlichkeit mit ihrem ganzen Wesen gaben. Leonin vertiefte sich in sie, und die nur verdeckt liegende Empfindung für sie wurde erweckt durch das süße kleine Wellengekräusel ihrer Worte. Er fühlte sich der Liebende wieder, und was er schrieb, trug den Karakter dieser Empfindung.


Als Leonin am andern Morgen sich anschickte zu seiner Mutter zu gehn, war er fester, wie früher, entschlossen, ihr jeßt selbst seine Verbindung mit Fennimor anzuzeigen und ihren Rath, ihren Beistand zur Ausgleichung dieser Verhältnisse aufzurufen. – Gehoben durch diesen Entschluß, fühlte er sich zufriedener, und sein Ausdruck gewann unwillkürlich an Ernst und Würde. –

Als er den kleinen Salon betrat, in welchem die Marschallin ihre Morgenstunden zubrachte, ruhte sie behaglich auf einem Armstuhle in der Mitte des Zimmers, dem Fenster zunächst, an welchem Mademoiselle Louise auf einer kleinen Erhöhung saß, in eine nebelartige Draperie gehüllt, das Haar halb aufgelöst und mit einigen Blumen phantastisch geschmückt. Vor ihr saß ein junger Mann mit Palette und Pinsel und [73] vollendete vor dem reizenden Originale ein großes Portrait der liebenswürdigen Louise. Die Marschallin überlief ihren Sohn nur mit einem Blicke und wußte gleich, es solle heut' Entdeckungen geben, die sie nicht hören wollte. Sie erhob daher ihre Stimme augenblicklich noch mehr als zuvor, um dem Sohne anzudeuten, daß sie inmitten einer Rede sei und reichte ihm blos lächelnd die Hand zur Bewillkommnung.

»Ich sage Ihnen aber, mein lieber Lesüeur, Ihre ewigen Grillen mit dem armen Lebrun sind aus der Luft gegriffen – er denkt nicht daran, Sie beim Könige verkleinern zu wollen! Gestern Abend noch sagte Seine Majestät, er habe von dem schönen Portrait gehört, das Sie von Mademoiselle Louise machten, und ich erhielt die Erlaubniß, es ihm präsentiren zu dürfen.« –

Der Eindruck, den Lesüeur von dieser Hoffnung erhielt, war sichtlich erheiternd. Er stand auf und neigte sich tief vor der Marschallin, und Leonin hatte nun Gelegenheit, sich dem berühmten Künstler zu nahen, dessen damals sehr bewunderte Bilder aus dem Leben des heiligen Bruno für das Karthäuserkloster in Paris, ihn zu einem Rival Lebrun's gemacht hatten, dessen glänzendes Genie Keinen neben sich dulden wollte.

Aber schon trug Lesüeur die Farbe der Krankheit, die seinem Leben ein frühes Ziel setzte, auf dem Antlitze. Seine Wangen waren eingefallen, und ein Paar kränklich rothe Flecke unter den Augen contrastirten, Unheil verkündend, mit der gelblichen Farbe der Haut. Doch konnte Niemand dieses edle Opfer unermüdlichen Fleißes ohne Antheil und Achtung betrachten. Diese seelenvollen, großen, schwarzen Augen schienen um den Mangel der physischen Kraft zu klagen, die der sprudelnde Geist zu seinen Schöpfungen begehrte. – Seine schlanke, magere Figur war frühzeitig gebeugt, seine Kleidung immer zu weit, und wenn auch sauber, doch zerstreut angelegt, ohne die [74] Verheerungen zu verbergen, welche schon von dem Vorschreiten der Krankheit zeigten. Seine Sprache war abwechselnd rauh, oder leise und schwach, die kleinste Veranlassung schreckte ihn auf und erfüllte ihn mit Einbildungen. Er hielt sich verfolgt und gekränkt, er mißkannte seine Erfolge und glaubte sich von Niemand geschätzt und gewürdigt. Auch that Lebrun Manches gegen, Nichts für ihn, welches ihm um so leichter durchzuführen wurde, als er der Modemaler geworden war, dessen Name die Menge von der Nothwendigkeit erlöste, selbst zu prüfen und ihr die Bequemlichkeit sicherte, eine Bewunderung zeigen zu dürfen, die sie nicht nöthig hatte zu beweisen; da der Name Lebrun für ihre fehlende Beurtheilung gut sagte.

Eben hatte Lesüeur der Marschallin geklagt, wie Lebrun ihn verfolge, und Wahrheit und Täuschung mengten sich krankhaft durch einander, was die kluge Frau, die herrschende Mode, Künstler und Gelehrte zu beschützen, mitmachend, mit voller Beredsamkeit in Lesüeur zu mildern gesucht hatte.

»Hier, mein Lieber,« sprach sie zu ihrem Sohne – »eilen Sie, die angenehme Bekanntschaft unsers berühmten Lesüeur zu machen und bewundern Sie dann das bezaubernde Bild von Mademoiselle Louise, welches wir ihm verdanken werden.«

Dies that Leonin mit der ganzen Freundlichkeit, die seinem wohlwollenden Herzen so natürlich war, und berührte dadurch das Gemüth des Künstlers wahrhaft erquickend; aber noch wohler that ihm das Entzücken, mit welchem Leonin das Portrait seiner geliebten Louise betrachtete, das, wenn auch im Geschmacke der Zeit etwas nebelartig und phantastisch aufgefaßt, doch keinem Zeitgenossen anders, als ein vollendetes Kunstwerk erscheinen konnte.

Er nöthigte Lesüeur, an seine Arbeit zurück zu kehren, und nahm an seiner Seite Platz, mit Interesse die fortschreitende Arbeit des Künstlers verfolgend.

[75] »Und dieser Mann, den Sie mit Recht so bewundern, mein Sohn,« – fuhr die Marschallin im trockenen Protektionstone fort – »können Sie denken, daß er mich den ganzen Morgen schon in Arbeit erhält, um ihm seine thörichten Einbildungen zu verjagen, weil er sich überredet, Lebrun sei Schuld, daß der König seine schönen mythologischen Bilder für das Hotel Lambert nicht erlaubt hat, im Louvre auszustellen?«

»Ach, Madame,« seufzte Lesüeur leise – »Euer Gnaden sind so gut, daß Sie von der Bosheit der Menschen keine Vorstellung haben – der Herzog von Rochefaucault war ja schon völlig von der Einwilligung des Königs überzeugt, als er plötzlich über die ganze Sache schwieg und endlich die Achseln zuckte. Was konnte das Anderes bedeuten, als daß Seiner Gnaden mir den Grund verschweigen wollten?«

»Wie das nun aus der Luft gegriffen ist und eigentlich Nichts beweist!« fuhr die Marschallin fort. »Der Herr Herzog kann ja so viel verschiedene Gründe gehabt haben, zu schweigen, wie Seiner Majestät, es abzuschlagen!«

»Ja,« sprach Lesüeur heftig, »aber le Beaume, der Kammerdiener Seiner Majestät, sagte mir, Lebrun habe an dem Tage eine Audienz bei dem Könige gehabt. Da wird Seiner Majestät ihn über den Werth der Bilder befragt haben, und Lebrun wird sie der Ehre unwerth erklärt haben, im Louvre ausgestellt zu werden.«

»Nun, weiß Gott,« rief die Marschallin lachend, »wenn solch' ein eigensinniger Künstler Recht haben will, dann wird ihm die gesunde Vernunft selbst dienstbar, seine tollen Behauptungen zu unterstützen!Klingt es nicht, als ob er Recht hätte? Und doch ist es nicht wahr, das möchte ich beschwören – Und ich will es heraus bekommen, verlaßt Euch darauf! Und ist es so, schaffe ich Euch Genugthuung – der Gram soll nicht auch noch an Eurem Herzen nagen!«

[76] »Ach,« rief Lesüeur, »es hat mein Herz so tief getroffen, daß Hilfe zu spät kommt, fürchte ich. Ich bin öffentlich lächerlich damit gemacht, verachtet und dem Hofe bloß gestellt. Denn schon hatte sich das Gerücht dieser Ehre verbreitet, und ich hatte Glückwünsche darüber empfangen. Wollte Gott, ich wäre weit weg von Paris! Die Steine auf der Straße sehen mich an, und ich zittere, irgend wem zu begegnen, der mich kennt!« –

»In Wahrheit, Lesüeur,« erwiederte die Marschallin, als der kranke Künstler ermattet sich in seinem Stuhle zurücklehnte, und große Schweißtropfen seine Stirn bedeckten – »es wäre besser, Ihr verließet auf einige Zeit Paris; und statt zu arbeiten, genösset Ihr etwas die Landluft, die Euch, trotz der vorgerückten Jahreszeit, bei der Milde dieses Winters zusagen würde. – Geht auf meinen Plan ein, und ich gebe dem Intendanten Befehl, auf meinem Schlosse Moncay Alles zu Eurem Empfange bereit zu halten. Dort gehet und fahret spazieren und begleitet die Jäger zur Jagd! Ihr seid in Wahrheit krank und habt eine Krankheit, die Paris, das Louvre und Lebrun heißt, und die Ihr nur los werdet, wenn Ihr ihr entlauft!«

Lesüeur war tief bewegt – zu sehr, um seiner Stimme vertrauen zu können. Er arbeitete deshalb still fort, und wenn er den engelschönen Ausdruck von Louisens theilnehmenden Augen zu kopiren vermocht hätte, mußte dies Bild allein ihn unsterblich machen.

Leonin aber fühlte sich bezaubert von dem Talente des Künstlers, und je mehr er sich überzeugte, Louise selbst in all ihrer Schönheit und Jugend und dem rührenden Ausdruck ihrer Seele trete aus der Leinwand hervor, um, entfernt von dem Originale, Jedem zu sagen, welch' ein reizendes Wesen sie sei – je glühender fühlte er das Verlangen, so Fennimors Bild zu besitzen; und die Hoffnung, auf diese Weise seiner Mutter [77] einen vortheilhaften Eindruck zu geben, unterstützte immer entscheidender sein eigenes Verlangen.

Belebt von diesem Zwecke, suchte er ein Gespräch mit Lesüeur einzuleiten und sein Vertrauen zu gewinnen; auch war dies nicht schwer. Krankhaft reizbar, war er eben so empfänglich für eine edle Behandlung, der seine eigene Richtung vollkommen entgegen kam. Er zeigte eine feine, künstlerische Bildung, ein vollkommenes Studium der klassischen Kunst, und obwol er Frankreich nie, Paris kaum verlassen hatte, kannte er doch aus Kupferwerken und Copien die italienischen Schulen, betete Raphael als seinen Schutzheiligen an und glaubte vorzüglich in diesen letzten mythologischen Bildern die Erfolge seiner Studien dargethan zu haben.

Als die Sitzung aufgehoben war, begleitete ihn Leonin und beredete ihn, sein Zimmer zu betreten, unter dem Vorwande, seine Equipage zu bestellen, um den sichtlich erschöpften Künstler nach Hause bringen zu lassen. – Hier kam er auf den Plan der Marschallin zurück, daß Lesüeur aufs Land gehen solle – und schlug ihm endlich vor, Ste. Roche statt Moncay zu wählen, und abwechselnd dem Umherschwärmen im Freien und einer Arbeit zu leben, die er ihm dort aufzutragen dächte.

Lesüeur war hingerissen von Leonins Betragen – voll Sehnsucht, Paris zu verlassen. Das Portrait der Mademoiselle Louise war fertig – vorläufig hielt ihn Nichts – und ehe sie sich trennten, hatte Leonin sein Wort. Die Abreise des Kammerdieners ward einen Tag aufgeschoben, damit er Lesüeur mit aller Sorgfalt, die seine Gesundheit erforderte, nach Ste. Roche begleiten könnte.

»Was Sie dort für Arbeit finden, wird Ihnen ein Brief mittheilen, den Sie unterwegs lesen werden,« setzte Leonin lächelnd hinzu – »seien Sie sicher, der Gegenstand wird Sie begeistern!«

[78] In diesem Briefe verläugnete er Fennimor als seine Gemahlin nicht; doch mit dem ausdrücklichen Verlangen, hierüber noch das größte Geheimniß zu bewahren.

Erst, als er Alles zu dieser Reise bei seinem gewandten Kammerdiener eingeleitet hatte, fühlte er sich geneigt, zu seiner Mutter zurück zu kehren.

Die Marschallin hatte seine Rückkehr nicht erwartet und war einen Moment unangenehm davon überrascht; denn sie sah es ihm an, er bestand hartnäckig auf seinem Vorsatze, ihr Vertraun zu erzwingen; und sie mußte Anderes ersinnen, ihn abzulenken.

»Nun, mein Lieber, kommst Du jetzt, Dir gnädige Strafe von Deiner Mutter zu holen?« rief sie ihm entgegen.

»Wenn meine geliebte Mutter die Gnade hat, mir zu sagen, womit ich sie verschuldet habe,« rief er arglos – und von dem leisesten Lächeln dieses spröden Mundes wie bezaubert, setzte er sich, mit der größten Zärtlichkeit in Blick und Miene, an ihre Seite.

»Nun,« sagte die Marschallin, mein Tadel wird nur die Bestätigung davon sein, daß Frankreich das vollkommenste Land der Erde ist; daß man alle Länder, alle Höfe bereist haben kann, und doch an dem hiesigen Hofe als ein Neuling erscheinen und die Schule von Vorne durchmachen muß. Sie sah bei diesen Worten anscheinend ruhig vor sich nieder; doch entging es ihr nicht, wie Leonin's Antlitz mit Purpur überzogen ward, und er die empfindlich glänzenden Augen unruhig auf und nieder schlug.

»Ich bin bekümmert – lassen Sie mich hinzusetzen, erstaunt, zu erfahren, daß ich diese Betrachtung auf mich anwenden soll!« erwiederte er endlich – »fremd habe ich mich allerdings bei Hofe noch gefühlt; aber dies schien mir keine Verschuldung oder doch eine solche, die alle Andern gegen mich theilten.«

[79] »Das war es eben, mein Lieber! Sie lassen sich imponiren – Sie zeigen keine Haltung – Sie sind nicht bei sich und reflektiren sich selbst – mit einem Worte, Sie haben nichts Vornehmes in Ihrer Art und Weise! Ein Vornehmer, mein Lieber, muß nie in den Fall kommen, mit irgend Etwas fremd zu sein. Er muß überall mit ruhiger Gleichgültigkeit zu Hause scheinen – er muß mit sich selbst ein bestimmtes, von den Grazien des Anstandes gelehrtes Gefallen treiben, das ihm Unterhaltung und Beschäftigung gewährt und das Publikum zu ihm heranzieht, dessen Theilnahme er benöthigt ist. Sie müssen nie daran denken, sich dem Einen oder Andern anzuschließen. Sie, Sie selbst müssen da stehen, daß man sich an Sie anschließe! Dazu gehört, daß Sie zu Anfange sich kalt in sich zurückziehen – daß Niemand erfahre, ob oder was für Meinung Sie haben, daß man sich Ihnen nähert, sie zu erfahren; dann werden Sie Sicherheit bekommen, Ihre Meinungen auszusprechen, und diese müssen entscheidend, untrüglich und Alles überrennend sein. Sie müssen damit das Programm vertheilen, wie man sich gegen Sie zu verhalten hat, und in welcher Weise Sie sich verhalten wollen. Ob dabei Ihrerseits Irrthümer nachzuweisen sind, ist vorläufig gleichgültig – Irrthümer sind besser, wie Unsicherheit; und stehen Sie erst fest und wollen Etwas ändern, so steht Ihnen dann das Recht zu, jede Laune einzuschalten.«

Vielleicht war es Fennimor's guter Engel, der herbei eilte und mit seinen Thränen das neue Zeichen wegzuwischen trachtete; denn Leonin fühlte es kalt über sein Herz gleiten, als er die Rolle vor sich entwickelt sah, die er hier lernen sollte, den Beifall seiner Mutter zu gewinnen.

»Madame,« sagte er kalt, »ich fürchte, ich werde nie ein vornehmer Mann in Ihrem Sinne!«

»Das bilden Sie sich nur ein, mein Kind,« erwiederte die Marschallin unerschüttert – »Sie werden in kurzem einsehen, [80] daß dies der einzige Weg ist, sich in der Masse hervorzuheben, daß es Alle so machen, die, wie Sie, einen vornehmen Namen zu behaupten haben; und ich weiß sogar bestimmt, Sie werden diesen Weg gehn, ja, Sie würden ihn entdeckt habenohne meinen Rath. Doch würde ich ungern Zeuge Ihres Umhertappens danach gewesen sein; auch hätte es eine kleine Verspätung veranlassen können, so daß man über Ihre Erscheinung abzuschließen Lust gehabt hätte; und so Etwas ist nie wieder gut zu machen.«

Obgleich Leonin mit seinem Betragen nicht zufrieden gewesen war, so lag dies, wenn auch zum Theil von seiner Eitelkeit angeregt, doch mehr in den Vorwürfen, die er sich machte, ihr mehr nachgegeben zu haben, als er seiner bessern Einsicht zugestehen durfte. Hier aber wurde er plötzlich aller Prädikate beraubt, die er mit angeborenem Standes-Stolze sich gesichert glaubte – und er versuchte vergeblich seine bessere menschliche Ueberzeugung gegen die Streiche, die sein Hochmuth empfing, zu Hülfe zu rufen. Die Marschallin behielt Zeit, fortzufahren:

»Sie hatten eine Unruhe in Ihren Bewegungen, einen Wechsel von Verbindlichkeit und Mißlaune in Ihren Mienen, Sie ließen sich ohne Wahl und Nachdenken bald Diesem, bald Jenem vorstellen – Herr von Fenelon ist bei weitem unter Ihrem Range, und ich habe Herrn von Dreux Vorwürfe gemacht, es zugelassen zu haben. Dem Könige haben Sie eine Theaterphrase geantwortet – die Erwiederung an Madame war ganz unüberlegt; und dem Könige antwortet man überhaupt nie, ohne eine bestimmte Frage erhalten zu haben. Genug, mein Lieber – meine Absicht, Ihnen größere Freiheit, eine sicherere Haltung durch diese Reisen zu verschaffen, da Ihr Naturell etwas Zurücktretendes hat, scheint sich noch nicht zu bestätigen. Man könnte denken, Sie wären in der letzten Zeit in keiner guten Gesellschaft gewesen – wenigstens glaube ich sicher, unmittelbar [81] aus der Gewöhnung dieses Hauses in unsere Zirkel übergehend, würde es Ihnen nicht an einer taktvolleren Haltung gefehlt haben; – obwol ich gern zugeben will, daß der Anblick unseres erhabenen Monarchen und dieser ihm zugehörenden Umgebungen ganz geeignet ist, zu erschüttern und aus dem Gleise zu bringen.«

»Ich habe hiervon in dem Maaße, wie Sie es voraussetzen, Nichts empfunden« – erwiederte Leonin und versuchte, seine von Zorn und Empfindlichkeit bebende Stimme zu mäßigen. »Wenn Euer Gnaden so wenig Ehre mit mir einlegen, wie dieser erste Versuch befürchten läßt, so ist es besser, ich folge meiner ohnehin stärkeren Neigung, mir selbst zu leben, und verlasse einen Schauplatz, dessen Anforderungen ich so wenig zu verstehen scheine!«

»Nun, wahrlich,« lachte die Marschallin hell auf – »ich freue mich, daß Sie nicht ganz das wilde Blut der Crecy verläugnen und bei der ersten kleinen Züchtigung Ihrer Eitelkeit gleich über die Leine schlagen und davon laufen wollen. Das ist mir lieb, und wenn Sie selbst Ihre eigne Mutter für angethane Beleidigung in die Schranken rufen, soll mich das nicht verdrießen. Eine Mutter ist so oft das Opfer ihrer Liebe für die Kinder ihres Herzens, daß sie selbst vor den Züchtigungen nicht zurückbeben darf, die diese Kinder ihr geben möchten. – Du zürnst doch nicht ernstlich mit Deiner Mutter, Leonin?« rief sie liebevoll scherzend und reichte ihm die Hand.

Diese Art und Weise, von der größten Strenge und Härte plötzlich in die Zärtlichkeit einer Mutter überzugehn, war fast unwiderstehlich für Leonin. – Sein Herz fühlte sich von dem Kampfe des Unwillens erlöst, das Blut floß wieder warm daraus hervor, und wenn seine Ueberzeugungen gegen ihre scharfen Geißelungen sich fest verhielten, wurden sie doch in dem Augenblicke verdeckt, als diese Weichheit hervortrat, die nur [82] Anforderungen an seine Liebe zu machen schien und ihn anregte, jede unsanfte Berührung von der zärtlich Hingegebenen abzuhalten.

»O, meine Mutter,« rief er, ihre dargereichte Hand küssend, »wer könnte je Ihre ewig gleiche Liebe, Ihre unendliche Ueberlegenheit verkennen? Vergeben Sie meine Aufwallung, die so natürlich ist bei der Befürchtung, Ihnen mißfallen zu haben; doch lassen Sie mich hinzufügen, ich fürchte in Wahrheit und nicht aus Empfindlichkeit, wie es Ihnen eben schien, ich werde die Aufforderungen nie erfüllen können, die hier mit der Entäußerung unserer ganzen Ueberzeugung, an uns ergehen.«

»Mein Kind, stelle Deine Ueberzeugungen nur erst Deinem Range und Deinen Ansprüchen gemäß fest, so wirst Du Nichts von ihnen aufzuopfern nöthig haben. – Hierüber bist Du noch im Unklaren, daher entsteht der Widerspruch, der Dich reizt und den Du – von kleinen jugendlichen Phantasien abgezogen – nicht kräftig genug beseitigest.«

»Nennen Sie das nicht jugendliche Phantasien, meine Mutter!« unterbrach sie hier Leonin hastiger, als sie es erwartet hatte – »worauf Sie hindeuten mit diesen Worten – es ist der ernste, heil'ge Kern meines Lebens, den Sie mütterlich schützen müssen, wenn Sie Ihren Sohn glücklich sehen wollen!«

Er hoffte einen großen Schritt gethan zu haben; er erwartete jetzt, sie werde ihm zu Hülfe kommen ihr endlich sein ganzes Verhältniß offen darlegen zu können; aber die Marschallin zürnte sich und ihm, daß es so weit gekommen war, und dachte nur daran, ihn entweder zurückzudrängen oder seine Zuversicht zu erschüttern. Ehe sie indeß das Geeignete sagen konnte, sank Leonin, verführt von ihrem Stillschweigen, ihr zu Füßen.

»Ich weiß,« – rief er, tief bewegt – »Sie erfuhren Alles! Souvré hat Ihnen Nichts verschwiegen – er durfte [83] es auch nicht! Habe ich auch schnell, vielleicht voreilig gehandelt, so habe ich doch Nichts gethan, was mich verunehrt; und das neue Verhältniß sichert mir Glück und die schönste Zukunft!«

Das Herz der Marschallin schwoll auf von Zorn. Sie mußte ihre Augen niederschlagen, um der Wichtigkeit dieser Mittheilung nicht Geltung zu verschaffen durch das Funkeln des Unwillens, dessen sie sich bewußt war.

»Nehmen wir diese Sache, über die der Marquis de Souvré mir allerdings Einiges mitgetheilt hat, nicht zu wichtig, mein Sohn! Es wäre besser gewesen, Du hättest es bei dem bewenden lassen, was ich darüber durch Souvré erfuhr. Es ist kein passender Gegenstand, um ihn mit Deiner Mutter zu verhandeln, die stets eine Frau von so reinen Sitten und so untadelhaftem weiblichem Gefühle war, daß sie selbst die Erzählungen von den Verirrungen ihres Geschlechtes in jenen niederen Ständen von sich abzuhalten wußte. Wenn ich gewünscht hätte, Deine Sitten auch in dieser Beziehung vollkommen rein erhalten zu sehen, so habe ich doch alle Schwächen einer Mutter, die nicht allein zum Verzeihen geneigt ist, sondern den Verführungen, die dazu hinlockten, gern einen bedeutenden Theil der Schuld beilegt. – Ich darf Dir übrigens den Trost geben, daß Dein Vater über diese Jugendthorheit gänzlich in Unkenntniß erhalten ward, und daß es uns auch gewiß leicht werden wird, ihn ferner darin zu bewahren. Seine ungemessene Heftigkeit würde, im Falle der Entdeckung, Dir und mir unangenehme Stunden machen.«

So sehr Leonin sich auch mehrere Male bestrebte, die Worte seiner Mutter zu unterbrechen, so wollte ihm dies doch nicht gelingen, und er mußte den ganzen Inhalt ihrer Ansicht über sein Verhältniß erfahren, und damit den vollen Umfang seiner unglücklichen Stellung erkennen.

[84] »Um Gotteswillen, theure Mutter, in welchem Irrthume sind Sie über dies Verhältniß, daß Sie es so herabwürdigend bezeichnen können! Hat man Ihnen denn nicht gesagt, welcher Heiligung es genießt – und wie es dadurch von jedem Makel der Unsittlichkeit befreit blieb?«

»Ich bitte Dich, mein Kind,« sagte die Marschallin, nach Fassung ringend, »erwähne die sonderbare Farce nicht, mit der Deine jugendliche Unerfahrenheit betrogen ward. – Obwol es empörend ist, kirchliche Formen, wenn es auch nur die unzureichenden jener Ketzersekte sind, da anzuwenden, wo selbst unsere heiligen Segnungen ihre Zulassung völlig ungesetzlich machten, so müssen wir jetzt doch Gott danken, daß weder Dein Alter, noch die Anwesenheit Deiner Aeltern den kleinsten Schein einer bindenden Verpflichtung auf diese unerlaubte Prophanie werfen können; denn sie macht wenigstens ernstere Schritte unnöthig, Dir Deine Freiheit wieder zu geben. Doch bitte ich Dich, wenn Du jetzt daran denken wirst, diese Verhältnisse zu beseitigen, daß dies mit dem Anstande geschieht, den Personen so hohen Ranges auch bei solchen Abfindungen sich selbst schuldig sind. Du hast Vermögen genug, dies ausreichend auszuführen, und selbst meine Kasse würde Dir offen stehen.«

»Nein, nein, ich ertrage es nicht!« schrie Leonin hier wie im Wahnsinne auf. – »Hören Sie mich! Um Gottes Willen, hören Sie mich, wenn Sie mich nicht tödten wollen! Sie sind im Irrthume, in einem schrecklichen Irrthume! Lassen Sie mich Ihnen Alles, Alles erzählen, und dann lassen Sie mich fort von hier, wo ich nimmer hinpassen werde, verworfen von Allem, was hier Geltung hat!« –

»Gemach, mein Sohn!« unterbrach ihn die Marschallin – »Sie verfehlen den Ton mit mir! – Mademoiselle Louise, stehen Sie auf und erinnern Sie Ihren Bruder, daß Sie [85] gegenwärtig sind, und daß diese Unterredung aufhört, passend zu sein für Ihre Anwesenheit! – Lassen Sie uns jede Erörterung vermeiden, da sie uns nothwendig verstimmen muß!« –

»O, das ist kein Wort für eine Angelegenheit, die mein Lebensglück bedingt! – Theure Mutter, entziehen Sie sich mir nicht so! – Louise, meine Schwester, bitte für Deinen Bruder, wenn Du ihn nicht unglücklich und zerfallen mit sich und allen seinen Lebensverhältnissen sehen willst!« –

Louise warf sich ihm laut weinend in die Arme und umschlang ihn, als wolle sie mit ihrer zarten Gestalt ihn decken gegen jeden Angriff auf sein Glück. »Sei ruhig, Leonin – Du wirst, Du kannst nicht unglücklich werden! Nein, nein, unsere Mutter wird Dich schützen – retten!« –

»Können Sie es verantworten, solche Scene veranlaßt zu haben?« sagte die Marschallin, sich unmuthig erhebend. – »Louise, Du vergißt, daß Dich Fräulein von Lesdiguères erwartet.«

»Gehen Sie so nicht von mir!« rief Leonin, die weinende Louise aus seinen Armen sanft in einen Stuhl setzend – »meine Ehre, meine Pflicht befiehlt mir, Sie um Gehör zu bitten; denn der größte Theil Ihres Unwillens beruht auf Ihrer Unkenntniß.«

»Heute nicht, mein Sohn,« rief die Marschallin plötzlich wie erschöpft – »ich fühle, ich bedarf der Ruhe – ich kann von Ihnen diese Schonung fordern!« –

»Befehlen Sie über mich! Wenn Sie mir diese Unterredung nicht versagen und bis dahin Ihr Urtheil zurückhalten wollen, werde ich voll Geduld und Ehrfurcht abwarten, bis Sie sich geneigt fühlen, mich anzuhören.«

Obwol die Marschallin hierauf nichts erwiederte, mußte Leonin schon ihr Schweigen für eine Gunst ansehen, woran [86] eine leise Hoffnung zu knüpfen, ihm der einzige Trost war bei der entsetzlichen Niederlage, die er erfahren. –

Aber diese Unterredung, deren Ansetzung er mit so viel Unruh' erwartete, erfolgte nicht. Eine Anregung von seiner Seite mißglückte um so mehr, da sie anzudeuten wußte, wie sie den Gegenstand längst für erledigt hielte und für zu unbedeutend, um darauf zurück zu kommen. In eben dem Maaße ward der alte Marschall dringender mit einer von ihm lebhaft gewünschten Vermählung seines Sohnes; und obwol die Marschallin die Grundsätze gern vor ihrem Sohne entfalten hörte, die seinen Hoffnungen tödtlich werden mußten, so wußte sie sich doch stets höchst geschickt das Ansehen eines vermittelnden Schutzes zu geben und so in der Stille Leonin's Dank zu verdienen.

Seine öffentlichen Verhältnisse hatten indeß ganz die Wendung genommen, die, seiner Eitelkeit zusagend, die Vorwürfe der Marschallin zu entkräften schienen. Täglich öffnete sich ihr Hotel für die ausgezeichnete Gesellschaft, die sie zu empfangen pflegte. Leonin war den Personen, aus denen der Hof bestand, bekannt geworden, und ohne daß er es gewahr wurde oder doch sich eingestehen wollte, war das Bild, das seine Mutter von einem vornehmen Manne entworfen hatte, in seine Phantasie übergegangen, und drückte sich nach und nach in seinen Formen aus. Er fühlte sich dabei wohler, den Verhältnissen gegenüber erleichtert, und nicht nachfragend, wohin dieser Weg ihn führen müsse, lebte er, wie der Augenblick es ihm bequem finden ließ.

Endlich wurde große Cour und ein darauf folgendes Fest bei der Königin angekündigt, welche seit dem erwähnten Unfalle bei dem Hotel Biron sich unwohl gefühlt hatte, und ein Gegenstand der zartesten Aufmerksamkeit des Königs gewesen war. Man sprach zwar von dem Verhältnisse zur Lavallière, aber nur andeutend – und mit einer Schonung, die diesem [87] Verhältnisse einen Karakter romantischer Empfindsamkeit – einen Grad von Ehrbarkeit verlieh, an dem die Gewalt zu erkennen war, die der König selbst über die feststehendsten Grundsätze auszuüben vermochte, die man aufhörte der gewöhnlichen Prüfung zu unterwerfen, wenn sein Wille sie gestaltete. Das demüthige und bescheidene Verhalten der Lavallière trug hierzu bei – sie war immer ablehnend gegen jede Auszeichnung und setzte die Geduld des Königs täglich auf Proben, die nur seine anbetende Liebe gegen sie überwand. Man sagte sich leise, sie würde bei dieser Cour zuerst als Herzogin erscheinen, wozu der König sie vor kurzem fast mit Gewalt erhoben hatte, die Ausstattung des Hotels Biron dieser Auszeichnung hinzufügend; man wußte, daß die Königin von den Liebesbeweisen ihres Gemahls gerührt, ihre Einwilligung gegeben hatte, sie mit den ihr zustehenden Vorrechten als Herzogin zu empfangen.

Diesem Schauspiele drängten sich nun die Hofleute, welche berechtigt waren bei der Königin zu erscheinen, in großer Anzahl entgegen, und es war kein kleines Geschäft, die Ordnung herzustellen, die Jedem den Platz anwies, den sein Rang erforderte.

Der Marschall hatte sich gleichfalls herausgerissen, um wenigstens ein Mal den geliebten Sohn vor den Augen seines Königs zu sehen. Er war mit ihm vorangefahren, und die Marschallin und Louise, die ihnen folgten, noch nicht eingetroffen, als die voraneilenden Cavaliere erschienen und Anna von Oesterreich, die Mutter des Königs, verkündigten, welche unmittelbar darauf mit dem größten Pompe eintrat, von ihrem ganzen Hofstaate gefolgt. – Die Zeit seit dem Tode Mazarin's hatte die Eindrücke gemildert, die damals an ihren Anblick die gehässigsten Empfindungen knüpften. Die ungemeine Hochachtung, die kindliche Ehrfurcht, mit welcher der König seine Mutter behandelte, ließen keinem Andern eine Wahl seines Verhaltens. [88] Anna von Oesterreich, welcher es nicht an feinem Verstande fehlte, und deren unglückliche und ungewöhnliche Verhältnisse, als Gattin Ludwigs des Dreizehnten, Entschuldigungen zuließen, wußte jetzt eine so würdevolle Stellung zu behaupten, daß sie bei allen Angelegenheiten ihrer Kinder, wie die des Hofes, einen wirklich mütterlichen Rang einnahm und ihnen zur Ausgleichung ihrer Streitigkeiten auf verständige Weise behilflich war.

Auch jetzt hatte sie die Königin zu ihrem milden Verfahren gegen Madame de Lavallière beredet, und die edle, sanfte und zärtlich liebende Maria Theresia hatte den neuen Schmerz zu bekämpfen gesucht, immer hoffend, so sich den König dereinst zurück zu führen. – Wohlmeinend eilte daher Anna ihrem Sohne zur Königin voran, diese durch ihren Zuspruch und ihre Gegenwart zu stützen. Sie begrüßte deshalb die zahlreiche Versammlung nur vorübergehend; als sie aber den Marschall Crecy-Chabanne erblickte, dessen auffallende Erscheinung nicht leicht übersehn werden konnte, blieb sie stehen und nickte ihm wohlwollend zu.

»Das ist brav, Marschall, daß ich Euch hier am Hofe eben so in den vordersten Reihen finde, als früher in der Schlacht!« rief sie mit starker, herzlich klingender Stimme und näherte sich ihm; aber längst vom Vater weg auf Leonin blickend, dessen jugendliche Schönheit dies vollkommen rechtfertigte. »Doch habt Ihr auch, wie ich sehe, eine Stütze mit Euch geführt, die ausreichen wird, wenn Ihr ermüdet. – Ich heiße Euch willkommen, junger Mann! Man sagt mir, Ihr seid nicht umsonst gereist, Ihr habt Euren Verstand entwickelt; das ist zu loben und wird nie von Seiner Majestät dem König übersehen – auch ich werde mich dessen erinnern.«

»Lassen Euer Majestät ihn sich empfohlen sein!« rief der Marschall, seiner alten Herrin gegenüber hoch erfreut – »ich [89] hoffe, er soll den Namen nicht verunehren, den Eure Majestät so oft ausgezeichnet haben.«

»Ja, ja, Marschall, wir haben viel zusammen Rath gehalten,« fuhr die Königin fort, angenehm durch ihn an ihre Regentschaft und Macht erinnert – »und immer wart Ihr ein Brausekopf, der, den Degen in der Hand, die Scheide weg warf – dafür suchtet Ihr sie aber auch nicht früher wieder, als Eurer Königin Recht geschah.« –

»Wer durfte auch das Glück, Euer Majestät dienen zu können, anders ehren? War doch das gute Recht immer auf unserer Seite.« –

»So war es!« erwiederte Anna, »und ich verstand es Euch zu lohnen, nicht wahr? Das eigne, liebste Hoffräulein, Mademoiselle Soubise, mußte Euch die Brautkrone flechten.« –

»Euer Majestät wußten immer vollkommen richtig, so wichtige Angelegenheiten zu leiten. Ich denke die Namen unserer gleich alten Häuser haben sich stets gut nebeneinander ausgenommen, und ich war stolz darauf, sagen zu können: diese Wahl hat meine Königin selbst getroffen!« –

»Ja,« lachte Anna von Oesterreich, »wir hielten etwas auf unsern Marschall! Und fast habe ich Lust, bei dem Sohne fortzusetzen, was mir bei dem Vater so gut gelungen. Wie ist es, junger Mann – ich hoffe, Ihr seht die Schönheiten unseres Hofes nicht als kalter Zuschauer?« –

»Wer könnte an diesem Hofe kalter Zuschauer bleiben, da jeder Tag uns eine neue erhabene Vereinigung unvergänglicher Schönheit und edler Geistesbildung darbietet? Zu den Interessen des eignen Herzens behält hier Niemand Zeit!« –

»So!« erwiederte die Königin, nicht anstehend, diese schnell hervorgebrachte Antwort als einen Tribut für sich anzunehmen – »nun, dann will ich schon für Euch Zeit finden und die Wahl besorgen!«

[90] Leonin schwieg – der Marschall aber sprach seine Freude, sein Entzücken so laut aus, daß die Königin, über den alten Kriegshelden wohlgefällig lachend, ihn verließ und in die inneren Gemächer verschwand.

Das Ende dieser Scene hatte die Marschallin, die an Louisens Seite indessen die Zimmer erreicht hatte, mit angehört, und auf ihrem Platze gefesselt, konnte sie nicht allein beobachten, sondern behielt auch Zeit, augenblicklich darnach ihren Plan zu entwerfen. In diesem Augenblicke ward der König gemeldet, und die Königin verließ an der Seite ihrer Schwiegermutter die inneren Gemächer, um ihren Gemahl in dem Audienzsaale zu empfangen.

Hier sah Leonin die Königin zuerst, und sein Herz war mit diesem ersten Blicke ihr für immer gewidmet.

Maria Theresia, die Tochter Philipps des Vierten von Spanien, ward von allen Personen, die ihr näher standen, mit der größten Hingebung geliebt, und rechtfertigte durch ihren sanften und edeln Karakter vollständig diese Empfindung. – Sie würde schön gewesen sein, wäre sie größer gewesen; denn ihr Gesicht ward bloß durch etwas zu starke Lippen, welches ein Familienzug war, in seiner sonst vollständig regelmäßigen Form gestört. Bewundernswürdig war besonders ihr schönes blondes Haar und der damit verbundene feine Teint von blendender Weiße und Zartheit. Ihre Augen waren blau, groß, von klugem, lebhaftem Ausdrucke, und unterstützten den Anstand und die Würde, die ihr bei ihrem öffentlichen Erscheinen vollkommen zu Gebote standen. Die leidenschaftliche Liebe, die Maria Theresia für ihren Gemahl empfand, hielt alle Prüfungen aus, die das abschweifende Gefühl des Königs ihr auferlegte, und sicherte diesem Verhältnisse eine große Innigkeit und eine achtungsvolle Behauptung des Anstandes; da der König immer gern und voll Ehrerbietung zu einer Gemahlin zurückkehrte, die [91] niemals Gefühle zu ertrotzen suchte, weil sie dazu Rechte besaß, und deren Vorwürfe fast nur in der Erschütterung bestanden, die mit ihrer Freude, ihrem Glücke bei seiner Wiederkehr hervortrat. Aber der tiefe Schmerz, den ihr unerwiedertes Gefühl ihren einsamen Stunden aufsparte, zeigte den wenigen Vertrauten, die ihr als Zeugen blieben, wie heftig sie zu leiden vermochte.

Leonin hatte von diesen Verhältnissen nur eine allgemeine Kenntniß. Der König imponirte Allen, was selbst bis in die vertraulichen Mittheilungen seiner Hofleute hinein, bemerkbar war. – Seine Liebe zur Lavallière war die erste hervortretende Empfindung dieser Art; vielleicht überwältigte sie wirklich die Meinung durch ihre Wahrheit, die sie auch jetzt noch jedem Forscher über Ludwigs Leben zu dem einzigen Gefühle seines Herzens erheben muß. Vielleicht war es auch mehr noch die Furcht und Anbetung, die der König einzuflößen wußte – genug, es wurden nur Andeutungen darüber lautbar, und man mußte selbst sehen, um sich das Ganze zusammenstellen zu können. –

Als der König eintrat und in der Mitte beider Königinnen zu den Zimmern seiner Gemahlin zurückkehrte, schien er ein ganz Anderer, als Leonin ihn gesehen; denn hier war er nur König, und seine hohe gebietende Stirn, seine ernsten geistvollen Blicke schienen das Diadem anzudeuten, das unsichtbar mit seinem Nimbus ihn umschwebte.

Die Königinnen, obgleich beide mit der vollendetsten königlichen Würde und mit dem Schmuck ihres Geschlechtes ausgestattet waren, gingen doch so unbemerkt neben Ludwig einher, als ob sie bloß die Stützen seiner schönen Hände wären. Leonin sah, daß sein Vater die Farbe änderte, und sein Gesicht ein Paar Zuckungen erhielt, womit er Rührungen zu bemeistern pflegte, als der König vorüber ging, den auffallenden Greis [92] mit seinem Adlerauge streifte und kaum merklich mit dem Kopfe nickte. Leonin ging es fast nicht anders; denn Nichts ergreift uns so, als unsere Eltern gerührt zu sehen. – Wir haben einen Glauben an ihre Festigkeit und gedenken nicht der Zeit, wo sie nicht ausreichte, von den Eindrücken jener überboten, wo sie unsere jugendliche Schwäche stützte. – Sie von dieser Festigkeit verlassen zu sehen, macht sie uns jünger, bringt uns ihnen näher; und indem es unsere Zärtlichkeit durch die Sorge für sie erhöht, erhebt es die Wichtigkeit der Veranlassuug. Der König bedurfte keiner äußeren Umstände zu der Anerkennung derselben, darum war die Wirkung auf Leonin doppelt stark.

Die Herrschaften hatten Platz genommen, nur der König stand und übersah, mit Gemessenheit seine Worte vertheilend, die glanzvolle Versammlung, die ihre Huldigungen in tiefster Demuth darbrachte und dann sich beeilte, die Plätze einzunehmen, die ihnen ihr Rang stehend oder sitzend anwies. Die Abstufungen der Etikette wurden mit einem Ernste behandelt, mit einer Strenge beobachtet, welche genau zu kennen, als das hauptsächlichste Zeichen der Hofbefähigung galt, und von Jedem befolgt, ohne Zweifel die würdige, geräuschlose Haltung dieses glänzenden Schauspiels hervorrief.

Jetzt eilte der Marschall von Crecy, mit einer Bewegung, die seine Hand fast schmerzhaft um die seines Sohnes schloß, sich den hohen Herrschaften zu nahen; und Ludwig, der den alten Helden im Begriffe sah, das Knie zu beugen, kam dieser für sein Alter fast unmöglichen Huldigung zuvor, indem er ihm, mit unendlicher Güte in Wort und Ausdruck, die Hand entgegen hielt, ihm so den Fußfall verwehrend.

»Madame,« sagte er darauf zur Königin, »Sie müssen die Gnade haben, den Sohn unsers braven Marschalls, den jungen Grafen von Crecy-Chabanne, als einen Bekannten von uns, ohne weitere Ceremonie zu empfangen.« Der König [93] machte dazu eine Handbewegung, die nicht mißverstanden werden konnte, wie unmerklich sie auch war – und Leonin beugte das Knie vor der Königin und küßte den Rand ihrer Robe, worauf sie ihm ihre Fingerspitzen reichte und ihn aufstehen hieß.

»Ihr seid uns in jeder Hinsicht empfohlen und willkommen!« sagte die milde Frau. »Wir freuen uns, den Sohn so ausgezeichneter Eltern an unserm Hofe begrüßen zu können – auch wollen wir keine Feindin Eurer uns schon verrathenen Wünsche sein, sondern im Gegentheile eine Beschützerin derselben!« –

Obwol Leonin den Sinn dieser Worte nicht verstand, so lag doch in dem Tone derselben ein Wohllaut, eine Güte, daß es ihn entzückte, als er das WortBeschützerin hörte. Er wagte aufzublicken, um sie den vollen Ausdruck von Begeisterung sehen zu lassen, von dem er sein Gesicht strahlen fühlte.

Sie wendete sich mit einem huldvollen Lächeln von ihm, Andere zu begrüßen, und jetzt erst erblickte er Mademoiselle de Lesdiguères, die hinter dem Stuhle der Königin, wie eine schöne Statue von cararischem Marmor, aufgerichtet stand und ihr Leben nur durch die Blicke ihrer großen, glänzenden Augen verrieth, die jede Erscheinung mit scharfer Wägung aufzufassen schienen. Auch ihn trafen sie – und eine augenblickliche Unruhe, die ihre schönen Augenlieder schneller sinken und steigen ließ, zeigte, daß sie ihn nicht ohne Beziehung wiedersah. In ihrer Nähe stand Fenelon, und als sich Leonin zurückzog, gewahrte er, wie Jener, auf ihn blickend, ihr einige Worte sagte, die sie, ohne Miene oder Stellung zu verändern, erwiederte, worauf Fenelon zurück trat.

Als Leonin schon anfing von der Dauer der Vorstellungen zu ermüden, da Alle ihre Plätze in steifer Haltung behaupten mußten, und ihn eine übellaunige Neigung befiel, dies Alles unnatürlich und übertrieben zu finden, ward er plötzlich durch [94] die schöne, ruhige Stimme Fenelon's unterbrochen, der, an seine Seite gelangt, ihn begrüßte.

»Sie sehen den Hof unserer guten Königin heute zuerst?« fuhr er fort; »wenn ich nicht irre, genießen Sie den Vorzug, ohne Ceremonien aufgenommen worden zu sein.«

»Seine Majestät wollte dadurch meinen Vater ehren,« erwiederte Leonin – »ich höre, man hält dies für einen Vorzug. Man muß erst etwas älter bei Hofe werden, um für diese Feinheiten die rechte Würdigung zu lernen. – Es schien mir das Einfachste, daß meinem Vater das Recht zustehe, mich zu beglaubigen.«

»So scheint es allerdings,« lächelte Fenelon. »Es entwickeln sich leicht kleine Unnatürlichkeiten in einem Verhältnisse, welches uns lehrt, unsere Gefühle in eine Schranke zu verweisen, die sie kaum merklich hervortreten läßt; aber ich denke, die Selbstbeherrschung, die nothwendig dadurch bedingt wird, muß sich zuweilen höchst heilsam bezeigen. Ich sehe hier so Manchen, dessen früheres Leben und Treiben wohl wenig von Mäßigung irgend einer Neigung wußte, jetzt um den Preis, seine Vorrechte am Hofe behaupten zu dürfen, die ungewohnte Mühe übernehmen, sich einen kurzen Gehorsam gegen fremden Willen aufzuerlegen. Ein Solcher,« fuhr er lächelnd fort, »bekommt doch eine kleine Ahnung von der allernöthigsten Tugend – der Selbstbeherrschung.«

»Doch Sie,« sagte Leonin, »der Sie eine so einfache und großartige Idee vom Leben erfaßt haben, der Sie eilen, in der schwersten Berufsthätigkeit Ihrer Entwickelung als Mensch und Geistlicher zu leben – welche edle Verachtung muß Sie, diesen Zeit tödtenden Ceremonien gegenüber, befallen – wie begreife ich in diesen Sälen Ihren Entschluß, sie zu verlassen!«

»Machen Ihnen die Dinge vor uns diesen Eindruck?« erwiederte der junge Geistliche, mit einem leisen Anfluge von [95] Erstaunen. – »Ich erwartete das nicht,« setzte er nachdenkend hinzu, »und kann diese Empfindung nicht theilen. Mir scheint, Alles erhält dadurch seinen Werth, daß es die Absicht erreicht, die ihm zum Grunde liegt. Indem dies glänzende Schauspiel vor uns in Wahrheit die Würde und den Glanz eines so wichtigen und erhabenen Standpunktes, wie ihn der Thron in der menschlichen Gesellschaft einnimmt, ausdrückt – in so fern es selbst die Geister der Menschen in eine Form fügt, die diese Wirkung bestätigen hilft, scheint es mir eine erfüllte Idee, die der Würde nicht entbehrt.«

»Aber,« sagte Leonin, »können Sie deshalb es von sich abhalten, mit Bedauern sich als Individuum in eine solche Wirkung der Massen verflochten zu sehen – ohne Möglichkeit, Ihren unbeschäftigten Geist vor Ermüdung zu schützen und, durch Ihre Erziehung von der Bezähmung roher Neigungen abgelöst, die Anderen noch eine geistige Beschäftigung zu gewähren vermag, zu einer wahren Maschine herab zu sinken?«

»Ich empfinde diese Ermüdung nicht«, erwiederte Fenelon ruhig; »ich finde hier Genuß und bin weder gelangweilt, noch unzufrieden. Diese schören, glänzend erleuchteten Räume, deren Ausstattung an alle die großen künstlerischen und industriellen Fortschritte meines Vaterlandes erinnert, erheitern mein Herz und beschäftigen meinen Verstand. Ich kehre dann immer mit doppelter Liebe zu dem Anblick unseres großen Königs zurück, dessen Geist und edles Bedürfniß diese Dinge ins Leben rief; und sehe ich diesen schönen und noch so jungen Monarchen dann in der Mitte der Repräsentanten alter, berühmter Namen und kann auf Aller Gesicht in der verschiedensten Art die Verehrung lesen, die die Herrschaft eines großen Geistes auf die Gemüther ausübt – so freue ich mich der hohen Befähigung der menschlichen Natur und fühle mich selbst zu größerer Thätigkeit angeregt.«

[96] »O, Fenelon,« rief Leonin, »wie schäme ich mich meiner schülerhaften übeln Laune, mit der ich mir den rechten Anblick der Dinge selbst verweigerte. Sie haben wieder Recht! Es ist mir, als sähe ich jetzt erst den Hof glänzend vor mir auftauchen – alle diese Kerzen haben Sie erst angezündet! O, wenn Sie so vom Hofe denken, warum verlassen Sie ihn?«

»Aus denselben Gründen,« erwiederte Fenelon, »aus denen ich ihn bewundere. Ich will auf meinem Platze auch Etwas sein und werden, und dazu taugt nicht Jedem derselbe Boden. Wenn mich der König in der vollen Erfüllung seines Berufes, bis auf die Aeußerlichkeit dieser schönen Hofhaltung, entzückt und begeistert, kann ich, der Geistliche, zu dem mich Neigung und Erziehung bestimmten – ihm doch nur nacheifern, wenn ich den Schauplatz verlasse, auf welchem keine der Eigenschaften reifen könnte, nach deren Entwickelung ich mich sehne.«

»Sie mögen Recht haben,« sagte Leonin. »Auch galt dieser Aufruf mehr dem Gefühle, welches mir der Gedanke einflößt, Sie hier bald nicht mehr zu finden. Ich würde Sie mit meiner Freundschaft verfolgt haben!«

Freundlich neigte sich Fenelon gegen Leonin und fragte ihn dann, ob er diesen Abend schon Fräulein von Lesdiguères gesprochen.

»Das Fräulein scheint mir in einer unanrührbaren Stellung,« erwiederte Leonin. »Doch, vielleicht ward meine üble Laune mit dadurch bewirkt, mich durch ihr hartnäckiges Repräsentiren von ihr getrennt zu sehn. Sie ist so frei, so edel und hoch von Geist und hält dort hinter dem Stuhle der Königin so todtkalt und abgemessen aus, als sei sie eine nöthige Verzierung des Thrones.« –

»Es ist sehr möglich, daß sie sich wirklich in diesem Augenblicke für nichts Anderes halten will; denn sie faßt immer das [97] Nöthige völlständig ins Auge und setzt an Jedes Alles, was in ihr ist.« –

»Ein ganz außerordentliches Mädchen!« rief Leonin unwillkürlich. »Das fühlt man im ersten Augenblicke ihrer Bekanntschaft.«

Fenelon's Blick richtete sich mit einem wunderbaren Glanze auf Leonin – es war eine Wärme darin, die von tiefem Gefühle sprach, und eine Melancholie, die Entsagung ausdrückte. – Nach einer kleinen Pause sagte er: »sie ist das vollkommenste weibliche Wesen, das ich kenne, und nur so frei, weil sie so sicher mit sich ist. Die sonderbarste Constellation hat ihr diese Entwickelung geschaffen. Die Mutter ist nicht selten roh in ihren Aeußerungen; aber sie ist hochherzig, eine reine, unverfälschte Seele, und ihr edler Stolz zeigt sich, wenn auch oft in großer Anmaßung, doch eben so stark in Verachtung jeder Kleinlichkeit oder Unwürdigkeit. Der Vater ist ganz in äußerliche Angelegenheiten vertieft; aber er besitzt Feinheit der Sitten und verstand die Erziehung der Tochter zu leiten. Von Beiden hat diese reiche und starke Natur nur ergriffen, was sie gebrauchen konnte; nirgends fand sie Widerstand und blieb sich selbst Gesetz und Wille, damit immer den Eltern genügend – denn sie ist ihnen ähnlich und doch eigenthümlich geblieben.«

Leonin hörte gespannt zu – sein Blick bing an der herrlichen Gestalt, die in gleicher Ruhe blieb, während durch Fenelon's Worte der reiche Schatz ihres Innern sich vor ihm aufthat, und die kalte Erscheinung mit dem Zauber einer warmen, hochherzigen Seele belebte.

»Sie ist Ihre Schülerin, Herr von Fenelon?« fragte Leonin. – »Wenn Sie wollen, ja,« antwortete er – »was könnte man sie aber lehren? Zuletzt war es mir, als sei es umgekehrt!«

Noch immer blickten beide junge Männer unbewußt zu ihr hin, als sie gewahrten, wie sie ihre kalte Stellung plötzlich [98] aufgab und mit größter Bewegung sich zur Königin neigte, welche sich eben halb zu ihrer Hofdame wendete, die ihr schnell etwas überreichte, was die Königin einen Augenblick einzuathmen schien, welche sich dann wieder umwandte, aber so blaß erschien, daß selbst ihre Lippen farblos waren.

»Der Königin ist unwohl,« sagte Leonin. »Die Hitze und die lange Ceremonie greift sie zu sehr an!« – Fenelon schwieg; aber seine Augen richteten sich nach der Mitte des Saales, wohin aller Blicke flogen; denn hinter den Herzoginnen, die Letzte in der Reihe, nahte sich jetzt eine schöne junge Person, die von der Natur mit jedem Reize geschmückt schien und den Ausdruck trug, als schäme sie sich, so bevorzugt zu sein.

Ihr Gesicht, ihre Gestalt war von einer solchen Feinheit und Regelmäßigkeit, daß gegen sie alle übrigen Bildungen unvollkommen blieben. Die Farbe ihrer Haut schien mit dem Silberstoff ihres Kleides zu wetteifern, und vor Allem waren ihre tiefblauen Augen ein Born von unergründlicher Liebesfülle. Und so bevorrechtet, wie wenig schien sie dennoch von diesen Vorzügen gehoben! So langsam der Zug der Herzoginnen auch vorüber ging, ihr schien es dennoch schwer, zu folgen. Sie wagte kaum den Blick vom Boden zu heben, und Jeder mußte erkennen, daß ihre Füße bebten. Als sie aber vor die Königin hintreten sollte, ward aus der scheinbaren Kniebeugung fast ein gänzlicher Fußfall, und der Ceremonienmeister, Herr von Dreux, mußte sie auf einen Wink der Königin unterstützen. Da schlug sie die wundervollen Augen zu dieser auf, die, sichtlich erweicht, ihr mild zuwinkte, und ein Paar große glänzende Thränen rollten über ihre Wangen. Dabei drückte sie beide Hände mit dem rührendsten Ausdrucke von Ehrfurcht an ihre Brust und schwebte dann wie eine Lufterscheinung den anderen Herzoginnen nach, die bereits die Ehre ihres Tabourets genossen.

[99]

Alle Anwesende, und mit ihnen Leonin, waren gefesselt von ihrem Anblicke, und jetzt erst, nachdem sie in der Menge sich fast verborgen hatte, fand Leonin Worte.

»Wer ist diese bezaubernde Erscheinung, lieber Fenelon? Ich sah sie noch nie!« –

»Aber sie hörten von ihr,« sprach Fenelon sanft, wenn auch ernst; »es ist die unglückliche Lavallière, die heute zuerst als Herzogin hier erscheint.«

»Ha,« rief Leonin, »jetzt begreife ich! Dieser Zauberin muß Alles möglich werden! Das ist Schönheit der Seele, des Gemüthes – das ist nicht allein die schöne Hülle!«

»So ist es in Wahrheit,« sagte Fenelon – »und wie beklagenswerth ihr Verhältniß auch ist, ermangelt es nicht einer rührenden und versöhnenden Seite, die doch eben nur in diesem schönen Gemüthe liegen kann, das, zur Tugend geschaffen, selbst in seiner Verirrung noch ihr angehört.«

»Fast Alle urtheilen so über diese reizende Frau,« rief Leonin – »und darin liegt auch die Entschuldigung des Königs. Wer giebt uns das Recht, die zu richten, die diesem Gefühle unterliegen, für dessen Stärke allein Gott die Prüfung hat – das Jeder einmal zu kennen glaubt, ohne doch für den Andern ein Maaßstab zu sein!«

»Das ist zwar wahr,« sagte Fenelon – »aber es giebt immer noch etwas Schöneres, als sich ihm hingeben; ihm entsagen nämlich – wenigstens entsagen für die Welt – dann dürfen wir es wieder behalten. Die Liebe ist an sich Etwas – es ist nicht der Besitz, das Hervortreten unserer Empfindung. Es ist das Glück, es zu kennen – seinen höheren, wärmeren Pulsschlag zu fühlen und uns daran zu zeitigen mit allen unseren Kräften.« –

In diesem Augenblicke rief die Königin die Herzogin von Bellefonds, die mit ihrem weißen Stabe wie ein drohender [100] Riese an den Stufen des Thrones Wache hielt; und als diese ihren Befehl empfangen, schritt sie mit unbarmherziger Breite und Feierlichkeit durch den Saal gerade auf die Herzogin von Lavallière zu, welche, einer Ohnmacht nahe, an einem Pfeiler lehnte.

»Frau Herzogin von Lavallière,« sprach sie, »Ihre Majestät die Königin ladet Sie ein, sich des Tabourets zu bedienen, welches Ihnen zusteht – legen Sie Ihre Hand auf meinen Arm – ich werde Sie führen.«

Alles machte Platz, und die unglückliche Herzogin folgte stumm der Oberhofmeisterin; und nachdem sie sich tief vor der Königin verneigt, setzte sie sich auf das den Ehrgeiz so Vieler reizende Tabouret, wodurch wenigstens einer Ohnmacht vorgebeugt wurde. –

Der König hatte von dem Augenblick an, daß Madame de Lavallière sich nahte, sie nicht mehr aus dem Gesichte verloren, wie er auch, anscheinend ohne Theilnahme, seine verschiedenen Anreden fortsetzte. Auch wußten die Hofleute mit vielem Geschicke Bewegungen zu machen, die dem Könige die volle Ansicht der von ihm angebeteten Frau verschafften. Er zitterte für beide Frauen, denn er sah, wie die Königin kämpfte und die Farbe änderte, wie die Lavallière ihren Empfindungen zu unterliegen drohte, und er liebte sie Beide in diesem Augenblick fast gleich stark, da sie Beide seinetwegen leiden mußten. Doch dies Mal sollte die Königin in seinem Herzen den Sieg davontragen! Denn, als sie die Herzogin von Bellefonds abschickte, der sinkenden Geliebten einen Platz anzuweisen, dessen Recht sie sich nicht anzueignen wagte, da legte er ihr wenigstens für diesen Abend sein Herz zu Füßen und ehrte sie mit dem besten Danke, den er ihr bieten konnte, indem er ihr selbst ein zärtlich dienender Cavalier ward. Seine theilnehmenden Fragen, wie sie die Anstrengung der Cour vertrüge, belebten augenblicklich [101] ihr mattes Auge mit der Hoffnung, seine Zufriedenheit erreicht zu haben; und diese reine und uneigennützige Seele, die Nichts ertrotzen wollte, war völlig beglückt und dachte ohne Groll, ja fast mit Liebe an ihre demüthige Nebenbuhlerin.

Der König blieb, für sie allein Auge habend, wie es schien, an ihrer Seite, bis sie sich an den Spieltisch begab, und er in einem freien Augenblicke erfuhr, die Herzogin von Lavallière habe sich weg begeben.

»Ich hasse Euch Beide!« rief Mademoiselle de Lesdiguères, indem sie an Fenelon und Leonin vorbei streifen wollte.

»Halt,« rief Leonin, »so dürfen Sie den Fehdehandschuh nicht hinwerfen und dann die Flucht ergreifen! – Womit haben wir das verdient, was Sie um jeden Preis widerrufen müssen?«

»Glaubt Ihr, ich habe Euch nicht beobachtet,« sagte sie – »wie Ihr mit all den Thoren hier denselben Weg taumeltet? Hattet Ihr etwas Anderes zu sehen, als diese neue Herzogin, an deren Blicken Ihr hinget, wie alberne Kinder am St. Niclas? O, was das Alles ist,« fuhr sie ungeduldig fort – »wie nicht Einer den Muth hat, es beim rechten Namen zu nennen – wie sie ihm Alle verziehen – und ihm einreden, es sei, weil er es thut, etwas Anderes! Fahrt nur fort! Das Beispiel wird wirken! Hier wandelt schon so viel übertünchte Tugend, als Ludwig sich wünschen kann; denn Alle, die ihn loben und bewundern und bemänteln, was er thut, haben Lust, es ihm nachzumachen. Wie verächtlich sind sie mir Alle! Und Ihr Beide, auf demselben Wege Betroffene, Euch hasse ich, und darum hasse ich Euch!«

»Und darum gerade haben Sie Unrecht!« rief Leonin; »denn Sie sind der Hauptinhalt unseres Abendgespräches gewesen – diese unglückliche Frau und ihre demüthige Erscheinung hat nur eine kurze, wehmüthige Episode in unserer Unterredung gemacht.«

[102] »Und wer hat Euch erlaubt, von mir zu reden?« erwiederte sie, indem sie Beide mit milderen Augen anblickte.

»Das wenigstens können Sie uns nicht wehren, wenn Sie da sind und wir den Vorzug genießen, Sie zu kennen! – Denken Sie, mein Fräulein, daß Sie Gedanken unterdrücken können, die einmal Ihr Bild aufgenommen haben?« –

Sie blickte ihn an, als nähme sie eine Maske vom Gesichte. »Graf,« sagte sie, ohne ihren hochfahrenden Ausdruck – »ich weiß, was man mit uns will; lassen Sie uns redlich bleiben!«

In demselben Augenblicke trat sie unter die Menge. Auch Fenelon war von Leonin's Seite verschwunden. Er stand in tiefen Gedanken. Ahnete er, was sie – was die Königin angedeutet? Oder begriff er es wirklich nicht?


Der Herzog von Lesdiguères hatte sein neu eingerichtetes Palais eröffnet, und man war einig, daß bei ihm und bei der Marschallin von Crecy sich die beste Gesellschaft in den schönsten Räumen unter den glänzendsten Zurüstungen einstellte.

Mademoiselle de Lesdiguères erschien jeden Tag in dem Salon ihrer Eltern, während der Zeit, welche Maria Theresia bei ihrer Schwiegermutter zubrachte. Außerdem verließ sie die Königin nie.

Leonin besuchte täglich um dieselbe Stunde mit dem Marquis de Souvré das Hotel de Lesdiguères. Er würde sehr erstaunt gewesen sein, wenn man ihm gesagt hätte, daß er damit alle die Gerüchte bestätigte, die sich über seine beabsichtigte Vermählung mit Mademoiselle de Lesdiguères immer bestimmter verbreiteten. Nur dem Augenblicke lebend, stimmte er ganz der listigen Aeußerung des Marquis bei, welcher, stets das Ansehn der Langenweile zeigend, ihm versicherte, man könne es ohne [103] Mademoiselle Viktorinens Gegenwart doch gar nicht aushalten. – Mit der größten Absichtlichkeit zog er Leonin an allen Anderen vorüber zu Viktorinen hin, und kaum hatte er die Unterredung Beider eingeleitet, so entfernte er sich, wodurch diese Annäherung noch auffallender ward; denn Beide, in Berührung gesetzt, gefielen sich zu sehr in ihren Mittheilungen, um sie freiwillig aufzugeben und bemerkten es nicht, wie anerkannt ihr Verhältniß gerade dadurch ward, daß sie Niemand störte, was keinen andern Grund hatte, als daß man sie für Verlobte hielt. –

Leonin fühlte sich jeden Tag lebhafter durch Viktorine beschäftigt. Sie schmeichelte vollkommen seinen Schwächen durch ihre Eigenthümlichkeit; denn sie war Alles, was er nicht war. Er fühlte sich beständig ergänzt, gestützt und erklärt durch ihren festen und edeln Karakter, ihren scharfen, unbestechlichen Verstand. Dagegen fiel dies edle Wesen in den oft sich wiederholenden Fehler ihres Geschlechtes, die Schwächen des Mannes zu erkennen; aber in dem Gefühl eigner reicher Kräfte sich der Hoffnung und dem Streben zu überlassen, ihm diese Umänderung oder diese Festigkeit geben zu können. Sie übersah aber, daß ihre Phantasie ihn nach und nach wirklich zu dem machte, was sie wünschte, daß er es sein möchte; sie verkannte, daß sie in dem Besitz dieser Eigenschaften war, die bloß darum bei ihren Ansichten und Meinungen in ihren Unterredungen nicht fehlten, weil sie dieselben hervortreten ließ, und Leonin bloß die leichte, liebenswürdige Gabe besaß, sogleich in solche Anregungen verstehend einzugehn. Er hatte dabei die Milde, die vorherrschende Weichheit, die ihr fehlte, die sie zu erringen wünschte, gehindert von dem kräftigen Aufwuchse ihres befähigten Naturells. Deshalb glaubte sie ihn so viel besser, als sich; ihr schien errungen – Weisheit, Reife der Entwicklung bei ihm, was bloß eine Art Indolenz war, veredelt durch ein[104] gutes, fein fühlendes Herz, welches in früherer Zeit vielleicht zu einer kräftigeren Gestaltung hätte geführt werden können – damals aber, wie wir zum Oefteren schon erwähnt haben, von der eigennützigen Liebe seiner Mutter bloß zu ihren Zwecken gebildet ward.

Doch ward Leonin noch durch Nichts aus dem einwiegenden Zustande dieser täglichen geselligen Betäubungen gerissen, die ihm an Wichtigkeit stiegen in dem Maaße, wie auch für ihn die tausendfältigen kleinen Interessen und Eitelkeiten zu verfolgen waren, welche, um ihn her getrieben, Jeden verwickelten, der sich ihnen nicht mit Bewußtsein entgegenstellte.

Sein Vater erwartete mit Sicherheit, daß Anna von Oesterreich seinem Sohne die Braut erwählen werde, und fühlte sogar eine kleine Schadenfreude, diese Angelegenheit, wie er wähnte, seiner Gemahlin aus den Händen genommen zu haben. Der König und die Königin besonders, behandelten Leonin mit Auszeichnung. Man sprach ihm so oft davon, daß ein hohes Hofamt ihm nicht entgehen könne, daß er daran glaubte, zuletzt es als eine Ehrensache ansah, daß ihm das allgemein Zuerkannte nicht vorenthalten bliebe. – Und aus diesen Anregungen schossen Ehrgeiz und Eitelkeit auf, die ihn Vortheile suchen und verfolgen ließen und ihn an die Stelle, die ihm Erfüllung verhieß, fesselten, als müsse er sie bewachen.

Die Freundschaft, der Vorzug, – da er es nicht anders nennen wollte – mit welchem Mademoiselle de Lesdiguères ihn beehrte, mußten ihm daher, bei der Gunst, die sie bei den Majestäten genoß, behülflich und vortheilhaft sein. Er war unwillkürlich auffallender mit ihr beschäftigt in Gegenwart der hohen Herrschaften, und immer schien es ihm, als ob die Königin ihn wohlwollend beobachte und ihn nach solchen Tagen selbst in ihre kleineren Zirkel bescheiden ließ, wo Leonin, belebt von seinen geheimen Wünschen, eine größere Liebenswürdigkeit [105] und Anmuth zeigte, als seine gewöhnliche Indolenz sonst zuließ. – Vielleicht erfuhr Leonin nicht mehr und nichts Anderes, als die meisten jungen Leute, welche ohne Lebensplan und Karakterstärke in die betäubende Atmosphäre eines solchen Schauplatzes versetzt werden. Fast Jeder, der dieser Jugendperiode gedenkt, wie anders auch der Standpunkt ward, den er sich später wieder gewann, muß sich den chamäleonischen Farbenwechsel seiner Gesinnungen eingestehen, der ihn damals fortriß, ein Spielzeug der herrschenden Menge zu werden, ihren Gesetzen entgegen zu kommen gegen frühere Ueberzeugung. Aber nicht Jeder entfernt sich damit, so wie Leonin, von bindenden, heiligen Verpflichtungen; – und was dort bloß eine Durchgangsperiode der Jugend ist, die den Lebenswerth noch nicht bestimmen kann, mußte bei Leonin tiefere, bedeutungsvollere Folgen nachlassen.

Bedenken wir jedoch, wie sein jetziges Verfahren den Absichten der Marschallin von Crecy, wie dem heimlichen Hasse des Marquis de Souvré vollkommen entsprechend war, so werden wir gerechter gegen Leonin bleiben, wenn wir es anerkennen, wie die Versuchungen, die sich ihm darboten, von Beiden gehäuft, herbeigezogen und unterhalten wurden. Sie sahen ruhig zu, wie er sich in ihnen verwickelte, nur verhütend, daß er nicht früher die Beschaffenheit seiner Handlungen erkenne, bis sie ihn so hinreichend umsponnen haben würden, daß er sie dann selbst behaupten müßte. Der Augenblick, wo er Hülfe suchend in ihre Arme eilen mußte, war so mathematisch sicher zu berechnen, daß sie ihn bloß zu erwarten hatten, um alsdann das längst Beschlossene zu vollführen.

Und dies that die Marschallin von Crecy, indem sie sich alle Tage sagte, wie mütterlich liebevoll sie für ihren Sohn sorge, der viel zu gut sei, um sich selbst durchs Leben lenken zu können. Seinen kindischen Widerstand um eine englische Pfarrerstochter hatte sie ihm längst vergeben, weil sie diese [106] Sache als abgemacht betrachtete; nicht etwa mit der Sicherheit, daß dies sein Wille sein werde, sondern mit der Hoffnung, daß die Rückkehr ihm durch sein jetziges Treiben unmöglich gemacht werden würde.

So war der Winter vergangen, das Frühjahr neigte sich zu Ende, Leonin kehrte nicht nach Ste. Roche zurück. Glänzender wie je war der Hof; der König, angeregt von neuen kriegerischen Plänen, stand, wie ein feuriger Komet, belebend und befruchtend über seinen Umgebungen und machte den Hof zu einem Zauberkreise, in welchem sich alle großen Geister Frankreichs sammelten, um den Preis ringend, seine Pläne ins Leben zu rufen.

Wie stolz und großmüthig auch die Miene sein mochte, mit der Ludwig den Aachner Frieden unterzeichnet hatte, wie geneigt er auch war, und sein Volk mit ihm, den damals gemachten Rückschritt von fabelhaften Eroberungen zu einem geringen Vortheile beim Abschlusse des Friedens, sich als eine Handlung seines Willens auszulegen, so blieb nichts desto weniger der Stachel in seinem Herzen zurück; denn an seinem heimlich genährten Verdrusse gegen die Coalition der feindlichen Mächte, die ihm den Frieden abnöthigte, war wohl zu erkennen, wie er ihrem Willen hatte nachgeben müssen.

Unläugbar war der Augenblick günstig für die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten gegen Holland. Von der Einmischung der Mächte war aufs neue nichts zu fürchten. England, in seinen Finanzen zerrüttet, lag in stillem Grolle vor dem wiedergerufenen Herrscher, der alle Thorheiten der Stuarts, alle Unbesonnenheiten und Unredlichkeiten gegen sein Volk auf dem sichtbar gefährlichen Schauplatze des ihm, auf Treu' und Glauben, wieder verliehenen Thrones durchspielte. Aber noch sah die Nation den sich erneuernden Unbilden, die es zu erleiden hatte, mit dem Wunsche zu, der gewaltsamen Abhülfe überhoben [107] zu sein, und Karl mißkannte diesen Waffenstillstand, den es ihm gönnte, und verscherzte, immer kühner werdend, jedes Mittel zu seiner Behauptung. Dünkirchen, dieser eifersüchtig behütete Apfel der Zwietracht zwischen beiden Nationen, war ohne Schwertstreich in Frankreichs Besitz gekommen. Man wußte, Mademoiselle Keroualle, die jetzt als Herzogin von Portsmouth den König beherrschte, war bei dieser entehrenden Abtretung die besoldete Unterhändlerin Frankreichs gewesen. Die Revenue, die Ludwig der Vierzehnte dem Könige jährlich dafür zahlte, und die ihm den Namen des französischen Pensionair's zuzog, ging fast ausschließlich in den verschwenderischen Händen der Herzogin unter, und Karl hatte Nichts damit erkauft, als die doppelte Schande des Verrathes gegen sein Volk und des Besitzes dieser sittenlosen Frau. Ludwig wußte genau, daß unter diesen Umständen weder bei dem leichtsinnig schwelgenden Karl, noch bei dem zürnend vor ihm Wache haltenden Volke Neigung zu einer auswärtigen Einmischung vorhanden sei, und daß somit Hollands wirksamster Allürter unthätig bleiben würde.

Nicht minder unlustig war Spanien zum Kriege. Oesterreich, von den Türken bedroht, hatte außerdem mit inneren Unruhen in Ungarn zu thun, und Holland selbst war in die statthalterische und in die strengre publikanische Partei getheilt.

Dagegen war Frankreich wie ein jugendlich schöner Körper von einem glühenden Geiste belebt. Das ganze Land stand in jeder Hinsicht wie ein Sieger dem übrigen Europa entgegen. Vielleicht stellt keine geschichtliche Epoche der Welt eine innigere, vollkommenere Vereinigung zwischen König und Volk dar, als Frankreich in dieser höchsten Blütenzeit seines jugendlichen Herrschers. Er war, was jeder Einzelne war, ein stolzer begabter Franzose; – aber er schwang das Banner, dessen Farbe Jeder begehrte. Um ihn waren die Männer geschaart, deren Namen[108] die unvergeßlichen Zierden ihrer Zeit sind: – Turenne mit seinem erfahrenen Muthe – Condé mit seinem unzertrennlichen Glücke – Louxembourg mit seinen geschickten Märschen und Feldlagern – Tessé, de la Ferté, erprobte Krieger bei jeder Unternehmung – endlich Feuquières, der den Muth auf die Bahn der Wissenschaften lenkte und, mit Vauban vereint, Belagerungen ins Leben rief, die vor ihm Keiner gekannt, und die ihn unsterblich machten. Sie begründeten eine höhere geistige Thätigkeit und bildeten, in Vereinigung mit diesen großen Feldherren, eine Armee, die auch im Innern durch die aufblühenden Talente Villar's, Catinat's und vieler Anderen gestützt ward, und gegen welche kein Reich sich zu stellen wagen konnte; besonders, da Louvois mit den Schätzen, die Colbert gesammelt, Alles unterstützte.

Es ist unrichtig zu sagen, Ludwig habe allein zu seiner ritterlichen Befriedigung den Krieg begehrt. Der Krieg mußte sich nach damaliger Sitte nothwendig von selbst entwickeln. Die vorhandenen Mittel verlangten ihre Anwendung; es war ein Stoff, der von selbst Feuer fing, an der gedrängten Zündkraft sich erhitzend. Ludwig folgte seiner Neigung; aber diese Neigung war zugleich Besitz – Erforderniß seiner Nation.

Es mußte sich ein Schauplatz finden für die Anwendung der Kräfte, der Talente, Erfindungen und Bestrebungen, die alle harrend dastanden und die Gelegenheit herbeilockten.

Zwar war es dem Könige, wie allen Freunden des Marschalls Crecy, bekannt, daß Leonin nicht unmittelbar im Heere angestellt werden konnte; aber der Feldzug, den man vorbereitete, war von dem seltensten Uebermuthe, von der zweifellosesten Sicherheit des Gelingens begleitet und, bei allen ernsten, kräftig und geschickt betriebenen Kriegsrüstungen, zugleich ein glänzendes, zu Felde ziehendes Hoflager. – Man kann sagen, daß vor dem Schauspiele einer Schlacht oder Belagerung die [109] Zuschauer-Logen für den Hof erbaut wurden, die Alle nur verließen, um unter dem fröhlichsten Pompe in die Plätze und Städte einzuziehen, die ihre Sieger ihnen eroberten. Die Vorbereitungen entsprachen ganz den zu Anfang so entschieden eintretenden Erfolgen.

Die Armee begleiten zu dürfen, war der Ehrgeiz des ganzen Adels. Da es unmöglich war, alle Gesuche um diese Ehre bewilligen zu können, und an eine Auswahl, eine Schranke gedacht werden mußte, so stellten sich die zahllosesten Intriguen ein, um auf Umwegen zum Ziele zu gelangen.

Leonin befand sich jetzt so häufig in dem kleinen Zirkel der Königin, daß er an einem Platze in ihrem Gefolge nicht zweifeln mochte und die vorangehenden Glückwünsche mit einer Miene aufnahm, welche Alle in Ungewißheit ließ, ob seine Wünsche schon erfüllt wären und sein diskretes Schweigen nur irgend einer besondern Uebereinkunft zuzurechnen sei. Dies war aber noch keineswegs bestimmt. Leonin erschien jeden Abend mit derselben Hoffnung und kehrte mit derselben Täuschung zurück. Dies stachelte seine Eitelkeit bis zu einer Art Leidenschaft, und er sagte sich oft, dies müsse er doch erst um seiner Ehre Willen abwarten, und dann erst könne er den lange verschobenen Besuch in Ste. Roche unternehmen.

Dagegen hörte Leonin zuweilen Aeußerungen, die ihn glauben machten, der König habe noch andere, ehrenvollere Pläne für ihn. Das unbegreifliche Vorenthalten eines Platzes, den so Viele mit geringeren Ansprüchen erreichten, war um so räthselhafter; da in der Art, wie die Herrschaften ihn behandelten, ein Wohlwollen lag, welches diese Ansprüche zu erkennen schien.

Madame Henriette lächelte eines Abends, als sie den jungen Grafen Crecy einige begeisterte Reden halten hörte, über das Glück, Waffen tragen zu dürfen, »Und wirkt unser Mittel [110] noch nicht?« sprach sie – »wird der alte Herr noch nicht ungeduldig?«

Leonin machte die verbindlich lächelnde Miene, die alle vornehmen Personen sicher haben, wenn sie von ihren Zuhörern nicht verstanden werden. Er dachte eine Frage einzuleiten; da wendete sich Madame schon von ihm, indem sie, mit dem Fächer winkend, rief: »Geduld! Geduld! Sie sind ein zu guter Sohn, um sie so bald zu verlieren!«

Der junge Graf blickte ihr erstaunt nach, und der Marquis de Souvré, der den Grafen Guiche geschickt hatte, die gütige Fürstin in ihrem Gespräche zu unterbrechen, lachte der überraschten Miene Leonin's nach, für die er den Schlüssel führte.

Er hatte durch die Freundschaft des Grafen Guiche, dessen tiefe, mit seinem Leben bezahlte Leidenschaft für Madame Henriette ihn zugleich zum Vertrauten der unglücklichen Fürstin machte, eine Gewalt über sie erhalten, die es ihn leicht finden ließ, sie zur Mitwirkung bei seinen Plänen zu bewegen.

So versicherte Madame dem Könige, wie Leonin und die Marschallin noch immer hofften, den Eintritt des jungen Grafen in die Armee vom Marschalle zu erreichen; der König möge nur seine Anstellung bei Hofe noch verzögern, wodurch dem alten Herrn endlich kein anderer Ausweg bleiben werde, als ihn dem Könige für die Armee anzubieten. Der König, der den jungen Mann bedauerte, weil er ihn aus Gehorsam gegen den Willen des Vaters von der gewünschten Laufbahn entfernt sah, fügte sich in den bittenden Vorschlag der Prinzessin; und so erlebte Leonin alle die Täuschungen, welche so wohl berechnet waren, ihn leidenschaftlich zu erregen, zu vielen kleinen, gefügigen Schritten zu treiben, die ihn verwickelten und dem sorglosen Glückskinde ein Gefühl der Abhängigkeit, des Widerstandes und des Mißlingens zu geben, wovon sein Leben bis jetzt so frei geblieben war.

[111] In dieser Stimmung unruhiger Erwartung brachte er die Stunden in seinen Zimmern zu, ehe er zur Marschallin kommen durfte, die jede Gelegenheit, ihn allein zu sprechen, durch Louisens heitere, unschuldige Gegenwart vermied. Seine ungeduldige, mißmuthige Laune ward aber dies Mal unterbrochen; – sein Kammerdiener, von einem Manne gefolgt, trat ein; und als dieser mit großer Lebendigkeit auf Leonin zu eilte, erkannte er in ihm den zum Skelette entstellten Lesüeur.

»Lesüeur!« rief Leonin, und sein Gesicht überlief ein Purpur, der wol einen noch tieferen Grund, als den der Ueberraschung hatte. »Wie kommen Sie hieher?« fuhr er fort, zerstreut und unruhig das Ungeschick dieser Frage überhörend.

»Woher ich komme, mein Herr?« rief Lesüeur – »Gewiß, ich kann nicht zweifeln, daß Sie sich dessen erinnern, da Sie mich ja selbst dahin geschickt!«

»Also wirklich von Ste. Roche?« rief Leonin – nun sich zurecht findend und warm werdend. »O, dann haben Sie mir Viel, Viel zu erzählen! Doch, erst ruhen Sie aus und lassen Sie uns frühstücken. – Ich werde bei meiner Mutter absagen lassen, und wir wollen uns ein Paar Stunden angehören.«

Bald war Alles nach seinem Willen eingeleitet, und Leonin behielt Zeit, sich zu sammeln, Lesüeur, seine mißtranische Empfindlichkeit zu überwältigen, wobei Leonin die außerordentliche Veränderung des sichtlich dem Grabe nahen Künstlers beobachtete.

»Nicht wahr, mein Ste. Roche ist schön?« rief Leonin, endlich die träge Mittheilung Lesüeur's überholend – »Und es war keine üble Idee, Sie dahin zu verweisen?« –

»Weiß Gott, eine Idee, für die zu danken, mein Leben zu kurz sein wird; – der schönste Schwanengesang eines sterbenden Künstlers unter den Flügeln eines irdischen Engels! – Ja,« fuhr er fort, »Lesüeur, der sterbende Lesüeur darf es [112] gestehen, sein letztes Bild wird sein bestes sein – ich habe Ihre Gemahlin, Herr Graf,« sprach er leise und vor Bewegung zitternd, »zwei Mal gemalt; denn ich wußte nicht, wie ich in einem Bilde diese Fülle von Liebreiz fassen sollte. – Hundert Bilder hätte ich nach ihr malen wollen – Alle sie selbst – Alle eine neue Seite dieses reichen, göttlichen Weibes entwickelnd!«

»Lesüeur,« rief Leonin mit dem Lachen der schon erlernten flachen Gesellschafsweise, »machen Sie mich nicht eifersüchtig! Ich glaube, Sie sind verliebt – Ihr Herz hat Ihre Hand geführt!«

Lesüeur sandte aus seinen großen sterbenden Augen einen Blick auf Leonin, von dem er getroffen, die seinigen zu Boden schlug. – »Ha,« rief er dann, »wehe dem Künstler, der es anders macht! – Wehe dem, der dies heilige Feuer mißdeuten kann und es mit der eiteln Bedeutung beleidigt, welche ihm die große Welt beilegt. Ha, Herr Graf,« fuhr er beinahe heftig fort – »wissen Sie noch, wie die heilige Atmosphäre Ihrer Gemahlin eine Begeisterung einflöst, welche unabhängig macht von allen thörichten Wünschen dieser Erde? Wissen Sie es noch, wie sie uns von allen Fehlern reinigt, die uns die Welt anerzieht? Wissen Sie es noch, wie wir vor ihr Alles vergessen möchten, was wir gethan, gewollt und bis dahin für das Rechte oder Erlaubte hielten; – und wie wir ein neues Leben beginnen, um es zu verdienen, wenn sie uns ihre heilige Unschuldswelt aufthut?«

Leonin wußte es nicht mehr, oder es lag doch zurückgedrängt, eingeschlummert in ihm. Wie ein Gerichteter sank er in seinen Stuhl zurück, während Lesüeur in steigender Bewegung fortfuhr: »ich war krank, sterbend – von ihrem Bilde eilte ich zum Krankenlager! Da hat sie mich gepflegt – hören Sie, mein Herr, nicht diesen elenden, dem Tode verfallenen [113] Leib hat sie bloß gepflegt – meine Seele hat sie geheilt, die, kränker als mein Körper, zum Mörder an ihm ward! Wenn ich jetzt den Weg in das Jenseits finde, wenn Friede und Ruhe mein letztes Lager umgeben – dann werde ich es ihr danken, die alle meine Irrthümer so lange verfolgte, bis sie besiegt zu ihren Füßen lagen. Ich werde sie sehen, bis mein Auge bricht, wie sie mit dem Heiligenscheine ihrer Begeisterung an meinem Lager betete, als sie mich für sterbend hielt; – ich werde dies Gebet auf meinen Lippen tragen, wenn ich ende, und es wird die Brücke sein, die mich hinüber führt! Und dies that sie,« fuhr er fast weinend fort, als Leonin sein Gesicht in tiefster Bewegung verhüllte, »obgleich ihr eigner Zustand Schonung, Sorgfalt verlangte, die wol keine Frau in solcher Lage sich versagt.«

»Was meint Ihr, Lesüeur?« rief Leonin und sprang todtenbleich von seinem Stuhle auf, ihn mit fieberhafter Bewegung ergreifend. »Was fehlt Fennimor – warum bedarf sie der Schonung – was ist ihr geschehen?«

»Wie!« rief Lesüeur, »so fragen Sie mich? Sie wissen nicht, was Fennimor geschah? – O, gehen Sie hin, gehen Sie hin, so schnell Sie können! Hat sie es Ihnen verschwiegen, so sollen Sie mit dem heiligen Glücke überrascht werden, das sie Ihnen aufhebt!«

»Lesüeur,« stammelte Leonin, »sagt, sprecht es aus! Fennimor!« Er konnte seiner Ahnung keine Worte geben.

»Fennimor,« sprach Lesüeur, »wird Mutter werden!«

Laut weinend stürzte Leonin bei diesen Worten in Lesüeur's Arme. Die Rinde um sein verlocktes Herz war gesprungen – er war wieder Mensch – Fennimor's Gatte, die Natur hatte ihren mächtigen Ruf nicht umsonst ertönen lassen.

»Nun dem Himmel sei Dank, Emmy Gray hat nicht Recht!« rief Lesüeur – »Er liebt sie noch, er wird sie ehren [114] und erheben, wie es sich gebührt! – Doch eilen Sie! Noch hält sie fest am Glauben, und das Glück, das sie, mit kindlichem Erstaunen wie die heilige Jungfrau, selbst in sich trägt, erhält sie in seliger Verklärung. – Emmy Gray sagte mir, in den nächsten Monat müsse die entscheidende Stunde fallen.«

»Lesüeur, mein Freund! mein Wohlthäter! – Fennimor, mein geheiligtes, unschuldiges Weib! – Morgen, morgen will ich fort!«

Außer sich, rief Leonin seinen vertrauten Kammerdiener; augenblicklich gab er die Befehle zur Abreise; am andern Morgen wollte er fort. Er ließ sich bei seinem Vater melden – er wollte ihm seine Abreise nach Ste. Roche anzeigen. Dann wollte er zu Madame Henriette, ihr sein ganzes Herz ausschütten – sie sollte beim Könige, bei der Königin Alles vorbereiten; dann wollte er in dem Abendzirkel der Königin sich von Beiden beurlauben. Seine Mutter drängte er bei diesen Ueberlegungen zurück; was er mit ihr wollte, wußte er nicht, darum berührte er es nicht. – Laut denkend, indem er Alles, was er dachte, an Lesüeur aussprach, lief er im Zimmer umher und bestellte endlich seine Toilette und seinen Wagen, um zur Oberhofmeisterin der Prinzessin, der Gräfin von Grammont, zu fahren.

Dann ging er zu seinem Vater und trug ihm übereilt, zerstreut und mit dem vollsten Ausdrucke der erlittenen Gemüthsbewegung seine Absicht vor, nach Ste. Roche abzureisen.

»Aha,« lachte der Marschall, »wir haben Crecy'sches Blut! Wir sind verdrießlich! Die Hofcharge und die Braut bleiben zu lange aus! – Nun höre, mein Junge, das ist so übel nicht! Thue Du ein wenig empfindlich, damit sie nicht vergessen, wer Du bist! Es wird schon Aufsehen machen, wenn Du jetzt fortgehst, als ob Du aller Hofgunst den Rücken kehrtest, wo alle die Hasen in einer Reihe lauern, um auf das erste Signal nach dem rothen Lappen zu laufen. Ich habe [115] nichts dagegen – und sei nur ruhig – ich werde indessen Deinen Platz einnehmen! Sie sollen mich nur fragen, wo Du hin bist – ich will ihnen dienen! Die Frau Königin Anna denkt wohl, sie hat Wort halten nicht mehr nöthig; da der alte Marschall nicht mehr die Thore von Paris stürmen und ihre Frondeurs in die Flucht schlagen kann! Nun, nun – wir wollen sehen lassen, wer ich bin! Gehe Du indessen, mein Junge – ich stehe Dir dafür, Du wirst bald zurück gerufen.«

Der Arzt und der Kaplan unterbrachen diesen väterlichen Erguß und nahmen Leonin die Gelegenheit zu jeder Erwiederung, selbst wenn er sie beabsichtigt hätte; was wir indessen bezweifeln, da er, um den Marschall von seinen eisernen Ideen abzubringen, wenigstens die entschlossene Sicherheit seiner Mutter hätte haben müssen, die ihm um so mehr fehlte, da ein Meer der widerstrebendsten Gedanken und Gefühle in ihm nichts weniger aufkommen ließ, als einen festen und geordneten Zustand. – Zur drückendsten Bürde wurde es ihm dagegen, den langweilig scherzhaften Gesprächen längst verbrauchter Gedanken zuzuhören, mit denen diese, täglich nur auf sich selbst angewiesenen, Männer sich zu vergnügen glaubten. Doch würde der Marschall seine Entfernung, ehe er dazu das Zeichen gab, höchst übel genommen haben, und ihm blieb Nichts übrig, als äußerlich Geduld zu zeigen, während er innerlich fast vor Aufregung zu vergehen meinte.

Endlich schlug der ersehnte Augenblick, und gleich darauf eilte seine Karosse zur Gräfin Grammont.

Madame de Grammont kam durch die falsche Stellung, die Oberhofmeisterin einer geistreichen Prinzessin zu sein, in den Wahn, selbst für geistreich gelten zu müssen, und suchte durch leichte, humane und elegante Manieren die Herzogin von Bellefonds zu persifliren, deren steife spanische Grandezza über die kleinste Abweichung von der Regel den Bannfluch sprach. Sie [116] war daher leicht zu jeder Stunde zugänglich, verbaute den Eintritt bei Madame nicht durch ihren eignen Willen und war stets in eine Wolke von Parfums gehüllt, mit Vögeln, Hunden und Kätzchen aller Rassen umgeben; – übrigens aber die beste Frau der Erde.

Sie nahm nicht allein Leonin's Besuch gnädig auf, sondern begab sich auch zugleich zu Madame, ihr die Bitte des jungen Grafen vorzutragen. Doch kam sie bald und mit sehr verlegener Miene zurück, indem sie eine völlig abschlägige Antwort zu bringen hatte, da die Prinzessin allein zu bleiben wünschte.

Leonin fühlte sich hierdurch ganz aus dem Wege gedrängt, den er sich als den leichtesten und bequemsten gedacht hatte, und schlich, in tiefes, unruhiges Nachdenken versenkt, über die Galerien und Vorsäle zurück, völlig unsicher, was ihm jetzt zu thun obliege. Einen Augenblick trat er an die Brüstung einer offenen Galerie, die vor der Prinzessin Kabinet vorbeilief und in die Gärten niedersah, um, ehe er seinen Wagen bestieg, zu wissen, wohin er ihn richten sollte; – da hörte er eine Flügelthür aufgehn, die unmittelbar in die Zimmerreihe von Madame führte, und der Marquis de Souvré eilte mit schnellen Schritten daraus hervor.

»Souvré! – Crecy!« riefen Beide überrascht. »Also die Prinzessin war nicht allein?« fuhr Leonin laut denkend heraus. – »Mich nur wollte sie nicht sehen?«

»Sie sind ja in vollkommen hypochondrischer Laune!« lachte Souvré – »Was haben Sie denn? Im Ernste, Sie sehn entsetzlich tragisch aus; – ich erkenne den leichten, heitern Gesellschafter der Mademoiselle de Lesdiguères nicht wieder!«

»Lassen wir das, Marquis!« rief Leonin – »Sagen Sie mir nur, ob Sie bei der Prinzessin waren, ob keine Möglichkeit ist, bei ihr Zutritt zu erlangen?«

[117] »Nachdem Madame de Grammont mit ihrem Gesuche abgewiesen worden ist?« fragte Souvré – »wo denken Sie hin! Doch, lassen wir das – was gehen uns die Launen der Prinzessin an! Wer sagt Ihnen, daß ich bei ihr war? Das kann ja Alles von keinem Belange sein.«

»Es ist wichtiger, als Sie denken, Souvré!« erwiederte Leonin. »Ich muß morgen früh nach Ste. Roche abreisen; der Prinzessin, dieser edeln, fühlenden Seele, will ich mich vertrauen, sie muß den König für meine Bitten gewinnen, dann werden meine Aeltern nicht widerstehen!«

»Nun dem Himmel sei Dank, daß Sie an der Ausführung dieses wahnsinnigen Unternehmens gehindert wurden! Was glauben Sie, daß der Erfolg gewesen wäre? Ihre völlige Ungnade, des Königs ungemessenster Zorn, und wahrscheinlich einige so gewaltsame Maaßregeln, daß Sie schwerlich Ste. Roche so bald möchten erreicht haben!«

»Nein, nein, Souvré! Nein, Sie irren; das würde der König nicht thun, am wenigsten an Jemandem, der meinen Namen trägt.«

»Gerade darum,« entgegnete Souvré, empört über den Hochmuth dieses Thoren, der, immer noch zu sicher, immer noch nicht unglücklich werden wollte – »gerade deshalb würden Sie seinen stärksten Unwillen auf sich ziehen. – Sind die Crecy-Chabanne nicht Vettern des Königs? Ihre Verbindungen sind daher, wie er annimmt, von ihm abhängig. Waren Sie noch nicht hier, wie das Verlöbniß des Grafen von Harcour mit Mademoiselle de Roux auf seinen Befehl getrennt ward; da ein Harcour sich nur mit seiner Bewilligung, nach seiner Wahl, mit einer Tochter aus den alten Familien des Reichs vermählen darf?«

»Ich aber,« sagte Leonin – »ich, der ich schon vermählt bin? bei dem von Auflösung nicht mehr die Rede sein kann?«

[118] Souvré trat ein Paar Schritte näher, und dicht vor Leonin stehend, sagte er so spöttisch herausfordernd, wie er vermochte: »ist es möglich, haben Sie hier umsonst gelebt? Sie, Sie können noch von dieser Vermählung als einer Wirklichkeit sprechen? Sie können glauben, daß irgend Jemand, vom Ersten bis zum Letzten, diese Verbindung für rechtmäßig, für bindend ansehn werde? – Fragen Sie, wenn Sie können, Ihre Priester, Ihre Verwandte, die Minister, die Armee, den König – und wenn Sie Zeit haben, die Antwort zu hören, so werden Sie ein und dieselbe hören. Niemand wird Sie für vermählt halten. Niemand wird es für möglich achten, daß ein Crecy-Chabanne – ein Vetter des Königs – ein Katholik überdies, eine englische Pfarrerstochter ehelichen könnte, die eine Ketzerin ist. Niemand denkt daran, daß eine Procedur dieser englischen Kirche, die überdies den Minorennen, ohne Einwilligung der Eltern und des Königs Dastehenden, vor aller Augen als ein Opfer der Intrigue erscheinen lassen wird, rechilich oder kirchlich binden könnte. Daher rathe ich Ihnen als Freund – treten Sie mit dieser kleinen Jugendthorheit nicht in die Schranken; Sie werden sonst von Waffen besiegt, die am unleidlichsten sind – Sie werden ausgelacht werden!«

Leonin stand dieser stachelnden Rede mit einer solchen Abspannung gegenüber, daß sie vergeblich ihn zu kränken suchte. Er hatte nicht umsonst auf dem gefährlichen Boden so lange gelebt, und Souvré wußte das besser, wie er. Was eben schonungslos vor ihm beim Namen genannt werden konnte, war in vielen kleinen Anklängen ihm schon längst verständlich geworden, daher überraschte es ihn nicht; aber er wußte sich nur, wie immer, keinen Rath.

»Dessen ungeachtet muß ich nach Ste. Roche,« hob er endlich erwachend an – »das ist eine heilige Pflicht, mag sie verzeichnet stehen, wo sie will!«

[119] »So thun Sie es,« sagte Souvré sorglos – »nur verschweigen Sie die Veranlassung! – Ich muß Madame de Bellefonds diesen Morgen noch sprechen, ich will ihr sagen, daß Sie die Majestäten von Ihrer Abreise unterrichtet. Warum sollen Sie Ihr Hotel Biron nicht so gut haben, wie der König?«

Das war zu stark – es blitzte alles bessere Gefühl in Leonin auf, zu heftiger Entgegnung richtete er sich in die Höhe; – aber schon glitt Souvré leicht grüßend die große Treppe hinunter und ließ Leonin mit einem Gefühle von Schmerz und Entwürdigung zurück, wie dieser Feind seiner Ruhe es ihm nur wünschen konnte.

Blind und betäubt verfolgte er indessen die Richtung, die er genommen; die Stimmung, in der er sich befand, war Fennimor's nicht würdig; aber sie war doch von Gefühlen untermischt, die einem edleren Bewußtsein angehörten. Das Eine, daß er jetzt zu ihr zurück müsse, blieb wenigstens vorherrschend und hielt den anderen Eindrücken, die nur zu viel Wichtigkeit für ihn bekommen hatten, das Gleichgewicht.

Seine Mutter nahm seinen späteren Besuch nicht an. – Sie empfing, wie er bemerkte, heute alle Morgenbesuche persönlich und ließ Leonin ein größeres Diner ansagen. Noch ehe dieser sich zu seinem Vater begeben hatte, wußte sie Alles, was in seinem Zimmer vorgefallen, und eine kurze Unterredung mit dem Marquis de Souvré machte die Mine springen, die Beide seit langer Zeit für diesen Fall bereit hatten.

Souvré, der bei der unglücklichen, durch ihr Herz verstrickten Henriette immer Zutritt hatte, erschien eine Stunde früher, und Madame erfuhr, daß Leonin alle Hoffnung habe aufgeben müssen, in die Armee eintreten zu können, da der Marschall unerschütterlich seinem Vorsatze getreu bleibe; daß er jetzt verzweifle, der König werde ihn bei Hofe anstellen, und sich entehrt und herabgesetzt halte. Die Marschallin ließ der [120] Prinzessin ihren Schmerz hierüber ausdrücken, und ihre Hilfe, ihren Beistand bei dem Könige nachsuchen. Die Prinzessin versprach mit ihrer gewohnten Gutmüthigkeit, daß sich Alles diesen Abend bei der Königin ausgleichen solle.

Die Marschallin erschien nicht früher, als bis ihre Zimmer sich gefüllt hatten, und kein Raum mehr für ein vertrauliches Wort vorhanden war. Als sie ihrem Sohne begegnete, blieb sie stehen, und in der Gegenwart von einigen zwanzig Zeugen sagte sie plötzlich: »Sie wollen uns morgen verlassen? Sie sind sehr eilig, Ihre schönen Besitzungen in Ste. Roche in Augenschein zu nehmen! Doch müssen wir Ihren Eifer loben – mehrere Ihrer Vorfahren pflegten von Zeit zu Zeit sich dort aufzuhalten. Ihre Eltern haben diese Neigung nicht gefühlt – vielleicht werden Sie darin Ihren Ahnherren wieder ähnlicher. – Wir werden uns diesen Abend bei der Königin sehn!«

Als sie bei diesem Winke das Wort an einen Anderen richtete, fühlte Leonin zuerst etwas wie Groll in sich aufsteigen, und sein gequältes Herz malte sich in seinen bleicher werdenden Zügen.

Mit demselben Ausdrucke noch sah ihn die sanfte Henriette von England am Abende bei der Königin, in dem ungewöhnlich vergrößerten Zirkel, und ihr theilnehmendes Lächeln wollte ihn aufrichten; da sie hoffte, er würde durch ihre Vermittlung noch Alles diesen Abend erreichen, was seine sichtlich gekränkte Stimmung verrieth.

Nach dem Erscheinen des Königs, der sehr bald seinen Platz neben seiner schönen Schwägerin einnahm, ward es Leonin möglich, sich Mademoiselle de Lesdiguères zu nähern, die mit der größten Theilnahme ihn aus der Ferne beobachtet hatte. Er fühlte sich, wie immer, an ihrer Seite erleichtert; – sie schien ihm heute vor Allen das einzige menschliche Wesen in diesem Kreise, und er glaubte, nach der gewöhnlichen Weise der [121] Männer, sich jeder Empfindung hinzugeben, ohne der nothwendigen Mißdeutung ihrer Aeußerungen gedenken zu wollen, daß er ihr endlich die ganze Weichheit und Erschütterung seiner Seele zeigen dürfe. Er sagte ihr, daß er am andern Morgen abreisen werde – er sagte ihr, wie schwer sein Herz sei, wie es ihm scheine, er werde nie wieder hierher zurückkehren; wie alle Hoffnungen, alle Wünsche auf diesem Schauplatze des Lebens ihm versunken wären, und er sich nur wieder finden könnte in der Einsamkeit von Ste. Roche – er verließe hier Niemanden mit schwerem Herzen; allein die Trennung von ihr bekümmere ihn tief – gern, gern würde er ihr sein ganzes Herz aufgeschlossen haben, aber er müsse fürchten, daß sie ihn alsdann für immer aus ihrer Nähe verbanne, und es würde die Brücke, die ihn zurückführen könne, völlig abbrechen heißen, wenn er Sie nicht als seine Freundin wieder zu finden wisse. –

Er sagte ihr dies Alles mit einem Tone der Stimme, der die tiefste Herzensbewegung ausdrückte, und blickte sie dabei mit einer Bewunderung an, die ihre ungewöhnliche Schönheit ihm immer einflößte, und die ihm dies Mal durch den Ausdruck ihrer Züge, durch den Wechsel ihrer Farbe besonders auffallend schien.

Viktorine fühlte seine Worte, seine Blicke, seine ganze Stimmung mit der vollkommen gerechtfertigten Ueberzeugung, von ihm geliebt zu sein und sich jetzt als die Ursache seiner Verzweiflung, seiner Abreise ansehen zu müssen. Hätte man Leonin die Aufgabe gestellt, Viktorine nach und nach von seiner Liebe zu überzeugen, die ihrige zu gewinnen, er hätte diese Aufgabe nicht besser, nicht vollständiger lösen können, als durch sein, seit Monaten verfolgtes Verhältniß zu ihr. Dessen ungeachtet glaubte er keine Berechtigung der Art verschuldet zu haben, da er nie förmlich um sie geworben, innerlich sich diese Absicht nicht eingestanden. Er hatte den Genuß des Augenblicks in ihrem [122] Umgange gesucht, er hatte mit Eitelkeit nach ihrer Gunst gestrebt und wenig nachgefragt, ob die Mittel, die er zu Beidem wählte, das unbewachte, argwohnlose Herz eines Mädchens mit Hoffnungen erfüllten, die der ihr bewiesenen Liebe gemäß sein mußten. Er würde jeden Vorwurf voll Erstaunen zurückgewiesen haben, da er ja niemals um ihre Hand geworben hatte; – und doch würde er dieses letzte Formular der Liebe selbst für überflüssig gehalten haben an einer andern Stelle, wo er doch nicht mehr hätte thun können, als hier, wenn er dieseAbsicht hätte ausdrücken wollen. – Was Leonin überdies nicht wußte, Viktorinen aber von ihrer geschwätzigen Mutter längst vor seiner Bekanntschaft verrathen ward, war das, zwischen der Marschallin und dem Hause Lesdiguères unter Genehmigung beider Majestäten, abgeschlossene dereinstige Ehebündniß ihrer beiden Kinder. Mademoiselle de Lesdiguères war allerdings an Rang und Reichthum die ausgezeichnetste Partie des Hofes – die Marschallin konnte nicht klüger wählen, und die Persönlichkeit des Fräuleins schien, selbst unter den später eintretenden Verhältnissen Leonin's, ihren Sieg zu sichern.

Doch Viktorine grollte jedem Zwange, und sie beschloß, Leonin so abstoßend und hart zu behandeln, daß die Eltern ihre vorschnellen Pläne aufgeben müßten. Wie sie es versuchte, haben wir erwähnt; eben so, wie sie nach und nach das Opfer jener gewöhnlichen, edeln weiblichen Täuschung in Bezug ihrer Einwirkung auf Leonin's Karakter wurde, der ihr noch unvollendet erschien. Jetzt liebte sie ihn – und nicht mehr, was er durch sie werden könnte, war die Frage – sondern, ob er ihr, so wie er war, gehören könne und wolle.

Trotz dieser stärker werdenden Empfindung aber besaß sie zu viel Karakter, um einem Vorsatze untreu zu werden, der außerdem ihr edles Herz erfüllte – die ser war, ihre Gebieterin, die Königin, die sie anbetete, die Viktorine als Freundin und [123] Vertraute zärtlich wieder liebte, nie gänzlich zu verlassen; da sie sich bewußt war, mit ihrem allein treu und wohlmeinend gesinnten Herzen das vielfache Böse, das in dem Verhältnisse beider Ehegatten lag, zuweilen abhalten, mildern oder versöhnen zu können. Sie hatte daher der Königin, wie dem Könige in ihrer unumwundenen Weise erklärt, sie würde nur dann Leonin's Gattin werden, wenn seine Verhältnisse auch ihn auf irgend eine Weise an die Person der Königin fesselten, die sie nie verlassen wolle.

Beide Majestäten hatten vielfach Gelegenheit gehabt, den Werth dieses edeln Wesens zu erkennen, sie waren daher dankbar für eine so hingebende Aufopferung und hatten längst eine solche Stelle bei der Königin für Leonin bestimmt, deren wirkliche Uebertragung nur durch die bereits mitgetheilten Kabalen der Marschallin und des Marquis de Souvré aufgehalten wurde.

Viktorine konnte jedoch nicht zweifeln, daß Leonin von ihrer Weigerung, unter andern als den genannten Umständen die Seinige zu werden, unterrichtet sei, dies für Mangel an Liebe halten müsse, und dadurch in die Stimmung sich versetzt fühle, in der sie ihn vor sich sah. Hoch wallte daher ihr Herz dem Wunsche entgegen, ihm offen ihre wahre Empfindung gestehen zu dürfen, und mit der Gemüthsbewegung, die sie in Leonin's Augen so schön machte, horchte sie seinen Worten, das heraus zu finden, was ihr dazu Gelegenheit geben würde. Jedes schien ihr dazu Veranlassung; aber ehe sie ihre stolze Schüchternheit überwinden konnte, erhoben sich die Majestäten, um einem Concerte beizuwohnen, welches Lully mit seinem ausgezeichneten Orchester im Nebensaale aufführte.

Hier kam der verhängnißvolle Augenblick, wo der König, an Leonin vorübergehend, stehen blieb und, ihm mit dem wohlwollendsten Lächeln zunickend, sagte: »nun, Graf Crecy, Sie wollen Ihre Besitzungen von Ste. Roche übernehmen?«

[124] Leonin beugte sich bejahend bis zur Erde. –

»Bleiben Sie nicht zu lange fort – die Königin wünscht Sie um ihre Person zu beschäftigen – ich habe Sie heute zum Kammerherrn und Reisekavalier ernannt und werde mich freuen, wenn dies auch Ihre andern Wünsche zur Reife bringt.«

»Madame,« sagte er, zur Königin sich wendend, »sind Sie zufrieden?«

Die Königin verbeugte sich gegen den König, der huldvoll grüßend voranging, während die Königin noch einige Augenblicke verweilte, um Leonin einige höfliche Worte zu sagen und seine Dankbezeigungen anzunehmen.

Kaum hatten die Herrschaften den Saal verlassen, als der ganze Hof auf Leonin einstürzte, um ihm Gratulationen auszusprechen, die so den Stempel der herzlichsten Theilnahme trugen, daß, wer den Kreis nicht kannte, hätte glauben können, Leonin sei hier in dem Zirkel einer ihn zärtlich liebenden Familie.

Eben so empfing die anwesende Marschallin die schönsten Worte des Antheils, die sie jedoch besonders kalt und übellaunig aufnahm, nur gegen den König und die Königin in ein Meer vorschriftsmäßiger Huldigungen übergehend. Ihr war allerdings ein bedeutender Grund zum Mißfallen gegeben, und um so mehr, da es ihr unerklärlich war, von welcher Seite ihr diese Störung ihres Planes kam. Die plötzliche Ernennung von Seiten des Königs sollte es Leonin unmöglich machen, nach Ste. Roche zu gehn, und eben der König erwähnte diese Reise als angenommen und erlaubt, die durch diese Erwähnung jetzt sogar unumstößlich geworden war.

Die Marschallin konnte auch den Zusammenhang nicht ahnen; denn die Ursache davon war die gute, empfindsame Gräfin Grammont gewesen, gegen die Leonin, als er die abschlägige Antwort der Prinzessin erhielt, in der gedankenlosesten Befangenheit eine Unruhe und Angst, nach Ste. Roche zu [125] kommen, ausgesprochen hatte, von der die gute Dame so gerührt ward, daß sie ihm wenigstens diesen Dienst nach der mißglückten Audienz zu leisten wünschte und die Prinzessin mit Bitten bestürmte, diesen Wunsch des armen jungen Mannes doch beim Könige zu vertreten. Henriette hatte dies mit ihrer unbefangenen Gutmüthigkeit gethan, und der König es bewilligt.

In welcher Bewegung jedoch Leonin durch die plötzlich auf ihn einstürmenden Eindrücke sich fühlte, würde unbeschreibbar sein! Das angeregte Verhältniß zu Fennimor entkräftete zwar in etwas den Triumph dieses Abends; aber er wurzelte schon zu tief in diesen Zuständen, um nicht das Aufbrausen des Ehrgeizes mit Wonne zu fühlen; – und sich endlich sagen zu können, das er erreicht habe, was er gewollt, belebte sein Antlitz, daß Jeder darin das erfüllte Verlangen erkennen mußte.

Auch Viktorine, während des Concertes hinter dem Stuhle der Königin gefesselt, erkannte mit höherem Herzschlage das veränderte Ansehen Leonin's; ihre Blicke suchten und fanden sich, und das edle Mädchen, so nahe sich der Auflösung ihres Zwanges wähnend, ließ ihn in ihren Augen ihr ganzes Gefühl lesen.

Jetzt erhoben sich die Herrschaften und begaben sich, von ihren nächsten Umgebungen gefolgt, grüßend an der Menge vorüber, in ihre Zimmer. Leonin stellte sich Viktorinen bei diesem langsamen Zuge absichtlich in den Weg. Sie sollte ihm Glück wünschen – freudig blickte er, herausfordernd zu ihr auf.

Sie glaubte ihn zu verstehen. »Leonin« sagte sie, bebend mit glühenden Wangen und gesenkten Augen, »ich kenne die Wünsche unserer Freundin – ich kenne die Wünsche unserer Familien – ich habe Sie verstanden, und mein Herz widerstrebt diesen Wünschen nicht länger, da sie mein erstes Gelübde gegen die Königin nicht aufheben werden. Die Königin kennt unsere Wünsche und billigt sie. Nach Ste. Roche also! Ich breche die Brücke nicht ab, die zu mir zurück führt!«

[126] Schnell folgte sie dem Zuge. Es war ein Glück – Leonin war an ihren Worten zur Salzsäule geworden; – sie sah es nicht mehr.

»Wollen Sie mir Ihren Arm geben, mein Sohn!« sagte die Marschallin in diesem Augenblicke. »Sie werden, denke ich, nicht eher abreisen, bis Sie Ihrem Vater Ihre so überaus ehrenvolle Anstellung mitgetheilt haben.«

»Gewiß nicht,« erwiederte Leonin und führte die Marschallin zu ihrem Wagen, bestieg den seinigen und eilte in sein Zimmer, alle Bedienung fortschickend, um allein zu bleiben – der unglücklichste Mensch der Erde, wie er wähnte.


Die Wälder von St. Roche, die Gärten, die das Schloß zunächst umgaben, die Weideplätze und Wiesengründe, die daran stießen, Alles prangte in dem schönen Grün des Juni-Monats, und schien der Seligkeit einer vollständig erreichten, üppigen Entwickelung hingegeben. Täglich sich nachdrängende bunte Blumen, die zarten ersten Früchte, die an Sträuchern und Pflanzen glänzten, Alle schienen sich in den grünen Hallen ein Willkommen zuzujauchzen, als heitere Gespielen, für die der Boden ergrünet. – Auch standen diese schönen Ankömmlinge an einander gereiht, wie reizend geschmückte Tänzer, bereit, den schönen Sommerreigen über die Erde zu tanzen; und in den blauen Lüften, in den schattigen Lauben erklang dazu aus tausend kleinen verschiedenen Kehlen ihr melodisches Orchester. Warme Sonnenstrahlen belebten den langen Tag, tauige Nächte erfrischten die duftende Schönheit der ganzen Natur.

Leise aufhorchend so vielen Wundern, sie alle belauschend mit kindlich wachsamem Auge, so vertraut damit, so beseligt dadurch und zugleich so schüchtern, so behutsam, als könnte ein [127] zu kühnes Hinblicken oder Berühren die kleinen fleißigen Arbeiter in ihrem Aufblühen, Duften und Reifen stören – so glitt Fennimor's leichter Fuß durch die Pracht des Sommers! Sie wußte nicht, daß sie keine aufblühende Blume zu beneiden hatte – selbst so reizend erblüht, daß sie zu ihnen zu gehören schien; und wenn das kindliche Antlitz aus den volleren Falten ihrer Kleider schaute, konnte man vergleichend sagen: die Knospe beuge sich über die aufgeblühte Blume, an demselben zarten Stengel getragen.

Sie wollte immer unglücklich sein, da Leonin noch fehlte; aber sie konnte doch nicht Zeit dazu finden vor all der Herrlichkeit in und außer ihr. Die Thränen, die sie weinte, waren wie die kurzen Nächte, sie dauerten nicht lange; denn mit der Sonne – was kamen da all für süße Gedanken! – Emmy Gray hatte ihr endlich entdecken müssen, was ihr geschah; und nun war es ihr, als ob der Altar des Herrn in ihr errichtet sei, und sie hätte in aufhorchender Stille auf ihren Knien, auf denen sie Emmy's Verkündigung erfuhr, liegen bleiben mögen, damit sie heilig würde zu der großen Gemeinschaft mit Gott, wie sie sagte. – Wie lange konnte sie still und in sich gewendet zwischen den Blumen sitzen, und gar Nichts wollen, als voll anbetenden Erstaunens das Wunder bedenken, zu dem Gott auch sie berufen. Ihre Augen waren so ernst, so tief und forschend auf dies heilige Geheimniß gerichtet, und um ihren Mund nur schwebte das kaum angedeutete Lächeln unaussprechlicher innerer Wonne – und all die kleinen unschuldigen Kindereien, die dazwischen ihre Gedanken berührten und sie in die seligsten Spielereien mit dem kleinen, noch verhüllten Gefährten versenkten, flatterten durch den ernsten Kultus ihrer Empfindungen, wie geflügelte Engel um die Glorie der Mutter Gottes.

Mit Lesüeur hatte sie auch ihre große Noth gehabt, weil er von Gott gelassen und sich nun vor ihm fürchtete; aber sie [128] hatte sich schnell daran gemacht und traute sich überdies jetzt mehr zu, da sie dachte, in ihrem Zustande müsse man ihr auch mehr Glauben schenken. Da war ihr denn auch Alles mit ihm gelungen, wie wir schon wissen, und sie war dessen recht froh und sagte oft zu Emmy: »was wollen sie doch machen, wenn eine Mutter zu ihnen redet – da ist ihr Unglaube ja gleich überwunden; das größte Wunder steht vor ihnen, sie müssen glauben lernen!«

Doch vergeblich sah Emmy Gray vor ihren Augen das rührendste und reinste Bild göttlicher Gemeinschaft und des daraus entstehenden heitern Friedens, der alle Angst der Welt besiegt – ihr armes, leidenschaftliches Herz faßte es nur auf, um sich zu kränken, zu erzürnen, und der Heiligenschein, den sie um ihren Liebling leuchten sah, steigerte nur ihre Ansprüche für eine irdische Welt, die ihr dafür einen Lohn zahlen sollte, ihren eiteln Wünschen gemäß; – die Bitterkeit darüber, daß er ihr noch immer verweigert sei, verzehrte sie fast.

Wenn Fennimor den Zustand ihrer Gefährtin erkannt hätte, würde sie gewiß mit dem Uebel in Kampf getreten sein. So aber verdeckte Emmy mit unerschütterlichem Schweigen ihr Inneres; denn konnte sie auch ihren Abgott in Nichts nachahmen, so flößte Fennimor ihr doch eine an Ehrfurcht grenzende Schonung ein; und wie ihr Nichts gut genug für sie schien, so nahm sie auch sich davon nicht aus, und es war in ihrem Grolle mit begriffen, daß ein solcher Engel keinen andern Umgang haben solle, als so ein geringes Weib, wie sie.

Lesüeur's Ankunft erfüllte sie zuerst mit Hohn, Verachtung und Mißtrauen: er käme nur, damit der Herr Graf wegbleiben könne – er solle ein Gesellschafter sein, wozu dieser sich zu gut halte. Von Malern hatte sie überhaupt geringe Begriffe; sie schienen ihr durchaus unnütz, umsonst da; – und daß dieser kranke, bleiche, verfallene Mann in die [129] Gesellschaft ihres Engels treten sollte, schien ihr ein wahrer Spott.

Dagegen schlug Fennimor vor Freuden in die Hände, daß sie endlich einen Maler sehen sollte, weil sie von dessen Berufe auf Erden die größten Begriffe hatte, und so gern wissen wollte, wie ein Mensch aussehe, der sich begeistert fühle, Gottes Werke nachzubilden.

Emmy hörte kopfschüttelnd, wie sie sich freute und den Gast einzuführen gebot. »Ach,« sagte sie, »Alles muß ihr den Willen thun und was Schönes werden, woran sie sich erfreuen kann. Gott mag es denen verzeihen, die ihr nicht das schicken, was ihrer würdig ist!«

Als Lesüeur darauf eintrat, verbeugte sich Fennimor so tief vor ihm, daß der stolze Künstler erröthete und sich noch tiefer vor der wunderbaren Schönheit neigte.

»Gott segne Euch!« sagte sie leise, wie ein Kind so schüchtern, »und Gott segne dieses Haus, wo ein Künstler eintritt – ein Schüler Gottes – ein Berufener, seine Wunder nachzuahmen, wo wir andern nur zusehen können! Es muß eine große Gnade sein, das zu empfinden,« fuhr sie fort, und schritt dabei neugierig, obwol noch schüchtern, auf den erstaunten Lesüeur zu, um ihn recht genau zu betrachten, der indessen, durch eine so fremde Anrede um seine ganze Fassung gebracht, unsicher war, ob das liebliche Räthsel vor ihm ein Kind, eine Frau oder ein Engel sei.

Als Beide sich nun ganz nahe standen, und Fennimor's Augen den ersehnten Anblick eines Malers hatten – ward sie sehr verwundert, daß ein Maler gerade so aussehen mußte. Sie hätte sich weniger erstaunt gefühlt, wenn er einen Purpurmantel um eine Tunika getragen hätte und den Lorbeerkranz um die Schläfe – als daß er müde und krank, mit bleichen Wangen und schwankender Gestalt, in Kleidern, wie andere Menschen [130] trugen, die ihm aber nicht wohl saßen, nun vor ihr stand und Nichts hatte, als Augen, aus denen sie später das Geheimniß erklärte, und die auch jetzt so verständlich zu ihr redeten, daß ihr sogleich eine andere Ansicht kam, die nicht minder ihr Gefühl weckte, wenn auch ihren Pathos verdrängte.

»Ach Gott, Ihr seid ja krank, lieber Herr!« sagte sie mit dem weichsten Mitleidstone. »Wie wollen wir es denn machen? Ruht erst hier etwas, bis Eure Zimmer durchwärmt sind! 1 Wir lassen dies Ruhebett an den Kamin tragen – da legt Ihr Euch nieder, und wir breiten Decken über Euch, daß Ihr Euch erwärmt. Ich kann auch gehn, wenn Ihr lieber allein bleibt, oder Euch etwas erzählen, bis Ihr einschlaft – oder vielleicht thut Euch etwas Wein gut?«

Lesüeur war freilich nicht kränker, als gewöhnlich; aber fast wünschte er sich, das zu sein, was ihn so in unmittelbare Beziehung zu ihrer Theilnahme brachte, und ohne den Willen dieser kleinen Heuchelei, ließ er sich von ihr, als der Hülfe bedürftig, leiten. – Wie drang sie dann in ihn, als sie ihn für erfrischt und gestärkt hielt, ihr von all' den Wundern zu erzählen, von denen sie seine Seele erfüllt glaubte; und wie andächtig, scheu und ehrerbietig behandelte sie ihn – wie festlich und schön ließ sie Alles für ihn bereiten, so froh der Ehre, mit einem Künstler zu leben!

Und Lesüeur war in eine Welt der Ideale getreten, deren Dasein er nicht für möglich gehalten hatte. Was von der Geltung, dem Berufe des Künstlers die Blütenzeit seines Lebens als süßer Traum umgaukelt hatte, und den Raum des Entstehens – den heitern Boden der Phantasie nicht verlassen durfte, um es nicht an der Außenwelt verflüchtigt zu sehn – dies ward ihm hier mit einem Ernste als Erwartetes, Wirkliches, [131] Begehrtes abgefordert, und fand Raum und Existenz unter Umständen, die selbst einem Wunder glichen, aber dennoch Wahrheit waren. Unter dem schuldlosen Betasten dieser Kinderseele fand er dieKünstlerseele wieder – ihre Träume und Entwürfe, ihre Absichten und ihr ganzes heiliges Selbstgefühl durfte er wieder erwecken, eingestehen! Ja, er mußte sich mit dem ganzen Schmucke bekleiden, damit sie ihn erkannte für das, was sie in ihm suchte.

Vor ihrem Bilde mit einer Begeisterung malend, wie einst St. Lukas vor der heiligen Jungfrau, fühlte Lesüeur dennoch die Sonne des Lebens immer tiefer sinken; – aber täglich sagte er sich: »es sei! Ist diese letzte Zeit meines Lebens doch die Erfüllung des ganzen Vorangegangenen! Weiß ich doch jetzt, daß die große, heilige Bevorrechtigung, ein Künstler zu sein, kein Gespinnst meines erhitzten Gehirns ist, daß es sich erfüllt findet in Anerkennung und freudigem Festhalten da, wo die Seele der Menschen noch das unschuldige Auffassen behalten hat, das ohne den Conflikt mit der Welt die Wahrheit erkennt.« – Aber wie war Fennimor dagegen erstaunt, daß ein Künstler von Gott hatte abfallen können, wie sie es nannte, und ein wahrer Heide werden, der viele kleine Götter anbetete, die ihn sein Herz in der Welt hatte suchen lassen – »und natürlich,« sagte sie, »daran zu Grunde geht in Mißmuth und Bitterkeit. – Denn, wie sollten sie Dir treu bleiben, da Du den allein Treuen um sie verlassen hast? Hättest Du Gott vor Augen gehabt, was hätte Dir Lebrun wohl thun können, als Liebes und Gutes durch seine herrlichen Werke, wie Du selbst von ihm rühmst – und hättest Du die rechte Liebe gehabt, so hättest Du auch den rechten Frieden bekommen!«

Mit protestantischem Ernste griff sie sein mattes, inneres Treiben an, was, leidlich zur Ruhe gesprochen von äußeren Gebräuchen und Hülfsmitteln des katholischen Priesterthums, [132] ihm keine Heilung der Seele geben konnte; da es ihn fern hielt von strenger Selbstrechenschaft, die, in das Formenwesen von Beichte und Absolution hinüber gezogen, ihn ganz von der Möglichkeit entfernt hatte, auf dem Wege der Religion sich mit der Welt wahrhaft zu versöhnen.

»Was kann Dir denn das helfen, wenn ein Mensch Dich absolvirt,« sagte sie eifrig – »weißt Du nicht, daß Keiner ohne Fehl vor Ihm befunden ist? Warum thust Du nicht nach Gottes Geboten, der eben durch seine Offenbarung in Christo Dir sagt, Du sollst Ihn anbeten im Geiste; denn er ist ein Geist! Du bist getödtet durch Deine Priester, die sich zwischen Dich und den Geist Gottes drängen; denn das Fleisch – das heißt, ihr fleischlich Wort – tödtet! Der Geist allein macht lebendig! Siehst Du nun wohl ein, welche Sünde es ist, die Andacht aus den Händen zu geben und träge zuzusehen, was Dir Andere zurecht machen und Dir davon überlassen nach ihrer sündigen, menschlichen Einsicht? Ja, das sollte uns schon gefallen, wenn es so leicht abgethan wäre! Wir aber, wir Protestanten, die wir nach der Lehre Christi leben müssen, wie die Evangelien sie lehren, wir wissen, daß es keine andere Rechtfertigung vor Gott giebt, als im Glauben an unsern Heiland, durch den wir alsdann die Kraft empfangen, die Sünde von uns abzuhalten und der Vergebung theilhaft zu werden, die er Allen verheißen, die an seine Versöhnungskraft glauben. Wie kannst Du Dir also weiß machen lassen, ein Priester, der so gottlos ist, sich für den auszugeben, der Gottes Gewalt an Dir erfüllen könnte, also ein Gott selbst sein müßte, könnte Dir sagen: Deine Sünde sei Dir vergeben!«

Dann erzählte sie ihm von Ihrem Vater, wie demüthig er vor Gott gewesen und Alles an ihn verwiesen habe – und von der Scheu vor sich selbst, die allein zu ihm führe.

Während dem malte Lesüeur seine Lehrerin – und kaum hatte er einen Entwurf beendigt, so begann er schon den zweiten. [133] Hundert Mal glaubte er sie malen zu können, immer neu, immer sie selbst und das größte Wunder, das ihm vorgekommen. – Dann las sie ihm mit ihrer Engelstimme die Evangelien vor, die er nie gehört, und vor deren heiligem Geiste er den ersten Schauer der Andacht fühlen lernte, der bis dahin seinem Leben fremd geblieben war.

Beide führten so ein lebhaft angeregtes Leben; – in Fennimor aber tauchte eine Ahnung der verderbten Welt auf, die ihr bis dahin fremd geblieben war, und sie mußte viel nachdenken; denn sie wollte das, was sie nicht mehr läugnen konnte, doch gern in Ordnung bringen, um Gottes Welt zu retten, wie sie dachte, damit auch das Böse seinen Platz bekäme zu irgend einem guten Zwecke, da dies doch nothwendig sein müsse, wenn man auch zuerst so sehr darüber erschrecke und erstaune. Oft nahm sie Lesüeur in Rath, der seine längst verloren gegangene und vergessene Unschuldsseele mit heißer Sehnsucht um ihretwillen wieder suchte; und wenn er hörte, wie scharfsichtig, wie tief denkend das Kind bloß aus Liebe zu Gott sich bestrebte, die Angelegenheiten der Erde zu ordnen und zu erklären – hätte er sie zum lauten Predigen in der Wüste des Lebens auffordern mögen. Denn Offenbarungen des Höchsten schienen ihm ihre Worte, und hätte er nicht ihren strengen, aufrichtigen Tadel gefürchtet, auf seinen Knieen hätte er ihr zuhören mögen. – Dagegen dachte Fennimor, wie herrlich ihr Leonin sein müsse, von der bösen Welt umgeben, die er ertrüge um Gottes Willen, und um die schöne heilige Welt, der er zugehörte, dort zu zeigen und zu schützen vor der fremden. »Aber mir wäre es lieber,« dachte sie, »ich bliebe daraus weg, und mit Leonin käme die schöne edle Mutter, der liebe alte Vater und Louise hieher zu uns; denn wir sollen doch keine Versuchung aufsuchen – also, was thun sie dort, wenn sie es hier besser haben können. Die hat auch Gott nicht zum Streite dorthin berufen, denen er [134] zwei Stellen auf Erden gegeben, wo die eine ihm so viel näher ist! Nur, wenn Leonin es will, daß ich ihm folge, darf ich hier fort – freiwillig muß ich nicht gehen – dann aber ist es wieder Gottes Gebot, weil Leonin mein Mann ist!«

Wie erstaunte Lesüeur über die sichere Berechtigung, die sie zu ihren Verhältnissen fühlte, da er der untrüglichsten Ueberzeugung war, wie keines der Rechte, die sie ruhig zu besitzen glaubte, in der Welt eine Geltung haben würde, welche sie mit Recht zu berühren fürchtete. »Gott,« rief er oft, wenn er allein war, die Hände ringend – »wenn Leonin sie auch verließe, wenn sie auch an ihm den Anhalt verlöre und den Glauben – wie nur zu gewiß die Eltern gar nicht für sie existiren!«

Auf diesem Wege fand sich nach und nach eine natürliche Annäherung zwischen ihm und Emmy Gray. Beide hofften Manches von einander zu erfahren, und die Sorge um Fennimor erhob dies gegenseitige Forschen zu etwas Edlerem, als Neugierde.

Emmy Gray lockte bald aus Lesüeur heraus, was ihre argwöhnische Seele schon voraussetzte, und was ihm unter so entgegenkommenden Fragen unmöglich ward, zu verbergen. Von da an hielt sie den Abgott ihres Herzens für verloren, und der Welt nur noch bitterer grollend, schien sie sich bald der einzige sichere Anhaltspunkt für Fennimor. Sie erfaßte diese Ueberzeugung mit einer Energie und einer Belebung ihres Geistes, die ihrer besonderen Befähigung trotz des Mangels der Bildung zuzurechnen war; und wenn ihre Gemüthsart nur finster und herrschsüchtig sein konnte, trat sie doch, von einem edeln Stolze unterstützt, würdig genug hervor.

»Laßt Ihr noch das Wiegenlied ihrer Hoffnungen, womit sie sich jeden Abend selbst einsingt,« – fuhr sie finster hinstarrend zu Lesüeur fort – »seht, wie sie heiter aussieht – [135] Nichts kann ihr mehr begegnen, glaubt sie – sie ahnt auch nicht einmal, daß es etwas zu fürchten für sie giebt! Daß ein Mensch zu Zweien sein kann, wie der gottlose Herr Graf, daß er hier ihr Grab ausschmücken kann mit seinem goldnen Tand und doch ihr Herz brechen will und seinen Weltgötzen dienen, davon weiß sie nichts! Und wer möchte es ihr sagen? Gott wird die Stunde wissen, die sie bricht – aber auch jene mit dem schrecklichsten Fluche der Menschheit Beladenen zu jeder Qual der Hölle verdammen wird, die Gott dem erwachten Gewissen vorbehält!« –

Nach der Vollendung des ersten Bildes erkrankte Lesüeur bis zum Niederliegen. Fennimor theilte Emmy's Pflege persönlich, so viel es ihre Lage ihr erlaubte, und rastete besonders nicht, für seine Seele zu sorgen; da die Krankheit mit ihren trüben Schleiern und den bittern Tropfen, die sie dem kranken Blute beimischte, wieder nieder zu werfen schien, was Fennimor in ihm schon aufgerichtet glaubte. Was Beide da eintauschten, war nicht von gleichem Werthe. Das Leiden machte den von der Welt und ihren egoistischen Berechtigungen verwirrten Lesüeur rücksichtsloser in seinen Aeußerungen. Er wünschte den Zustand seiner Seele, den sie so ernsthaft tadelte, durch die Schilderung der Versuchungen zu entschuldigen, welche die Welt ihm geboten; und so rollte sich bei seinem Eifer, sie von der Schwierigkeit, sich rein zu erhalten, endlich zu überzeugen, ein Bild dieser Zustände vor ihr auf, das sie in seiner verderbten Ausdehnung kaum zu fassen vermochte.

Zu spät erkannte er an ihrem maaßlosen Schmerze darüber, was er verbrochen, und bestrebte sich nun um so aufrichtiger, durch seine eigne Hingebung an ihre Ermahnungen, ihre Seele zu trösten und zu erquicken.

Doch vermochte er nicht mehr ihre bis jetzt in harmonischem Gleichgewichte schwebende Seele von dem herben, schmerzlichen [136] Nachdenken zu befreien, in welches der erste unausgleichbare Widerspruch der innern Welt zur äußern, die Seele in der Jugend versenkt. Nur ihre glaubensvolle Festigkeit erhielt sie und richtete sie wieder auf; – und endlich war sie sicher und einig darüber, daß vielleicht nur kurzsichtige Menschen diese Erscheinungen böse fänden, und Gott, der die Herzen sieht, allein wisse, ob sie so Viel verschuldeten, als es den Anschein habe.

»Sieh'« sagte sie, »wenn ich nehme, als welch' ein böser Sünder Du Andern hast erscheinen müssen, so kann ich mich recht daran beruhigen, da Dir Gott doch dabei so viel Reue und so viel Gutes erhalten und Dir die Gnade, ein Künstler zu sein, nicht entzogen hat, vielmehr Dein Herz innerlich immer in Wehmuth schweben blieb über Dein äußerliches Verschulden. So wird es nun überall sein! Wir müssen nur immer bedenken, daß Gott Alle gleich liebt, Alle seine Kinder sind – da weiß er also als Vater, wo es ihnen steckt, wo er sie heimsuchen muß – und wir dürfen eigentlich gar nichts dabei haben, als still zusehen, wie er sie leiten wird, und müssen sie lieben, bloß darum, weil sie zu Gott gehören.«

Lesüeur staunte mit wahrer Andacht dies lebhafte Bedürfniß Fennimor's an, das Böse zu annulliren. Er hatte das Gefühl der Jugend vergessen, das sich von jedem Eindrucke frei zu machen sucht, der dem Glücke widerstrebt, den Menschen vertrauen zu können; – und als er sie auf diesem Wege wieder zur Heiterkeit zurückkehren sah, glaubte er, der Himmel müsse ihr Leben behüten und beglücken, eine solche Frömmigkeit zu belohnen.

Wir werden daraus die Stimmung erklärt finden, in der Lesüeur nach seiner Genesung und nach Vollendung beider Bilder bei Leonin eintraf, und die eben so schnell gefaßten Hoffnungen, derselbe werde ihr gerecht werden.

[137] Nach Lesüeurs Entfernung hätte die Einsamkeit auf Ste. Roche hervortretender scheinen können; – aber Fennimor glitt mit dem süßesten Lächeln heimlicher Lust über den blumigen Rasen, durch die lichten Schattengänge, und war in ihrem geheimen Einverständnisse nicht mehr allein, sondern von tausend unnennbaren Freuden umgaukelt, als ob Engel vom Himmel zu ihr niederstiegen zu Spiel und Scherz! Sie hatte sich lieb und hielt sich hoch und stellte sich im Geiste hin vor Leonin als die reichste und schönste Gabe, die sie nun so sicher durch sich für ihn bereitet glaubte. Dann stieg sie in das Thal hinab in das kleine Haus des Vikars, wo Veronika, die stille nonnenhafte Jungfrau, in Schönheit und Jugend prangend, neben dem jugendlich rüstigen Vikar waltete. Wenn die Geschwister sie daher kommen sahen, schwebend fast und leise und vorsichtig, als behütete sie einen Schlummernden und sie Beiden die schlanke weiße Hand reichte, und das Engelslächeln und der leuchtende Blick auf Beide ihnen immer wieder aufs neue ihr Glück erzählte – immer wieder die neue Antwort der Anerkennung zu begehren schien, dann sagte der Vikar oft, wenn sie wieder heim gegangen: »zur heiligen Jungfrau wird immer noch die Frau, die ihre Umwandlung als eine göttliche Verkündigung seiner heiligen Gemeinschaft empfindet!«

Gewiß war es, sie hatte fast keines Menschen nöthig! Sie war gern bei den Geschwistern und bei Emmy Gray – aber lieber fast noch mit sich allein, und selbst Leonin hatte nicht mehr den ersten Platz; »denn,« sagte sie zu sich, »Gott hat seine heil'ge Werkstatt in mir – da muß alles Andere weichen – das kann ich recht fühlen, wie er allein sein will bei mir!«

Mit Lesüeur's Hilfe noch hatte Emmy Gray neben Fennimor's Schlafzimmer einen kleinen Raum benutzt, der nach dem Garten sah, und mit den reichen Stoffen, die Leonin zur Ausschmückung der Zimmer gesandt, zu einer anmuthigen grünseidenen [138] Laube umgeschaffen, worin sich nach und nach die kleinen lieblichen Gegenstände sammelten, deren verringerter Maaßstab unser Herz mit Lust und Rührung erfüllt und die Sehnsucht nach dem Anblicke des kleinen Wesens steigert, das dies Alles beleben soll mit seiner anmuthigen Erscheinung.

Wenn ihr Emmy sagte, daß die Zeit nahe sei, die ihr die Erfüllung bringen würde, erbleichte sie vor andächtigen Schauern und wünschte dann wieder, Leonin bliebe aus, bis sie das Segenszeichen im Arme trüge. Das wünschte Emmy nicht. Noch hoffte sie auf Lesüeur's Einwirkung; und dann sollte er auch die Weihe als Vater durchempfinden durch die Last der Angst um die schweren Stunden seines Weibes! Da sah sie, wie eines Morgens Fennimor's Wangen dunkler glühten und sie nicht in das Thal hinab stieg, sondern auf dem sonnigen Sitze am Fuße des Eudoxien-Thurmes ausruhte, wo sie den Weg in das Thal übersah; – und als sie zu ihr trat, war sie am frühen Morgen schon wieder eingeschlafen, der Athem war kurz und beklommen, der Mund glühte, und zuweilen stieg ein schmerzlicher Seufzer herauf. Da wendete Emmy Gray schnell den Schritt zurück, und bald erreichte ein Bote den geschickten Arzt des kleinen Fleckens Ste. Roche, mit der Weisung, seine Wohnung in dem Schlosse aufzuschlagen. Emmy blieb aber, ein treuer wachsamer Hüter, zu ihren Füßen sitzen, und Fennimor schlug nach kurzer, ungleicher Ruhe zu der Gefährtin die Augen auf.

»Ich sah es!« rief sie und drückte entzückt die Hände zusammen. – »Ganz deutlich sah ich es! So klein und rund ist es, und seine Aeuglein sind wie Sterne! – Ach! Emmy, nun muß Leonin bald kommen; denn ich werde eifersüchtig, daß ich all das Glück allein genießen soll!«

»Ja, ja,« sagte Emmy – »er könnte wohl hier sein, wenn Euch die Stunde schlägt – der Vater gehört zum ersten [139] Gruße für sein Kind!« – Doch brach sie nach diesen Worten ab; denn sie durfte ihrem zürnenden Herzen nicht trauen. –

Am Abende erschallten Hörner in der Ferne – ein Reisezug flog durch das Thal. Als Fennimor es hörte, sank sie auf ihre Knie und betete – Emmy's Brust wollte zerspringen.

»Lebt sie, wo – wo – ist sie, Emmy, geliebte Emmy?« rief Leonin und weinte wie ein Kind, als er die spröde, schluchzende Gestalt wie eine Geliebte an seine Brust drückte.

»Sie ist ihrer Stunde nahe, Herr,« sagte Emmy. Eis und Bitterkeit glitten dabei von ihrem Herzen; denn sein Gefühl war keine Lüge.

Da drängte er den Ungestüm zurück, und sie führte ihn bis zu Fennimor's Zimmer. Sie hatte ihm nicht mehr entgegen eilen können – ihre Füße hatten gewankt – sie saß, und ihr im vollsten Purpur glühendes Engels-Antlitz leuchtete über die bedeutungsvolle Gestalt.

Als er sie sah, ward sein Herz wieder fest – aller Ungestüm, alle Leidenschaftlichkeit war daraus verschwunden. Er fühlte die ganze Heiligkeit ihrer Stimmung und lag weinend zu ihren Füßen, sein Gesicht in die Falten ihres Kleides bergend.

»Sieh nur, Leonin,« sagte sie da über ihm mit der klaren, süßen Stimme – »sieh nur, wer ich bin!« Und sich kräftig fühlend, erhob sie sich und stand vor ihm, und als er aufsah, erblickte er sie leuchtend vor Freude, mit der Gewißheit des höchsten Glückes, das sie ihm zu geben hatte.

Und das war der Inbegriff von Allem, was sie ihm zu sagen hatte. Kein Vorwurf, keine Unsicherheit, keine Befürchtung – als ob sie gestern das letzte Wort mit ihm gesprochen hätte, so ruhig, so froh und heiter knüpfte sie wieder an. Nur lieblich, kindlich wehren that sie ihm – er durfte nur leise mit ihr sein – sie behütete sich ernst und doch halb kindlich spielend. Doch verhüllte die Freude nur noch schwach die ahnungsvolle [140] Bangigkeit, die immer schneller wiederkehrend in ihr aufstieg und Emmy Gray entführte sie endlich aus Leonins Armen in ihr Schlafzimmer. –

Als aber die ersten Strahlen der Juli-Sonne den Horizont rötheten, kniete Leonin nach einer unter tausend Qualen verlebten Nacht an Fennimors Bette, und sie sah an seiner Brust ihren Traum erfüllt, und Leonin rief immer fort: »Fennimor, Fennimor, mein geliebtes Weib, Du hast mir einen Sohn geboren!«

»Und so klein ist er! und so rund! und seine Aeuglein glänzen wie Sterne!« setzte Fennimor leise lächelnd hinzu, während große Thränen über die blassen Wangen flossen, und die schönen matten Händchen sie nicht trocknen konnten.

Emmy's argwöhnischer Tadel verstummte nach gerade vor dem glücklichen Vater, der, zwischen Fennimors Lager und der Wiege seines Kindes mit eifersüchtiger Sorgfalt Beide behüten wollte. Sie ward wieder hoffnungsvoll und heiter, und sah dem Glücke ihres Lieblings ohne so bange Schmerzen zu, als sie bisher erlitten. Und dennoch hatte sie Recht – dennoch war es derselbe Leonin nicht mehr, der diese Stelle einst einweihte als das Ziel seines Strebens, als die Bestimmung seines Lebens!

Er war jetzt, was er an dem Hofe Ludwigs des Vierzehnten war – das Kind des Augenblicks. Hier von den edelsten Beziehungen der Menschen zu einander so warm ergriffen, wie dort von ihren eiteln Bestrebungen beherrscht – keiner Lage ganz gehörend – zu der einen zu eitel und ehrgeizig, zu der andern zu gut, zu tief in die Geheimnisse eines höheren Lebens durch Fennimor eingeweiht – überall getheilt, zerfallen mit sich – auf dem sichern Wege, das zu werden, was der Marquis de Souvré zu erreichen trachtete: ein unglücklicher, von verfehlten Lebenswegen irre geführter Mensch!

[141]

In dem Augenblicke, wo er beinah mit Andacht sein Weib, die Mutter seines Kindes, betrachtete, wußte er, daß seine Verlobung mit Fräulein von Lesdiguères am Hofe deklarirt war, und seine Rückkehr erwartet, um seine öffentliche Vermählung zu feiern. Er wußte, daß er diese gegen seinen Willen ihm über den Kopf gewachsene Verpflichtung jetzt erfüllen mußte, oder daß er vor der Welt, deren Meinung ihm so wichtig geworden, entehrt dastehen, und auf ewig aus der glänzenden Gemeinschaft getrieben sein würde mit der sichtbaren Gottheit Frankreichs – mit seinem Könige. Jede ehrgeizige Hoffnung wäre damit vernichtet gewesen, der Name, dessen stolzen Anspruch er jetzt erst begriff, zu dem trostlosesten Dunkel hinab gewiesen, und in der Verbannung keine Hoffnung auf Seelenruhe, da ihm der Fluch der Eltern und das Andenken an Viktorinens gebrochenes Herz folgen mußte. –

Am Morgen nach der uns bekannten Ernennung des Königs, begab sich die Marschallin von Crecy, die sonst die Waffensäle ihres Gemahls selten besuchte, dahin, dem zögernden Leonin zuvorkommend. Der Marschall mußte die Aufmerksamkeit seiner Gemahlin anerkennen, daß sie schon am frühen Morgen zu ihm eile, ihm sowol die Anstellung ihres Sohnes, wie die Verlobung desselben mit Mademoiselle de Lesdiguères anzuzeigen, die durch einige Worte der Majestäten, welchen allerdings die Sache außer Zweifel war, für beide Ehegatten die Sanction einer priesterlichen Einsegnung erhielt. So ward Leonin, als er später dem Vater nur seine Anstellung mittheilen wollte, in doppelter Beziehung beglückwünscht, und der unbeschreiblich ungestüme Jubel des alten Helden ertödtete jeden Versuch der Widerlegung in dem fast von diesen Eindrücken betäubten Sohne. Auch fand er ihn schon zur Hälfte in seiner Marschalls-Uniform – er wollte dem Könige seinen Dank abstatten und dann der alten Eule, der Herzogin Schwiegermama, [142] wie er in lustiger Laune die Mutter Viktorinens nannte, die Reverenz machen – »und ist Deine Liebste dort, dann soll sie einen Kuß haben, so wahr ich Marschall von Frankreich bin!«

Es wäre eben so möglich gewesen, den Strom der Seine rückwärts fließen zu lassen, als den Marschall aus seinem, ihm von seiner klugen Gemahlin angegebenen Gedankenstrom zu lenken. Leonin machte einige vergebliche Versuche dazu; da sie jener aber lachend und tobend ganz überhörte, sicher, er könne nur erfahren, was in diesen Ideenkreis hinein passe, riß sich Leonin endlich, fast wahnsinnig über seine Lage, von seinem Vater los.

»So gehe denn, mein Kind, und komme bald wieder! Es ist mir zwar nicht Recht, daß Du jetzt das alte Nest Ste. Roche besuchen willst, und ich verstehe nicht, wie sich das mit Deinem schuldigen Respekte gegen die Majestäten und Deine Braut verträgt. Da es aber Deine Mutter billigt, der man in solchen Fällen wohl trauen darf, und Seine Majestät der König es in den Mund nahm, so habe ich Nichts zu erinnern; – auch denke ich, man wird ums Wiederkommen nicht sehr zu bitten haben. He, mein Junge, das muß man sagen, sie haben Dir eine gute Partie gemacht – die alte Eule von Mutter ist eine Schwester des Herzogs von Reetz, und die Lesdiguéres werden herankommen an die Crecy und Soubise!«

Länger ertrug es Leonin nicht. Todeswund stürzte er sich in die Arme seines Vaters. Der Marschall nahm sein undeutliches Gemurmel für Abschiedsworte, küßte und herzte und entließ ihn, seinen in Juwelen gefaßten Ehrendegen aus der Hand des Kammerdieners nehmend und ihn mit geheimer Lust in das goldene Gehänge steckend.

Leonin stürzte dagegen durch die Gemächer, die zu den Zimmern seiner Mutter führten, und wer ihm begegnete, wich ihm aus und sah dem glücklichen Erben, auf dessen Haupt sich [143] so viel Ehren häuften – denn seine Anstellung und Verlobung war Allen bereits mitgetheilt – voll Erstaunen nach, fürchtend, eine plötzliche Krankheit habe ihn ergriffen. Er sah den Thürsteher seiner Mutter, der ihn melden wollte, nicht, er drückte mechanisch die Thür auf, er erreichte ihr Kabinet und stand vor ihr, als sie eben die schwere Sammet-Robe abwarf; denn sie kam von dem Lever der Königin, welche die Anwesenheit der Marschallin benutzte, um der Königin Mutter, den Prinzessinnen und diesem höchsten Kreise Mademoiselle de Lesdiguères als die verlobte Braut des jungen Grafen von Crecy-Chabanne vorzustellen. Sie kehrte zurück mit der stolzesten Selbstzufriedenheit, mit dem Gefühl, ihr Ziel erreicht zu haben – und indem sie sich umwendete, erblickte sie Leonin, und ein nie gekanntes Erbeben erschütterte ihren ganzen Körper; denn es war, als ob eine Donnerstimme ihr zuriefe: »triumphire nicht zu früh – er wird das Opfer!« – Doch war sie stets schnell gefaßt. Ein Wink entfernte die Kammerfrauen; – und als sie eigenhändig das Vorzimmer verschlossen hatte, war ihre ganze Selbstbeherrschung zurück gekehrt, und in sich hinein sagte sie: »jetzt keine Schwäche, er ist ja der Augenblick, den Du längst erwartet!«

Sie hatte diese Ermahnung nöthig; denn als sie wieder eintrat, ging Leonin mit seinem todtenähnlichen Antlitze ihr entgegen und sagte mit leiser, heiserer Stimme und einem Ausdruck der Augen, der ihren Herzschlag aufhielt: »Retten Sie mich, Madame! Retten Sie mich!« Er wiederholte diese Worte so oft, so gleich schrecklich im Tone, daß sie glaubte, er sei wahnsinnig geworden.

»Vor allen Dingen komme zur Besinnung, mein Sohn!« sagte sie, vergeblich bemüht, ihrer Stimme Sicherheit zu geben. – »Du bist in einem Grade überspannt, der Dir die richtige Ansicht Deiner Lage unmöglich macht. Fasse Dich und habe [144] Vertrauen zu mir; wir werden, in Uebereinstimmung handelnd, Alles beseitigen, was Dich überwältigt und quält.«

»Nein, nein, Madame,« fuhr Leonin in demselben Tone fort – »es kann nicht möglich sein – ich bin nicht zu retten! Entweder hier entehrt vor dem Könige, vor allen Menschen – oder dort vor Gott und mir selbst! Es ist nicht zu vereinigen, ich muß das Opfer werden!« –

»Lassen Sie mich diese Sprache nicht hören!« sagte die Marschallin – »mein Herz hat keine Nachsicht mit unmännlichen Empfindungen. Sie sind augenblicklich gerettet, wenn Sie anerkennen, welche hohe, ehrwürdige Verpflichtungen Ihnen Ihr Rang, als einem der ersten Unterthanen unseres erhabenen Königs, auferlegt. Sie gehören sich selbst nicht mehr an, kein Mensch hat ein Recht an Sie von dem Augenblicke an, wo der König über Sie verfügt; – Alles ist Nebensache – kann und muß beseitigt werden zu Gunsten dieses einen, höchsten Zieles! – So, mein Sohn, denken alle, welche die Ehre haben, Franzosen – Unterthanen des ersten Königs der Erde zu sein. – Doch, vor Allen denken so die hohen Vasallen der Krone, die Stützen des Thrones – die Crecy-Chabanne, die Rohan, Soubise, Montmorency, Latour d'Auvergne und ähnliche erlauchte Personen. Ist eine Jugendthorheit in ihren Lauf gekommen, so wissen Sie, daß keine der Art so hervortreten darf, daß sie diesen angestammten Verhältnissen den kleinsten Schatten geben könnte; und da Sie nur eine Pflicht haben dürfen, so wissen Sie, was Sie von allen andern zu halten haben.«

Da Leonin nicht antwortete, sondern seine Mutter mit düsteren, verwirrten Blicken anstarrte, fuhr die Marschallin mit steigendem Muthe fort: »so sehr ich es mir auch zum Gesetze gemacht habe, Ihrer Jugendverirrung nicht mehr zu gedenken, überzeugt, Sie würden im Laufe Ihres Lebens am Hofe, und [145] bei erlangter Kenntniß der Verhältnisse, die Ihnen allein zustehen, von selbst die nöthigen Schritte thun, sich von jedem störenden Einflusse, der daher kommen könnte, frei zu machen – muß ich doch einsehen, daß Sie mit Ihrer gewöhnlichen Nachlässigkeit jene Jugendthorheit unverändert gelassen haben. Wie jedes Uebel dadurch wächst, daß wir es nicht anzugreifen wagen, so findet es sich auch bei Ihnen; da Ihre glänzenden Verhältnisse, die Ihnen in allen Beziehungen die ersten und vollkommensten Gaben darbieten, Sie endlich auf die Spitze hintreiben, ergreift Sie das Gefühl, dieser Auszeichnungen nicht mehr werth zu sein durch unwürdige Bande, denen Sie noch Geltung zugestehen.«

»Nein, nein,« unterbrach sie Leonin – »nicht unwürdige – heilige, heilige Bande! – Ich bin vermählt! Ich bin ein Bösewicht, wenn ich es läugne!«

»Hierüber, mein Sohn,« sagte die Marschallin mit großer Kälte, »kann ich mit Ihnen nicht streiten. Der Pairshof würde Ihnen darauf antworten können! Doch würde ich beschämt sein, wenn mein Sohn von einem Gerichtshofe erfahren müßte, daß keine Handlung des Mineronnen, ohne Zustimmung seiner Eltern, irgend gesetzliche Kraft habe; noch mehr aber beschämt, wenn der Erbe des Namens Crecy-Chabanne in Zweifel darüber wäre, daß er sich vor der Welt nur durch eine ebenbürtige Vermählung behaupten könne. Doch dies Alles habe ich nicht nöthig; – ich verweise Sie an Ihren Beichtvater; fragen Sie ihn, welche Kraft für einen Katholiken eine so ungehörige ketzerische Vermählung hat, und Sie werden erröthen, der Spielball dieser Intrigue gewesen zu sein.«

»O, meine Mutter,« rief Leonin – »gestatten Sie mir nur, Ihnen die Dinge darzulegen, wie sie wirklich sind! Sie finden mich ja nicht hartnäckig, widerstrebend! Nur zu schmerzlich erkenne ich, wie unbesonnen und leichtsinnig ich gehandelt, [146] wie das Wesen, das ich selbst aus freier Wahl in mein Leben verflochten, auf keine Weise in die Verhältnisse meines Standes paßt, die ich jetzt erst in ihrer Wichtigkeit erkannt habe! Aber ich beschwöre Sie, wenn Sie mir helfen wollen, erkennen Sie an, daß dies Wesen edel und unschuldsvoll mit ihrem Vater mir vertraute – daß sie keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Vermählung hat – und bedenken Sie, daß ich damals, als ich ihr zum Altare folgte, derselben Ueberzeugung war; mein Gelübde also zu Gott mit der vollen Zusage meines Innern drang! – Wenn Sie diesen Grad von Rechtmäßigkeit erwägen, werden Sie meine Lage um so schwieriger finden; Sie werden zugeben, wie elend ich mich fühlen muß, zum Verräther an dem reinsten menschlichen Vertrauen zu werden – oder vor der Welt als ein Thor dastehn zu müssen, der die Gnade unseres großen Königs zurückweist und ein Mädchen tödtlich verletzt, die durch Rang und Verdienst, die Erste zu sein, würdig ist.«

Die Marschallin schwieg einen Augenblick und überlegte, daß ihr Sohn, wie aus seinen eben vernommenen Worten hervorging, weit genug gekommen war, daß sie jetzt theilnehmend werden könne, um das Ganze zu vollenden.

»Es ist vielleicht die Schwäche der Mutter, die mich mehr mitleidig, als zürnend macht; – ich kann aber nicht ohne Theilnahme sehen, wie diese unglückliche Sache Dein Herz beunruhigt, und ich will Dir vergeben, um Dir helfen zu können!« –

Leonin stürzte ihr zu Füßen, um die dargebotene Hand an seine Lippen zu drücken. – So groß war der Einfluß dieser Frau, daß ihre Zusage, ihm helfen zu wollen, eine Last von seinem Herzen wälzte, als ob damit schon Alles eine andere, günstigere Gestalt gewonnen habe. – »Wir müssen darüber einig werden,« fuhr sie dann ruhig fort, »daß diese eingegangenen Verbindlichkeiten, seien sie so groß, als sie Dir erscheinen – oder so klein, als sie wirklich sind – auf jeden Fall gänzlich [147] für Dich beseitigt werden müssen; und ich würde, da ich Dir wenig Geschick für diese Angelegenheit zutrauen darf, ungern in Deine Rückkehr willigen, wäre Deine Abreise nicht einmal von dem Könige erwähnt worden, und dadurch einem Befehle ähnlich zu betrachten, und damit Dir auch Zeit gegeben, eine Stimmung zu gewinnen, wie Mademoiselle de Lesdiguères sie von Dir erwarten darf. – Doch verlange ich von Dir, daß Du jene junge, unwissende Person auf ihr nothwendiges Schicksal vorbereitest, entweder durch die bestimmte Darlegung Deiner jetzigen Lage, über die Du früher aus Unwissenheit so falsch urtheiltest – oder, indem Du ihr durch Dein kaltes Betragen Dein verändertes Herz darthust. Ich werde indessen den Marquis de Souvré, der schon einmal der Vertraute dieser unglückseligen Angelegenheit war, bewegen, sich der Sache aufs Neue anzunehmen, und er soll Dir nach Ste. Roche folgen und alles Uebrige feststellen und beendigen. Vorher mußt Du Deinen Beichtvater sprechen; er wird Dir sagen, wie sehr Du Dich versündigt hast, eine Verbindung mit einer Ketzerin geschlossen zu haben, und wie Du diese Sünde nur sühnen kannst, indem Du sie aufhebst und widerrufest. Auch wird hierzu die junge Person durch ihres Landes Sitte, wie durch die Lauheit ihrer sogenannten Religion geneigt sein, da, wie ich höre, in diesem protestantischen England sie die Ehen schließen und wieder auflösen lassen vor einem Gerichtshofe, welches denn beweist, was von solchen Verbindungen dort zu halten ist.«

Da die Marschallin sah, wie ihr Sohn bei diesen Worten litt, und ihn jetzt zu keiner Vertheidigung reizen wollte, fügte sie milder hinzu: »Ich will nichts wissen von den Einrichtungen, die Du vielleicht triffst, um Deinem weichlichen Gefühle zu Hülfe zu kommen. Ste. Roche ist ein Aufenthalt, der Dir allein gehört – Niemand Deiner Familie wird ihn je aufsuchen – die Revenuen erlauben Dir jede Freigebigkeit, und ist diese [148] Person durch eine Art Scheidung, nach ihren Begriffen, von Deinem Namen und allen damit verbundenen Ansprüchen für immer getrennt, wird es Dir zustehen, sie in eine sorgenfreie Lage zu versetzen. Doch vergiß nicht, daß Dein Name durch keinen Andern sich fortpflanzen darf, als durch die Kinder, die Dir eine ebenbürtige, rechtmäßig kirchliche Verbindung giebt.«

Wir müssen es mit Schmerz eingestehen, daß Leonin die Ausführung dieser Vorschläge möglich fand und sich damit erleichtert hielt, seinem unsicheren, willenlosen Umhertappen gegenüber. Die alten Vorurtheile warteten nur auf die ihnen bequeme Stimmung, um sich sogleich zu Beherrschern zu machen, und was noch unvollendet blieb, kam in die Hände des Beichtvaters, der nur zu bald mit dem Gewissen Leonins fertig ward und, einer Ketzerin gegenüber, keine bindende Verpflichtung zugestand.

So vorbereitet, trat Leonin die Reise an, und mit diesem Hintergrunde finden wir ihn zu Fennimors Füßen, seinen Sohn im Arme!

Und dennoch war er kein Heuchler! Dennoch hatte er keine Lüge gesagt, als Fennimor Alles hörte, was ihr Herz beglücken konnte. – Ja, um so weniger war er es, da dies vielleicht das eigentliche Leben war, wozu die Natur ihn bestimmt, und daher sogleich sein ganzes Wesen entgegen kommend fand, von allen Anklängen seines sanften, weichen Karakters unterstützt. Die natürliche Richtung der Menschen bricht sich immer von Zeit zu Zeit Bahn, wie das eitle Leben auch ihre Fähigkeiten entkräftet, da sie keinen Werth haben bei Erstrebung ehrgeiziger Zwecke, und es ist gewiß vor Allem diesen heiligsten Empfindungen, die Gott der Elternliebe verliehen hat, und die auch das starrste Herz mit einem warmen Strome nie gekannter Wonne durchdringen, vorbehalten, den natürlich besseren Zustand des Menschen hervor zu rufen.

[149] Dessen ungeachtet dürfen wir Leonin nicht mehr mit dem glücklichen Jünglinge verwechseln, der in Stirlings-Abtei diese edlere Seite des Lebens aufzufassen vermochte. Er taumelte dem neuen Gefühle wie ein Trunkener in die Arme; aber die Verhärtung des Herzens, die so leise und heimlich von der eigenen Mutter bis zu ihm geleitet war, hielt das letzte große Mittel der Natur, ihn bis auf den Grund zu reinigen, in seinem Einflusse auf und ließ ihm eben keinen andern Eindruck nach, als den eines Trunkenen. Es blieb ein vorübergehender Zustand; er dachte, sich ernüchternd, daran, ihm keinen Einfluß zu gestatten auf die ihm mitgegebenen Pläne seiner Mutter, und war nur bereit und mit wahrem Eifer erfüllt, dieselben so liebevoll und schonend auszuführen, als möglich.

Fennimor's Einfluß auf ihn, das Einzige, was ihn hätte erschüttern können, war durch die Zurückgezogenheit gebrochen, in welcher die Pflege ihres Zustandes sie hielt. Mit andächtiger Strenge ertrug sie die Qual einer Pflege, die ihr Schweigen, ihr Lager und das verhängte Zimmer gebot; und so wurde Leonin oft von ihr getrennt und ihrem Zauber entzogen, den sie nur entwickeln konnte, wenn sie umher wandelnd die Dinge um sich her mit ihrem eigenthümlichen Geiste belebte. Dazu kam, daß der Gegensatz dieses Lebens zu dem eben verlassenen so ungeheuer groß war, daß auf die fieberhafteste Aufregung, die dort seine Tage belebt hatte, jetzt eine Abspannung eintreten mußte, die er nicht der vorangegangenen Extase, sondern dem jetzigen, ihm trostlos leeren und gehaltlos erscheinenden Leben zuschrieb, welches allerdings durch Fennimor's Zurückgezogenheit seines Hauptimpulses entbehrte. Er hatte in der daraus entstehenden Einsamkeit Zeit, sich zu wiederholen, daß er hier nicht mehr leben und glücklich sein könne – und es war vorläufig Alles, was er für Fennimor in sich erhielt, daß er bedauerte, sie nicht von Verhältnissen trennen zu können, die ihm jetzt [150] niederbeugend schienen, nachdem er gelernt hatte, das äußere Leben über das innere zu stellen.

Bald nahte der Augenblick, der ihn zuerst zwang, seine bedingte Stellung zu seinen jetzigen Verhältnissen anzudeuten. Der Vikar erinnerte nämlich nach dem vierten Tage, daß die Taufe des Neugebornen nach den Vorschriften der Kirche nicht länger verschoben werden könnte, und Leonin war dazu mit eben dem Leichtsinne bereit, wie er sie ohne Erinnerung vergessen haben würde. Er bat den Vikar, darüber mit Emmy Gray die Verabredung für den nächsten Morgen zu nehmen, und wollte sich eben beurlauben, als der Vikar ihn um die Namen bat; da er noch heute das Kirchenbuch ausfüllen wolle, um in der Kirche dann die Unterschriften erfolgen zu lassen.

Vor dieser Erinnerung blieb der junge Graf, wie vom Blitze getroffen stehen! Der Trost jedes schwachen, unmännlichen Treibens, das Verschieben, das Hinhalten der Zustände, wie sie uns noch schonen und zu keiner Entscheidung zwingen, war ihm damit plötzlich entrissen – und wir dürfen ihm die Gerechtigkeit nicht versagen, daß er vor der Größe des nächsten Schrittes erbebte und seinen Inhalt fast mit Verzweiflung erkannte.

Aber ihm war keine Rückkehr mehr denklich, obwol er auch dort weder Genuß, noch Lebensreiz erwartete. Er sagte sich daher, sein Paradies sei für ewig verschüttet – der Sinn, durch den er es einst gefunden, sei verloren, und was alle Schwächlinge thun: er gab sich auf, um fortsündigen zu können!

Wie schnell seine Gedanken auch die Vorstellungen durchliefen, die wir hier andeuteten, die Lücke des Stillschweigens war dennoch da, und er traf auf einen Blick des Vikars, der ihm sagte, der kluge Mann beobachte ihn. Dies reizte seinen Stolz, und er hatte schon die Miene der vornehmen Welt gelernt,[151] die eine Ueberlegenheit andeuten soll, die durch nichts denkt vertreten werden zu müssen und sich geschickt glaubt, die Anforderungen bloß menschlicher Rechte, die ihnen unbequem sind, damit zurückzuweisen, als über die Grenzen ihrer besondern Bevorrechtung streifend.

»Herr Vikar,« sagte er mit dem dazu passenden Tone, »ich werde Ihnen Ihre Weisung darüber zusenden – richten Sie das ein, was außerdem nöthig.«

»Das werden zwei Zeugen sein,« erwiederte dieser kalt. »Haben Euer Gnaden darüber bestimmt?«

Leonin biß sich in die Lippen – er mußte wieder entscheiden! »Nun,« sagte er, indem seine Gedanken im Fluge alle diesem kleinen Kreise angehörigen Personen durchflogen, »Mademoiselle Veronika und der Arzt werden vielleicht diese Ceremonie vervollständigen, ich werde Beide persönlich darum bitten.«

Der Vikar neigte kaum merklich sein Haupt, und der junge Graf enteilte dieser peinlichen Unterredung.

Aber er wagte nicht zu der Stelle zurück zu kehren, wo Fennimor ihr unschuldiges Haupt mit lieblichen Träumen ihres Glückes wiegte. Er eilte in die Wälder, die in ihrer duftenden Juli-Fülle den Verirrten zu fragen schienen, ob er ein Recht habe, sich in ihrem Bereiche unbefriedigt zu fühlen. Aber er sah und empfand ihren schönen Anspruch nicht. Bisher war er unthätig zum Bösen fortgetrieben worden; jetzt zuerst sollte er selbstständig aussprechen, was er so lange sich selbst abläugnend um sich her geduldet hatte. Er fühlte sich in einer Zerrüttung, es ruhte eine Bürde auf ihm, die unleidlich schien; – und der ewig gelenkte und bevormundete Jüngling war in einer Erbitterung, selbst entscheiden zu müssen, welche ihn hätte warnen können, da sie vielleicht der letzte Versuch seines guten Engels war, ihn aufzuhalten.

[152] Als er später, wie gewöhnlich, an Fennimor's Lager trat, war die Entscheidung in ihm vollendet. Kalt und ruhig blickte er auf sein Weib und das schlummernde Kind an ihrer Brust – er fühlte innerlich, daß er sich von ihnen geschieden hatte; und in dem Maaße, wie er vor der Größe seines Frevels erbebte, in dem Maaße erkältete es ihn gegen die Gegenstände desselben. Fennimor lag in einem Fieberschauer, ihrem Zustande gemäß, der auch die Gestalt des Lieblings verhüllte; er berührte das Kind nicht, was Emmy Gray ihm übergeben wollte, und fragte nur kurz und trocken, ob sie mit dem Vikar Verabredung genommen habe. Er wollte sich verhärten, um der Reue zu entgehen, und erfuhr das Schicksal aller schwankenden, unentschlossenen Menschen. – Einmal zum Handeln gezwungen, überholte er sich selbst und steigerte seinen Vorsatz über das erforderliche Bedürfniß! –

Als am andern Morgen der Vikar vor den Stufen des Altars den Grafen um die Namen des Kindes befragte, rief derselbe mit kalter, lauter Stimme: »Reginald Crecy von Ste. Roche.« – Der Vikar hielt einen Augenblick inne; dann sagte er, ohne es in die Taufformel einzuschließen, indem er den Grafen fragend ansah: »Reginald, Graf von Crecy?«

»Reginald, Crecy von Ste. Roche!« unterbrach ihn der Graf mit jähem Wechsel der Farbe, indem sein Auge starr und zornig auf dem jungen Geistlichen haftete. –

Nach einer Pause schloß der Geistliche mit diesem Namen die Ceremonie.

Kaum war sie vorüber, so eilte der Graf auf das Kirchenbuch zu, nahm selbst die Feder und schrieb den Namen ein. Als die Zeugen unterschrieben, sahen sie, daß der Name Crecy unter den Vornamen stand, Ste. Roche als Familienname.

Keiner sprach einen Glückwunsch. Der Graf blieb in stolzer Abgeschlossenheit stehen, bis Alle unterschrieben hatten; [153] dann verließ er plötzlich die Kapelle, und der beraubte und entehrte kleine Täufling ward, von Niemandem begleitet, nach dem alten Schlosse zurückgetragen, das ihm eben seinen Namen hatte leihen müssen, von dem Manne beraubt, dessen Herz sich zu verhärten begann, wie die Steinmassen, die ihn aufnahmen.

Weder Emmy Gray, noch Fennimor erfuhren, was geschehen war. Emmy verließ ihren Liebling nicht, und die Wärterin, eine völlig unwissende Person, hatte keinen Anstoß gefunden, den sie hätte verrathen können. Veronika aber, ihr Bruder und der Arzt gelobten sich Schweigen, um nicht voreilige Erschütterungen zu veranlassen.

Fennimor verließ jetzt das Bett, und die schönste Jahreszeit machte es möglich, daß sie unter den Schatten der Bäume getragen werden konnte, das holde Kind im Schooße, das noch schlafend sein kleines Leben einhüllte, von der Liebe behütet, die ahnend in seine Bedürfnisse eindringt.

Wo konnte man ein vollständigeres Bild dieser aufhorchenden Liebe finden, als in Fennimor! Wie schön war diese sanfte. blasse, kindliche Mutter mit dem unnennbaren Zauber der seligsten Befriedigung! Die Harmonie ihres Innern ruhte in jedem Zuge, in jedem Laut ihrer Stimme; kein Gefühl trat vor dem andern vor; ihre Liebe zu Leonin war die Liebe zu ihrem Kinde – Gott, die Natur, fielen wie Strahlen hinein – es war Alles dasselbe! Sie schwamm, wie eine schöne duftende Nimphaea, auf dem ruhigen Wasserspiegel der Gegenwart – die Sonnenstrahlen über ihr, die den kurzen Lebenstag beseligten, für unvergänglich haltend – die Nacht vergessend in dem reinen Lichte des Mittags!

Leonin hatte das Härteste gethan, ehe der Eindruck dieses verklärten Zustandes ihn erfassen konnte. Jetzt stand er davor – von seinem Gewissen aus diesem Paradiese vertrieben, den [154] Fluch schon fühlend, der seine Stirn langsam umkreiste, die Flammenschrift der Befleckung einzugraben!

Wie Leonin auch gelernt hatte, mit der Sünde zu scherzen, ihren Lockungen nachzugehen und vor ihren Anforderungen nicht mehr zu erbeben – das erste positive Böse hatte er erst hier gethan, und er empfand den ungeheuern Unterschied zwischen einem solchen eigenmächtigen, selbstgewählten Schritt und dem negativen Hingeben, dem er bis jetzt sich überlassen. Gerade, daß er noch nicht vollständig verführt und verhärtet war, machte diesen Schritt so verhängnißvoll für ihn. Es war damit eine Art Wahnsinn entstanden, eine Mischung von Schmerz, Verzweiflung, Haß und Grausamkeit, die sein ganzes Wesen in Gährung versetzte und nur eine hohnlachende Stimme aus ihm hörbar werden ließ, die immer aufs neue wiederholte: vorwärts, vorwärts, Du bist nicht mehr zu retten!

Hätte Fennimor nicht an ihrer Brust das holde Kind, diesen Schild gegen alle Verwundungen der Welt, getragen, wie würde sie Leonin's Veränderung schnell erkannt haben! Aber das Kind lag zwischen ihnen – sie fand Leonin nur durch dies hindurch und deshalb immer verklärt oder eingehüllt. Doch auch für diese Täuschung mußte die Aufklärung kommen.

Fennimor ward mit den wiederkehrenden Kräften auch selbstständiger; aus dem physisch träumerischen Zustande, der sie zu Anfang an ihr Kind fesselte, wie noch in einem Pulsschlage gebunden – erfolgte nun die natürliche Trennung, die in der Mutter die gesonderte Existenz herstellt, die der erste Schritt für die Emancipation des Kindes wird.

Hiemit trat sie Leonin näher, und ihr kluges Auge, ihr reines Gefühl ließ sie augenblicklich die Wahrnehmung seiner Veränderung machen.

»Ach, Leonin,« sagte sie – »durch Lesüeur habe ich viel von der bösen Welt gehört, in welcher Du leben mußt, und [155] es hat mich recht geschmerzt auch um Deinetwillen! Wie schwer muß es sein, dort zu leben, und wie kann ich es Dir anfühlen, was Du dort leiden mußtest! Du hast keinen guten Blick mehr – Deine Seele sieht traurig aus Deinen Augen heraus!«

Leonin zog ein Lächeln um seinen Mund – es war krankhaft und bitter und enthielt eine ganze Antwort, die aber Fennimor nicht verstehehen konnte; und da er außerdem schwieg, fuhr sie fort: »sag' mir, bleibst Du nun in der schönen Welt hier, oder muß ich mit Dir in jene andere hinein ziehen?«

Hoch brauste es in Leonin's Brust auf. Ha, rief seine Seele, warum stößt Du mich selbst in den Abgrund, den ich Dir noch verdecken wollte? So machte er, verwirrt von der Verzweiflung seines Herzens, es ihr zum Vorwurf, daß sie ihn veranlaßte, ihr zu sagen, wie unglücklich er sie zu machen beschlossen hatte! Wer hätte die Qual zergliedern können, die ihn zerriß, als er die Lippen öffnete.

»Weder das Eine, noch das Andere,« rief er. – »Ich kann weder die Welt verlassen, die Dir der krankhafte Träumer Lesüeur so böse geschildert hat, noch Dich dorthin führen; denn das Eine bleibt gewiß, für Dich paßt diese Welt nicht, und Du würdest dort keinen Platz für Dich finden!«

»Ja, das dachte ich auch,« sagte Fennimor sorglos, »und immer nur, wenn Du mich darum bitten würdest, dürfte ich es thun; denn es ist ja unser Gebot, daß wir das Böse nicht suchen sollen, weil es, wie der Staub in der Luft, unmerklich uns berührt und endlich doch die reine Farbe unseres Inneren entstellt. Aber dann ist doch Deine Heimath auch nicht dort, und warum willst Du zurück, da es Dich traurig macht und Deine schöne Seele kränkt?«

Leonin's Brust wollte zerspringen. Er hätte ein lautes Angstgeschrei ausstoßen mögen – die Welt mit den Füßen [156] unter sich zerstampfen. Ungeheuer! rief er innerlich. – Er wußte nicht, ob gegen sich oder gegen Andere; aber die erste selbstgeführte schlechte That hatte ihm den Zügel aus der Hand gerissen – er jagte fort, verwildert von der Angst, mit der sie ihn verfolgte.

»Darin irrst Du – meine Heimath darf hier nicht sein. Ich bin dem Vaterlande, dem Könige, meinen hohen Verhältnissen als Vasall der Krone eine andere Lebensweise schuldig, als diese müßige Existenz hier sein würde.«

»Ha,« rief Fennimor, »das klingt schön, und ich begreife Deine hohe Bestimmung – erzähle mir recht Viel davon! Du hast Recht, Dich so groß und kräftig zum Leben zu stellen, ein Mann muß das auch! So waren einst die Makkabäer, und ihre Größe und Heldentugend diente auch zum Schutze des Vaterlandes. Davon wird die Seele ein mächtiger Thron erhabener Gedanken, die den Mann Gott näher führen, und doch bleibt er dabei sanft und heiter, wie ein Kind. – Wie gönne ich Dir diese große Weihe zum Leben, mein Geliebter! Wie stolz bin ich darauf und wie begreife ich nun wohl, daß Dir das armselige, kleine Leben, von dem Lesüeur sprach, nichts anhaben kann! – Aber,« fuhr sie fort, »in diese schöne, erhabene Welt, die Du Dir geschaffen hast, kann ich Dir folgen; die ist es gerade, von der ich geträumt habe, bis der arme Lesüeur sie so bitter verklagte.«

»Lesüeur,« erwiederte Leonin kalt und stolz, »kann gar nicht die Welt beurtheilen, zu der ich gehöre – eben so wenig kannst Du mir aber dahin folgen. Ich werde immer von Zeit zu Zeit nach Ste. Roche zurückkehren, und in Deinen Verhältnissen hier wird sich Nichts ändern; – dort aber erlaubt Dir Deine Geburt nicht, den Rang zu theilen, den ich einnehme; und daher würden wir Beide eben so getrennt leben müssen, als wärest Du hier und ich dort.«

[157] »Was meinst Du damit, ich verstehe Dich nicht,« rief Fennimor – und eine Anregung von Stolz und Kränkung stieg in ihren reinen Zügen auf – »da ich Dein Weib bin, bin ich dasselbe, was Du bist, und mein Vater war ja nicht geringer, als der Deinige und ein Geistlicher überdies!«

Leonin fühlte einen Krampf in den Schultern; nur mit Mühe unterdrückte er es, sie zu zucken. Die Antwort übergehend, fuhr er fort, indessen sein Fuß den Rasen, der grün und duftend vor ihnen ausgebreitet lag, zu zerstören suchte: »Der König hat mich zum Kammerherrn und Reisekavalier der Königin ernannt. Ihre Majestät wird dem Könige in den Krieg nachfolgen, und ich muß daher zurück, sobald die Nachricht eintrifft, daß die Armee sich in Bewegung setzt.«

»Sagtest Du denn nicht dem Könige, wie lange Du von mir getrennt seiest, Leonin?« rief hier Fennimor, in Thränen ausbrechend. – »Er, der so gut, so übermenschlich begabt sein soll, hätte Dich doch wohl aus diesem harten Dienste entlassen?«

Hätte Leonin die Augen aufgeschlagen und Fennimor's Engelsantlitz gesehen, wie es unter seinen kalten, herzlosen Antworten nach gerade verändert ward, er wäre wenigstens vor sich selbst zurückgeschaudert. So aber wühlten seine düsteren Blicke sich in die Erde ein, die er vor sich aufriß, und er behielt Muth zu seinem Frevel.

»Der König ahnt meine Verbindung mit Dir nicht! Zu spät habe ich erfahren, daß Familien wie die meinige, als Vettern Seiner Majestät, nicht das Recht haben, sich ohne seine Bewilligung zu verbinden, daß er streng darauf hält, daß sie sich nur mit Familien des höchsten französischen Adels vermählen, daß er gewöhnlich selbst die Wahl trifft und jede andere Verfügung mit den strengsten Verfolgungen bestraft.« –

»So hat Lesüeur doch Recht, Dein König ist doch nicht der rechte von Gottes Gnaden, der hier auf Erden handeln [158] soll, als wäre er besonders erwählt, Recht und Gerechtigkeit zu üben – und Du« sagte sie jetzt, ernst und kräftig sich aufrichtend, »bist fast von der schlechten Welt dort verführt und hast zaghaft und kleinlich gehandelt, gerade wie ich es an Lesüeur beobachten konnte. Alles, was Du da gesagt hast, kann vor Gott nicht bestehen, und wenn Du es gegen sein Recht hältst, so muß man erstaunen, daß ernsthafte und gereifte Menschen dort bei Euch es für etwas nehmen, wonach sie sich richten müßten. Als wenn es den geringsten Werth hätte! – Aber Ihr fürchtet Euch dort alle vor einander, so daß Ihr aufhört, die rechte Gottesfurcht zu haben; darum werdet Ihr zuletzt verzagt, und Euer Herz geräth in Siechthum! Leonin,« sagte sie, »Du armer Lieber, da haben sie Dich auch zum Sündigen gebracht. Denn sieh', eine Sünde hast Du begangen, daß Du vor dem Könige nicht Dein göttlich Recht behauptetest und ihm sagtest, wie Du ein Weib habest! Ehe Du von seinem Rechte gewußt, habest Du sie durch göttliches Recht empfangen und könntest deshalb nicht weiter zu ihm gehören, als so weit sie dies auch könne. Denn da sei Gott vor, daß ich mit zu Felde ziehen wollte, wie keine christliche Hausfrau das wollen wird! Nein, wenn Du ein Krieger wärest, wie die Makkabäer, im Dienste für Dein Vaterland, da wüßte ich, ohne daß ich den König zu fragen hätte, wohin ich gehörte; – aber siehe, das bist Du nicht. Einen Posten giebt er Dir, von dem mir Lesüeur sagt, wie klein und nichtig er ist; ein müßiger Dienst, in welchem Du nicht einmal so wichtig bist, als unsere eigenen Diener uns sind. Und das, glaubst Du, sei ziemlich und recht und ein Dienst für einen Mann, für einen Vasallen des Königs, wie Du vorher so schön sagtest, wonach ich hoffte, Du müßtest auch mächtig und fleißig für Dein Vaterland handeln?«

Wie sollen wir ausdrücken können, was Leonin empfand bei dieser feurigen Strafrede! Es war fast dasselbe, was er vor [159] seinem Vater empfunden hatte – hier, wie da stieß er auf eiserne, unerschütterlich fest stehende Ansichten, die auch keinen Blick gestatteten in die ihnen entgegenstehende Welt. Dasselbe Gefühl der Unmöglichkeit, zu jenen Zuständen eine duldende Ueberzeugung einzuflößen. Eine Verzweiflung, nie verstanden oder entschuldigt werden zu können, ergriff ihn, Fennimor gegenüber, mit einem Zürnen verbunden, welches in ihrer, ihm nach gerade überredeten, unberechtigten Stellung zu ihm lag – in der Beschämung, mit der er Verhältnisse, die er herbei zu führen, sein ganzes besseres Selbst geopfert hatte, jetzt als gering und unwürdig bezeichnen und sein ganzes Treiben ein von Gott abtrünniges nennen hörte.

»Fennimor, Fennimor,« sagte er mit einem kalten Lächeln der Ueberlegenheit, »Du hast Dir bei Deinem untergebenen Lesüeur das Predigen angewöhnt! Mir deucht, Du nimmst die Dinge sehr streng. Denkst Du wohl daran, ob Du überall dazu berufen und ob Du mir gegenüber, in derselben Stellung bist?«

»Ach,« sagte Fennimor, deren alte Energie, noch von körperlicher Schwäche gebunden, schnell erschöpft war, plötzlich weich und gebrochen in sich zusammen sinkend, »Du hast Recht, das ist eine gar verkehrte Welt, in der das schwache Weib ihren Herrn schilt! Wie hätte ich daran gedacht, als ich es Lesüeur that, Aehnliches könnte mir bei Dir einfallen – wie traurig ist das, und wie tief sinkt mir dabei der Lebensmuth! Hindere das,« sagte sie dann mit schwacher Stimme, »mache Alles, damit wieder Trost in mein Herz kommt, und ich nicht so arge Furcht für Deine Seele hegen muß!«

Sie winkte Emmy Gray, die eben am Eingange des Schlosses erschien, und wankte an ihrem Arme mit bleichen Lippen und trostlosen Augen nach ihrem Schlafzimmer.

Leonin aber ließ sie dahin gehen, ohne ein mildes Wort, ohne sie zu stützen, ohne sie anzublicken oder ihr zu folgen. [160] Er blieb unbeweglich sitzen, er durchwühlte nicht mehr den Rasen – das Kains-Zeichen brannte auf seiner Stirne – aber der schwache Geist hatte keine andere Rettung, als den forttreibenden Ruf der Sünde: es ist zu spät – es ist Alles verloren!

Von da blieb Fennimor still und in sich gekehrt. Ihre Kräfte kehrten nicht in dem Maaße wieder, als es anfänglich zu erwarten stand. Sie sah Leonin oft an wie eine Mutter, die fürchtet, ihr Kind werde erkranken – aber sie sagte nichts mehr, der Vorwurf, daß sie ihren Herrn gescholten, den sie selbst sich stärker gemacht hatte, als Leonin für möglich gehalten, machte sie schüchtern und zurückgezogen. Ihre körperliche Schwäche unterdrückte dabei ihren lebhaften Geist; ihr Kind versenkte sie in eine Welt, unschuldig und lauter, ohne jede Störung ihres frommen Sinnes; – und so fand Leonin die augenblickliche Schonung, die er immer suchte, wenn auch zugleich keine Gelegenheit, sich frei zu machen, den Absichten gemäß, die er mitgebracht.

Da unterbrach diese schwüle Luft, die um Beide wehte, ein Brief seiner Mutter, mit einer Einlage des Marquis Vieuville, welcher die Rückkehr Leonin's, Seitens der Königin befahl. Die Marschallin fügte hinzu, daß der Marquis de Souvré sich endlich habe bewegen lassen, ihn von Ste. Roche abzuholen, und ihrem Briefe voraneilen oder folgen werde, um jene Angelegenheit zu beendigen.

»Ach,« seufzte Leonin auf – »jetzt muß ich fort! das ist nicht aufzuhalten, und Souvré wird das Uebrige einleiten!«

Er wollte Fennimor sogleich Alles mittheilen und ging nach ihren Zimmern; aber als er eintrat, saß sein schönes junges Weib da, so lilienweiß von Angesicht, wie die weiten, faltenreichen Gewänder, die um sie her flossen, und ihr Kind lag schlummernd in ihrem Schooße. Sie lächelte dem Wunder dieser kleinen zarten Bildung entzückt zu und als sie Leonin [161] eintreten sah, winkte sie ihm und zeigte ihm die kleinen, wunderbaren Fingerchen, und daß jedes ein Nägelchen habe und drei kleine Gelenke!

»Ach, Leonin,« sagte sie – »und das wird späterhin denken und fühlen können, wie wir, wird Recht von Unrecht unterscheiden; diese kleinen Hände werden sich einst mit Bewußtsein falten, wie die unsrigen. So wunderbar schön ist Alles auf der Erde – wir haben nur das Anbeten!«

Da zog Leonin die Hand von dem Briefe des Marquis Vieuville zurück, den er vorzeigen wollte. Er wußte ihre Ruhe nicht anzugreifen – er mußte sie schön, engelgleich finden. – Sein Kind glühte wie eine Flamme in ihrem Schooße. Das Eis seines Herzens wollte schmelzen – er kniete nieder – er küßte das schlummernde Wesen, das ihm so nahe angehörte – so menschlich ward ihm, so wehmüthig! Er sollte sie verlassen, um dann den größten Frevel an ihr auszuüben; er sollte diese sanfte, ruhige Gestalt von der Gewalt des Schmerzes überwältigt sich denken! – Es war, als ob alle seine Nerven aus ihrer Starrheit rissen. Thränen auf Thränen flossen nieder. – »Wie soll ich uns retten?« so fragte er sich zitternd. »Verurtheilt zu grenzenlosem Unglücke bin ich hier und dort!« Seine Seufzer erreichten Fennimor's Ohr. – »Was ist Dir, mein Liebling?« fragte sie sanft.

»O, Fennimor,« rief er mit dem alten Liebeslaute – »weine um mich, ich bin sehr, sehr unglücklich! Was ich auch thun mag, brich nicht den Stab über mich, ich werde schuldig sein; aber immer, immer noch viel unglücklicher, als schuldig!« –

Sein Kopf sank neben seinem Kinde in Fennimor's Schooß. Es war eine tiefe Stille. – So schweigt einen Augenblick Alles, wenn die Verurtheilung über den Angeklagten ausgesprochen ist – das Schicksal, das er herbeirief, ihn niedergeworfen hat. –

[162] »Du weißt,« sagte Fennimor, »ich habe mich schon ein Mal vergangen und habe Dich so gescholten, wie es mir nicht zukommt als Deine Frau – und seitdem habe ich immer Angst, wenn Du etwas sagst, das vor Gott nicht gehört, weil es mich dann treibt, Dich davon abzuhalten; und doch – Du weißt, was ich dann thue« – sie hielt schüchtern inne und legte blos leise ihre Hand auf sein glühend Haupt.

»Ach, Fennimor – strafender Engel, Du hast das Paradies nicht schützen können, vor dem Du einst mit dem feurigen Schwerte standest – jetzt bin ich daraus vertrieben, und ohne daß Du es willst, jagen mich Deine Worte weiter und weiter daraus fort!« –

»Nein, nein, sage das nicht! Da beginge ich große Sünde, und wenn sie so in mich gekommen wäre, ohne daß ich davon wußte – das wäre großes Unglück! Bete doch, Leonin, und denke während des Gebetes, daß wir gar nicht glauben müssen, so fest im Unrechte zu sein, als Du vorher sagtest; da Gott auch das Unrecht Deiner Seele in Händen hat und Alles wenden kann – dann gewinnst Du Vertrauen zu ihm, und ohne Vertrauen ist alle Reue unwirksam! Ach siehe,« fuhr sie, schüchtern über den Schweigenden gebeugt, fort – »Dein Unrecht ist mir nicht recht bewußt! Du bist wohl sehr traurig, das fühle ich – Du sagst auch von den verkehrten Begriffen jener fremden Welt Einiges – aber wenn Du selbst nicht darnach handelst, hat sie ja keine Macht über Dich!«

»Ach,« rief Leonin – und der Schmerz durchzuckte krampfhaft seinen Körper – »sie hat aber Macht über mich gewonnen, ich habe nach ihren Begriffen gehandelt, und bin nun hier und dort verloren!«

Fennimor erhob sich und störte ihn dadurch auf. Todtenblaß stand sie vor ihm, das Kind leise an der Brust haltend; ernst und erschüttert sagte sie dann leise: »Leonin, wir wollen [163] zusammen beten! Jetzt darf Dein Weib sich nicht von Dir trennen – ich weiß Dich nicht zu stützen – das Gebet wird es uns lehren!«

Sie wollte das schlummernde Kind nach seinem Bettchen tragen; als sie den Fuß erhob, ließ sich in den Vorzimmern Geräusch hören – Thüren gingen auf – Schritte nahten sich – es war der Kammerdiener – kaum hatte er Zeit, zu sagen: »der Marquis de Souvré,« als dieser auch schon eintrat – Fennimor schrie laut auf – das Kind fuhr aus dem Schlafe – Leonin sprang von seinen Knieen auf.

Der Marquis blieb mit der höhnischen Miene, halb Lächeln, halb Zorn, vor dieser aufgestörten Gruppe stehen, zufrieden, daß Beide in ihm den Henker ihres Glücks erkannten.

»Eine idyllische Scene!« rief er, als Beide schwiegen. »In Wahrheit, man glaubt hier um ein Paar Jahrhunderte zurück zu leben!«

Dies erzürnte Leonin. »Ich denke, Marquis, die Natur, mit ihren ewig gleichen Beziehungen zu dem Menschen, müßte auch überall dieselbe geblieben sein!« –

»Ich glaube – es kann sein« – erwiederte Souvré mit allen Zeichen der Langenweile, womit er Leonin immer unsicher machte und ihm zu imponiren wußte – »Sie wissen, ich habe nicht Zeit, an so Etwas zu denken. Wir Vornehmen der Erde sind genöthigt, diese Dinge den augenblicklichen Zuständen der Zeit anzupassen – ich grüble über so Etwas nicht. – Doch, Crecy, machen Sie die Honneurs in Ihrem Hause! Denn diese kleine Dame« fuhr er leicht grüßend gegen Fennimor fort, »scheint dazu nicht zu passen, und ich bin wie ein Unsinniger gefahren, Ihr altes Eulennest zu erreichen, und bedarf jetzt Ruhe.«

Er wollte Leonin's Arm ergreifen und ihn mit sich ziehen. Da erwachte Fennimor; sie stand auf, schritt auf [164] Beide zu und heftete ihre großen, angstvollen Augen so fest auf den Marquis, daß dieser den Blick nicht zu ertragen vermochte.

»Berührt ihn nicht,« sagte sie dann mit einer Geisterstimme, »berührt ihn nicht! Ihr dürft keinen Antheil an ihm haben – und Du, Leonin, gehe nicht mit ihm, er ist nicht rein geblieben, Du gehest verloren mit ihm!«

So gewandt Souvré jeden Gegenstand zu behandeln wußte, war er doch mehr auf die Impertinenzen der großen Welt abgerichtet; hier trat ihm eine Verwerfung, eine Verachtung entgegen, die sich um kein Bonmot, um keinen Scherz drehte, der durch einen noch böseren Witz wieder bezahlt werden konnte. Ihr Ernst, der von einer fast überirdischen Schönheit unterstützt ward, überwältigte ihn mit der Macht der Wahrheit, und der Pathos, mit dem sie ihn so ohne Rücksicht bezeichnete, hatte etwas so Mächtiges, daß er sich ihm nicht zu entziehn vermochte und einen Augenblick davon berührt ward, wie von einem Strafgerichte.

Aber was hätte auf lange die Gewalt gehabt, ihn gegen seinen Willen zu beherrschen! Fast erschrocken fühlte er ihren Einfluß auf sich, und doppelt erzürnt, sprang er um so wilder mitten durch. Ein mißtönendes Gelächter erschallte aus seinem Munde. »In Wahrheit,« rief er, »Deine Kleine ist die anmuthigste tragische Schauspielerin, die ich noch je sah! Aber ein ander Mal – jetzt bin ich zu abgespannt! Komm', Leonin! Ein Bett ist mir jetzt lieber, als alle kleinen Theaterscenen!«

Erschrocken war Fennimor bei Souvrés Gelächter in Leonin's Arme geflogen – scheu blickte sie daraus hervor auf jenen hin. »Wehre ihn ab!« sagte sie schaudernd, »er ist ganz zerfallen mit Gott, das kannst Du leicht fühlen. O, bleibe bei mir, bis er fort ist!« rief sie flehend, als Leonin, sie sanft beruhigend, sich von ihr losmachen wollte, »bleibe bei mir, bis er fort ist, er thut Dir sonst ein Leid!«

[165] Souvré lachte wieder – Leonin führte sie zu ihrem Sitze zurück. »Fasse Dich, Fennimor! Es ist ja derselbe, der Dich schon ein Mal so gegen Ordnung und Recht erschreckt hat – erkennst Du ihn denn nicht wieder?«

»Ja, ich erkenne ihn,« sagte Fennimor mit schwacher Stimme. »Ich fühle den Stich von damals wieder durch mein Herz – es wird nicht ohne Grund sein. O, rette Dich, rette Dich – er will Deine Seele!«

»Beruhige Dich, geliebte Fennimor,« rief Leonin zärtlich, »ich will ihn wegführen – von Dir wegführen, damit Deine Angst sich legt – später wirst Du ruhiger sein.«

»Gehe nicht! o, gehe nicht! sonst wird es mein Tod!« stammelte Fennimor und glich in diesem Augenblicke fast einer Sterbenden. »Wenn er Dich wegführt, sind wir auf immer getrennt – dann ist Deine Seele dem Bösen verfallen, mein Leib dem Tode!«

Ihr Kopf sank zurück; sie konnte ihn nicht mehr mit ihren ohnmächtigen Händen halten. Leonins Herz war zerrissen von Schmerz; aber der höhnende, stechende Blick Sonvré's, der ihn beständig verfolgte, war so unerträglich, daß er Leonins Blut mit jedem Augenblicke mehr vergiftete. Er sprang auf, von Fennimors Seite hinweg, aus ihren matten Händen gleitend, er hörte ihren leisen Schrei, er sah, wie ihr brechendes Auge ihm noch folgte, und indem er Emmy rief, stürzte er auf Souvré zu, riß ihn mit sich fort – wie er hoffte – nur, auf wenige Augenblicke.

Als die Thür zufiel, schlossen sich auch Fennimors Augen. Glückliche Bewußtlosigkeit deckte ihre Schmerzen zu. –

Mit kalter, finsterer Entschlossenheit stand Emmy Gray ihr zur Seite. Hätte man den Ausdruck dieser strengen Züge deuten wollen, man hätte glauben können, sie wünsche ihrem Lieblinge den Tod, der scheinbar nur ihre Züge bedeckte. [166] Wenigstens rührte sie keine Hand zu ihrer Belebung; aber bitter und finster blickte sie nach der Thür, und eine Drohung von Haß und Verachtung konnte kein Wort deutlicher bezeichnen, als dieser Blick!

Fennimor schlug endlich die Augen auf; aber sie blieb wie leblos in ihrem Stuhle. Emmy Gray ging schweigend ab und zu. Das Kind schlief wieder, die Mutter begehrte nicht danach, ihre Sinne schienen gebunden. Endlich strömte die Abendluft in die Fenster, die Emmy geöffnet – Fennimor ward davon belebt.

»Wo ist er?« war ihr erstes Wort. »Wenn Ihr den Grafen meint,« erwiederte Emmy, »so ist er bei dem Herrn Marquis.«

»Erbarme Dich, Gott!« rief Fennimor und verhüllte ihr Gesicht. Tiefe Stille herrschte fort – sie schien zu beten – dann siegte die Erschöpfung – ein kurzer Schlummer berührte ihre schweren Augenlieder.

Die Abendsonne bestreute das schöne reiche Gemach mit glänzenden Lichtern; in die Fenster schaute die herrliche Landschaft des Thales von Ste. Roche. Hinter Blumen und niedrigen Gesträuchen, die das Fenster zunächst umzogen, ruhte weiterhin in dem warmen sonnengefärbten Dufte des Sommers der Wald und der Fahrweg durch den Wiesengrund; Alles athmete Schönheit, Genuß und Erfüllung. Nur Fennimors kurzer Schlaf hatte den unruhigen Athem des beklemmten Herzens; ihre Wange sank bleicher ein, und das Auge war nur halb geschlossen.

Emmy hörte Schritte nahen; sie riß sich von dem schwermüthigen Anblicke ihres Lieblings los, um leise die Thür zu öffnen – der Marquis de Souvré trat herein. – »Meine gute Frau,« sprach er, »ich muß Eure Herrschaft sprechen, laßt mich nur näher treten.«

[167] »Da ist sie,« erwiederte Emmy, mit bitterm Hasse im Blicke. »Stirbt sie Euch noch nicht früh genug, so wird es Euch bald gelingen, es zu vollenden.«

»Das alte Hexenschloß« lachte Souvré, »hat in Wahrheit würdige Bewohner; jedes singt auf seine Weise irgend ein Beschwörungslied. Mit Euch muß ja ein ehrlicher Mann den Muth verlieren zu reden!«

»Ihr freilich,« zögerte Emmy nicht zu erwiedern, »Ihr solltet ihn billig verlieren! Aber Ihr, prophezeihe ich, werdet ihn behalten, bis Ihr allen Frevel vollführt, den Ihr beabsichtiget.«

»Immer besser!« rief Souvré, »doch, Kind, Du bist zu gering zum Wortgefechte – tritt bei Seite – siehe, Deine Herrin ist erwacht!«

»Wer ist da?« rief Fennimor zusammen schaudernd. – »Mein böser Geist!« setzte sie ihn erkennend hinzu.

»Ich hoffe,« sagte Souvré, sich ihr nahend, indem er über sie weg mit vornehmer Nachlässigkeit das Zimmer musterte, »Ihr habt jetzt die kleine Erschütterung überwunden, mit der Ihr jedes Mal meine Erscheinung beehrt; es ist um so nöthiger, da Ihr gezwungen seid, mit mir einige Dinge zu besprechen, die für Eure Zukunft wichtig sind.«

»Wo ist Leonin?« fragte Fennimor, sich aufrichtend. –

»Davon nachher!« sagte Souvré leicht, indem er durch das Fenster blickte, »vorerst nicht bei mir, wie Ihr seht.«

»Das ist gut,« erwiederte Fennimor ruhig, – »wenn er nur nicht bei Euch ist, da kann ich leichter Eure Gegenwart ertragen; Ihr habt keine Gewalt über mich!«

»Nicht?« sagte Souvré, und sein boshaftester Blick flog über sie hin; »wir wollen sehn! So vorbereitet, wie Ihr Euch auf mich habt, scheint es wohl, ist jede Schonung überflüssig; doch wollen wir sehen, ob ich keine Gewalt über Euch habe.«

[168] »Ueber mein äußeres Schicksal sicher« – sagte Fennimor – »das fühle ich eben immer, wenn ich Euch sehe. Ich meine nur, über meine Seele habt Ihr keine Gewalt, und ich habe bessere Kraft, nun ich allein mit Euch bin; wenn Leonin dabei ist, fühle ich nur das Leid, was Ihr ihm angethan, und dann ist der Schmerz größer.«

»Ihr seid nicht zurückhaltend in Euren Meinungen über mich, das muß ich gestehen. Doch muß ich glauben, Ihr gebt mir den Ton an, der unter uns walten soll. So hört denn! Ich habe mich aus Freundschaft für die Familie des Grafen Crecy-Chabanne der Mühe unterzogen, Leonin, den jungen Grafen und einzigen Erben, aus einer Verbindung loszumachen, in die ihn Leichtsinn, Unwissenheit und, wie ich gern eingestehe, Eure schönen blühenden Wangen und die zu bereitwillige Gastfreundschaft Eures Vaters geführt haben; indem der junge Mann natürlich in seine ehrenvollen, angestammten Verhältnisse nicht zurückkehren konnte, ohne die Unzulässigkeit dieser anscheinenden Verbindung zu empfinden, da nie, auf keinem Punkte, weder bei seinen Eltern, weder bei seinem Könige, noch, und am wenigsten, bei seiner Kirche eine Anerkennung dieses leichtsinnig geschlossenen Vertrages denkbar ist. – Hiervon Euch, bei Eurer Unkenntniß der Welt, einen Begriff zu machen, habe ich übernommen; zugleich Eure und Eures Kindes Verhältnisse so sorglos zu stellen, als es Euch zukommt, von einem Manne zu fordern, der in so unabhängigen Vermögensumständen ist, als der junge Graf Crecy.«

»Ich kann Euch noch nicht verstehen,« entgegnete Fennimor, noch immer ruhig; »denn, was Ihr sagt, ist ja Alles unrichtig – ich weiß nicht, was Ihr von unserer Vermählung denkt! Freilich soll die Vermählung bei den Katholiken anders sein; aber sie muß doch immer dasselbe bedeuten, sonst wäre ja die Eurige keine christliche Verbindung.«

[169] »Legt endlich Eure Unerschütterlichkeit ab, mit der Ihr mir unbeschreiblich lästig fallt!« sagte jetzt Souvré, indem er übellaunig aufstand. »Ist denn das nicht zu verstehn, was ich Euch sage? Ihr seid nach katholischem Rechte gar nicht vermählt, Eure anscheinende Verbindung in jeder Beziehung völlig ungültig. Kein Mensch erkennt Euch für des Grafen Gemahlin, kein Mensch dies Kind für ein ehelich geborenes an. Dies soll ich Euch bekannt machen, damit Ihr eine Art Erklärung darüber unterzeichnen könnt, die ich hier bei mir führe, die Euren Begriffen nach, eine Art Scheidung auch jener Ceremonie, auf die Ihr Euch zu stützen scheint, rechtskräftig bewirkt, und dem jungen Grafen Crecy, der zu einer hohen Hofverbindung be stimmt ist, seine Freiheit wieder giebt.«

Fennimor stand auf, langsam aber fest, die Stuhllehne krampfhaft haltend – sie schien zu wachsen – das treulose Blut, was ihr Herz erdrücken wollte, strömte in ihre Wangen zurück. Die zahllosen Stiche, die sie empfangen und, zweifelnd, daß sie ihr gelten könnten, immer verläugnet hatte, wurden mit diesem letzten fürchterlichen Angriffe plötzlich alle zu reißenden Wunden. Sie war völlig enttäuscht! Aber Sprache fand sie erst mit einem kurzen wilden Schrei, der ihre fest zusammen gepreßten Lippen brach – dumpf, aber erhaben sagte sie dann:

»Du gehörst nicht zu Gott und weißt von seinen heiligen Geboten Nichts! In welchem Namen soll ich zu Dir reden? Unglückliche, verlorne Seele! Der kleinliche Jammer Deiner Rede richtet Dich so fürchterlich, daß ich vor Gott erbebe, der schon Gericht über Dich hält in jedem Deiner verstockten Worte! Armes, elendes Wesen – welch ein schauderhafter Lästerer bist Du! Welch ein Grauen wird Dich befallen, wenn Gott den Nebel zerstreut, in den Dein armes, kleinliches Leben noch vor Dir selbst gehüllt ist, und Du Dich erkennst! – Wie könntest Du, verlorenes Werkzeug jener verderbten Welt, aus der Du [170] gesandt wirst, mir Zweifel einflößen gegen die Heiligkeit meiner Verbindung, gegen die Geburt meines Kindes?«

Wir wissen nicht, warum Souvré diese Rede nicht unterbrach, warum er endlich halb abgewendet in der Nähe ihres Stuhles stehen blieb, zuletzt die Augen auf sie richten mußte und ein Ansehn gewann, als versteinere sie ihn.

Fennimor wollte ihn verlassen. Kräftigen Schrittes, erhaben in jeder Bewegung, wollte sie an ihm vorüber. Das weckte ihn. Mit Wuth beladen, kam sein Bewußtsein zurück. Sie hatte ihn bezeichnet, wie er war; dies unbedeutende, unberechtigte Wesen hatte laut genannt, was die neckende Hölle in seinem Busen, während sie es sprach, hohnlachend bestätigt hatte – er war vor sich selbst entdeckt – und: Rache! Rache! war das einzige Geschrei seines beleidigten Innern.

»Halt,« rief er, mit heiserer Stimme und entstellten Zügen, »halt! Ihr dürft nicht fort, bis Ihr dies Blatt unterzeichnet habt. Dankt Gott, daß ich mich herablasse, mit Euch zu unterhandeln, die Ihr kein Recht habt an der Gemeinschaft ehrbarer Personen!«

Fennimor wies das Blatt mit der Hand zurück: »Ich werde Leonins erhabene Mutter befragen, welch einen ehrenvollen Platz sie der Gemahlin ihres Sohnes zugesteht. Von Euch fordere ich bloß Entfernung. Ihr, armes, elendes Wesen, könnt mich nicht herabwürdigen!«

Die Erwähnung von Leonins Mutter verstärkte augenblicklich den bösen Willen des Marquis. »Thörin,« sagte er lachend, »das fehlt nur noch an Eurer kindischen Anmaßung! Gerade sie – sie schickt mich, Euch Eure Thorheit vorzustellen; denn sie hält Euch für nichts mehr, als die Geliebte ihres Sohnes, obwol sie alle Eure geträumten kirchlichen Rechte kennt. Sie hat eine Braut für ihren Sohn gewählt, seiner würdig, und verachtet Euch vollständig!«

[171] Fennimor blieb stehen. Sie hob Hände und Augen zum Himmel auf. – »O, Herr des Himmels, erbarme Dich! Ich fürchte, Ihr sprecht eben die Wahrheit. Mein Vertrauen zu dieser einst so verehrten Frau war durch Manches gesunken, was mir Lesüeur erzählte. O, wie beklage ich sie!«

»Beklagt lieber Euch selbst« – stieß Souvré roh heraus, »Ihr habt es nöthiger! Doch hoffe ich, da Ihr Eure Stützen brechen seht, so werdet Ihr jetzt nicht zaudern, Eure Unterschrift unter dieses Blatt zu setzen. Ihr entsagt darin für Euch und Euer Kind jedem rechtmäßigen Anspruch an den Grafen Crecy-Chabanne; Ihr nehmt den Namen Lester wieder an und erhaltet dafür ein anstandiges Vermögen zur Versorgung für Euch und Euren Sohn, mit der Freiheit, nach England zurückzukehren, oder auch hier in Ste. Roche ohne weiteres Aufsehen zu verbleiben; doch ohne Versuche, die Ruhe der Familie Crecy ferner zu stören, und ohne dazu das kleinste Recht behaupten zu wollen.«

»Das läßt mir Leonin's Mutter sagen?« rief Fennimor trostlos; – »das, glaubte sie, könnte ich annehmen? Ein Weib fordert das von einem Weibe? Eine Mutter von einer Mutter? – Nun, so soll diese entartete Welt erfahren, was die Worte bedeuten, die dort zu Gottes Hohn getragen werden!« Mit ein Paar raschen Schritten trat sie dicht vor den Marquis.

»Geht, geht!« sagte sie kräftig, »sagt Ihr – es läge in keiner menschlichen Macht, das aufzulösen, was vor Gott geknüpft sei durch seinen heiligen Diener – durch das Gelübde der Herzen, die Gott zusammen gefügt hätte an jenem Tage. Sagt Ihr, ich sei die rechtmäßige Gemahlin ihres Sohnes! Ich, Fennimor Lester, deren Vater überdies aus einer vornehmen englischen Familie abstammte und ein Priester war, sei in Nichts zu gering dafür. Sagt Ihr, daß das Kind dieser ehelichen Verbindung, der allein rechtmäßige Nachkomme ihres [172] Sohnes, unentäußerlich, wie ich, seine Mutter, den Namen Crecy-Chabanne führen werde; und wenn sie ein Zeugniß dafür bedarf noch außer dem Blatte des Kirchenbuches, welches Emmy Gray mit sich genommen und bewahrt hat – so soll sie ihren Sohn fragen und hören, ob er dies Lust hat zu läugnen!«

Da stieg der Triumph über sein Schlachtopfer in Souvré's Zügen auf. Mit dem verwundendsten Lächeln sagte er: »Ich glaube, er wird dazu Lust haben! Denn er gerade wünscht, Ihr möchtet Euch in diese Anordnungen fügen. – Seine Schwäche und Euren heftigen Karakter fürchtend, hat er diese ganze Angelegenheit in meine Hand gelegt – er hofft, ich bringe dieses Blatt unterzeichnet zurück.«

»Da sei Gott vor, daß Ihr Wahrheit redet! Wo ist Leonin – ich will ihn augenblicklich selbst Euch gegenüber stellen!« –

Souvré zuckte die Achseln. – »Dies ist nicht mehr möglich! Seine Rückkehr war vom Könige befohlen – er mußte zur bestimmten Stunde dort sein – dem peinlichen Abschiede zu entgehn. – Seht dort! Ihr werdet an der Wahrheit nicht länger zweifeln!«

Fennimor sah ihn an, als sehe sie einen Geist – sie ließ sich selbst von ihm berühren – nach dem Fenster führen, und folgte mit den Augen, wohin er deutete. Da sah sie den Fahrweg durchs Thal Leonin's Reisewagen fliegen, sie erkannte seinen Postzug – seine Livreen.

»Leonin! Leonin!« sagte sie leise gebrochen und griff in die Ranken, die um das Fenster hingen. So blieb sie stehen – die Augen unverwandt hinaus gerichtet. – Souvré – wir dürfen ihm das einzige Zeichen der Menschheit, was wir an ihm zu entdecken haben, nicht vorenthalten – schauderte, als er sah, wie sie immer blässer und blässer, zuletzt bläulich erdfarben ward, und die Augen und alle Züge sich zu versteinern schienen. Er [173] redete sie an, er hoffte selbst auf den Widerwillen, den er ihr einflößte. Es war umsonst – sie hörte nichts mehr. Ihr Auge haftete an dem immer kleiner werdenden Reisezug – er verschwand. »Leonin!« sagte sie dumpf, fast undeutlich – aber sie blieb unbeweglich stehn.

Da ergriffen die Furien den Marquis de Souvré. Als ob er, von ihrem Anblick gerichtet, im nächsten Augenblicke des Todes sein würde, so stürzte er aus dem Zimmer. Emmy Gray saß zusammengekauert vor der Thür. »Geht hinein! Geht – geht!« rief er wild und stürzte über die Zimmer und Gänge fort nach den seinigen.

Emmy wußte Alles. Es kostete sie keine Thräne, keinen Seufzer – finsterer Zorn machte sie jeder sanfteren Empfindung unmöglich; selbst für den ihr über Alles theuern Gegenstand hatte sie kein mildes Wort. »So mußte es kommen! Das wußte ich vorher! Sie bezahlt es mit dem Leben! So mag sie nur erst erlöst sein!« – Sie hätte sich ihres Todes freuen können – sie rührte sie nicht an, und Fennimor blieb stehen, bis der Krampf jeden Schlag des Herzens hinderte und die Füße zusammen brachen.

Sie glich so sehr einer Leiche, daß das Gerücht, sie sei gestorben, sich verbreitete, und der Arzt selbst lange zweifelhaft blieb. Als sie endlich erwachte, war die schreckliche Nacht vorüber. Der Marquis de Souvré hatte zuweilen nachgefragt; Emmy hatte ihm nie geantwortet. Bis zu dem Bette war er vorgedrungen; sie hatte nicht gehindert, daß er die Leiche sah, wie sie wähnte. Gegen Morgen war er abgereist. »Die unangenehmste Reise meines Lebens!« sagte er verdrießlich. »Was das für ein krankhaftes Geschöpf war – gleich zu sterben!«

Später erst fiel ihm ein, daß dieser Tod Leonin auf dem Gewissen liegen werde, wenn er ihm auch Freiheit gäbe. Damit beruhigte er sich.

[174] Fennimor ward nicht durch den Tod erlöst. Ihr Erwachen war sogleich vollständiges Bewußtsein. Da Emmy sie nicht entkleidet hatte, erhob sie sich augenblicklich, und ihre tiefe Seelenangst trat in jeder Bewegung hervor.

»Emmy,« sagte sie leise, »er hat mich doch so sehr geliebt!« Dabei fing sie eine Wanderung durch das Zimmer an, die Alle im Laufe der Zeit zur Verzweiflung brachte. Immer dieselbe Linie haltend, von dem Fenster an, wo sie den Todesstoß empfangen hatte, bis in den äußersten Winkel des Zimmers, und wieder zum Fenster zurück. Sie hörte Nichts um sich her! Sie sah Nichts! Wenn sie angeredet ward, blieb sie stehen und sagte zu Jedem: »Er hat mich so sehr geliebt!« Der Ausdruck ihres Engelsantlitzes war dabei so, daß Niemand ihn ohne Thränen sehen konnte. Auch zu ihrem Kinde sagte sie dasselbe. Sie kannte es nicht.

Emmy schien durch Nichts mehr überrascht. Sie hatte dies Alles längst in ihrem argwöhnischen Nachdenken durchlebt und that jetzt nur, was sie im Voraus beschlossen. Eine Bäuerin erschien gegen Abend, da das Kind dem Verschmachten nahe, und die Milch der Mutter jeden Falles todtbringend war. Das eigne Kind verlassend, nährte das theilnehmende Weib das verwaiste.

Die Nacht verging – Fennimor wanderte fort. Der Arzt und Emmy saßen stumm einander gegenüber. Kein Mensch durfte sie berühren – es schien ihr den größten Schmerz zu machen. – Wer hätte sie auch zwingen mögen? Doch verschwand die Blässe allmählig, hohe Röthe stieg in ihre Wangen, die glühendste Fieberhitze ergriff sie; sie ging heftiger nur.

»Beruhigt Euch,« sagte der Arzt zu Emmy – »das überlebt sie nicht – sie war ja noch Wöchnerin – die Quellen ihres Busens sind versiegt, das deutet das Fieber an – es wird ihr Tod!«

[175] »Dann sei Gott gepriesen!« rief Emmy wild – »die scheußliche Welt, in die sie gerathen, ist nicht werth, daß ihr Fuß länger in ihr wandelt!«

Bald öffnete das steigende Fieber den stillen Mund. Erst plauderte sie leise – dann lauter – sie lächelte – sie hüpfte – sie flog, selbst unter der Gewalt der Krankheit noch reizend schön, und wie ein glückliches Kind auf kühlem Wiesengrunde! – Sie war in Stirlings-Bai – sie rief den Vater und lächelte ihm zu – kein Andenken ihres späteren Lebens trat hervor – ihre Kinderjahre, Emmy, der Vater, ihre Bilderbücher, der Wald! Welche anmuthige Arabeske lieblich und wunderbar durchschlungener Gedanken, bildeten ihre Phantasien! Dies brach Emmy's Härte – schreiend fast, schluchzte sie ihren Jammer aus; aber die, welche sonst ihrem leisesten Seufzer sorgsam nachspürte, hüpfte lächelnd und schwatzend an ihr vorüber und sah in den wilden Aufruhr dieser konvulsivisch zuckenden Gestalt, als ob sie eine schöne Blume aus den Wäldern von Stirlings-Bai erblicke. – Da schien dem mit angespannter Aufmerksamkeit sie beobachtenden Arzt, als ob sie, durch das Fieber bezwungen, Durst empfände. Dies war, was er gehofft und erwartet. – Schnell reichte er ihr den bereiteten Becher, der den Schlaftrank enthielt, auf den allein zu hoffen war. Er täuschte sich nicht; sie trank mit kindischer Begierde und nannte es: Milch aus Stirlings-Bai. Der Gang aber ward nun matter und schleppender, die Worte gebrochen; die Augenlieder sanken. Schon hatte Emmy die Thränen getrocknet; widerstandlos trug sie den Liebling ihres Herzens auf das lange verlassene Lager, und bald breitete der Schlaf seine Segnungen über die Verwüstungen der Menschenhand. –


[176] Die Marschallin von Crecy saß in ihrem Ankleidezimmer und hörte der unschuldigen Louise zu, welche ihr von dem jungen Marquis d'Anville erzählte, mit dem sie gestern bei dem Herzoge von Lesdiguères getanzt hatte, und der gar zu heiter und liebenswürdig war, so daß sie immer durch ihn an Leonin erinnert ward, mit dem sie auch früher so habe scherzen und lachen können.

Die Marschallin hatte Nichts dagegen. Sie wußte jetzt genau, wie es mit Louise stand; diese Brücke, welche Schwestern, die ihre Brüder sehr lieben, sich durch Vergleichungen zu bauen wissen, die sie dann unwillkürlich in ein anderes Gebiet der Empfindung hinüber leiten, war ihr vollkommen bekannt. Der junge neunzehnjährige Marquis war ihrer Tochter bestimmt; doch erst nach drei Jahren sollte die Vermählung vor sich gehen, der junge Mann bis dahin entfernt werden durch den jetzigen Krieg, später durch Reisen.

Sie ließ Louise ruhig plaudern und verstärkte nur durch einzelne Worte den erregten Eindruck, sich an der harmlosen Uebergabe des holden Kindes innerlich belustigend – als dieses trauliche Zwiegespräch plötzlich durch den Eintritt dessen aufgehoben ward, den Louise noch zur Erklärung ihrer Gefühle bedurfte – Leonin stand vor Beiden.

Aber wie wenig glich er jetzt noch dem Bilde des frohen, unschuldigen Marquis d'Anville! Selbst die unerschütterliche Marschallin erschrak bei seinem Anblick, und wie ein Blitz durchzuckte sie der Gedanke: Das ist Dein Werk!

Louise flog mit einem Freudenschrei in seine Arme. Aber Leonin schauderte, als er ein anderes weibliches Wesen an die Brust drückte, von der er Fennimor so eben verstoßen. Die Marschallin sah Alles – sie fürchtete sich fast vor ihm – da er da war, mußte das vollendet sein, was sie geleitet; damit kam ihr ein kleines vorübergehendes Grauen an[177] – die Vollendung stählte sie nicht so, wie der Eifer, sie zu erlangen.

»Leonin, Du bist krank!« rief Louise, als er sich matt und stumm von ihr los machte, um seine Mutter zu begrüßen, »ich erkannte Dich kaum!«

»In Wahrheit, mein Lieber,« sagte die Marschallin, »Sie haben keine gute Farbe – Sie müssen mit dem Arzte sprechen – Sie haben jetzt keine Zeit zum krank sein!«

»Lieber mit dem Beichtvater, gnädige Frau!« erwiederte Leonin dumpf und bitter, »es könnte nöthiger sein!«

»Ganz nach Ihrem Bedürfnisse,« sagte die Marschallin, durch diese vorwurfsvolle Entgegnung erkältet und erzürnt. – »Oft ist uns der Seelenarzt so nöthig, als der leibliche. – Der König ist bereits zur Armee abgegangen; die Königin hat ihr erstes Wiedersehen mit Seiner Majestät in Nancy, dorthin« –

»In Nancy?« unterbrach Leonin seine Mutter – »in Nancy? in der Hauptstadt des Herzogs von Lothringen? So verfügt man schon über das Eigenthum des Feindes, dessen Land man noch nicht einmal betreten hat?« –

»Mein Sohn, ich finde Ihren Ton sehr sonderbar; es scheint mir höchst unpassend, und für Sie am meisten, als eine zum Hofstaat gehörende Person, sich mit einer Art – wie soll ich sagen, um es milde zu bezeichnen – einer Art Erstaunen mindestens, über diese allerhöchsten Beschlüsse zu äußern. Wer könnte zweifeln, daß Seine Majestät heute schon das Recht hätten, sich in Amsterdam ihr Diner zu bestellen? Die Beschlüsse zu der einen oder andern stets passenden Eroberung sind zugleich Siege!«

Hierin lag etwas Wahres. Die Marschallin hatte nur nöthig, das Vorhandene zu benutzen, um ihrem Sohne zu imponiren. Dieser ganze Krieg war ein voraus empfundener Siegestaumel, den zu beargwöhnen, in der That ein ungehöriges [178] Gefühl und der damaligen Zeit ganz fremd war. Die Naturanlage der Franzosen, sich in dem anmaßendsten Dünkel als die Ersten der Erde zu betrachten, erhielt die vollständigste Entwicklung und schlug Wurzeln, zu tief, um je zu ersterben, ein Stützpunkt bleibend für Alles, was die Zeit im mannigfaltigsten Wechsel daran hinauftrieb – was wir mit giftiger oder segensreicher Vegetation vergleichen könnten, die immer ein und derselben Wurzel entsprossen.

Leonin war auch schon auf Kosten alles Andern zu sehr Franzose geworden, um nicht Ueberzeugungen schnell nachzukommen, die er um so hohen Preis erkauft. Er fühlte, er hatte sich unpassend geäußert, und fragte daher schnell: ob die Königin in Versailles anwesend sei? –

»Ihre Majestät haben den Bitten ihrer guten Stadt Paris nachgegeben und vor ihrer Abreise noch einen Besuch in den Tuillerien gemacht. Paris ist ein Saal der Freude! Die Straßen sind Gärten, in denen das Volk tanzt und spielt, die beiden Königinnen, von ihrem ganzen Hofstaate umgeben, durchziehen sie in offnen Triumphwagen, welche die Stadt hat bauen lassen. – Unsere Reisewagen sind gepackt; wir erwarteten nur Ihre Rückkehr, um das Hotel Soubise zu beziehen; machen Sie danach Ihre Einrichtungen!«

»Ich werde schwerlich mit Ihnen zugleich dem Hofe aufwarten können,« erwiederte Leonin – »ich fühle mich sehr unwohl – etwas Ruhe ist mir durchaus nöthig!«

Einen Augenblick sah die Marschallin zu ihrem Sohne auf, mit dem Wunsche, zu widersprechen; aber aufs neue leuchtete ihr die Ueberzeugung seiner sichtlichen Erschöpfung ein. So gern sie sich's geläugnet hätte, es war gar nicht zu übersehen – er war krank – jedenfalls in einer Gemüthsstimmung, die eine kleine Sammlung wünschen ließ; da sie ihn wenig so darzustellen verhieß, wie es die Marschallin wünschte.

[179] So trennte man sich. Kein Wort hatte das überfüllte Herz Leonin's erleichtert. Diese harte Frau, die ihn so ohne Bedenken zu dem Verbrechen gereizt, das er fühlte begangen zu haben, zeigte eine Gleichgültigkeit, die nicht einmal nachfrug, ob oder wie es vollzogen. Keine Theilnahme, kein Dank, Nichts versöhnte den ungeheuren Schritt, den er gethan. Zurückgedrängt ward er mit jeder Empfindung, die ihn fast zu ersticken drohte, als nehme man ihr Dasein für unmöglich an; und was man ihm dagegen bot, waren die erbärmlichen Wichtigkeiten dieser äußern Welt! Sein Herz krampfte sich in Bitterkeit zusammen; ein finsterer Groll gegen sich und die ganze Welt ergriff ihn, ja, eine Ansicht über seine Mutter brach sich Bahn, die ganz gegen den kindlichen Enthusiasmus stritt, den er bisher empfunden. Es war ein fürchterliches Gericht in ihm, und die größte Strafe der Sünde erreichte ihn: der Preis, um den er gesündigt, sank in dem Augenblicke, wie er ihn errungen hatte! – Eine glühende Hölle schien ihm dies glänzende Treiben des Hofes, welches jede Besinnung erstickte, jede Regung verstieß, die nicht in ihre erkünstelten Zustände paßte. Eine Einöde schien sie ihm zugleich, von tödtender Langweile erfüllt, ohne Reiz, ohne Erquickung – der Felsblock des Sysiphus – mühsam täglich emporgewälzt, täglich zurückstürzend dieselbe Bahn – für das Erfolglose immer denselben Aufwand von Mühe begehrend.

Fast bewußtlos sank er auf sein Lager, und Keiner aus seiner Umgebung wagte mehr, den jungen Erben zu stören, dessen Ansehn so wenig den glänzenden Aussichten entsprach, die Alle für ihn eröffnet wußten.

Bald fuhren die Karossen der Marschallin vor, und sie verließ, nach den passendsten Instruktionen an ihren Arzt und Beichtvater, das Palais Crecy, ohne daß sie selbst ihren Sohn wiedergesehn, oder die Bitte der trauernden Louise um diese Gunst gestattet hätte.

[180] Dies Mal sollte der Marschall ihr zu Hülfe kommen! Er befand sich bereits in Paris; aber sie wußte es mit Sicherheit, daß sie ihm nur zu sagen brauche, Leonin sei krank in Versailles angekommen, und er werde in der nächsten Stunde dahin reisen, wo sie dann seinem unbezwinglichen Ungestüm vertrauen durfte, der weder die Einwendungen Anderer hörte, noch sich ihnen fügte, und unfehlbar Leonin's Krankheit für nicht bedeutend genug ansehn mußte, um ihn länger von dem Schauplatze entfernt zu halten, den ihn einnehmen zu sehen, seine ganze Seele erfüllte.

Dagegen erschien die Marschallin sogleich mit der Miene einer betrübten Mutter, das Unwohlsein Leonin's der Königin und seiner nun öffentlich erklärten Braut mitzutheilen. Da Niemand zur Besinnung kam in dem Taumel, der in Paris herrschte, der Volk und Hof fast in einem Feste vom Morgen bis Abend zu vereinigen schien, so fand jede Erklärung gefälligen Eingang, die von Niemandem ein langes Nachdenken oder Zuhören begehrte.

Nur Viktorine, die sich stets selbst behielt, der diese Dinge nur so nahe traten, als sie wollte, hörte die Nachricht der Marschallin mit veränderter Farbe; und als der Marschall in Reisekleidern bei ihr eintrat, um ihr Muth einzureden, fühlte sie die kindlichste Zärtlichkeit gegen ihn, und Beide trennten sich mit erhöhter Liebe.

Diese Empfindung war Viktorine überhaupt viel mehr geneigt, ihrem künftigen Schwiegervater, als der Marschallin zu widmen. Sie mißtraute ihr. Dies vollendet gehaltene Wesen, welches, wie das untrüglichste Rechenexempel sich immer in den Forderungen der großen Welt auflöste, empörte ihren offenen Karakter, der durch freie geistige Entwickelung, so viel es diese Zeit zuließ, die Etikette lästerte. Sie hatte überdies einen ahnenden Verstand. Sie war zu unschuldig, um manche [181] Dinge wissen zu können; aber sie ahnte dann eben, daß nicht Alles in Ordnung sei, und fehlte selten in ihren Voraussetzungen.

Am nächsten Abend stand sie neben ihrer Schwiegermutter in dem großen Spielzimmer der Königin, während sich im Nebensaale der glänzendste Ball entwickelte, welchen die Königin als Abschiedsfest gab, und an dem Theil zu nehmen, ihr unmöglich war, als die Marschallin plötzlich zusammenschreckte und einen Augenblick starr nach der Thür blickte. Viktorinens Augen folgten diesem Blick, und sie konnte die Ursache nicht errathen, bis der Marquis de Souvré ihr auffallend ward, der sich mit seiner gewöhnlichen Dreistigkeit halb lachend, halb neckend durch die Menge drängte.

Viktorine glaubte jetzt die Bewegung der Marschallin erklärt. Er kommt aus Leonin's Krankenzimmer, sagte sie sich; sie selbst fühlte ein tiefes Erbeben und zugleich ein sanfteres Gefühl gegen die Marschallin, was ihr sagte: sie ist doch Mutter!

Souvré stand sogleich vor ihnen. »Willkommen, Marquis!« sagte die Marschallin. »Wie verließen Sie meinen Sohn?«

»Auf dem Wege, zu den Füßen seiner schönen Braut seine Genesung abzuwarten,« erwiederte der Marquis, beide Damen begrüßend. »Doch verließ ich das Terrain in dem Augenblick, als der Marschall seine Position dort nahm. Einer solchen bewaffneten Macht gegenüber, nehme ich gern sogleich meinen Rückzug – denn er bleibt stets Sieger – wovon Euer Gnaden auch wohl im Voraus überzeugt waren.«

»Der Marschall hat stets den liebenswürdigen Ungestüm eines Jünglings,« lächelte die Marschallin – aber ihr Auge lag noch immer durchbohrend auf Souvré, der, seine Ueberlegenheit fühlend, auch nicht durch die kleinste Aeußerung verrieth, was sie so sehr zu wissen wünschte.

[182] »Belehren Sie mich, ob ich recht hörte, ist dies ein Abschiedsfest?« – fragte er, sich zu Victorinen wendend – »muß Leonin in Wahrheit zu spät kommen, sich in dem Glanze des Hofes mit seinem unermeßlichen Glücke brüsten zu können?«

»Ihre Majestät werden von morgen an ihre Andacht bei den Carmeliterinnen halten und dann nur noch kleinen Zirkel in ihren Privat-Apartements empfangen,« erwiederte Victorine.

»Ach,« sagte Souvré, »ich lebe auf! So hoffe ich, werden wir auch dort noch im kleinen Zirkel mindestens einiger hundert Personen, das Vermählungsfest meines glücklichen Vetters und seiner schönen Braut erleben!«

»Lassen wir das!« rief Victorine stolz und gereizt. »Soll ich Ihnen etwa die Feierlichkeiten dabei vorzählen, damit sie Ihre verschiedenen Hofkleider ausstauben lassen? Ich passe nicht zum Referiren und setze immer den Takt voraus, es zu fühlen, ehe ich es selbst andeuten muß.«

»Allerliebst!« lachte Souvré – »also das hat die Liebe noch nicht bewirkt! So nah' an dem gehorsamsten, demüthigsten Zustande – ich meine die Ehe,« setzte er sich verbeugend hinzu – »und doch so wild, so gereizt, wie eben aus dem Kloster entkommen? Schöne Viktorine, ich warne Sie – lenken Sie ein! Leonin ist nur anscheinend ein schwermüthiger Schäfer, innerlich und wo es gilt, ein reißender Löwe!«

Die Marschallin horchte auf. Dies schien ihr der erste Wink. Doch Souvré blickte nur Victorinen herausfordernd an – er schien jene vergessen zu haben.

»Erlauben Euer Gnaden, daß ich mich beurlaube!« sagte Victorine, sich tief vor der Marschallin verneigend. »Die vortrefflichen Manieren des Herrn Marquis zwingen hier eine Frau, die Flucht zu ergreifen.«

»Fliehen Sie Ihren Sieger?« rief Souvré – »Sie haben nun einmal Ihre Stellung in der Welt verloren. Ein Mal besiegt, [183] erleben Sie nichts mehr, als Niederlagen! Ich, Ihr ältester Freund und Verehrer, mußte doch daran meinen Antheil haben!«

Victorine rollte achselzuckend ihren Fächer vor ihm auf und verschwand in dem Nebensaale.

Eben wandte die Marschallin sich zu dem Marquis, entschlossen, ihn zur Sprache zu bringen, da eilte Souvré, die Herzogin von Bellefond zu begrüßen, die ihren großen Reinigungszug, wie die Hofleute ihn nannten, wobei sie jeden Fehler der Etikette rügte, durch den Saal hielt.

»Soll ich Ihnen helfen, meine Beschützerin – meine Wohlthäterin?« rief Souvré. »Wie Noth thut sicher hier Ihre glanzvolle Herrschaft im Reiche der Etikette, wo die gute Stadt Paris mit ihren breiten Manieren dem Hermeline des Königsmantels etwas sehr nahe getreten ist. Die Luft ist davon noch etwas verdorben, wie ich spüre!«

»Ach, Marquis, Marquis,« erwiederte Madame de Bellefonds, mit so heiserer Stimme, daß ihre Rede dem dumpfen Gebrumme eines zornigen Bären glich – »das fürchte ich nicht zum zweiten Male zu erleben! Denken Sie! den ganzen Tag auf der Straße! Ihre Majestät die Königin sehen zu müssen, wie diese Populace sich zu ihr drängte – Anreden gestatten zu müssen auf offner Straße, ohne nur die Namen dieser Geschöpfe zu kennen, viel weniger ihren Adelsgehalt – ja, am Ende lieber Nichts von ihnen wissen zu wollen; da doch nur zu erfahren stand, daß sie aus der Hefe wären. Alle unter dem einen Hute sich bergend, als Bürger von Paris! Bürger von Paris, Marquis! Ich hätte weinen können über den Wahnsinn, der sie glauben ließ, durch diesen Titel zu dem Benehmen gegen Ihre Majestät berechtigt zu sein! Und dann die Humanitätsideen der hohen Herrschaften! Niemand, den man in seine Schranken verweisen durfte, wodurch dem Volke der Muth wuchs bis zur Raserei! Können Sie denken, daß davon die Rede war, [184] einige von den Deputirten der Stadt heute Abend einzuladen? So daß denn also kein einziger Platz rein geblieben wäre! Aber ich drohte meinen weißen Stab in Stücken zerbrechen zu wollen, wenn man diesen Plan ausführe, und da unterblieb es, trotz dem, daß der Marquis Fenelon, dieser sogenannte große Geist, mich fragte: ob ich dächte, daß diese Herren Deputirten, die ein Paar Millionen kommandirten, weniger Bildung hätten, als meine Herzöge und Grafen?«

»Nun in Wahrheit,« lachte Souvré – »diese rasende Behauptung hätte Euer Gnaden tödten können!«

»Fast Marquis, fast war es so weit! Und Ihr hört es an meiner Stimme, es ist mir Alles auf die Brust gefallen. Es war meine letzte Anstrengung, und in der Antwort, die ich ihm gab, schlug die Stimme um. ›Marquis,‹ sagte ich, ›um so schlimmer! So sind es übertünchte Gräber, in denen sie nichts zu verdecken hätten, als Hobel oder Elle – und der Bursche, der mir zu den Schuhen Maaß nimmt, hat in meinen Augen mehr Werth, als diese impertinenten Masken, die sich unsere Vorzüge anzumaßen wagen.‹«

»Vortrefflich, vortrefflich!« rief Souvré; »mit welchem Geiste Sie Ihren Willen auszudrücken wissen. Es müßte für die Nachwelt verzeichnet werden! – Gottlob, daß Frankreich die Herzogin von Bellefond als Wache vor dem Throne dieser sanften, nachgiebigen Königin hat! Es ist die einzige Rettung, der einzige Schutz gegen die andrängende Volksbildung, die, wie ich im vollen Ernste hörte, sich allerlei Nachahmungen der höheren Stände erlauben soll; und wie lächerlich und unglücklich auch solche Versuche sind, sie bleiben doch jederzeit ein Aergerniß und verrathen einen gefährlichen Sinn, der im Entstehen erstickt werden muß.« –

»Ja wohl, Marquis! Sie haben nur zu Recht; aber ich beschwöre Sie, hören Sie auf davon zu sprechen – ich muß [185] sonst mein Flacon gebrauchen. Ach, Marquis, wer hatte sonst nur nöthig, diese Klasse in den Mund zu nehmen! Wir hatten Handwerker, die nur unsere Haushofmeister und Kammerfrauen sprachen; und ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ich mich jemals über einen Bürgerlichen würde ärgern können. Aber hören wir auf – es greift mich an, und ich bin beschämt über den Gegenstand!« –

»Nun so sagen Sie mir etwas Neues vom Hofe,« rief Souvré – »Sie wissen, ich war mit dem jungen Grafen Crecy abwesend.« –

»Ja, ja, ich erinnere mich! – Doch sagen Sie Marquis, warum sehen wir Sie allein zurückkehren? Ist man so lau und nachlässig in der Bewerbung um ein Ehrenfräulein Ihrer Majestät?«

»O, Madame,« sagte Souvré, »welche Voraussetzung! Er ist wie ein Wahnsinniger Tag und Nacht gereist, als er die Weisung zur Rückkehr erhielt, und da hat er sich erkältet. Doch, es wird vorübergehn! Euer Gnaden haben sicher schon über die Vermählung des Paares Ihre Dispositionen gemacht; darf ich im Vertrauen sein?«

»Sie sind mein Verzug!« erwiederte die Herzogin mit einer steifen Grimasse, die Lächeln andeuten sollte, »und wollen immer Alles voraus wissen. Doch ist es zu erwähnen, wie Ihre Gesinnung wirklich sich stets unbefleckt rein erhält, und ich habe deshalb manche Rücksichten!«

Der Marquis verneigte sich, und Madame de Bellefond fuhr fort: »Die Zeit erlaubt keine Festlichkeiten – Ihre Majestät muß sich bereit halten – Sie wissen, das erste Hauptquartier wird in Nancy sein – wir müssen uns auf den Weg dahin begeben, um dann mit Seiner Majestät zugleich einziehen zu können. Natürlich können aber der Graf und Mademoiselle de Lesdiguères nicht bei demselben Hofstaat, in derselben Karosse vielleicht, die [186] Reise antreten, ohne vermählt zu sein. Das haben denn auch Ihre Majestäten erwogen, und ich habe selbst die etwas streitsüchtige Lesdiguères zum Schweigen gebracht. – Nun soll es also ein Impromptu werden! Wie ich höre, hat es aber die eigensinnigste Hofdame, die ich je unter Aufsicht hatte, durchgesetzt, daß die Frau Königin den Herrn Erzbischof von Noailles um die Abtretung seiner Funktionen an Monsieur Fenelon, diesen überspannten Pfarrer von St. Sulpice, gebeten hat. Das war hinter meinem Rücken geschehen; die Königin wird von dem jungen Mädchen beherrscht; doch hatte sie die Gnade, sich bei mir deshalb zu entschuldigen. Sie fühlte wohl, daß sie mir ins Amt gegriffen! Doch mein Kind, Sie sehen, wir haben nicht mehr viel Zeit, und der Bräutigam fehlt! Dieser junge Mensch, Marquis, im Vertrauen, ähnelt nicht sehr seinen musterhaften Eltern! Krank zu werden, wenn man seine Anstellung bei Hofe antreten soll, hat immer etwas gegen den Respekt und gegen die vollkommene Feinheit, die wir bei solchen Gelegenheiten vorherrschen lassen müssen. Wer kann mir nachsagen, daß ich je krank war? Aber das ist so der Spuck, der sich gern einschleichen möchte, den alle diese Herren Dichter, Philosophen und Gelehrte verbreiten, und den sie Menschenrechte, oder Naturgebote, oder Gott weiß wie nennen. Aber ich frage Sie, Marquis, ist es schicklich, daß man so etwas bei Hofe hört, wo lauter Edelleute vom ersten Range leben? – Ich frage Sie, mein Lieber – wenn Monsieur Molière im Vorzimmer des Königs frühstücken darf, und Seiner Majestät ihn anredet, als wäre er ein Mensch, wie jeder andere, da haben wir freilich nichts Besseres zu erwarten! Sonst, Marquis, begaben wir uns in die große königliche Loge, und vor uns auf den Brettern, in dieser unüberschreitbaren Entfernung, ließen wir alle diese Herren machen, was sie konnten, und frugen nicht nach, ob es sogenannte Dichter, Philosophen und [187] Gelehrte waren. Machten sie es gut, wurde geklatscht, machten sie es schlecht, wurden sie wieder weggejagt. Das erhielt aber die Luft rein! Da waren unsere Cavaliere ohne jene sonderbaren Manieren, die jetzt einen jungen Mann in den Zwanzigern erkranken lassen, wenn er eine Hofcharge antreten soll und sich vermählen!«

»Euer Gnaden zürnen, wie ich merke,« sagte Souvré, »ich muß Fürbitte thun! Ihr Zürnen würde nicht allein den Schuldigen unglücklich machen, sondern besonders die Eltern, die Sie doch anerkennen!«

»Sie sind ein gutes Kind, Marquis, ich weiß es wohl. Nun sehen Sie, Sie sollen Recht behalten! Ich gehe und rede die Marschallin an.«

Damit schritt sie auf die indeß von mehreren Bekannten umgebene Marschallin zu; und da bei ihrer Annäherung gleich Alles Platz machte, konnte sie, wenn sie es beabsichtigte, mit Jedem reden, wie in ihrem Privat-Kabinette.

»Marschallin,« sagte sie – »ich muß so einen kleinen Wink geben. Die hohen Herrschaften sind voll Gnade für Ihr Haus, wie dies eine so bedeutende Familie auch erwarten darf. Es sind Auszeichnungen beabsichtigt, die wir allerdings zu schätzen und zu würdigen wissen werden; – aber die Jugend, meine Liebe, man weiß wohl, wie das jetzt geht – die Jugend hat nicht das alte Mark der Ehrfurcht in den Gliedern, – da müssen wir nachhelfen, bis sie es lernt. Krankheiten sind immer kein Grund, gegen die Befehle der hohen Herrschaften zu handeln. – Nun, wem sage ich das? Sie, meine Liebe, sind ja die vollkommenste Dame des Hofes! Sie werden mich verstehen und darnach Ihre Maaßregeln nehmen!«

»O, meine theure Herzogin,« rief die Marschallin mit dem süßesten Lächeln – »wer kann Sie in Ihren anmuthigen Belehrungen übertreffen! Sie haben eine Gabe, anzudeuten[188] – den Weg zu bezeichnen – die einzig in ihrer Art ist! Glauben Sie mir, ich habe Sie verstanden – um so mehr, da mein eigenes Gefühl Ihnen längst auf diesem Wege entgegen kam.«

»Ich weiß – ich weiß!« sagte die geschmeichelte Herzogin – »Sie sind vollkommen zu Hause in der guten alten Welt des Hofes, in der wir wenigstens noch einige Male vereint mit solchen Mitteln die Brücken abbrechen werden, die die Populace nach uns hinauf zu bauen trachtet; – doch still, still, Marschallin, wir wollen das nicht einmal in den Mund nehmen, – es zieht schon herab, dafür Gedanken haben zu müssen.« – –

Leonin war an der Seite des Marschalls von Crecy in Paris eingetroffen.

Die Marschallin empfing sie mit einer so mittheilenden Zärtlichkeit, daß Beide vollständig in ihre Hände fielen.

Sie lud den Marschall zur Tafel, da die Stunde dazu heran gekommen war, und er willigte ein, erweicht durch die Nähe seiner Kinder und die guten Manieren seiner Gemahlin; – ward aber fast gerührt über dieselben, als in dem Augenblicke, wie er den ersten Becher Wein forderte, im Vorzimmer sein lärmendes Musikchor, was die Marschallin sonst nie in ihrer Nähe duldete, zu verabscheuen vorgab, und welches jetzt, von ihr selbst dazu beordert, das Vorzimmer eingenommen hatte – einen seiner wilden Lieblingsmärsche zu spielen begann.

»Sie sind im Ernste sehr höflich, meine Liebe!« sagte er mit der uns bekannten Grimasse, die Rührung andeutete – »Sie lieben diese fröhlichen Stücke nicht – und ich muß Ihnen meinen Dank sagen.«

»Nun, Marschall,« erwiederte seine Gemahlin – »wir haben, denke ich, auch nicht oft die Ehre, den Helden der Fronde an unserer Tafel zu sehen. Es ist billig, unsere Neigung nicht zu befragen, wenn wir es ihn nicht bereuen lassen wollen.«

[189] Dagegen schickte der ungemein erheiterte alte Herr nach diesem ersten lärmenden Versuche die ganze Bande in ihr Quartier und ließ sich eine Goldbörse von seinem Kammerdiener bringen, um für die Dienerschaft seiner Gemahlin auf jeden Teller, den man ihm wegnahm, in jeden Becher, den er leerte und zum Füllen reichte, ein Paar Lonisd'or zu werfen.

So hatte die Marschallin ihre Absicht erreicht, Leonin bei seiner Rückkunft augenblicklich aus sich herauszureißen und den Umständen, wie sie hier herrschten und wie bestimmt waren, ihn zu beherrschen, unter zu ordnen. Die eisernen Formen, die ihn sogleich einschlossen, mußten ihn überzeugen, daß er hier nur nachgeben könne. Dieses anscheinend herzlicher hervor tretende Familienfest sollte dabei seinen idyllischen Träumen – wie die Marschallin sich ausdrückte – schmeicheln, ihn hier einen Reiz mehr erkennen lassen, um den Werth des zurück gewiesenen Glückes zu entkräften.

Gegen Ende der Tafel ward dem Marschalle gemeldet, daß sich, wie gewöhnlich bei seinem Diner, bei der Nachricht seiner Rückkehr mehrere Personen in seinem Vorzimmer gesammelt hätten.

»O hierher, Marschall, hierher!« rief seine Gemahlin – »Alles, wie Sie es gewohnt sind!« – Fort flogen die Diener, und bald erschienen einige der vornehmsten Personen des Hofes, da der sonst gewöhnliche militärische Hofstaat des Marschalls bereits der Armee gefolgt war. Doch berührte es Leonin wie ein elektrischer Schlag, unter ihnen den Herzog von Lesdiguères zu bemerken, der mit aller verwandtschaftlichen Bevorrechtung den Marschall und Leonin umarmte, und zwischen dem sanft gestimmten Ehepaar in einen herbei getragenen Fauteuil sank.

»Nun, Marschall, wie ich Eure rothen Vorreiter sah, konnte ich dem Vergnügen nicht wiederstehen, selbst von Euch zu hören. Und sagt, wie steht es dort mit dem neuen Cavalier [190] der Königin?« fuhr er neckend fort, Leonin anblinzelnd; – »mir deucht, die Reise dauerte nicht lange! Das war Diensteifer, Vicomte! Nicht wahr, bloß Diensteifer!« –

Ein schallendes Gelächter des Marschalls und des witzigen Herrn Herzogs folgte dieser Rede, und Leonin, der plötzlich den Wahnsinn der Rettungslosigkeit fühlte, griff nach der Maske, die zu dem erwarteten Fastnachtsspiele paßte, und als er das erste Lächeln erzwang, hätte der Schmerz seines Herzens ihm fast einen lauten Schrei ausgepreßt. Auch die Marschallin hielt den Athem an – der Moment war entscheidend. Er ward schneller selbst, als sie erwartet hatte, in die neuen Verhältnisse gedrängt – wie Viel hing davon ab, daß er schon die rechte Stärke gewonnen habe! Aber sie sah, daß die blasse, hohle Wange sich plötzlich röthete, das trübe Auge lebendig ward, er den bisher unberührten Becher Wein hinunter stürzte, und sich dann rasch zum Herzog wendend, mit überlauter Stimme ausrief: »Euer Gnaden werden meinen Eifer doch nicht mißbilligen?«

»Nun, nun,« sagte der Herzog – »man sagt, Mademoiselle de Reetz habe auch dereinst von unserm ähnlichen Eifer erzählen können! Doch merke ich, junger Herr, das gehört nicht mehr in mein Departement – nun, ich habe nichts dagegen, wenn Ihr Euch damit bei Viktorinen meldet!« Dabei zog er Leonin in seine Arme und herzte und küßte ihn – und Leonin fühlte, er habe diese schon längst völlig abgemachte Sache, an der kein Mensch mehr zweifelte, in diesem Augenblicke bestätigt. Wir dürfen nicht verbergen, daß die Erinnerung an Viktorinens jugendliche Schönheit, an ihre Trefflichkeit, in demselben Augenblicke lebendig in ihm erwachte – und der Seufzer, der ihm entstieg, galt dem Schmerze, ihrer nicht mehr werth zu sein. –

Und Souvré saß lachend und jeden Scherz erhöhend an derselben Tafel! Leonin wußte noch nicht, was er ausgerichtet [191] hatte, und seine Ehre hing jetzt an dem Ausspruche dieses Mundes.

Souvré wußte dies Alles, und mit teuflischer Lust quälte er sowol die Marschallin, als den von ihm so bitter verachteten Knaben; denn vergeblich hatte seine hohe Verbündete nach ihm gesandt zu allen Stunden; er war zu keiner zugänglich gewesen und erschien erst, da alle Fragen unmöglich waren.

Doch die Marschallin war längst entschlossen, jede Unsicherheit abzuwerfen und die Dinge, die sie nicht wußte, so anzunehmen, wie sie zu den Schritten paßten, die jetzt ihrer Ueberzeugung nach nicht mehr aus bleiben konnten. Sie war daher ungemein erfreut, als sie Leonin eben so getrieben, und ihn den entscheidenden Augenblick mit einer Fassung bestehen sah, deren grimassenhafte Weise nur sie zu verstehen vermochte.

Herr von Dreux und der Marquis Vieuville unterbrachen diese Spannung. Man hob die Tafel auf; Herr von Vieuville verkündigte die glänzenden Siege der Armee, die Flucht des Herzogs von Lothringen und den Beschluß der Königin, am andern Mittag ihre Reise anzutreten. – »Madame de Bellefond,« setzte er lächelnd und heimlich zur Marschallin gewendet, hinzu, »ist von der Rückkehr des jungen Grafen unterrichtet. Sie läßt Euer Gnaden sagen, die ganze Familie Crecy-Chabanne würde in voller Parüre diesen Abend bei der Königin erwartet.«

Die Marschallin fühlte, daß sie kalt ward! Die Wichtigkeit des Moments entzog sich ihr nicht. Aber, was auch Abweichendes ihr Inneres berühren mochte, die äußere Form war ihr so durchaus die dringendste Anforderung, ihr so bequem und gewohnt, daß sie stets, jeder anders wirkenden Anregung entgegen, den ungestörten Mechanismus derselben betreiben konnte.

»Meine Herren,« sagte sie – sich laut redend gegen Gemahl und Sohn wendend – »Ihre Majestät wollen uns [192] Alle noch diesen Abend empfangen – Frau von Bellefond befiehlt im großen Hofkostüme!«

»Weiß Gott, ich gehe hin!« rief der Marschall – »ich will unsere gute, schöne Königin noch ein Mal sehen, wie wenig das Hofleben auch eigentlich mehr für mich paßt!«

Schon unterrichtete der Marquis Vieuville den Marquis de Souvré, bei Seite tretend, von den Absichten der Königin, und Souvré sah ein, er müsse jetzt Leonin Etwas von seinen Nachrichten geben, wenn nicht ein Aergerniß eintreten solle. – Er benutzte daher den Moment, wo Leonin zu erreichen war, und flüsterte ihm zu: »Muth, Muth – Sie sind frei!«

»Frei,« stammelte Leonin erbleichend – »frei!« rief er noch ein Mal; und schon fühlte er den Werth dieses Ausspruches, den neuen ihn bestürmenden Anforderungen gegenüber. – »Hat sie eingewilligt? Gott, wie ertrug sie es?«

»Später, später!« rief Souvré – »jetzt thut Ihnen nichts so Noth, als Ihre Freiheit! Darum begnügen Sie sich damit, daß ich Ihnen versichere, daß Sie frei sind.«

Leonin fühlte diese Wahrheit. Er beruhigte sich damit und flog der neuen Richtung seines Lebens mit der Hast eines Menschen entgegen, der nicht mehr den Muth hat, in sein Inneres zu blicken. –

Als die Marschallin im großen Hofkostüme, mit Juwelen beladen, ihr Ankleidezimmer verließ, um in den Wagen zu steigen, stand der Marquis de Souvré vor ihr, und sein boshaftes Auge überlief die anmaßende Erscheinung der stolzen Frau – er sann der Hoffnung nach, sie zu erschüttern.

»Madame,« sagte er – »ich darf über den Gegenstand, um dessenwillen Sie mich zu sprechen wünschen, nicht im Zweifel sein – beruhigen Sie sich, Ihr Sohn ist frei!«

»Das habe ich vorausgesetzt,« sagte sie kalt – »was wollte solche Person auch für so angemaßte Rechte hervorbringen?«

[193] »So war es nicht, Madame,« sagte Souvré scharf – »Ihr Recht war in guter Ordnung. Kein Gerichtshof von Frankreich hätte es bezweifeln können; – und eher hätte man den König bewogen, seine Krone niederzulegen, als sie, diesen Rechten zu entsagen!«

»Ihr scherzt,« sagte die Marschallin, etwas herabgestimmt – »also müssen wir wohl Alles Ihrer besondern Klugheit zurechnen?« –

»Auch das nicht, Madame.«

»Nun, und dann? Ihr sagtet doch, Leonin sei frei!« –

»Er ist Wittwer!« rief der Marquis mit dem schneidendsten Tone, indem sein Auge durchbohrend auf seiner gefaßten Verbündeten ruhte.

Doch diese taumelte ein Paar Schritte zurück und schien alle Fassung zu verlieren. – »Todt? todt? Marquis, was habt Ihr gethan? Diese Sache durfte so nicht enden – das ist gegen unsere Würde!«

Mit unbeschreiblicher Verachtung blickte der Marquis auf diese hochmüthige, entsetzte Person. Selbst im Sündigen wollte sie noch mit sich coquettiren und ihren aristokratischen Dünkel behaupten. Sie, die mit langer, sorgfältiger Mühe und Vorbereitung den Dolch schliff, der ihr Schlachtopfer vernichten sollte, und ihr Gewissen so eingewiegt hatte, daß sie hoffte, sich nie davor erschrecken zu müssen – sie glaubte sich nun aus ihrer Würde verdrängt, da sie das gemeine Schicksal jedes Bösewichtes erfuhr, daß blut fließt, wo der Stoß trifft!

»Madame,« sagte er mit hoher Stimme, »ich muß bitten, sich zu fassen, damit Ihre Aeußerungen keine Beleidigung werden und sie überlegen können, daß Alles einfach und nothwendig aus den Bedingungen hervor gehen mußte, die ich und Leonin nach Ihren eignen Angaben genöthigt waren, ihr zu machen. Die junge Gräfin Crecy« – –

[194] »Halt, halt, nicht diese Benennung! ich dulde es nicht!« rief die Marschallin, außer sich. –

»Und doch, Madame, hatte sie dazu ein unbezweifeltes Recht – doch, wie Sie wollen! Also, die junge Frau hatte erst kurze Zeit ihr Wochenbett überstanden. Da sie zart war – und, ich muß hinzusetzen, schön wie ein Engel – da sie überdies unschuldig war, wie die Sonne, und sich vollständig rechtmäßig vermählt wußte – konnte sie nicht, ohne die heftigsten Erschütterungen, Ihre durch mich überbrachten entehrenden Erklärungen hören – und da Leonin die Flucht ergriff, sah ich sie in dem Augenblicke, wo sie dies erfuhr, vor meinen Augen sterben.«

»Sterben, sterben! – ein solch bürgerliches Mädchen und gleich sterben!« sagte die Marschallin tonlos; – dann wankte sie nach einem Stuhle und fiel fast darauf hin, in einer Betäubung, die sie aller Haltung beraubte.

Der Marquis ließ dies Alles ruhig zu; er wollte es ihr nicht erleichtern – und vielleicht konnte er es auch wirklich nicht; – denn, obwol er seinen Zweck im Auge behielt, konnte er doch nicht ein Grauen beschwören, was jedes Mal in ihm aufstieg, wenn er der wunderbaren Erscheinung Fennimors gedachte und des Gerichtes sich damit bewußt ward, das durch sie in ihm erregt worden war. Nur nach Außen konnte er Alles beherrschen, ohne Einfluß lassen; – innerlich erfuhr er stets eine Anregung, wie wir sie oben bezeichnet haben. Nach einer Pause, die ihm lange genug schien, fuhr er fort: »Doch Leonin weiß davon Nichts – ich sagte ihm, daß er frei sei – doch nicht, auf welche Art. – Vieuville hat mir mitgetheilt, daß die Königin ihn heut Abend zu vermählen denkt. Die Nachricht würde seine Laune verderben, da er unfähig ist, sich zu beherrschen.«

»Ja wohl,« seufzte die Marschallin, »das darf er nicht erfahren, es bräche ihm vollends das Herz!«

[195] Souvré erstaunte über die Stimmung der Marschallin. »Sie ist lächerlich außer Fassung!« sagte er zu sich. Sie war ihm langweilig – verächtlich. – »Ich muß fürchten, Euer Gnaden bereuen das Geschehene – obwol es Ihr Wille war,« sagte er, in der Hoffnung sie zu reizen. »Auch kann ich versichern, daß die verstorbene Gemahlin Ihres Sohnes eine bewunderungswürdige Erscheinung war! Vielleicht, wenn Euer Gnaden sie gesehn hätten, würden Sie selbst ihre Rechte anerkannt haben!« – Dies war wohl berechnet.

»Marquis,« sagte die Marschallin – und stand sogleich, wenn auch mit einiger Schwierigkeit auf – »Mitleiden wird mich nicht zur Verletzung meiner Pflichten als Mutter und als Trägerin zweier gleich berühmten Namen führen. Es ist genug. – Das Ende mußte so sein – möchte es eine Warnung für diese unberechtigte Thörinnen jener niederen Stände werden, ihr hübsches Gesicht nicht zu benutzen, um sich in die höheren Sphären der Gesellschaft zu drängen. Ihr Loos muß nach gültigem Rechte dort immer dasselbe sein!«

»So gefallen Sie mir, gnädige Frau,« sagte Souvré hohnlachend – »das ist die alte Kraft!«

»Sie sind sehr freigebig mit Ihrem Beifalle, Herr Marquis,« erwiederte die Marschallin, von seiner Vertraulichkeit sichtlich beleidigt – »ich war nicht darauf aus, ihn einzuernten. Mein Alter, wie meine Stellung pflegen mich gegen solche Aeußerungen zu schützen.«

»Gewiß fehlte auch für alle Anderen jede Veranlassung dazu,« sagte Souvré sorglos. »Nur wer, wie ich, einen Blick auf die geheimen Bestrebungen Euer Gnaden that, kann so, wie ich, dazu die Berechtigung haben.«

»Ich habe keine Zeit, Ihrer Vertraulichkeit Rede zu stehen; wir müssen zur Königin!« erwiederte die Marschallin, mit unendlichem Grolle sich überzeugend, sie müsse die Beleidigung [196] verschmerzen; doch hatte diese galligte Erregung ihres Blutes jede Weichheit in ihr zerstört. Schon lag das Bild ihres Opfers, das Souvré zu ihrer Kränkung so reizend hervor gehoben hatte, in den Hintergrund gedrängt. Eifrig eilten ihre Gedanken der Stellung entgegen, die sie jetzt mit vermehrter Sicherheit einzunehmen vermochte, und die ihr endlich die Erfüllung aller ihrer Wünsche verhieß. Dieser kühne Gedankenflug erlitt eine kleine Störung, als sie dem Marschall und Leonin an der großen Abfahrtstreppe begegnete, wo Beider Karossen standen. Leonin hing wie ein bleicher Schatten in seinen glänzenden Hofkleidern – sein Gesicht trug den Ausdruck hinsterbender Apathie.


Man versammelte sich in den inneren Appartements der Königin Maria Theresia. Wie der Marquis gesagt – der kleine Zirkel bestand immer noch aus einigen hundert Personen, und wer heute Zutritt hatte erlangen können, hatte sich herbei gedrängt; denn ohne daß es ausgesprochen war, blieben die Andeutungen doch nicht aus, daß sich hier etwas Besonderes ereignen solle. Voll Erstaunen gewahrte man den Abbé Fenelon, der mit ungewöhnlich blassem Gesicht sich zurückgezogen hielt. Man fragte, man trug zusammen und kam der Wahrheit zuletzt ziemlich nahe, während man voll Ungeduld die Königin erwartete. Dieser Augenblick trat endlich ein. Mit der größten Huld und Freundlichkeit erschienen Beide – die junge Königin, auf den Arm ihrer imposanten Schwiegermutter gestützt. Ihnen folgten die Prinzessinnen des Hauses – dann die Kavaliere und Damen der Bedienung. Unter ihnen fehlte Mademoiselle de Lesdiguères, welches sogleich von Allen bemerkt ward.

[197] Die Königinnen hielten mit diesem Gefolge ihren Umzug durch den Saal, und zeichneten vorzüglich die Familie Crecy und Lesdiguères durch ihre Freundlichkeit aus.

Während dem zupfte der Marquis Vieuville Leonin bei Seite; Beide verließen den Saal, der Marquis führte Leonin durch einen Umweg in das Kabinet der Königin. Als Leonin eintrat, erblickte er sogleich die wunderschöne Gestalt der Mademoiselle de Lesdiguères, die in reichem Silberstoff, mit Juwelen geschmackvoll verziert, auf einem Tabouret in der Mitte des Zimmers saß und die Augen fest auf die Thür geheftet hielt, aus der Leonin und der Marquis Vieuville jetzt hervortraten.

»Viktorine!« rief Leonin – bei ihrem Anblicke sogleich das geheimnißvolle Flüstern verstehend, was ihn den ganzen Abend verfolgt hatte, – »Viktorine, meine Braut! meine Geliebte!«

Er stürzte mit einer Heftigkeit, die ihn plötzlich aus seiner Apathie erweckte, auf Viktorine zu, und seine Bewegung war um so stürmischer, da sie mehr einem physischen Nervenreize, als der Wärme seines gemordeten Herzens entsprang.

Viktorine sah ihn in unbeschreiblicher Bewegung zu ihren Füßen liegen. Sie war vollständig geschaffen, die rührende Wichtigkeit des Augenblicks zu empfinden, und Thräne auf Thräne fiel aus den schönen, glänzenden Augen auf Leonin's Haupt, das er in ihren Händen verbarg.

»Leonin,« sagte sie dann sanft, »ich bin Ihnen Beides mit voller Ueberzeugung und von ganzem Herzen – und die Königin will, daß Sie durch mich erfahren sollen, wie bereit ich bin, Ihnen dies zu bestätigen!«

»O, Viktorine,« rief Leonin, »ich bin es nicht werth, Ihr Gatte zu sein! Bedenken Sie, was Sie thun! – Ich bin Ihrer nicht werth! Sie sind ein Engel – ich bin ein armer, schwacher, elender Mensch!«

[198] Viktorine sah die Todtenblässe, die eingesunkenen Züge seines schönen Gesichtes in dem Augenblicke, wie er in der tiefsten Erschütterung den Kopf zu ihr aufhob; – und wie auch die Welt sie als kalt und gefühllos bezeichnete, sie war vollständig Frau; so war auch bei dem Anblicke seiner leidenvollen Züge ihr erstes Gefühl nur das zärtlichste Erbarmen – und das zweite der schöne Muth, ihm dies Gefühl zu zeigen, ihn schützend und heilend zu umgeben mit dem Reichthume weiblicher Hingebung.

»Leonin,« sagte sie zärtlich, »Sie sind krank – Ihr Ansehn verräth es mir! Hören Sie auf, in dieser Stimmung so hart und mißtrauend über sich zu urtheilen! Wenn Sie aber leiden, so nehmen Sie Ihre Viktorine als Stütze, als Trost hin; – ich fühle in mir die Kraft, Ihnen Beides zu sein.«

»O, Geliebte,« rief Leonin, »ist es wahr? Darf ich noch nach solchem Erdenglücke die Hand ausstrecken! Ist es möglich, daß Viktorine mir gehören will?«

»Schwärmer!« lächelte sie ihm entgegen – »überzeugen Sie sich denn, ob ich Ihnen bestimmt bin! Die Kapelle der Königin ist erhellt – Fenelon erwartet uns am Altare – die Königin wollte, daß ich Ihnen diese Ueberraschung mittheilen sollte.«

Leonin antwortete mit einem Schreie. Sein Kopf sank in ihren Schooß. Ueber ihm hing das edle, zärtliche Mädchen, mit dem seligsten Gefühle des weiblichen Herzens – denn sie hoffte geliebt zu sein!

»So habe ich es wohl ganz recht gemacht?« sagte eine sanfte Stimme. – Beide fuhren in die Höhe, an dem wohlbekannten, heiß geliebten Tone die Sprechende erkennend. – Maria Theresia und Anna von Oesterreich standen, leise eingetreten, vor dem so ungleich bewegten Paare.

[199] Viktorine sank vor der Königin aufs Knie – Leonin that mechanisch dasselbe. Beide Königinnen segneten sie mit Wohlwollen und Rührung ein.

Jetzt füllte sich hinter ihnen das Zimmer – Henriette von England umarmte Viktorine und hieß sie niedersitzen. Die Flügelthüren nach den mit Hofleuten gefüllten Sälen wurden geöffnet, um den Anwesenden eine Erklärung des heutigen Festes zu verschaffen.

Die Königin nahm der Herzogin von Bellefond ein Diadem von Brillanten ab und machte eine Bewegung, es der Braut um die Stirn zu legen. Die schönen Hände von Madame vollendeten das Werk, dem sie den bedeutungsvollen Kranz von Orangenblüten hinzufügten. Die Königin Anna nahm darauf einen Strauß von Brillanten von ihrer Brust, den Madame de Bellefond der Braut befestigte.

Viktorine küßte noch ein Mal knieend die Hände der liebevollen Fürstinnen, erhob sich dann und zeigte der ganzen Versammlung das schönste Bild einer edeln, jungfräulichen Braut.

Herr von Dreur führte jetzt den halb bewußtlosen Leonin zur Königin. Herr von Vieuville reichte ihr das Band des Heiligen-Geist-Ordens. »Der König wünscht Ihnen Glück, Graf Crecy!« sprach die Königin – »und läßt Ihnen sagen, wie auch ohne den Glanz der Waffen, ritterliche Tugenden zu üben wären! Sie sollen sich vorerst dem Schutze der Frauen widmen!«

Leonin bebte, als ihn Vieuville fast zur Erde drückte und das blaue Band um seine Schultern legte. Er hatte es bereits entehrt durch den schreiendsten Frevel an weiblicher Unschuld und Tugend. Als ob eine glühende Schlange sich um seine Brust ringelte, so fühlte er das leichte seidne Band.

Er konnte keinen Laut sprechen – er hatte kaum Kraft, sich zu erheben. Aber Niemand sah seinen Zustand; zu sehr [200] ward vorausgesetzt, was er empfinden müßte, um zu bemerken, was er wirklich empfand.

Die Königin empfing jetzt eine Meldung; sie neigte das Haupt, dann winkte sie Leonin und Viktorine an ihre Seite und stellte sie so gewissermaßen dem versammelten Hofe vor, während der Marquis Vieuville vortrat und mit lauter Stimme rief: »Ihre Majestät die Königin ladet die Versammlung ein, der kirchlichen Einsegnung von Leonin, Grafen Crecy-Chabanne, und Viktorine, Prinzessin von Lesdiguères, in der Hofkapelle beizuwohnen.«

Schon traten die Hofchargen voran, und an der Seite Maria Theresia's, von ihren Fingerspitzen, liebevoll lächelnd, geleitet, schritt Mademoiselle de Lesdiguères der an dieses Zimmer grenzenden Kapelle zu, während Anna von Oesterreich, sich auf Leonin's Arm stützend, ihnen folgte, nachgedrängt von allen Gegenwärtigen, denen jedoch Henriette von England in der Mitte der beiden Elternpaare voranging.

Wie eine Erscheinung aus höherer Welt, mit der Verklärung eines Heiligen in dem blassen Gesichte – erwartete Fenelon das Brautpaar auf den Stufen des Altars. Sein Auge berührte nur einen Augenblick Beide – dann schien es sich in himmlischer Anschauung über die Erde zu erheben.

Seine Stimme war zu Anfange so verändert, daß sie etwas Geisterhaftes hatte, und Viktorine sie kaum erkannte. Dann ward sie stärker – zuletzt gewann sie ihre volle melodische Kraft – und als er sich endlich zur Braut wandte, schien er ein feuriger Cherub, gesendet, die Befehle des Herrn zu verkündigen! »Viktorine de Lesdiguères, Zierde Deines Geschlechtes, fühle in Deinen Vorzügen die große Anforderung des Herrn! Nicht, was Du erlebst, sondern, wie Du es erlebst – das sei Deine Frage vor Gott! Ihre Beantwortung wird bestimmen, ob Du Deinen Schöpfer ehrst und ihm dankbar bist für die reichen [201] Gaben, die er Dir gab, und die Dir zurufen: ein Vorbild zu werden jeder weiblichen und christlichen Vollkommenheit! – Täusche uns nicht,« sagte er, zu ihr gebeugt, und seine Stimme bebte in Rührung – »Du bist eine schöne Hoffnung auf dem Wege Aller, die Dich kannten und – liebten!« setzte er kaum hörbar hinzu. – Nach einer Pause schritt er zu den kirchlichen Ceremonien – und Beide waren vermählt.

Nach den Beglückwünschungen der Königinnen und Prinzessinnen, zogen sich die hohen Herrschaften einige Augenblicke zurück, um dem Hofstaate und den jetzt verwandten Familien Raum zu ihren Gratulationen zu lassen. Später ward in den Gemächern der Königin Anna eine geistliche Musik aufgeführt, der die Neuvermählten, zwischen den Königinnen sitzend, beiwohnten. – Am andern Mittage brach der ganze Hof auf. Die junge Gräfin Crecy folgte an der Seite ihres Gemahls, in einer Karosse, mit zwei Kavalieren und zwei Damen der Königin, dem Triumphzuge dieser kriegerischen Vergnügungsreise nach Nancy, dem ersten Ruhepunkte des glänzenden Hauptquartieres.


Die Begebenheiten des zweiten holländischen Feldzuges zu schildern, gehört der Geschichte an. Wir haben keine Berechtigung, in das romantische Bild der Zeit und die Erzählungen der Schicksale einzelner Privatpersonen, die ihr angehörten, die große Katastrophe zu verflechten, die einen für sich abgeschlossenen, achtungsvollen Raum begehrt. Nur in so fern diese kleineren menschlichen Begebenheiten, die uns vorliegen, sich an diese größeren Zustände anschließen, sei es uns erlaubt, ihrer zu erwähnen.

Obwol der Nymweger Frieden, der diesen Feldzug endete, erst sieben Jahre später geschlossen ward, so blieb doch der [202] König und der Theil seines Gefolges, der blos als Hofstaffage des Krieges diente, nicht so lange von seinem glänzenden Schauplatze, von Paris – oder vielmehr von Versailles getrennt, welches Letztere immer mehr in seinem Werthe die übrigen königlichen Besitzungen überbot; da die ungeheuern Summen, die an seine Verschönerung verschwendet wurden, es allerdings nach dem damaligen Geschmacke, zu dem prachvollsten Königssitze Europas umschufen. Auch war mit der Gegenwart des Königs bei der Armee, die mit dem Winter endete, die Idee, die Frankreich und er selbst nöthig hatte, vollkommen erfüllt. Der persönliche Muth, den er bei mehreren Veranlassungen gezeigt, der glückliche, klare Blick bei schnellen Entscheidungen, die Gewandtheit, womit er anzuregen und hinzureißen verstand, und die imponirende Hoheit, mit der er wieder eben so dem wildesten Strome, den heftigsten Ausbrüchen der Leidenschaften Einhalt zu thun wußte – diese seltene Vereinigung hatte den König in den Augen seines ganzen Volkes zu dem Helden erhoben, den er nothwendig darstellen mußte, um dem Ehrgeize Aller Genüge zu leisten. Jetzt hatten sie über ihn abgeschlossen, und er konnte für den Augenblick thun, was er wollte – er blieb ihnen der erste Held der Erde! Die Anbetung glich dem Wahnsinne; man fragte den ganzen Reichthum der Sprache nach einem Worte, ihn zu verherrlichen. Man war mit dem Beinamen »des Großen« nicht zufrieden, und hätte ihn am liebsten »den Göttlichen« genannt.

Auch zog seine Rückkehr die Blicke Aller von der Armee fort – ihm nach! Dieser blutige, langwierige, mit so großen Kosten geführte Krieg, der die edelsten Stützen der Nation sinken ließ, und das Land seiner kräftigen männlichen Jugend auf so lange Zeit beraubte, sank augenblicklich zur Nebensache herab, als Ludwig seinen berühmten Feldherren die Erringung der großen Erfolge übertrug, die sie unsterblich machten. Die [203] Pavillons, die an dem Schlosse von Versailles emporstiegen, die Gärten, die Le Notre unerschöpflich war, durch neue Erfindungen umzugestalten, waren weit mehr der Gegenstand aller Mittheilungen bis in die Provinzen hinein, als das große und blutige Schauspiel, das Frankreich auf fremdem Boden aufführte.

In den vollsten Taumel dieser Zustände verflochten, kehrten Leonin und seine Gemahlin mit der königlichen Familie zurück. –

Fennimor's Tod war das Hochzeitsgeschenk, das der Marquis de Souvré ihm den Tag nach der Vermählung gemacht! Aber die Maske, die er gelernt hatte vorzunehmen, um diesen ewig lächelnden Hof nicht zu erschrecken, schützte ihn vor dem Verrathe seiner Gewissensbisse – der wahnsinnigen Verzweiflung, die ihn zerriß. Denn der Marquis hatte kein Interesse, ihm Fennimor's angeblichen Tod als einen Zufall der kaum erstandenen Wöchnerin zu bezeichnen, wie die Marschallin es wünschte. Den Augenblick der Rache versäumen, nach so langer sorgfältiger Mühe, ihn vorzubereiten, hieß eine Thorheit verlangen, die er blos mit Achselzucken hörte, um Leonin alsdann mit dem vollen Gewichte der Nachricht zu treffen, die ihn in Wahrheit so elend machte, als er gehofft, und seine reichen Besitzthümer in dem Augenblicke vernichtete, als sie ihn alle zu umschaaren schienen.

Viktorine war Alles ganz. Früher schüchtern, stolz und jungfräulich verschlossen, war sie jetzt von der muthigen Zärtlichkeit einer Gattin durchdrungen. – Scharfsichtig, freilich die Motive verkennend, errieth sie den geistig und körperlich ungemein leidenden Zustand ihres Gemahls und gab sich ihm mit allen Mitteln einer edeln, weiblichen Liebe hin. Wie hätte er dem vereinten Zauber so vieler Vorzüge und so vieler Liebe widerstehen können! Er ergab sich ihm mit weicher, träumerischer Zärtlichkeit, die ein weibliches Herz so lange von der Erkenntniß [204] ihres wahren Geschickes abzuhalten vermag und lohnte ihr diese glaubensvolle Liebe doch nicht durch ein ausreichendes Vertrauen, welches allein ihn noch derselben würdig machen konnte. So gewann er wieder, was der verwöhnte Zögling der eifersüchtigsten Mutter von Jugend auf zu erzielen gelernt hatte: der Augenblick hüllte ihn schonend und liebkosend ein!

Der Arzt von Ste. Roche ward durch Souvré's Vermittelung mit Summen versehen, welche überschwänglich ausreichend, die Existenz des Kindes und seiner Wärterin sichern sollten. Fennimor's Leiche sollte in der alten Kapelle des Schlosses, in dem Grabgewölbe der Claudia von Bretagne beigesetzt werden – und Leonin war vorläufig mit diesen Angelegenheiten fertig. Die Abreise trat dazwischen. Schon hatte er gelernt, diese äußeren Pflichten als die vorherrschendsten, geltendsten anzusehen; er fand schon darin eine Rechtfertigung, daß sie ihn von jenen Interessen abzogen, und die süße Beschwichtigung aller schwachen Karaktere, die Dinge, die sie zu verletzen drohen, verschieben zu dürfen, übte auch über ihn ihre ganze Gewalt.

Jetzt war er zurück. Die alten Räume nahmen ihn auf. Das Schloß Crecy war dem jungen Erben allein übergeben. Der größte Glanz der Verhältnisse, seine Stellung bei Hofe, die immer angenehmer und anziehender ward, je mehr ihn seine übrige Lage zu begünstigen schien, Viktorinens schöne, edle Erscheinung, die diese einst so öden Räume auch geistig zu beleben wußte und, indem sie ihn als zu sich gehörend betrachtete, ihm einen Werth zu geben schien, der ihn zu Zeiten selbst täuschte und ihm die Verpflichtung, sie glücklich zu machen, immer natürlicher werden ließ – Alles dies vereinigte sich, den Winter an Leonin vorüber zu führen, ohne ihn ernstlich auf die Verhältnisse hinzuleiten, die, ihm nur halb bekannt, oberflächlich von Andern besorgt, zu entscheidenderer Einwirkung aufforderten.

[205] Das Frühjahr führte die rastlos wechselnden Feste des Hofes herbei, die auf den Genuß der schönen Gärten berechnet waren, die ein königliches Lustschloß mit dem anderen zu verbinden strebten – und endlich forderte Viktorine seine ausschließliche Aufmerksamkeit, indem sie ihm in dem Blütenmonate der Erde, wie sie wähnte – den ersten Sohn überreichte.

Wir werden sein erschrecktes Herz begreifen, wenn wir hinzufügen, daß er keinen Muth hatte, für dies Kind zu fühlen, was die erste Aufwallung für dasselbe andeutete. Er stand stumm davor – ein gerichteter Verbrecher! Es war dasselbe holde Wesen, das er verstoßen – es hatte gleiche Rechte an ihn; – aber die Wonne, die er bei der Geburt von Fennimor's Sohne empfunden, und die er mit Verrath und dem schwärzesten Frevel bezahlt hatte, rächte sich jetzt an ihm und ließ ihn verzagen, wie ein Mensch zu empfinden.

Dagegen war die Geburt dieses ersten Erben für die Marschallin und ihren Gemahl der Gipfel des Glückes, und Beide empfanden, Jeder in seiner Weise, dabei eine noch nie gekannte Erweichung. Das Kind selbst, Viktorine, die Geberin dieses Glückes, waren ein Gegenstand fast thörichter Liebesweise, und das herzogliche Aelternpaar blieb gegen die Schwiegerältern ihrer Tochter im Rückstande.

Die ganze Familie war nach Paris gegangen. Die junge Gräfin mußte im Hotel Soubise ihr Wochenbett halten, und mit dem stolzesten Uebermuthe wurde dies Glück verkündet, fürstliche Geschenke in allen Richtungen vertheilt, und endlich ein Tauffest vorbereitet, diesen gesteigerten Empfindungen gemäß.

Leonin ließ sich in der Richtung forttreiben, die um ihn her so bestimmt angedeutet ward, daß sein eigener Wille unthätig bleiben konnte, da Niemand das Ziel desselben bezweifelte. Aber heftiger, wie je, erwachte Gewissensangst in seiner Brust, und ein Gefühl, das aus Wehmuth und Sehnsucht [206] zusammengesetzt war. Er hatte keinen freien Athemzug – keinen heitern Blick – er suchte die Einsamkeit – und wer ihn unbeweglich aufgerichtet in seinem verschlossenen Zimmer hätte stehen sehen, das Auge in das Leere schweifend, der hätte fürchten können, den glücklichen Vater, den Günstling des Glückes habe der Verstand verlassen. – Aber er hatte in diesen Stunden eine Vision, die ihn vielleicht rettete! Er dachte an Fennimor – und endlich löste sich aus dem dunkeln Raume, wohin er starrte, ein leichter Nebel – er schwebte näher – in duftigen, kaum sichtbaren Umrissen trat Fennimor daraus hervor – zuerst bewegte sie die schlanke, weiße Hand – dann sah er den zarten, leichten Fuß, halb schwebend, und wie nur sie ihn bewegte – dann schaute er das süße, bleiche Haupt – die Wangen mit Thränen bethaut, aber den Mund von dem harmlosesten Lächeln der Liebe verschönt – die reichen Locken schienen golden strahlend, und ihr Auge sah ihn so bittend, winkend an, daß er die Arme ausstreckte, der gelähmten Zunge den geliebten Namen erpressen wollte, und endlich, indem sie verschwand, niederstürzte und in Thränenströmen sich erleichterte.

Dies wiederholte sich täglich, so oft Leonin die Einsamkeit erreichen konnte – und nur dies war es, was ihn bei den Anforderungen des Tages erhielt. –

Die Majestäten hatten an dem glücklichen Ereignisse in der von ihnen so ausgezeichneten Familie den ehrenvollsten Antheil genommen, und die Marschallin in der Stille eine Hoffnung genährt, die sie immer zu einer geduldigen Zuhörerin machte, wenn die Frau Herzogin von Lesdiguères mit dem Marschalle über die Pathen stritt, die dem Kinde gegeben werden sollten.

Den dritten Tag nach der Tafel, als schon für den nächsten die glanzvolle Taufhandlung angesetzt war, ohne daß man unter den zahllosen Gästen die Pathen bezeichnet hätte – trat [207] Leonin, vom Könige kommend, in den Portikus des Hauses, und ward von einem Knaben angeredet, der ihm ein mit Bleistift geschriebenes Blatt gab. Er blickte den kleinen Boten zerstreut an, und ihn für einen Bettler haltend, gab er ihm einige Stücke Geld und eilte die Treppe hinan.

Er mußte sich über die Treppen durch die Gänge und Gemächer winden, um zu seiner Gemahlin zu kommen; denn die Dienerschaft, Tischler, Tapeziere, Gärtner waren mit ihren Vorbereitungen zu dem glänzenden Feste des morgenden Tages in einer so geräuschvollen Thätigkeit, daß für den Augenblick fast jede andere Rücksicht aufhörte, und Leonin, selbst kaum beachtet und erkannt, sich förmlich durcharbeiten mußte. Erschrocken fast blieb er aber in einem der letzten Zimmer stehen, weil man hier unter einem Thronhimmel Viktorinens Paradebett aufführte, umgeben mit einer in goldenen Rahmen laufenden Glaswand, die sie von den Personen trennen sollte, welche Pathen des Kindes sein würden, und die als solche mit den nächsten Verwandten das Recht hatten, der Wöchnerin vor dieser Glaswand eine Verbeugung zu machen.

»Mein Gott,« rief Leonin, »ist diese abscheuliche Ceremonie denn durchaus nöthig? Wie gefährlich, die Mutter solcher Pein auszusetzen, die sogar ihr Leben bedrohen kann! Das Paradebett ist schrecklich – Grauen erregend!«

Er drückte die Hände vor's Gesicht – im selben Augenblicke schien es ihm ein Leichenzimmer – das Bett ward ein Paradesarg! – »Gott wie schrecklich!« rief er, außer sich, und stürzte an seinem erstaunten Kammerdiener vorüber, sich sehnend nach Viktorinens lebendigem Anblicke.

Doch die Frauen vertraten ihm leise winkend den Weg – Viktorine schlief. Er schlich näher – er setzte sich dicht an die Vorhänge – nach und nach erst tauchte aus dem Dämmerlicht ihre Gestalt auf. Mit welcher Rührung betrachtete er die schönen, [208] festen Züge, die, selbst vom Schlafe halb bezwungen, doch noch den Karakter einer Antike hatten.

Seufzer auf Seufzer hob sich aus seinem Busen – sein Herz, belastet mit Schmerz und Angst, die jeder Tag zu steigern schien, ward von der Stille dieses Zimmers, der unbeweglichen Ruhe Viktorinens in einem Grade erschüttert, der ihn fast zur Verzweiflung brachte. Er konnte es nicht länger ertragen, schlich leise fort und athmete auf, als das erste helle Zimmer ihn umfing.

»Mein Sohn,« sagte der Marschall, als Leonin in das Gesellschaftszimmer der Familie trat, »wir müssen nun beschließen, wer Pathe Deines Kindes werden soll.«

»Pathe meines Kindes?« erwiederte Leonin zerstreut. »Der König und die Königin.«

»Das erwartete ich!« rief die Marschallin, indem sie unwillkürlich aufstand, und der Ausdruck der höchsten Befriedigung über ihr Antlitz glitt.

Auch der Marschall stand auf, und indem er eine kleine, steife Verbeugung machte, sagte er: »Ich kann nicht darüber klagen, daß die hohen Herrschaften vergessen, wer der alte Marschall Crecy-Chabanne ist.«

»Jetzt aber erzählen Sie uns, wie es kam!« rief Madame de Lesdiguères. – »Ich liebe es, zu hören, wie sie sich bei solcher Gelegenheit haben! Mein Bruder, der Kardinal Reetz, sagte immer: ›Und wenn sie auch noch so lange an sich halten und immer auf eine ganz besondere Art und Weise warten, wodurch sie sich verständlich machen wollen, endlich müssen sie doch herausrücken, und dann sind es dieselben Worte, die auch andere Menschen brauchen, und sie müssen darum die Lippen öffnen und Athem einziehen und ausstoßen nach dem Gebote der Natur!‹« – Sie begleitete diese für Crecy'sche Ohren sehr ketzerische Reden mit herzlichem Gelächter und sah sich nach Leonin [209] um, der neben Louise auf dem Balkon getreten war und die heiße Stirn von dem kühlen Abendwinde erfrischen ließ.

»Nun, Schwiegersohn, werden wir hören, wie es sich begab?« – rief sie mit so durchdringender Stimme, daß Leonin wohl geweckt werden mußte.

Ernst, mit dem kummervollsten Gesichte trat Leonin vor sie hin und fragte nach ihren Befehlen.

»Mein Sohn,« sagte die Marschallin streng, und erzürnt über sein gleichgültiges Wesen, »Sie vergessen, dünkt mich, die Dehors, die Sie uns und der Ehre schuldig sind, welche die Majestäten unsern Familien erzeigen!«

Diese Stimme hatte immer Einfluß auf ihn, sie drang stets wie ein kalter Windstoß durch jede Verhüllung seines Innern. »Es ist wahr,« fuhr er heraus, »ich bin sehr kalt und habe von Ihnen Allen Verzeihung zu erbitten! Der morgende Tag erfüllt mich mit unerklärlicher Angst! Viktorine wird auf eine Weise durch die vorgeschriebene Etikette gequält werden, die mich für ihr Leben fürchten läßt.«

»Mein Herr,« sagte die Marschallin kalt – »Frauen von Stande sind dieser Etikette unterworfen gewesen, seit ich denken kann. Ich habe nie Etwas gehört, was diese sonderbare Aengstlichkeit, die ein wenig nach Sitten schmeckt, die hier nicht gelten, rechtfertigen könnte. Haben Sie jetzt die Güte, der Frau Herzogin zu sagen, auf welche Weise Sie die gnädige Willensmeinung der Majestäten erfuhren.«

»Gestern Abend,« sagte Leonin – er wollte fortfahren; aber drei Stimmen zugleich unterbrachen ihn. –

»Gestern Abend? Gestern Abend schon war es bekannt? Mein Gott, welch' ein unverzeihlicher Fehler!« rief die Marschallin – »wir hätten den Herrschaften Alle aufwarten müssen!«

Die Herzogin lag hinten über vor Lachen. »Nein,« sagte sie dazwischen, »solche Tollheiten kann auch nur gerode [210] Viktorinens Mann machen – das könnte sie auch – und was gebt Ihr, sie lacht sich krank, wenn ich es ihr sage!«

Der Marschall wußte nicht recht Position zu nehmen; er lachte gern, wenn er die alte Herzogin lachen sah, und doch schien es selbst ihm unerhört von seinem Sohne.

»Der König verbat ja alle Feierlichkeiten von Seiten der Familie!« rief Leonin und richtete seine Rede an die Marschallin, die ihren Zorn kaum zu bemeistern vermochte und daher lieber geschwiegen hatte.

»Als uns die Königin gestern Abend beurlaubte, erwählte sie mich, Seiner Majestät gute Nacht zu wünschen. Sie fragte dabei theilnehmend nach Viktorinen und sagte mir: Der König würde mir noch Etwas in ihrem Namen zu sagen haben.«

»Wir versammelten uns, wie gewöhnlich, in dem Speisesaale, während der König en petit couvert zu Abend aß. Nach dem Abendessen lehnte er sich gegen das goldene Gitter des Kamins, und wir durften das Wort an ihn richten; da ich mich aber zurückzog, ließ er mich rufen; er war sehr gnädig und that ähnliche Fragen nach meiner Gemahlin.«

»Jetzt kam der Augenblick, wo er uns zu beurlauben pflegt, und zugleich der Moment so vielen Ehrgeizes – Sie wissen, was ich meine. – Der König nahm den kleinen goldenen Leuchter – man drängte sich näher – Jeder hoffte ihn zu erhalten. Da rief der König meinen Namen, und ich erhielt den goldenen Leuchter und durfte ihm zum kleinen Niederlegen folgen.«

»Die Königinnen, die Prinzen, Prinzessinnen und die Amme waren hier anwesend. Der König, dem ich mit der Ehre des goldenen Leuchters zur Seite bleiben mußte, trat zur Königin heran und sagte: Wollen Sie bei unserm Vetter, dem Grafen Crecy-Chabanne, meine Gevatterin sein?«

»Die Königin nickte lächelnd – während ich vor Beiden das Knie beugte. Doch der König rief: nicht doch, nicht doch! [211] Niemals mit dem goldenen Leuchter! Ich stand schon wieder, und der König überreichte nun der Königin nach alter Sitte, als seiner Gevatterin, einen Strauß und ein Paar Handschuhe. Der Strauß aber war von Juwelen, die Handschuhe von der schönsten Perlenstickerei.« –

»Wer den goldenen Leuchter am Abende getragen hat, muß am andern Morgen beim kleinen Lever erscheinen. Hier sagte mir Monsieur, er und Madame würden stellvertretend bei der Taufe persönlich zugegen sein.« –

Die Marschallin klingelte. »Sämmtliche Staatswagen sollen vorfahren!« rief sie, und Alle trennten sich, um in hoffähiger Toilette ihre Aufwartung bei Madame Henriette und dem Herzoge von Orleans zu machen. –

Dem Tumulte des vorangegangenen Tages folgte am andern Morgen die feierliche Ruhe der Vollendung, der Vorerwartung großer Festlichkeiten. – Der vollste Glanz einer so mächtigen Familie, wie die Crecy-Chabanne-Soubise, trat hervor, und die Beschreibung der Ausschmückungen des Palastes an diesem Tage würde, wenn sie uns noch vergönnt wäre, einen vollständigen Commentar dieser merkwürdigen Zeit mit ihrem soliden Reichthume, den barocken Erscheinungen ihres geschnörkelten und überladenen Geschmackes und ihres aristokratischen Dünkels geben.

Nur einzelne Gruppen geschäftiger Diener schlichen noch umher, um am frühen Morgen dem Ganzen die letzte Politur zu geben, und Gärtner tränkten die kostbaren Blumen und Pflanzen, die einzelne Räume zu feenartigen Tempeln umschufen.

Die Schloßkapelle, in welcher der Bischof von Noailles die Taufhandlung vollziehen sollte, war durch eine kostbar drapirte Gallerie mit den übrigen Zimmern für diesen Tag verbunden, und das Meer von Licht, welches den Altar und die Kapelle erfüllte, war um so überraschender, da die Gäste bei [212] der vorgerückten Jahreszeit, trotz des nahenden Abends, noch im hellen Tageslichte empfangen werden mußten. Wie glanzvoll diese Versammlung war, brauchen wir nicht weiter zu erwähnen. Wer hätte es nicht für eine Gunst gehalten, sich einem Feste anschließen zu dürfen, das der König besonders ehren wollte?

Auch blieb der Marschallin kein Wunsch unbefriedigt. Sie mußte sich trotz ihrer hohen Ansprüche gestehen, daß, außer am Hofe der Königin, wohl schwerlich eine glänzendere Versammlung zu denken sei, und – was nicht ohne Werth war, sie konnte sich sagen, daß sie der Mittelpunkt geblieben, daß Keiner der Gäste daran dachte, einem Andern, als ihr, die Ehrenbezeigungen der Begrüßung zu machen. So vollkommen zufrieden sie jedoch mit diesem Ehrenplatze war, so unerträglich war es ihr, daß Leonin, wie sie glaubte, in seiner gewöhnlichen träumerischen Weise die Stunde vergessen habe. Denn er, der anscheinend seine Gäste empfangen sollte, ließ sich noch immer nicht sehen; ja, er war sogar im Palaste nicht zu finden, wie sein Kammerdiener meldete. Im Ankleidezimmer lagen seine Staatskleider bereit; aber obwol man ihn eine Stunde früher in dem Zimmer seiner Gemahlin gesehen hatte, war er jetzt verschwunden. Schon hatte der Marschall, von den Umständen gedrängt, umgeben von den vornehmsten Herren der Versammlung, im äußersten Vorzimmer Platz genommen, da jeden Augenblick die Ankunft der stellvertretenden hohen Herrschaften zu erwarten war, und noch immer kamen die nach allen Richtungen versendeten Diener mit der Botschaft zurück, daß der junge Graf an keinem Orte zu finden sei.

Wie viel Fassung bedurfte die Marschallin, um die Qualen ihres Inneren zu verbergen, die anfänglich bloß dem ungemessensten Zorne angehörten, später durch die Besorgniß um ein Unglück verstärkt wurden, die immer wahrscheinlicher, [213] immer drohender in ihr aufstieg und den Triumph ihres stolzen Herzens anfing zu entkräften. Der letzte Augenblick nahte – die Kammerherren des Herzogs von Orleans erschienen – jetzt mußten die hohen Herrschaften folgen – und der Herr vom Hause, der sie an der Schwelle des Palastes empfangen mußte, war nicht zu finden! – Die Marschallin fühlte eine der Ohnmacht ähnliche Schwäche, die nicht gehoben ward, als ihr der Marschall sagen ließ, er begebe sich hinunter.

Maschinenmäßig bewegte sie sich vorwärts, und kaum hatte sie ihren vorschriftsmäßigen Platz eingenommen, da fuhren die Karossen der Herrschaften unter das Portal des Schlosses.

Beinahe verzweifelnd blickte die Marschallin noch ein Mal nach ihrem Sohne umher – er blieb verschwunden. Die Gewohnheit besiegte jetzt auf kurze Zeit den Tumult ihres Innern. Der glänzende Zug, an dessen Spitze die reizende Henriette von England an der Seite ihres Gemahls, des Herzogs von Orleans, erschien, übte die Macht eines Lethe-Tropfens über die Marschallin aus. Ihr in den Hofformen wohl erzogenes Herz durfte ihr Nichts, als die Entzückungen der Ehre senden.

»Ah, Madame,« sagte der Herzog von Orleans – »Seine Majestät der König haben uns versichert, wir dürften uns als Ersatz seiner geheiligten Person darbieten. Können wir auf Ihre Zustimmung rechnen?«

Die Marschallin versenkte sich einige Male vor Beiden und küßte den Rock von Madame, die sie alsdann freundlich umarmte. »Seine Majestät,« stammelte sie dabei, »weiß jede seiner Gnadenbezeigungen durch die Weise, wie er sie ertheilt, zu Ehren zu erheben, die das Herz des Empfängers fast mit ihrer Größe erliegen machen.«

»O,« sagte Madame, naiv lächelnd – »ich meines Theils, habe mich recht gefreut, das schöne Palais Soubise zu sehen, von dessen prachtvoller Ausstattung ich so Vieles hörte.«

[214] »Madame,« erwiederte die Marschallin – »heute gerade, schien es mir, besaßen wir Nichts, es seinem Zwecke gemäß würdig auszustatten!«

»Davon wollen wir uns selbst überzeugen,« sagte die schöne Fürstin – und schritt nun durch das Spalier der glänzenden Versammlung in die prachtvolle Zimmerreihe, die ihre Voraussetzungen rechtfertigte.

Die Herrschaften hatten unter dem Thronhimmel Platz genommen und ließen einzelne Personen heranrufen, denen sie einige der gewöhnlichen Fragen schuldig zu sein glaubten. Die Marschallin mußte, an der Seite von Madame stehend, ohne Bewegung ausharren, obwol sie jetzt Ruhe erhielt, ihren wieder auflebenden qualvollen Gedanken nachzugehen. Jeden Augenblick mußte sie eine Frage der Prinzessin in Bezug auf dieses räthselhafte Ausbleiben erwarten, oder die Wirkungen dieser beleidigenden Nachläßigkeit von den Umgebungen gerügt fürchten; denn auch Souvré, den sie zuletzt abgeschickt, war nicht wiedergekommen.

Es war dabei gegen die Etikette, nach dem Erscheinen der hohen Gäste die Taufhandlung aufzuschieben; man durfte nicht annehmen, daß ihre Gegenwart einen geselligen Zweck habe, man mußte dies wenigstens von ihrer Herablassung erwarten und jedenfalls die Veranlassung ihrer Gegenwart nur auf die Sendung des Königs beziehen. Die Marschallin wußte das zu ihrer unendlichen Qual besser, wie einer der Anwesenden es ihr sagen konnte; – aber wie sollte sie das Zeichen zur Taufhandlung geben, da der Vater des Kindes fehlte!

Einen Augenblick hielt Madame jetzt in ihren freundlichen Begrüßungen inne. So wenig stolz sie war, sah man ihr doch ein gewisses Erstaunen, eine Erwartung an. Der Marschallin traten die Schweißtropfen auf die Stirn, sie sah den unbeweglich starren Blick der Herzogin von Bellefond und die zürnende[215] Bewegung, mit der sie ihren weißen Stab vor sich hinhielt. Ein Entschluß mußte gefaßt werden!

Der Herzog von Orleans hatte so eben seine Unterredung mit dem Marschalle beendigt. Sein Auge nahm das verfängliche Umherschweifen an, das Erlaubniß zum Anfange der Feierlichkeit zu ertheilen schien. Die Marschallin wußte, daß Keiner diesen Raum mit ihr einnahm, der nicht voll Neugierde so vielen Mißgriffen zusah. Sie mußte sich sagen, daß dies ihren glänzenden Ruf erschüttern würde. Was ihr bestimmt schien, sie über Alle zu erheben, mußte ein Markstein werden ihres unbestrittenen Uebergewichtes. Ihr gesteigerter und so verletzter Hochmuth brachte sie innerlich fast um ihren Verstand – alle Personen schwammen vor ihren Augen; sie sah aber jetzt, wie die Herzogin von Bellefond sich erhob und den Weg zu ihr hin über den leeren Raum vor dem Stuhle der Prinzessin durchschritt. Die Verzweiflung gab ihr Kräfte – sie wandte sich zur Herzogin und bat sie, das Zeichen zum Aufbruche zu geben.

Augenblicklich stand Henriette auf; denn auch sie sah den nahenden Paradezug der strengen Oberhofmeisterin und liebte, wie fast der ganze Hof, ihre Anmaßungen zu durchkreuzen.

»Sollen wir ohne Ihren Sohn – ohne den Vater, liebe Marschallin, den Zug antreten?« fragte sie leise die zitternde Mutter.

Sie bekam eine Antwort, so dunkel und verworren, daß sie sie nicht verstand und jetzt annahm, der junge Graf werde sie am Eingange der Kapelle erwarten.

Die Hofchargen arrangirten sich; Alle schritten in angemessener Würde, nach der bestimmten Vorschrift, der Kapelle entgegen. – Noch immer hoffte die Marschallin, hier ihren Sohn zu sehen; – aber er blieb aus! Die Handlung fing an – Ludwig, Maria von Crecy-Chabanne war mit diesem Namen [216] getauft – der Herzog von Lesdiguères und der Marschall ersetzten die Stelle des Vaters.

Die Handlung war vorüber. Die Marschallin wankte zur Herzogin von Orleans. – Madame durfte die Beleidigung nicht übersehen; denn sie stand hier im Namen der Königin. Sie grüßte kalt – ohne Glückwunsch – ohne die Marschallin zu umarmen.

»Darf ich fragen,« sagte der Herzog von Orleans zu den jetzt angstvoll zusammen stehenden Elternpaaren, »welchem Grunde wir es zurechnen müssen, daß die Auszeichnung, welche Seine Majestät, mein königlicher Bruder, den Eltern des Neugebornen zu erzeigen gedachten, gerade von diesen, wie uns scheint, so wenig beachtet ward, daß wir den Vater nicht anwesend sehen? – Wo ist der junge Graf Crecy-Chabanne?«

»Das mag Gott wissen!« rief der Marschall mit dem Tone der Verzweiflung überlaut – und rang die Hände, sie plötzlich über seinen Kopf zusammen schlagend – »ich hoffe, im Grabe; – sonst überlebe ich diesen Verstoß seinerseits gegen Ehre und Glück nicht!«

Die Marschallin glaubte zu ersticken. Sie hatte auf eine künstliche Entschuldigung gesonnen – ein tödtliches Erkranken sollte ihn retten; – jetzt war es damit vorbei. Ihre sonst ihr so getreue Fassung verließ sie, sie wendete sich seitwärts, um Luft zu schöpfen. Der Marquis de Souvré war herbeigeschlichen. »Madame,« sagte er leise und fest, »hoffen Sie nicht mehr auf Leonin. Die erste Gemahlin Ihres Sohnes lebt, und Leonin ist zu ihr nach Ste. Roche abgereist.«

Man hörte einen gellenden Schrei – und die Marschallin von Crecy-Chabanne, welche noch niemals bei Hofe die kleinste Schwäche gezeigt hatte, lag bewußtlos auf dem Boden.

»Darf ich Eure Königliche Hoheit erinnern, daß hier nicht länger Ihr Platz ist,« sagte die unerschütterte Herzogin von [217] Bellefond; – und da auch die Gräfin von Grammont eine tiefe Verneigung vor Madame machte, so überwand die gutmüthige Fürstin ihre schnell erregte Theilnahme und blickte ihren Gemahl an.

Monsieur zeigte die steife Miene der übeln Laune. »Wir sind, scheint es, zu seltsamen Familienscenen hierher gekommen,« sagte er, seiner Gemahlin den Arm gebend und leicht grüßend an Allen vorüber eilend, während die voranstürzenden Kavaliere die Wagen vorfahren ließen, so daß die Herrschaften das Hotel Crecy verlassen hatten, ehe noch die Marschallin ihre Besinnung wieder gewann.

Als sie die Augen aufschlug, lag sie in einem Lehnstuhle in der Kapelle – ihre Frauen, der Arzt umgaben sie; – zunächst aber kniete die alte, gutmüthige Herzogin de Lesdiguères, trotz ihrer steifen Kleidung und Juwelenlast, und rieb die Pulse der Erwachenden, während der Marschall und der Herzog wie Bildsäulen zuschauten.

»Fassen Sie sich doch, mein Kind!« sagte sie gutmüthig, als sie das erste Lebenszeichen sah – »es wird sich Alles aufklären. Nur Muth! Muth! Das muß doch heraus zu bringen sein, wo er steckt!«

Doch, wo hätte die Marschallin Trost finden können? Was Niemand aus Besorgniß um sie bis jetzt gesehen hatte, sah sie. Das Hotel war leer – Alle hatten den Ort geflohen, wo eine anscheinende Beleidigung gegen die Majestät an den Repräsentanten des Königs geschehen war. Bleiben, hätte eine solche Sünde theilen geheißen; Niemand konnte nur daran denken! – Die Marschallin wußte das, bei dem ersten Strahle des Bewußtseins; aber sie konnte diesen Sturz von dem höchsten Gipfel der Ehre und Auszeichnung bis zu dieser Aechtung ihres Hauses nicht ohne eine tödtliche Empfindung des Schmerzes erkennen. Der Arzt erklärte einen Aderlaß nöthig; die Lakaien [218] ergriffen den Lehnstuhl und trugen die Marschallin, zur Erhöhung ihrer Qual, durch alle die glänzend eingerichteten Gemächer, durch die großen Speise-Säle, in denen noch alle Zurüstungen im vollen Gange waren, nach dem entfernten Schlafgemache, wo der Aderlaß endlich den Zustand von Erstickung hob, mit dem sie rang, und einige Tropfen Opium einen betäubenden Schlaf auf sie niedersenkten.


Leonin hatte den Tag, der um ihn her so glänzende Ansprüche an seine Theilnahme entwickelte, in einem Seelenzustande zugebracht, wie ihn vielleicht nur der verurtheilte Verbrecher vor seiner Hinrichtung erlebt. So lange, wie möglich, blieb er in dem Zimmer Viktorinens – ihre klare, edle Stimmung hielt ihn aufrecht; – sobald er sie verlassen mußte, fiel er der Verzweiflung wieder zu, mit der er vergeblich rang. Mit geheimer Scheu gedachte er der regelmäßig wiederkehrenden Vision – er sehnte sich danach und fürchtete sie doch zugleich. Er hatte sie nicht zu erwarten! Es war ihm, als schwebte sie flüsternd neben ihm her – er floh aus den Prunksälen – er erreichte sein einsames Gemach. – »Fennimor, Fennimor,« rief er hier, außer sich – »ich will ein anderes Kind, als Dein rechtmäßiges, mir zuerst gebornes, auf den Platz erheben, von dem ich das Deinige verstieß! Muß ich es nicht mit dem Tode büßen, muß dies schwarze Verbrechen nicht gestraft werden? Ach, an mir selbst – an dem unschuldigen Kinde, das jenem in den Weg tritt?« – Seine Aufregung hatte den höchsten Grad erreicht – er lag halb auf seinen Knien – er zweifelte nicht, sie wäre da, würde sich ihm gleich enthüllen – seine Augen suchten sie – wie konnte es fehlen, daß er sie sah? Doch nur einen Augenblick! Ihr bleiches, schönes [219] Haupt, mit Thränen überschüttet, das süße versöhnende Lächeln um den Mund, tauchte auf. Dann sah er die Hand, sie winkte ihm – dann war Alles verschwunden, und Leonin konnte weinen!

Wie lange er so da lag in einer Vergessenheit, die ihn fast dem Leben entzog, wissen wir nicht. Als er sich aufraffte, erschrak er vor seinem Anblicke. Er fühlte, er dürfe so nicht erscheinen. Langsam stieg er eine kleine Treppe hinab, die in den Garten führte. Wie bewegte ihn der Anblick der Natur, dies erste duftende Grün, diese feinen Bekleidungen der saftig dazwischen durchschimmernden, dunkeln Stämme und Zweige! Die Luft war feucht und warm, eine brütende Atmosphäre für alle noch eingehüllten Keime, aber so beengend für die Menschenbrust, die keinen freien Athemzug darin findet. Leonin gab Alles nur Nahrung für sein beklemmtes Herz. Seufzend, den Kopf auf der Brust, ging er mechanisch umher. Da glaubte er eine Stimme zu hören – er sah sich um – pfeilschnell flog ein Knabe den Weg hinter ihm her. Er blieb stehen – und jetzt erinnerte er sich, daß es derselbe war, dem er am Tage vorher Almosen gegeben hatte. »Was willst Du, Kind?« rief er und zog wieder einige Geldstücke hervor – »hat meine Gabe nicht gereicht?«

»O, was soll mir doch wohl Euer Geld?« sprach jetzt das Kind, ganz außer Athem vor ihm stehend – »leset doch nur, was ich Euch brachte, und sagt dann, ob ihr mit mir geben wollt!«

»Was meinst Du denn, mein Kind? – Ich habe ja Nichts empfangen – nimm dies Geld – ich kann jetzt nicht mit Dir gehen.«

»Mein Gott,« – sagte das Kind, fast weinend – »ich habe Euch doch gewiß den Zettel gestern in die Hand gegeben. Wo habt Ihr ihn denn gelassen? Nun werden sie glauben, ich habe ihn verloren, und Ihr werdet nicht mit mir kommen wollen ohne den Zettel!« –

[220] Leonin erinnerte sich jetzt, daß er, zerstreut wie er war, den empfangenen Zettel nicht gelesen hatte, ihn für eine Bittschrift haltend und ohnedies das Almosen ertheilend. Er durchsuchte den leichten Oberrock, den er auch heute trug, und fand nirgends das Blatt.

»Mein Kind,« – sagte er – »die Bittschrift habe ich verloren, ich will Dir aber ohnedies geben, was Du bedarfst. Nur mit Dir gehen kann ich nicht, meine Gegenwart ist hier nöthig.«

»Ach, Gott erbarme sich,« rief jetzt hellweinend das Kind – »so soll der arme Herr ohne Euch sterben? Einem Sterbenden versagt man doch sonst Nichts – und er kann und will nicht sterben ohne Euch!«

»Ein Sterbender!« rief Leonin erschüttert – »Wen meinst Du? Wer will mich sprechen?«

»Herr Gott, wer anders, als Lesüeur!« sagte das Kind. – »Er liegt seit zwei Tagen im Sterben. Jeden Augenblick soll es vorbei sein; – aber er sagt, er will nicht sterben, bis Ihr da seid; denn Ihr müßtet sonst umkommen in Eurer Gewissensnoth!«

»Großer Gott!« rief Leonin. – »Was sprichst Du? Lesüeur sterbend? Wo – wo ist er?«

»Bei sich, lieber Herr,« sagte das Kind, noch immer weinend – »und wenn Ihr hörtet, wie er Euch ruft, wie er mit dem frommen Priester, der Tag und Nacht bei ihm ist, nicht mehr beten kann, weil er Euch immer ruft und glaubt, Ihr werdet nie selig werden, wenn Ihr nicht noch sein Geheimniß erfahret!«

»Lesüeur! Lesüeur!« rief Leonin, von Gedanken-Verbindungen fast überwältigt. – »Was kann er mir zu sagen haben? O, mein Gott! Er, der ihr so nahe stand! Ich muß hin zu ihm – ich muß ihn sehen. – Weißt Du den Weg, so führe mich!«

[221] »Gottlob!« frohlockte das Kind mit schnellversiegenden Thränen – »folgt mir nur, ich weiß den Weg!«

Leonin öffnete hastig eine kleine Nebenpforte, die in die Höfe führte. Hier rief er selbst seinem Kutscher zu, ihm schnell ohne Bedienten und Livreen mit der einfachsten Karosse zu folgen. »Wohin?« rief er dem Knaben zu.

»Nach St. Sulpice, neben dem Kloster in dem Stiftshause!« erwiederte der Knabe, und Beide eilten davon.

Das Stadtviertel St. Sulpice war die entlegenste und unscheinbarste Gegend von ganz Paris. Felder und Gärten drängten sich zwischen geringen Anbau. Einzelne Straßen bildeten sich nur in der Nähe der Klöster, die ihre reichen Ansiedelungen hier in großer Menge hatten. Doch waren diese Straßen mit Gewerbetreibenden niederer Klasse überfüllt, und die gewöhnliche Zugabe der Armuth, bettelnde Kinderschaaren, gab der ganzen Gegend ein trauriges Ansehn. Jedem drängte sich die Thatsache auf, wie hier nur um die Erringung der gewöhnlichsten Lebensbedürfnisse gekämpft werde, und daß Alles vergessen und verwildert bei Seite trete, was eine Anforderung darüber hinaus enthielt. Die Klöster und Stifts-Herren von St. Sulpice hatten hier die weitläufigsten Besitzungen und verbreiteten, so viel dies bei ihrem strengen Ordensleben möglich war, einigen Wohlstand um sich her. Mehr aber noch war ihre geistliche Sorgfalt, ihre zweckmäßige Unterstützung und die ernstlichen Ermahnungen, mit denen sie einzuschreiten wußten, Ursache, daß dieser Theil von Paris nicht wie der ärmste, so auch der gefährlichste Theil der Stadt ward; da die Furcht vor der strengen Aufsicht dieser achtbaren, geistlichen Herren eine unverkennbare Herrschaft über die Verdorbenheit ausübte, die ganz auszurotten, nicht in ihrer Macht stand.

Vielleicht hatte Leonin kaum eine Ahnung von dem Dasein dieses Stadttheiles; wenigstens schien es ihm, als er in [222] fieberhafter Aufregung neben dem rüstig forteilenden Knaben herging, als wäre er in einer andern Stadt; Alles, was ihn seine Stimmung beobachten ließ, war ihm völlig fremd.

»Der gute Herr Lesüeur,« hob endlich der Knabe an – »ist schon lange in Pflege bei uns. Jeder glaubte ihn des Todes, als er einzog. Aber die ehrwürdigen Herren haben ihn gut gepflegt, so daß er noch seine heilige Theresia fertig bekommen hat; obgleich wir oft dachten, er hauche bei der Arbeit den Geist aus.«

»Ja, der ist gut, Herr,« fuhr er fort – »da ist auch nicht Einer, der ihn nicht liebte! Denn fromm ist er und still wie ein Heiliger! Darum müßt Ihr auch kommen, damit Ihr ihm die letzte Unruhe der Welt von dem Herzen nehmt.«

»Mein Gott! mein Gott!« seufzte Leonin – von Ahnungen und Befürchtungen angeregt, unfähig, sich aus dem Andrange so vieler Empfindungen heraus zu ringen, den nächsten Augenblick instinktartig erwartend und von ihm die Richtung hoffend.

Der Knabe erzählte ihm, daß er der Sohn des Pförtners sei und Lesüeur Farben gerieben habe, indem er den langen, beschwerlichen Weg durch die Verfolgung kleiner Nebengäßchen kürzte, die nur dem gut bewanderten Bewohner dieses unregelmäßigen Stadttheiles bekannt werden konnten. – Endlich verfolgten sie eine lange Mauer, über die hohe Bäume im Abendwinde nickten, welche die Nähe eines reicheren Besitzes verriethen. An einem Gitterthore schellte der Knabe, und sie traten in einen ebenmäßigen Laubgang, der das große Stiftshaus in der Perspektive zeigte; auf beiden Seiten die weiten dazu gehörigen Gärten, an die sich links, durch die Bäume leuchtend, die Kirche mit den Klostergebäuden von St. Sulpice anschloß. – Leonin athmete auf! Diese Ruhe und Stille, diese Abgeschiedenheit, die doch in ihrem Inneren eine so würdige Thätigkeit bewahrte[223] – es war nicht sogleich nachzuweisen, am wenigsten in Leonin's Ueberzeugung; – aber der Geist, den die Wahrheit solcher Zustände ausathmet, umfängt uns und erreicht unser Bewußtsein, ehe der dürre Nachweis unseres Verstandes hinzu tritt. Er hob das Haupt – er blickte erquickt umher – zwischen den Bäumen sah er die schwarzen Gestalten der wandelnden Stiftsherren, und aus der Gegend des Klosters vernahm er einen mehrstimmigen Gesang, der ihnen zu folgen schien. Der Knabe blieb stehen. – »Ach, da kommen sie!« rief er plötzlich, auf seine Knie fallend. – »Sie ziehn nach dem Stiftshause – er bekömmt die letzte Oelung – sie tragen das Allerheiligste!«

Auch Leonin blickte jetzt um und sah die feierliche Prozession der Mönche, die in einem zweiten Baumgange, der nach dem Seitenflügel des Stiftes zu führen schien, an ihnen vorüber zog. Er war unaussprechlich davon ergriffen. Er fühlte, daß es noch eine Rettung, einen Trost für die Fehler des Menschen giebt. Seine in verzweifelnder Verwirrung zuckende Seele fand einen Stillstand. Eine Stimme, die sich aus dem Gesange der Mönche zu erheben schien, rief ihm zu: »Ruhe aus vor Gott in den Armen der Reue!« – Er hätte sein Gesicht in dem Moose bergen mögen, das um die alten Bäume sein Lager ausbreitete – er hätte liegen bleiben mögen, bis die Zeit ihm Nachdenken gegeben und einen stillen, einsamen Weg ihm gezeigt, um Frieden mit Gott zu schließen; – aber, indem er sich diesem Triebe entzog, aus Angst, Lesüeur's letztes Begehr zu versäumen, tauchte auch die Furcht vor seiner Verschuldung mit verscheuchender Grausamkeit wieder in ihm auf; und als er fortwandelte, schien er sich nur der rettungslose Sünder!

Das Stift war ein großer, ehrwürdiger Palast. Sein Bau und seine eben so alten Gartenanlagen sollten aus der Zeit der Katharina von Medicis herstammen, und obwol man die Guisen als Eigenthümer dieser Besitzungen nannte, glaubte [224] man sie doch von der Königin erbaut und von ihr zu besonderen und geheimen Zwecken bestimmt. Die Anlage war jedenfalls den stolzesten Ansprüchen gemäß und von mancher geheimnißvollen Einrichtung durchkreuzt, die dem Beobachter sagen mußte, man habe andere Zwecke hier verfolgt, als offenes Haushalten im Glanze der damaligen Zeit. Jetzt bewohnte wahre Frömmigkeit diese schönen, wohlerhaltenen Räume; und mit dem Ernste der Wissenschaften benutzte man die Ausdehnung des Baues, zu andern Zwecken einst empor geführt.

In dem Augenblicke, als Leonin mit dem kleinen Führer sich dem Portale des Stiftes nahte, verschwand die Prozession der Mönche in seinem innern Raume, und Leonin eilte dem Knaben voran, wie getrieben, sich dem Zuge anzuschließen.

Die Chorherren erfüllten den prachtvollen Portikus des Hauses, sie hatten das Allerheiligste bei dessen Durchzuge begrüßt. Der Abt, der den Fremden sogleich für den erwarteten Grafen Crecy hielt, wollte ihn anreden; aber Leonin, nur die Prozession suchend, warf seine Augen ängstlich umher; und ohne die Begrüßung des ehrwürdigen Abtes zu erwiedern, eilte er, den Mönchen zu folgen, die ihn an das ungeduldig erwartete Ziel zu führen versprachen. Niemand hinderte ihn. Die erfahrenen Menschenkenner verstanden den heftig erregten Zustand, der sich selbst Hülfe schaffen mußte.

Leonin trat mit ihnen zugleich in ein großes Gemach, welches sich als die Werkstatt Lesüeur's verrieth, da in der Mitte desselben, auf einem Gerüste, mit Blumen und Zweigen geschmückt, in kunstreich geschnitztem goldenem Rahmen sich ein Bild erhob, das, obwol es Leonin die Rückseite zukehrte, ihn vermuthen ließ, daß es das letzte Werk des jetzt sterbenden Künstlers sei. – Die drei hohen, weiten Fensterthüren nach dem Garten waren geöffnet – der Frühling lag vor der Schwelle – glänzende Strahlen der Abendsonne vergoldeten das feine, [225] gelbliche Grün des ersten Laubes und warfen ein belebendes Licht in das schöne alterthümliche Gemach und auf die ehrwürdigen Gestalten der Mönche, die, des Einlasses harrend, einen Kreis um den Geistlichen bildeten, der, von Chorknaben umgeben, in stiller Sammlung mit der verhangenen Monstranz, in ihrer Mitte stand.

Es war der ehrwürdigste Anblick andächtiger Erhebung – die harmonische Vereinigung in der Absicht und Darlegung heiliger Hülfsleistung, von der sinnlichen Außenwelt zufällig auf eine Weise unterstützt, als ob ein Bestreben eingetreten wäre, sich dem Zwecke gemäß zu zeigen. Wie lange hatte Leonin nichts Aehnliches erlebt – wie begierig sog er die Erschütterungen ein, die er dadurch erfuhr!

Die Thüren öffneten sich jetzt vor ihnen und zeigten ein zweites geräumiges Gemach und, den Thüren gegenüber, ein Bett mit aufgeschlagenen Vorhängen.

Leonin war auch hier bis zur Thüre gefolgt; aber von dem fungirenden Geistlichen beordert, gab ihm ein dienender Bruder die Weisung, den Kranken nicht durch seinen von ihm so heiß ersehnten Anblick in seiner geistlichen Fassung zu stören.

Leonin sah die Thüren sich vor ihm verschließen. Betäubt lehnte er sein Haupt gegen die Pfosten – horchte den Gebeten und einzelnen Accorden gleichmäßig wiederkehrender Responsorien, welche die Mönche abhielten und damit den Fortgang der heiligen Handlung bezeichneten.

In jedem Augenblicke entkörperte sich sein Zustand mehr und mehr. Er wähnte in die heiligen Beschwörungen, die in sein Ohr drangen, mit eingeschlossen zu sein – von ihnen fortgezogen, hatte sich sein deutliches Bewußtsein in ein unbestimmtes, inbrünstiges Verlangen nach dem versöhnenden Troste der Religion aufgelöst, und eine körperliche Erschöpfung vollendete einen augenblicklichen Stillstand seiner überspannten [226] Lebensgeister. Erst, als seine Füße unter ihm wichen, erwachte er, und von einem Geräusche hinter sich erschreckt, raffte er sich zusammen und erblickte, sich umwendend, vor Lesüeur's Bilde den Knaben, der ihn geleitet, in Thränen auf seinen Knieen liegend und frische Frühlingsblumen davor ausbreitend. – Langsam folgte er der Richtung. Er stand vor Lesüeur's Bilde, ohne es anzusehn, den weinenden Knaben liebevoll betrachtend. Doch dieser war fertig oder wollte mehr Blumen suchen – er enteilte in den Garten. Leonin sank in einen Lehnstuhl, in dem Lesüeur vielleicht sein Bild vollendet hatte. Da glaubte er sanfte Musik sich nahen zu hören – horchend richtete er sich auf. – Großer Gott, Fennimor stand vor ihm! – verklärt – auf lichten Wolken schwebend – um das weiße Unterkleid den blauen, duftigen Mantel mit Sternen auf den Schultern – die Märtyrerkrone mit dem Heiligenscheine in den goldbesäumten braunen Locken – den tiefen Engelsblick des kindlichen Auges – das süße Lächeln um den schönen Mund – den Palmenzweig in der zarten, weißen Hand! Sie schwebte vor, wie es erschien; der leichte, nackte Fuß berührte kaum den Rand der Wolken, die sie zu umwölben strebten. Sanft schien sie vorgebogen, den Palmenzweig – das Friedenszeichen – hülfreich bemüht der Welt zu bieten, Trost und Vergebung kündigend aus der Welt, aus der sie wieder nur gekehrt, Alle liebend einzuladen, die mühselig und beladen im Erdenjoche keuchten.

»Fennimor, Fennimor,« rief Leonin und stürzte auf seine Knie – »Du ladest mich zum ewigen Frieden! Zu Dir gehöre ich mit dem tiefsten Leben meiner Brust – Du rufst mich zu unserer Heimat – hier bin ich! Nimm' mich! Erbarme Dich des Sünders! – Selbst im Sünd'gen gegen Dich gehört' ich Dir! Dir allein! Du geheiligte Liebe meiner Brust, schwebe nieder – nimm mich mit fort!«

[227] Erwartungsvoll sank sein Kopf auf den Blumenteppich vor Lesüeur's Bild, das Fennimor's von ihm so heiß geliebte Züge, zur Heiligen verklärt, verherrlichte. Er träumte, hoffte, jauchzte der ewigen Vergebung mit ihr entgegen – da berührte eine sanfte Hand den kühnen Schwärmer. Er fuhr empor – der ehrwürdige Priester, der Lesüeur zum Tode eingeweiht, stand ernst und mild über ihn gebeugt.

»Ermannt Euch, junger Mann!« – sprach er mit weichem Tone – »die Pflicht der Freundschaft ruft Euch an das Lager des Sterbenden! Schon umweht die ewige Ruhe jener Welt den müden Pilger – laßt sie Euch heilig sein und laßt, was irdisch ist, der Welt, die ihm schon entrückt ist! Er ist in schönem Frieden; – doch begehrt er Euch zu sehen, und ihm muß werden, was er für die letzte Pflicht der Erde hält. Doch seid es werth, den letzten Augenblick der verklärten Seele zu theilen – versucht, des Friedens theilhaft zu werden, der ihn umweht.«

»Hört meine Beichte!« rief Leonin – »laßt mein Herz vor Euch erleichtert werden, ehrwürdiger Priester! Gebt mir den Trost, dessen Eure reine Seele voll ist!«

»Jetzt nicht!« – sagte ernst der Priester – »jetzt nicht, mein Sohn! Die Augenblicke Deines Freundes sind gezählt. Erfülle erst jene Pflicht und bedarfst Du dann der Beichte noch, so melde Dich im Kloster St. Sulpice, der Prior Tronçon wird Deine Beichte anhören.«

Leonin nahm alle seine Kraft zusammen – seine Mienen drückten so deutlich seinen Seelenzustand aus, daß der ehrwürdige Prior die Hand auf seine glühende Stirn legte und ihm fast unwillkürlich, voll erhabener Rührung seinen Segen gab. – Leonin sah ihn im Gefolge seiner Brüder verschwinden – die Thüren des Sterbezimmers öffneten sich – er stand vor dem verklärten Antlitze Lesüeur's!

[228] Lesüeur blickte auf Leonin, und wie oft er ihn auch verwünscht, wie lebhaft er ihn gehaßt, die Verklärung des Todes hatte diese Empfindung schon gemäßigt, ehe Leonin zu ihm trat; und als er ihn erblickte, mit den deutlichsten Zeichen des Schmerzes und der Gewissensangst in dem bleichen Antlitze, erkannte er den blühenden Mann, den er früher gesehen, kaum wieder und fand wenigstens nicht den verstockten Höfling, den zu hassen er sich so berechtigt gehalten hatte.

»Ja, ja, ich erkenne es« – rief er matt – »Gott ist gerecht! Er hat Dich schon gezeichnet, Du armer, verlockter Sünder, und Du thust schwere Buße in Deinem Inneren.«

»Nie, nie genug!« – rief Leonin und kniete an dem Bette des Sterbenden; – »und wenn kein Hauch des Lebens je wieder Frieden für mich bringt – doch ist es keine zu harte Buße! Lesüeur, ach, wüßtest Du, wie ich es jeden Tag mehr und tiefer fühle – Du hättest Erbarmen mit mir!« Er barg sein Haupt und hörte einen tiefen Seufzer neben sich. Am Fußende des Bettes kniete ein Priester im stummen Gebete – sein Gewand verhüllte ihn gänzlich.

»Groß und entsetzlich ist Dein Verbrechen; – aber ich will wissen, in welchem Maaße Du gesündigt – und ich, der ich ihr Freund – ihr Schützling – ihr heiliges Werk auf Erden ward – ich will Dich fragen, und Du sollst dem Sterbenden die Wahrheit enthüllen. Willst Du?«

»Ich will es!« rief Leonin. –

»Was sagte Dir Souvré den Tag vor Deiner Hochzeit?« –

»Ich sei frei! – Und als ich mehr zu wissen verlangte, vertröstete er mich mit der Wiederholung dieser Worte. Erst am andern Morgen erfuhr ich ihren Tod!«

»Ihren Tod?« rief Lesüeur, seine Hände zusammenschlagend – »ihren Tod? Unglücklicher, weißt Du nicht, daß sie lebte – [229] daß sie, Deine einzig, rechtmäßige Gemahlin – daß sie lebte, als Du das zweite Weib nahmst?«

Ein dumpfer Ton des Entsetzens brach aus Leonin's Busen. Er stürzte zuckend auf das Bett, während seine weit geöffneten Augen, auf Lesüeur starrend, genugsam seinen fürchterlichen Zustand verriethen.

»Ja,« fuhr der Freund Fennimor's mit erhobener Stimme fort – »obwol der Tod lange über ihrem Scheitel stand – mußte sie dennoch leben! Als endlich der Vikar die Nachricht davon zu mir gelangen ließ, war Alles zu spät – der Frevel geschehen – Ihr vermählt, und Fennimor gab schon Zeichen ihrer langsamen Auflösung! Da beschwor ich die Menschen dort, sie sollten sie belügen – Euch in den Krieg gezogen schildern – ihr den Glauben geben, daß Ihr sie verstorben hieltet.«

»Gott, Gott,« rief Leonin – »das Ungeheuer, das mich betrog – den ungeheuern Frevel mich begehen ließ!«

»Klage Dich an, nicht Andere!« rief dumpf der verhüllte Priester – »Du wolltest betrogen sein – darum wurdest Du es!«

Betroffen blickte Leonin auf die düstere Gestalt, die seufzend und verhüllt neben ihm lag – schaudernd schien es ihm, als höre er die Stimme seines eigenen Gewissens. Flehend rief er gegen den Sterbenden: »Sage mir, sage mir um der Barmherzigkeit Gottes Willen – wann starb Fennimor? und wo – wo ist mein Kind?«

»Höre mich,« sprach Lesüeur – »Du bist weniger schuldig, als ich dachte. Gewiß scheint mir, Du glaubtest an ihren Tod, als Du diese zweite Verbindung schlossest – und weil Dich das weniger schuldig macht, wie ich Dich hielt, so will ich Dir einen Tropfen reichen, der vielleicht in Etwas Deine Qualen dereinst lindern kann. – Höre denn – noch lebt Fennimor – aber am Rande des Grabes – und ihr einziger – heißester Wunsch ist, Dich noch ein Mal zu sehen!«

[230] Mit einem Schreie war Leonin bei Lesüeur's letzten Worten aufgesprungen – seine zweite, Bewegung war, fortzustürzen – fort zu ihr hin – es war der einzige Gedanke, den er fassen konnte!

»Halt!« rief Lesüeur und ergriff sein Kleid.

»Laß' mich,« stammelte Leonin – »ich muß fort, fort zu ihr in dieser Stunde – ohne Aufenthalt!«

»Nicht eher« – rief Lesüeur mit der alten Kraft – »als bis Du mir gelobt, ihre heilige Engelsruhe hier zu schützen – den Frevel ihr verhüllt zu lassen, der indeß begangen. – Willst Du bloß hin, um Dein ungestümes Herz vor ihr zu entladen, so treffe Dich der ganze Fluch des Unglücks, das Du verschuldet! Niemand wünscht Dich dort zu sehen – und mit Recht; – doch Fennimor's Sehnsucht, die sie nicht leben, nicht sterben läßt, hat den Widerwillen der Anderen, Dich zu sehen, gebrochen.« –

»O, lasse mich fort, fort, fort zu Fennimor, zu meinem heißgeliebten Weibe – ich habe keine heiligere Pflicht – sie soll in mir Nichts finden, als ihren Gatten!«

»Und Viktorine?« rief plötzlich die verhüllte Gestalt, indem sie sich rasch vom Boden erhob; – und Fenelon stand vor Leonin, und aus seinem bleichen Antlitze blitzten zürnende Augen.

Leonin verhüllte sein Gesicht! Doch nur einen Augenblick. Nichts konnte neben dem, was jetzt in ihm angeregt war, Raum behalten. »Und dennoch, den noch muß ich fort! Ist es möglich, Fenelon, so schützt Viktorinen – nicht um meinetwillen – um ihretwillen – denken kann ich jetzt nicht für sie – ich habe nur eine Pflicht – nur ein Gefühl! – Aber betet – betet für mich, wie Ihr für den verurtheilten Verbrecher betet – und lebt wohl!«

»Unglücklicher!« – rief Fenelon – »armes Spielzeug des Augenblickes – zwei Kronen reichte Dir das Leben zum – zertrümmern!«

[231] Leonin hörte ihn nicht mehr. Auf Lesüeur's kalte Hand gebeugt, nahm er Abschied von ihm für diese Welt – streckte flehend die Hände gegen Fenelon empor und stürzte zum Zimmer hinaus. Fast besinnungslos trieb es ihn fort – er wäre zu Fuß nach Ste. Roche geeilt; – aber sein Wagen stand vor der Thüre. »Jaques,« rief er dem alten Kutscher zu – »Du kennst den Weg nach Ste. Roche – treibe die Pferde an – laß' sie mit Post wechseln – nur schnell, daß wir bald hingelangen!«

Der Wagen blieb halten. Dies eine Mal gehorchte Jaques nicht; denn er war gewiß sich zu irren. Nach einigen Augenblicken stieg er vom Bocke und trat ehrerbietig an den Schlag: »Euer Gnaden befehlen nach Hause?«

»Nein, Jaques! Nein, nicht nach Hause!« – rief Leonin mit einem Ausdrucke, der Jaques die Ahnung einer ganz ungewöhnlichen Begebenheit gab – »nach Ste. Roche! Nach Ste. Roche! Ueberall frische Pferde – und schnell, schnell!«

Jetzt gehorchte Jaques – der Wagen eilte fort und Leonin dachte mit keinem Gedanken daran, daß im Pallast Crecy heute sein Sohn getauft werden sollte.


Den Fahrweg durch das Thal von Ste. Roche entlang flog der einsame Wagen des Grafen Crecy; ohne Vorreiter, ohne Livreen, ohne berittene Diener oder Reisegepäck. Niemand aus dem Schlosse erkannte daher den Ankommenden. Nur Fennimor sagte in diesen letzten Tagen oft: »er komme jeden Tag zu ihr und weine lange und heiß zu ihren Füßen, weil er sich so sehr nach ihr sehne; – aber er sähe so bleich aus – und so anders, wie früher, daß sie immer weinen müsse, wenn er komme.« – Das glaubte ihr Niemand, obwol auch Niemand ihr zu widersprechen wagte. Aber, wer aus dem Nebenzimmer sie zuweilen [232] betrachtete, wenn sie allein zu sein glaubte, konnte wohl sehen, daß in ihrem Geiste eine besondere Regsamkeit war. Himmlisch mitleidig blickte sie in den leeren Raum, bis Thränen aus ihren Augen niederfielen; sie neigte sich vor, und die feine, weiße Hand schien eine Täuschung, die ihr vorstand, erreichen zu wollen. – Wer hätte durch Geräusch oder Frage sie stören mögen! Alle, die sie seit ihrem Unglück umgaben, hatten sich die Hand gereicht zu einem Bunde des Schweigens. Jeder bezwang das schwellende Herz über ihr Schicksal, wie es wirklich war, und erwartete fast mit Andacht, was sie daraus machen würde.

Lange Zeit hatte die Krankheit sie mit einer Heftigkeit beherrscht, die wenig Hoffnung für ihre Genesung ließ – und ihr selbst keine Besinnung. Auch war der Arzt vom Anfange an überzeugt, daß diese heftige Störung in der ersten, so verhängnißvollen Zeit einer Mutter, ihre Lebenskräfte verzehren würde. – Und als er die erste furchtbare Krankheit gebrochen hatte, wartete er nur, welchen Weg die Natur zu ihrer langsamen Auflösung einschlagen würde; denn den Gedanken an gänzliche Herstellung räumte er weder sich, noch den Anderen ein, wenn er den fliegenden Puls unter seinem Finger fühlte – und fast war Keiner, der es wünschte.

Auch blieb Fennimor's Zustand lange in einer Verhüllung, die halb geistig, halb körperlich war; und zum Erstaunen, zur tiefsten Erschütterung gereichte es ihren Umgebungen, daß sie aus der Gegenwart entrückt blieb und das spielende Kind in den Buchenwäldern von Stirlings-Bai war, mit allen holden Tändeleien und dem vollen Liebesschatze dieser Zeit.

Daß dieser milde Zustand mit der Genesung enden müsse, sagten sich Alle mit Schmerz, und so war auch ihr erster Ruf: »Leonin!« ein Symptom der Krisis – mit denselben Uebergängen kehrte sie zurück – Thränenströme flossen nieder – [233] Keinem gab sie Antwort, als die eine: »er hat mich doch so sehr geliebt!« Dann trat ein tiefes Verstummen ein, was sie bei den nöthigen Störungen nachgiebig und verstehend, aber völlig wortlos zeigte. Bis dahin hatte sie weder ihres Kindes gedacht, noch war es ihr nahe gebracht worden. Da regte der Vikar diese Erinnerung in ihr an, und nach einigen Wiederholungen sah man ihrem Aufhorchen an, daß ihre Gedanken aus dem Schlummer geweckt wurden. Wie rührend war es, die steigende Ahnung in diesem bleichen himmlischen Antlitze zu verfolgen; – plötzlich rötheten sich die lilienweißen Wangen, die Augen gewannen Glanz, und sie sagte kindlich schluchzend: »ein liebes kleines Kind, was mein ist!«

Da legte ihr Emmy das schlafende Wesen in den Schooß und zog den Schleier von seinem Köpfchen. Sogleich erkannte es Fennimor, und ein heißer Strom von Wonne fluthete noch ein Mal durch dies gebrochene Herz. »Mein Kind! mein liebes kleines Kind!« sagte sie immerfort leise, bebend, aber mit einer Innigkeit und so wunderbarem Ausdrucke von Entzücken, daß Beide davon schlichen, um im Nebenzimmer, schreiend fast vor Erschütterung, sich in die Arme zu sinken und Thränen zu weinen, die einem Gemische von Wonne und Schmerz angehörten.

Lange ließ man sie allein – sie bemerkte nichts, als ihr Kind. Als es erwachte und sich ruhig dehnte, und die klaren Aeuglein mit dem Schlafe kämpfend so lieblich blinkten, und die kleinen Händchen das wunderliebliche Hämmern begannen, sahen sie Fennimor zuerst leise lachen. Sie versuchte es instinktartig an ihren bleichen Mund zu ziehen; aber die müden, schwachen Hände hatten dazu keine Kraft. Das Kind ward unruhig – ein leises Weinen hub an. Fennimor erschrak und ward roth – sie nahm alle Kraft zusammen und drückte es endlich an ihre Brust; – aber das Kind weinte nur lauter. Mit Gewalt fast hielt der herbeigekommene Arzt die Freunde zurück. – [234] »Hieran wird sie sich sammeln, stört sie nicht!« sagte der verständige Mann – »Gott ist groß in der Stimme der Natur!«

Die Angst, es zu trösten, zeigte sich deutlicher; sie hatte nur zu bald eine Ahnung früheren Glückes empfunden. Mit dem Bewußtsein, wie sie es sonst beruhigt, tauchte die Erinnerung ihrer langen Trennung von ihm auf; – seufzend ließ sie die müden Arme niedersinken – vor ihrem Kinde fand sie ihr Bewußtsein, ihren Schmerz, ihr ganzes Unglück wieder! Als sie laut mit ihrem Kinde zusammen weinte, traten die Freunde hinzu. – Emmy nahm das hilfsbedürftige Wesen von ihrem Schooße. Da versiegten Fennimor's Thränen – sie versuchte aufzustehen, und da sie es nicht allein vermochte, unterstützten sie der Arzt und Veronika. Wohin sie begehrte, sagten ihre Augen, die Emmy's Schritten folgten. Der Arzt gab immer nach; sie trugen Fennimor fast, die von ihrer Hinfälligkeit nichts zu bemerken schien. Im Nebenzimmer fand sie schon die Bäuerin mit dem Kinde an ihrer Brust. In tiefen Gedanken blieb sie vor diesem Anblicke stehen – sie setzten sie leise in einen Lehnstuhl vor der mitleidigen Amme nieder, und Fennimor sah nun, wie ihr Kind von einer Anderen Leben und Trost empfing. Tiefe Seufzer stiegen aus ihrer Brust auf – Thräne auf Thräne floß nieder, ein leises, schmerzliches Wimmern deutete an, daß sie ihr großes Leiden langsam zu verstehen begann. Die Bäuerin selbst zerfloß in Thränen und kniete dann mit dem rosenroth gefärbten, süß entschlafenen Kinde vor der unglücklichen Mutter. Da verlor der Schmerz seinen Stachel – der süße Athem, der über die kleinen, rothen Lippen säuselte, stieg erquickend zu ihr auf – das Kind verdrängte mit seiner reichen Schönheit jede damit verknüpfte Beziehung. Fennimor bekam wieder den verklärten Glanz von Wonne und verlor sich ganz in seinen Anblick. Als es aber unter ihren zärtlichen Liebkosungen erwachte und sie erst erstaun tansah, dann suchend das Gesicht der [235] Bäuerin fand, und das entzückte Lächeln des Erkennens plötzlich durch den ganzen kleinen Körper zuckte, da richteten sich Fennimors Augen auf diesen ersten Liebesgegenstand ihres Kindes; – und als sie den zärtlichen Blick sah, womit das gute Weib dies Erkennungszeichen erwiederte, lächelte auch sie ihr freundlich zu und strich leise mit der Hand über das gutmüthige, braune Gesicht.

Von da an behielt sie eine still versenkte Existenz in ihrem Kinde, über das sie oft in rührenden Gebeten lag, die alle so harmlose, süße Gespräche mit Gott waren, so immer nur über seine schönen, wunderbaren Werke, daß Alle sichtlich zu verstehen glaubten, wie Gott sie zu sich zöge und ihr die Welt verhülle, nur den Weg zu ihm ihr offen zeigend. Von ihrem eignen, rasch vorschreitenden Zustande schien sie keine Ahnung zu haben. Sie klagte nicht und doch legte sie zuweilen die abgezehrte Hand auf die Brust, und wenn der Arzt sie fragte, ob sie Schmerzen habe, sagte sie freundlich: »immer! immer!« Auch ließ der im Fieber fliegende Puls und das öftere Erbrechen von Blut keinen Zweifel über ihr Uebel.

Gegen Anfang des Frühjahres trat eine Veränderung ihres geistigen Zustandes ein. Der kleine Reginald hatte eben die ersten Versuche gemacht, sich an dem Stuhle seiner Mutter aufzurichten, und das Ereigniß hatte Fennimor bis zu einem lauten Ausrufe des Jubels gebracht. Als Emmy herbei stürzte, erblickte sie das unschuldige Glück, was die glühend erröthende Mutter erlebte, und sah den schönen, kleinen Reginald, der fast nicht von seiner bleichen Mutter zu trennen war, wie er lachend und lallend vor Lust, sein erstes Kunststück zu behaupten suchte und die kleinen, dicken Händchen eisenfest um den gedrehten Stuhlfuß krampte.

Emmy kniete liebkosend neben diesem einzigen Trost ihres verdüsterten Herzens nieder – da hörte sie Fennimor tief seufzen [236] und dann den fast vergessenen Namen Leonin aussprechen. – »Wo er nur bleibt, Emmy?« sagte sie; – »ich kann nicht, wie sonst, Alles bedenken; aber er muß lange fort sein – und doch ist sein Kind so schön, und er läuft ihm endlich entgegen, wenn er noch lange zögert.« Emmy schwieg. Zu bitter war ihr Gefühl! Sie hatte gehofft, Fennimor habe ihren Mörder ganz vergessen. Jetzt erwähnte sie ihn ruhig – freundlich – wie in ihr ganzes Leben verflochten. »Der bleiche Mann, den ich immer für die Schlange hielt,« fuhr sie indessen fort – »der hat ihn von mir getrieben. Armer Leonin, wie sie Dich wohl quälen mögen in der bösen Welt, in der Du leben mußt! Ach, wie wollen wir Dich lieben, wenn Du wieder kömmst; – nun hast Du einen mehr, der Dich liebt. Aber dort? Wer liebt Dich dort, wo die Mütter auch sich verhärten können und von Gott abweichen, wie ich jetzt weiß. Da muß Dir das Herz schwer werden! Wo bleibt er wohl, Emmy? – Und ist es lange, daß er fort ist?«

»Er ist indessen mit dem Könige in den Krieg gezogen,« stammelte endlich Emmy, die gehässige Lüge kaum über die Lippen zwingend – »und Ihr waret ja lange krank.«

Nur allmälig kamen Erinnerungen und Beziehungen in dem zerschmetterten und jetzt durch die vorschreitende Krankheit erschöpften Geist zurück. Schon sank das liebliche Haupt ermattet in den Stuhl; der kurze, fieberhafte Schlummer deckte die glänzenden und doch so tiefe Leiden verkündigenden Augen. Emmy blieb mit dem Kinde zu ihren Füßen. Sein süßes Lallen störte nicht mehr diesen kurzen Schlummer – wenn es zu ihr drang, ward das schlafende Antlitz immer freundlicher. Auch ihre Träume mußten harmlose Bilder enthalten, in welche die ersten Töne der kleinen Kinderstimme hinein paßten und sie vielleicht leiteten und belebten. Doch war von dieser Stunde an Leonins Bild neben dem ihres Kindes, und sie begann bei ihren [237] langen, rührenden Gebeten, ihn einzuschließen und Gott anzuempfehlen – ihm vorzustellen, wie er seine Hülfe so nöthig habe, da er ihn doch in Versuchungen führe. Wie er doch ja seine Seele behüten möge und immer bei ihm sein! Dann schwieg sie wohl; aber wenn sie fort betete, mußte man glauben, Gott habe ihr indessen geantwortet; denn sie sagte: »das wußte ich wohl, daß Du bei ihm bleiben wirst, und will auch nicht um ihn sorgen, da Du es allein thun willst!«

Oft beriethen sich die Geschwister mit Emmy und dem Arzte über das Schicksal Fennimors, dessen schreckliche Härte sie durch Lesüeur erfahren. Immer mußten sie einig darüber bleiben, daß sie ihr Alles verhüllen müßten.

»Lange brauchen wir es nicht mehr,« sagte der Arzt wehmüthig; – »das Gras grünt – die Knospen schwellen – wenn die Blumen kommen, werden sie über ihrem Grabe aufblühen!«

In dem Maaße, als der Ausspruch des Arztes sich zu erfüllen schien, steigerte sich Fennimors Sehnsucht nach Leonin – und dies ward dann die Veranlassung der letzten Sendung an Lesüeur. Die Freunde glaubten zu bemerken, daß Fennimor eine Ahnung von ihrer Auflösung bekam. Sie hatte ihre Schwäche, wenn sie darüber zur Erkenntniß gelangte, noch immer auf die Geburt ihres Kindes bezogen. Jetzt wünschte sie zuweilen aufzustehen, um die immer kühneren Versuche des kleinen Reginald unterstützen zu können. Sie fühlte nun, daß sie es nicht mehr vermochte und befrug Emmy darum. Ausweichend antwortete das trostlose Weib ihrem hinsterbenden Lieblinge, und es schienen sich an diesen halben Worten in Fennimor Folgerungen zu entwickeln, die ihr Gebet offenbarte. Denn keine andere Mittheilung gab es mehr für sie – die Freunde erfuhren den Gang ihrer Gedanken aus den lauten Gesprächen, die sie in ernster, kindlicher Unschuld täglich mit Gott führte. »Du hättest mich doch bei meinem Kinde lassen können!« sprach sie[238] – »Du hättest nur wollen dürfen, und meine Glieder hätten wieder Kraft gehabt, ihm zu folgen – und Leonin – wie wird er weinen, wenn ich bei Dir bin und er mich nicht mehr sehen kann! Ja,« fuhr sie dann fort – »freilich weißt Du Alles am besten – auch gehe ich gern zu Dir, wie Du mir auch glaubst. Aber Dein Leben ist doch auch so schön, und ich muß es lieb haben, so lange Du es mir läßt – nur das Eine lasse geschehen, daß ich ihn wiedersehe, ehe ich sterbe. – Du mußt ihn schicken, wo er auch sei – mache ihn los und führe ihn den Weg zu mir, daß ich mich noch recht erfreue an ihm!« Dann hatte sie Antwort bekommen und dankte Gott dafür, daß er ihn schicken wolle. Täglich wiederholte sich dies. Sie wunderte sich vor Gott, daß er nicht komme, und tröstete sich dann wieder durch ein neues Versprechen, das sie vernommen. So lenkte Gott die Herzen ihrer Freunde. Was sie auch mehr oder weniger Alle gegen Leonin empfinden mochten, Fennimor beugte ihren Sinn, ohne daß sie es wollte, und Alle belebte nur noch der Wunsch seiner Ankunft, die Lesüeur ermitteln sollte – die Fennimor jeden Tag schon im Voraus empfand und die durch die täglich näher rückende Stunde ihrer Anflösung immer dringender ward. –

Leonin stieg am Fuße des Schlosses aus seinem Wagen und fühlte eine Scheu, ein Beben, sich dem Sterbebette dieser Heiligen zu nahen, welches ihn heran schleichen ließ, als dürfe kein Geräusch seine Ankunft verkündigen.

Wie schön war Ste. Roche in dieser ersten Frühlingspracht! Es drängte sich ihm überall auf, ohne daß er geneigt war, es zu genießen. Durch die Zimmer, durch die er leise strich, wehte in die geöffneten Thüren und Fenster der warme Hauch des Maitages. Es war der duftendste, reinste Morgen. In den Zimmern seitwärts hörte Leonin sprechen und das Geräusch beschäftigter Personen. Doch die Zimmer, die vor Fennimors [239] kleinem Kabinette lagen, genossen der Ruhe; – nur die schöne Natur sah in die großen, offenen Fenster!

Jetzt stand er vor dem letzten Zimmer, welches ihn von Fennimors Kabinet trennte. Auch hier konnte sie sein – ob er sie nicht vorbereiten müsse, drängte sich ihm auf. Zweifelhaft und horchend blieb er stehen; er hörte ein Geräusch – aber es war eine Art Lachen und lallendes Krähen. Plötzlich trat eine Ahnung ihm näher – er drückte leise das Schloß auf und streckte den Kopf in die Thür. Er hatte sich nicht geirrt! Auf einem grünen Teppiche, der gegen die Fenster hin ausgebreitet war, lag ein holdes Kind im kurzen, weißen Röckchen, das es kaum bedeckte und Arme und Beinchen, die in großer Thätigkeit waren, frei ließ. Es machte die reizenden, kleinen Versuche, sich eifrig kriechend fortzuschieben, um die glänzenden Schälchen und Töpfchen, die wahrscheinlich, um es zu seinen Versuchen anzuregen, an den äußersten Enden des Teppichs vertheilt waren, zu erreichen. Es ruderte mit den reizenden, rosenrothen Füßchen mit einer Schnelligkeit und einem Eifer, daß seine blühenden Wangen noch frischer erscheinen; und je näher es dem glänzenden Gegenstande kam, je lauter lallte und krähte es vor Lust und Begierde. Neben ihm saß auf einem Kissen eine Frau in ländlicher Tracht, die, den Rücken nach Leonin gewandt, doch bemerken ließ, wie zärtlich sie das Kind hütete; denn, wenn das holde Geschöpf ausglitt und einen Augenblick auf seinem Gesichtchen lag, ehe die starken Aermchen sich wieder empor arbeiteten, sah man deutlich, wie ihre Hände ihm gern zu Hülfe gekommen wären. Auch blickte der kleine, fleißige Ruderer sich dann jedes Mal nach ihr um, jauchzte aber nur, wenn sie in die Hände schlug, und ruderte schnell weiter.

Leonin wußte, daß es sein Kind sei, und er fühlte vor ihm alle unnennbare Wonne, den ganzen Wahnsinn einer Entzückung, die uns der übrigen Welt entzieht! Er stand jetzt [240] neben dem Teppiche – jauchzend ergriff eben das Kind das blanke Tellerchen – da rollte es hinunter auf Leonins Fuß. Schon kniete er und hielt es ihm hin – das Kind blickte ihn erstaunt an, dann lachte es und griff nach dem Tellerchen. Leonin hielt es ganz bewußtlos in die Höhe – da arbeitete sich das himmlische, kleine Wesen an seinen Knien in die Höhe, und Leonin umschlang es und hielt es, und es langte um so viel höher nach seinem Tellerchen und ergriff es jetzt wirklich, laut jauchzend.

Leonins Herz wollte in Wonne zerspringen! Er hielt sein Kind im Arm; er fühlte, wie er es stützte, wie die kleinen Beinchen, so stark und kräftig sie waren, doch noch immer fort einknickten – und er durfte es halten, an sich drücken, und es scheute ihn nicht!

Die Bäuerin sah still zu. Sie wußte Alles, wie sie den fremden Herrn sah. Für das Natürliche hat der einfache Mensch immer das richtigste Verstehen.

»Bringe ihn mir, Leonin!« tönte es da mit einem Male – ein bekannter, leiser, ach, überirdischer Ton! Aber er ließ Leonin erbeben, als ob ein Donnerschlag ihn träfe – er brach fast zusammen, und seine Erschütterung war so plötzlich, daß das Kind davon erschreckt ward, sich in seinen Armen wand und in Thränen ausbrach. »Reginald,« ertönte dieselbe sanfte Stimme – »o komm her! Leonin, bringe ihn mir!« Leonin sprang mit dem Kinde im Arme auf und flog der Richtung nach. – In einer der offenen Fensterthüren, die nach dem Garten gingen, stand ein hoher Lehnstuhl, der die Richtung nach dem Teppiche hatte. In diesem Lehnstuhl ruhte Fennimors verklärter Geist – so glaubte Leonin. – Er reichte ihr den Knaben auf seinen Knien, und als dieser, gewohnt hier Hülfe zu finden, seine Aermchen um ihren Nacken schlang und sich innig in ihre müden Arme drückte, und das holde, wunderschöne Kind [241] nun in den weißen Gewändern ruhte, die Fennimors Lichtgestalt umgaben, da sah Leonin einen Engel, der mit seinen weißen Flügeln dies blühende Leben in seinem Schooße deckte.

Aber sie lächelte verscheidend über das Kind hin ihm zu und hob die bleiche Hand – und diese winkte ihm. Doch der Unglückliche hatte keine Thräne, keinen Seufzer, keinen Laut! Seine Augen sogen mit jedem Augenblicke mehr so unnennbare Qualen ein, daß es dafür kein Zeichen in der Sprache giebt: sie starb – sie war schon halb verklärt – vielleicht sanken im nächsten Augenblicke diese Augenlieder, und sie war todt!

»Ach, Leonin, ich wußte es wohl, wie Du traurig sein würdest! Aber Gott will es – er hat mir gesagt, ich könne nicht länger leben; – aber für Dich und unser Kind wolle er sorgen – und da bin ich denn ruhig und will zu ihm gehen, da er es will.« – Nach einer Pause fuhr sie leise fort, indem sie versuchte, den Kopf gegen Leonin zu beugen: »Ich glaube dabei heimlich, die Trennung wird so streng nicht sein; – denn, obwol mir Gott Nichts sagt, denke ich doch, ich werde noch zuweilen bei Euch sein.« Sie lächelte dabei so süß beglückt, als habe sie Gott dies kleine Geheimniß abgelauscht.

»O, nimm mich mit!« rief Leonin und stürzte sich mit dem Kopfe auf das Kissen, worauf ihre Füße ruhten. –

»Ja, das dachte ich auch – und wußte wohl, wie gern Du es gemocht hättest; – aber Gott will nicht. – Du sollst noch Vieles erleben – ich kann das nie begreifen; – denn meine Gedanken haben keine Kraft mehr; – aber das weiß ich wohl – Du sollst leben!«

Leonin weinte nun. Er fühlte eine leichte, aber kalte Hand über seinen Kopf streichen – er hob sich auf – Fennimor hatte versucht, sich nieder zu beugen; – noch immer hatte sie die reichen Locken, die wie eine Glorie leuchteten – sie beschatteten fast ihr feines Antlitz.

[242] »Leonin,« sagte sie kaum hörbar – »ich wollte Dich noch so herzlich lieben – weil Dich die Welt da draußen so trostlos läßt – Du kamst zu spät, ich habe keine Zeit mehr!«

Ihr Kopf war auf Leonins Gesicht gesunken – er hielt sie im Arme – das Kind lag glühend wie eine Rose, mit seinen eignen Händchen spielend, in ihrem Schooße. –

»Fennimor, geliebte Fennimor, o stirb nicht – stirb nicht, ehe Du mir vergeben hast!«

»Du hast mich so sehr geliebt und immer liebst Du mich!« stammelte sie leise. – »Ich komme, mein Vater!« – fuhr sie mit freundlichem Engelslallen fort – »Du hast mein Bitten erfüllt – ich habe ihn wieder – nun halte ich auch Wort – nimm mich hin, mein Gott! – Mein süßes, kleines Kind! – Mein Leonin! – Mein Vater, ich komme!« –

Das bleiche Haupt, das auf seinem Antlitze ruhte, ward kalt und schwer. Er fühlte ein leises Zittern durch ihren Körper – dann war Alles still und ruhig; – aber sie ward immer schwerer – er wußte Alles – aber er hielt sie fest. – Es war selbst ihr entseelter Körper noch ein Schild gegen den Wahnsinn, der ihn bedrohte.

Da war das Kind leise nach dem Kopfe seiner Mutter hingekrochen; – es wollte sich an ihr aufrichten; aber der leblose Körper gab nach, das Kind fiel in Leonins Arme.

Instinktartig faßte er das schöne, kleine Wesen, das nun die Locken seiner Mutter ergriff und im freudigen Lallen an ihr hinaufsteigen wollte. Die Bäuerin trat hinzu, sie nahm das Kind in ihren Arm und lehnte Fennimor sanft in den Lehnstuhl zurück. Da erfuhr auch sie, was geschehen, und winkte den fern stehenden Arzt herbei, während Leonins Kopf auf Fennimors Füße sank in jener glücklichen Betäubung, die uns gegen jeden Schmerz unempfindlich macht. Der Arzt legte die Hand auf Fennimors kalte Stirn, er suchte ihren Puls – er [243] hatte aufgehört zu schlagen! Lange betrachtete er das süße, bleiche Engelsantlitz, dann reichte er dem Vikar die Hand, der indessen mit Veronika herein getreten war. »Gönnen wir es ihr!« sagte er milde.

»Laßt uns beten!« erwiederte der erschütterte Vikar – und Keiner hielt seine Thränen zurück.

Doch ward diese milde Stimmung rauh unterbrochen durch Emmy's plötzlichen Eintritt. Keiner wagte ihr das Geschehene mitzutheilen; forschend blickte sie die Weinenden an – sie stürzte gegen den Stuhl – sie ergriff Fennimors leblose Hand und stieß einen wilden Schrei aus. Jetzt erblickte sie Leonins fast eben so leblose Gestalt.

»Mörder! Mörder!« schrie sie – »bist Du gekommen, ihr den letzten Athem zu stehlen? Bösewicht, treffe Dich Gottes Gericht – sein Fluch!« –

»Halt!« rief der Vikar – »stört den heiligen Frieden dieses Engels nicht! Bezwingt Euer ungestümes Herz! Seht Ihr nicht auf diesem Antlitze, daß sie vergebend gestorben ist?«

»Vergebend? ihrem Mörder vergebend?« schrie Emmy Gray. – »Nein, nein, ich will es nicht denken! Sie darf ihm nicht vergeben! Niemals, niemals darf der Fluch dieser That von seinem Haupte genommen werden!«

Mit Entsetzen sahen Alle, daß der Schmerz, der Haß, den sie, so lange Fennimor lebte, zurück gepreßt hatte, jetzt mit der wilden Gewalt der Verzweiflung hervorbrach. Mitleiden und Entsetzen kämpfte in Aller Brust.

Emmy's Augen leuchteten wild – sie richtete sie auf Leonins Gestalt, als hoffte sie ihn damit zu tödten. »Bringt ihn weg von ihr! fort, fort! Er hat kein Recht mehr an ihr! Er darf sie nicht berühren! Sie wird entehrt durch seine Nähe!« –

[244] »Faßt Euch!« sagte streng der Arzt – »Ihr handelt thöricht und hart! Seht Ihr nicht, daß er fast des Lebens schon beraubt ist?«

»Ha, Ihr tretet auf seine Seite? Ihr habt das Elend schon vergessen, das er gestiftet? Ihr mögt ihm verzeihen? Nun denn, so seid Ihr so schlecht, als er, und auch von Euch will ich mich lossagen! Fort von allen Menschen, fort! Aber mein Fluch bleibt ihm und Allen, die ihn vertreten wollen. Er werde an Allem erfüllt, was er noch zu besitzen und zu lieben wagt! Mein Leben will ich erhalten zur Mahnung seiner Sünde – mein Tagewerk soll sein, ihn mit meinen fluchenden Gedanken zu verfolgen!«

Sie stürzte in das Heiligthum ihres Lieblings, in Fennimors Kabinet. Dort hörte man einen Fall. Die Frauen wollten ihr nach. »Laßt das,« wehrte ihnen der Arzt – »ihre rauhe, unbezähmbare Natur bedarf des Ausbruches – wir könnten ihr nicht helfen!«

»So laßt uns beten!« wiederholte der Vikar – und Alle knieten jetzt um Fennimors verklärte Leiche.

Der Vikar sprach Gebete aus seinem Herzen, in der Form des gewöhnlichen Sterberituales. Es schien, er sprach sie über zwei Leichen; denn Leonin blieb bewegungslos liegen, und über ihm stiegen dieselben frommen Worte empor, wie über Fennimor. Und dennoch hatte der Unglückliche nicht aufgehört zu leben. Langsam knüpfte sich sein Bewußtsein an die Worte wieder an, die zu Anfange bloß sein Gehör erreicht. Aber er schauderte, als er sein wiederkehrendes Leben bemerkte; denn er fühlte nur die Verzweiflung, die alle Stützen niederreißt und Nichts, als den Willen übrig läßt, so elend zu sein, daß jede Rettung unmöglich wird. Mitten in den Gebeten des Vikars richtete er sich auf; er blickte Alle an, und aufs neue sank sein Kopf in Fennimors Schooß. Sein Anblick hatte den versöhnenden [245] Eindruck gewährt, wenn die gerechte Strafe, als Vergeltung schwerer Vergehungen, das schuldige Individuum trifft und ihn damit von dem Hasse seiner Mitmenschen zu erlösen scheint. Das göttliche Mitleiden gewann wieder Raum in der Brust der schwer beleidigten Freunde Fennimors. – Der Vikar segnete die Leiche ein und bat alsdann um Gnade für ihren leidenden Gatten, um Schutz für das verwaiste Kind. Die Versöhnung lag darin – er setzte voraus, daß sie, wie bei ihm, so bei allen Anwesenden eingekehrt sei, und sprach damit das Gefühl Aller aus.

Sie erhoben sich. Die Bäuerin, die zunächst an Fennimors Seite kniete und das schlafende Kind an ihrem Busen trug, sagte in ihrer schlichten Weise: »Herr Vikar, ich war dabei, als unsere gnädige Frau Gräfin ihren Gemahl empfing. Sie war voll großer Liebe und nur traurig, daß sie nicht Zeit behielt, ihn genug zu lieben. Das wollte ich nur sagen, daß wir jetzt des armen Herrn gedenken möchten, nach ihrem Willen.«

»Es soll geschehen,« erwiederte der Vikar ernst. – Er nahte sich mit dem Arzte dem Unglücklichen und redete ihn bei seinem Namen an. Leonin fuhr zusammen – er blickte entsetzt empor.

»Fennimors Freunde,« stammelte der blasse Mund, »Ihr könnt kein Erbarmen mit mir haben!« –

»Wir haben kein Recht, Euch zu richten. Gott vollführt das in Euch – er möge uns Allen gnädig sein!« sprach der Vikar. – »Und dieser Engel hat vergeben – seht, es steht auf ihrer heiligen Stirn!«

Leonin blickte hin – die Locken lagen nun getheilt und zeigten frei das erblaßte, himmlische Antlitz. Es hatte den Frieden der höheren Welt – die Glückseligkeit erreichter göttlicher Gemeinschaft! Es hatte noch immer denselben Karakter, wie in den Wäldern von Stirlings-Bai. Es war ein süßes, [246] lächelndes Kind mit einem Heiligenscheine. Leonin's Blick, der dies Bild vollständig auffaßte, ward die hell leuchtende Fackel, die mit jähem Lichte sein ganzes Leben überblitzte. Ein inhaltloses Gewebe zwischen Reue und Sündigen trat hervor – Fennimor sein größtes Verbrechen, sein einziger, höherer Lichtblick!

Er stand auf und fühlte mit Entzücken, daß er krank war. Beide Männer hielten ihn. »Fennimor, mein Weib, Du hast mir vergeben, und Du bist gerächt!«

Er gab nach, als man ihn bat, weg zu gehen – er fühlte sich durch seine Schuld unberechtigt und scheu, den Freunden zu widersprechen; dabei nahmen stechende Schmerzen in Brust und Kopf sein klares Bewußtsein ein. Er verließ ihren heiligen Anblick undblieb davon getrennt. Der Arzt sorgte, daß er sich in seinem Zimmer niederlege, und war schnell über seinen Zustand im Klaren. Lange schon hatte das Gift der Krankheit ihn durchschlichen, willkommen der Gelegenheit brach es aus.

Indessen ordnete Veronika mit jungfräulichem Sinne die Bestattung Fennimor's. Nur schwer trennten sich Alle von der unverändert bleibenden Leiche. Das Gewölbe, in welchem die fromme Königin Claudia in einsamer Stille ruhte, war schön und heiter aufgeräumt. Hier ward Fennimor's Sarg aufgestellt, bis die Gruft gemauert war, welche die Freunde an der Stelle graben ließen, wo die holde Frau, wie sie sagten, gestorben war: unter dem Fenster, in dem kleinen blühenden Garten, den sie selbst angeordnet, und über den hinweg sie Leonin's Reisezug verfolgte, als Souvré ihren Blick darauf hinleitete. Unter grünem Rasen, unter ihren Blumen, die sie so liebte, sollte ihre schöne Hülle ruhen.

Mit großer Sorge erfüllte Emmy's Zustand die bekümmerten Freunde. Ihr Schmerz fand keine Milde – er verhärtete [247] und erbitterte ihr leidenschaftliches Herz. Sie schien sie jetzt Alle zu hassen und wies mit Zorn und Wildheit jeden Versuch, ihr näher zu treten, zurück. Das Kind entführte sie fast den Uebrigen und eifersüchtig entzog sie es den Blicken Aller. Die Amme mußte sich mit ihr absperren, und nur sie durfte das Nöthigste für die Unglückliche besorgen. Als die Bestattung vorüber war, schloß sie die Räume und wehrte Jedem den Eingang.

Indessen lag in einem fernen Theile des Schlosses der unglückliche Herr desselben tödtlich erkrankt darnieder, und Veronika, der Vikar und der Arzt erfüllten theilnehmend die Pflichten der Menschheit gegen ihn. Viele Wochen verstrichen, der Zustand blieb gleich bedenklich! Alle Boten mußten ohne Antwort zurück, alle Briefe aus Paris blieben unerbrochen an seinem Bette liegen – ihm fehlte die Besinnung. Endlich erschien sein Kammerdiener; er theilte stumm und traurig die Dienstleistungen und schrieb den Zustand sei nes Herrn; denn Niemand hatte sich geneigt gefühlt, diesen Dienst für die Verachteten zu übernehmen. Bald traf der Leibarzt des Hauses Crecy ein – er sah den zweifelhaften Zustand, mußte die Hülfe des Arztes von Ste. Roche für ausreichend anerkennen und kehrte zurück.

Die Jugend siegte; Leonin genas. Aber er ward unter seinem wiederkehrenden Bewußtsein ein Greis. Sein schönes braunes Haar fing an zu erbleichen, seine Gestalt beugte sich, seine Abzehrung war erschreckend. Er saß Tagelang in dem kleinen Garten und sah, wie die Arbeiter Fennimor's Gruft gruben. Er fragte dem übrigen Leben nicht nach – der Arzt rieth Allen, ihn zu schonen. Standhaft weigerte sich Emmy Gray, ihm sein Kind zu zeigen; sie verrammelte ihre Thüren, und nur, wenn er in dem kleinen Garten saß, hörte er zuweilen sein Kind durch das geöffnete Fenster jauchzend lallen. Dann [248] schauderte er zusammen und streckte die Arme seufzend hinauf; wenn er aber hörte, daß Emmy es ihm verweigerte, sagte er: »Ich habe auch kein Recht, es zu fordern!« und that die Sehnsucht zu seinen übrigen Schmerzen.

Er war jetzt einen Monat in Ste. Roche, und der Kammerdiener, durch die verschiedensten Aufforderungen von Paris gedrängt, versuchte, ihn zur Rückkehr zu bereden. Leonin schwieg, wie immer, zu diesem Drängen, und der arme Mann wußte sich keinen Rath mehr; er mußte glauben, sein Herr habe das Gedächtniß verloren; denn auch die Briefe, die der Kammerdiener ihm überreichte, blieben unerbrochen und, wie es schien, ohne auch nur entfernt sein Interesse zu wecken. Endlich glaubte er, die Hülfe des Arztes und des Vikars nicht mehr entbehren zu können – er bat sie um ihren Beistand, und Beide verhießen ihn.

Leonin hörte sie, vor Fennimor's Gruft sitzend, ruhig an, und sein Auge schien den Grund durchdringen zu wollen, der nun bald zur Aufnahme des Sarges bereit war. »Sie sollen meinen Sarg einst neben den ihrigen stellen,« sagte er endlich mit großer Anstrengung.

»Diese Bestimmung wird, wenn Ihr es wünscht, leicht zu erfüllen sein,« erwiederte der Vikar. »Doch laßt Allem sein Recht! Habt Ihr über Euren Tod bestimmt, so bestimmt jetzt auch über Euer Leben. Denkt, wie Viele noch Ansprüche an dasselbe haben – wie Viele Eurer Fürsorge anvertraut sind!«

»Ich sorge, denke ich, am besten für sie, wenn ich sie nicht wiedersehe!« seufzte Leonin. – »Was kann ich ihnen noch sein? Ich finde ein entehrtes Weib, ein beschimpftes Kind. Ich müßte eine Mutter wiedersehen, die mich nie geliebt und meine elende schwache Natur nur als Mittel zu ihren Zwecken gemißbraucht hat. Was ich empfinde, kann den dortigen Zuständen nicht zu [249] Hülfe kommen; – es ist besser, ich verschmachte hier, Allen dort ein Geheimniß bleibend!« –

»Lieber Herr,« unterbrach ihn der Vikar – »dies ist sicher ein großer Irrthum! Und ich rede um so ernster und dringender mit Euch, da ich gewiß weiß Fennimor, die Verklärte, würde eben so in Euch dringen. Ihr müßt Euch der Liebe, der Vergebung jetzt würdig zeigen, die sie Euch ertheilte. Denkt an Eure unschuldige, jetzt rechtmäßige Gemahlin! Könnt Ihr Fennimor's gebrochenes Herz beleben dadurch, daß Ihr sie auch hinsterben laßt in Gram und Sorge?«

Erschüttert blickte Leonin auf. »Die arme Viktorine,« seufzte er – »sie hat es eben so wenig verdient! – Mutter, Mutter, Du hast alles Böse in mir, in meinem Schicksale gesäet! Gott mag es Dir vergeben, ich kann es noch nicht!«

»Wie könnt Ihr Euch unversöhnlich zeigen, da Fennimor es nicht war?« sprach der Arzt. »Es ist Eure Mutter, junger Mann! Die Verpflichtung hört nie auf, die Kinder gegen sie haben. Oft werdet Ihr Euren Willen behauptet haben – macht sie nicht verantwortlich dafür, wo Ihr hättet widerstehen müssen!«

»Leset diesen Brief, Herr Graf,« fuhr der Geistliche fort – »er ist seit längerer Zeit für Euch angekommen, – und entscheidet Euch dann für Eure Rückkehr!«

»Und mein Kind?« rief Leonin, indem er den Brief seiner Gemahlin erbrach.

»Herr Graf,« sagte der Arzt – »wir müssen die Unglückliche schonen, die es jetzt eifersüchtig behütet. Wir hätten mehr zu fürchten, als wir verantworten könnten, wenn wir uns jetzt in ihren wilden, harten Schmerz drängten. Gut aufgehoben sind die ersten zarten Jahre des Kindes bei ihr; wir sind ihr alle ein besonderes Zeugniß ihrer Tüchtigkeit schuldig und behalten jedenfalls einen Ueberblick, den sie mir namentlich, als [250] Arzt nicht entziehen wird; da sie weiß, daß sie mich nöthig haben kann.«

Leonin schwieg noch immer; aber als die Freunde sahen, daß er seine Augen auf den entfalteten Brief richtete, zogen sich Beide zurück, in einiger Entfernung ihn beobachtend.

»Die Trennung, in der wir plötzlich leben,« schrieb Viktorine – »wird mir nicht hinreichend erklärt durch das, was man mich will glauben machen. Ihre Abreise konnte nur durch ein besonderes Ereigniß motivirt werden. Sie hätten mich um geringer Ursache Willen nicht verlassen, Ihre Familie nicht in Verlegenheiten gestürzt, die für Sie wichtig sind. Man sagt jetzt, Sie wären krank, und hält mich doch zurück, zu Ihnen zu reisen. Ich werde Ihre Antwort erwarten und hoffe, daß Sie mir selbst die Erlaubniß geben, zu Ihnen zu kommen, wenn Ihre Gesundheit Ihre Abreise verzögert; denn dann ist mein Platz bei Ihnen, und ich habe keine höhere Pflicht, darf auch meiner eignen Gesundheit jetzt schon vertrauen.

Lassen Sie nichts Fremdes zwischen uns treten; – ich weiß Ihnen kaum auszudrücken, wie seltsam mich das berührt, was wie ein Geheimniß plötzlich zwischen uns tritt. Lassen Sie mich – was es auch sei – den mir zustehenden Platz Ihrer Freundin einnehmen. Ich traue hier Niemandem, ich höre mit Widerwillen und Mißtrauen, was man mir von Ihnen sagt – ich kann es Niemandem beweisen, und doch fühle ich, es ist nicht wahr!

Ihnen will ich glauben und gehorchen – – antworten Sie nicht, reise ich ab. Gott behüte Sie!

Viktorine


»Antworten Sie nicht – reise ich ab,« rief Leonin – »o nein, das darf nicht sein! Hier darf ihr Fuß nicht rasten – hier kann ich sie nicht wiedersehen!«

[251] »So müßt Ihr also zu ihr,« sagten die beiden Freunde, die wieder näher traten – »dies edle Wesen darf nicht in die Verwirrung verflochten werden, die ihr hier nicht zu entziehen wäre. Schont wenigstens sie noch! Ihr rettet nicht, was Euch verloren, wenn Ihr sie auch aufopfert.«

»Ach, meine Freunde,« seufzte Leonin – »ich unterziehe mich Eurem Ausspruche; denn ich habe kein Recht mehr, nach dem Einzigen zu greifen, was mir wohlthun könnte. Aber der Fluch, den ich auf mein Haupt herabgezogen, wird alle Verhältnisse berühren, in die ich zu treten wage. Ich werde Viktorine durch meine Rückkehr zu schützen suchen; aber mein Anblick, mein zerstörtes Innere wird ihr nicht zu entziehen sein, und wenn sie Erklärung fordert, werde ich ihr die Wahrheit verhüllen und sie damit von mir fern halten, oder ich werde sie ihr gestehen und sie damit rettungslos unglücklich machen.«

Die beiden Männer schwiegen gerührt – erschüttert von dem Zustande des Unglücklichen, und hauptsächlich durch die Ueberzeugung bewegt, daß er der Kraft ermangeln werde, seinem verworrenen Leben eine versöhnende Gestaltung zu verschaffen. Doch waren Beide, so lange er noch mit ihnen zusammen war, bemüht, ihn in seiner abgespannten, düstern Stimmung zu stützen und ihn zu einer schonenden Zurückhaltung gegen seine unglückliche Gemahlin zu bestimmen; da sie nach dem, was sie über den edeln, aber festen und stolzen Karakter der jungen Gräfin vernommen hatten, nur annehmen konnten, daß die Erkenntniß ihres unberechtigten, durch den größten Frevel entweihten Verhältnisses, sie zu einer entschiedenen Trennung führen werde, die Beide dann gleich unglücklich machen mußte. Aber Alle blieben über den Erfolg ihrer Bemühungen unsicher. Es war neben einer kalten Verachtung des Lebens eine Bitterkeit, eine Geringschätzung gegen die Menschen und Zustände, die ihn früher beherrscht hatten, eingetreten, die [252] sie mit Bedauern seiner geringen religiösen Entwicklung zurechnen mußten, und die ihnen wenig Hoffnung für seine Zukunft gab.

Wir verlassen ihn hier, um zu erfahren, wie die Verhältnisse sich gestaltet, denen er in dieser Stimmung entgegen ging.


Wenn wir die Zeit noch ein Mal auffassen, die wir uns bemühten, in ihren ungewöhnlichen Zuständen darzustellen, und wenn wir uns erinnern, welchen Standpunkt der König in dieser Steigerung aller Verhältnisse, mit einer, unsere Begriffe fast überbietenden Ausdehnung, einnahm, so werden wir vielleicht begreifen, welchen Eindruck eine persönliche Beleidigung gegen diese geheiligte Person, eine anscheinende Nichtachtung ihrer Herablassung hervorbringen mußte.

Monsieur erschien augenblicklich, obwol es nicht die Stunde für ihn war, beim Könige, und Ludwig war so erstaunt, so zweifelnd an der Möglichkeit einer solchen Beleidigung, daß er unruhige und verlegene Blicke auf die erhitzten Züge seines Bruders richtete, unsicher, wie es schien, über das Befinden desselben. Aber er mußte sich endlich entschließen, diesen Angriff auf seine unbestrittene Würde anzuerkennen, und in demselben Momente diktirte er auch zugleich die Strafe. Der König entließ den jungen Grafen seiner Funktionen bei der Königin – der ganzen Familie wurde angezeigt, daß sie sich des Hofes zu enthalten habe.

Der Marschall harrte vergeblich mit hartnäckiger Verzweiflung an den Stufen des königlichen Schlosses auf die Gewährung der flehenden Bitte: auf seinen Knieen um Verzeihung bitten zu dürfen. Niemand hatte Muth, auch nur den berühmten Namen des Marschalls zu nennen. An ein solches Majestätsverbrechen [253] erinnern, hieß sich dessen theilhaft machen. Außer der feierlichen Sendung, die der Familie ankündigte, daß sie in Ungnade gefallen, betrat Niemand mehr die Schwelle des geächteten Hauses, und der König schien vergessen zu haben, daß es eine Familie des Namens gäbe; er wußte, daß er sie damit auslöschte und grenzenlos strafte.

Gedenken wir jetzt der Marschallin von Crecy, so werden wir gestehn müssen, daß sie mit der einzigen Geißel gezüchtigt wurde, deren Schläge sie fühlte und nicht von sich abzuhalten wußte. Sie versuchte die beste Stellung zu nehmen, die noch möglich wäre; aber es war nur die eine übrig, die sie aus allen bisher behaupteten Vortheilen und Ansprüchen verdrängte und ihr bis in die intimsten Verhältnisse ihres Hauses, bis zu ihren, jetzt minder ehrerbietigen Domestiken herab, eine Kette von bitteren Kränkungen bereitete, wie sie das Dasein derselben für sich unmöglich gehalten hatte. Diese Leiden wurden noch vermehrt, indem sie jeden Augenblick erwarten mußte, der wahre Grund von Leonin's Entfernung werde zu Tage kommen. Die gutmüthige Herzogin von Lesdiguères, der man nicht den Hof verboten hatte, die aber zu stolz und zu ehrlich war, ihn zu besuchen, während die Familie ihrer Tochter in Ungnade war, bestürmte die Marschallin mit Vermuthungen und Nachforschungen, welche diese, so lange als möglich, ausweichend beantwortete; endlich aber ihr, wie der bekümmerten Viktorine erzählte, daß Leonin, von einer seiner hypochondrischen Launen ergriffen, außer sich, daß die Ceremonie Viktorinen schaden würde, und empört über die Nothwendigkeit, sie zulassen zu müssen, die Flucht ergriffen habe und ohne Gepäck, ohne Bedienten, in einer einfachen Hofkarosse nach Ste. Roche geeilt sei, wo es sich wirklich gezeigt, daß er im Fieberwahnsinne abgereist, da er dort sogleich tödtlich erkrankt sei. Viktorine wollte ihm jetzt nachreisen; aber die Aerzte unterstützten die Weigerung[254] der Aeltern. Sie mußte zwar nachgeben und bleiben, aber mit erhöhtem Mißtrauen und in großer Bekümmerniß um ihren Gemahl.

Dagegen schlug die Marschallin vor, nachdem die ersten vier Wochen für ihre Schwiegertochter vorüber waren, daß beide Familien sich nach Moncay, dem schönen Schlosse der Marschallin, was doch einige zwanzig Lieues von Paris lag, begeben sollten. Schon waren alle Vorkehrungen dazu getroffen, welche die Marschallin mit Ungeduld betrieben, da sie in der veränderten Existenz, die sie an Paris band und ihrVersailles, das Feld aller ihrer früheren stolzen Ansprüche verschloß, es kaum zu ertragen vermochte, als sie aufs neue sich in ihren Plänen durchkreuzt sah, und ihr die wenig gekannte Lehre gegeben ward, von den Umständen beherrscht zu werden.

Am Tage vor der Abreise meldete man ihr, daß der Marschall plötzlich in seinem Zimmer einen bösen Fall gethan habe, und der Hausarzt ihm bereits zur Ader lasse. Die Marschallin grollte zwar heftig darüber, fühlte aber doch, daß sie sich zu ihm begeben müsse, innerlich fest entschlossen, diesem Ereignisse keinen Einfluß auf ihre Abreise zu gönnen, da sie sich jeden Tag fast mit Empörung in Paris erwachen fühlte.

Mit vollständig schmollender Miene, fest entschlossen, ihn auszuschelten und ihm ihre Abreise anzukündigen, trat die Marschallin in seine verhaßten Gemächer; und ihre Laune ward nicht verbessert, als die Domestiken ihres Gemahls, ohne sie zu beachten, weinend und händeringend an ihr vorüber stürzten, wie es schien, dringende Befehle zu vollführen. Als sie das Schlafgemach des Marschalls betrat, blieb sie horchend stehen; der Kaplan mit einigen Gehilfen, der Arzt, knieend und den Marschall im Arm, umgaben das Bett; – aber das Röcheln des Todes war ein zu verständlicher Laut, um Zweifel zu lassen über das, was vorging. Mit steifen Knien schob sich die [255] Marschallin näher. »Was geht hier vor?« rief sie entsetzt, mit rauher Stimme. – Niemand antwortete. – »Marschall, Marschall, was habt Ihr gemacht? Erholt Euch! Faßt Euch! Seid ein Mann!« so rief sie, schon von der Wahrheit überzeugt, ihrer Erregung nur in zürnender Weise sich entledigend.

»Das war er, ein ganzer Mann!« sagte der Arzt und legte ihn auf sein hartes Kissen zurück; – »aber Männer müssen auch sterben!«

»Sterben!« rief die Marschallin – »Herr Doktor, Ihr fabelt, Sterben, er war diesen Morgen noch gesund – ein kräftiger Mann!«

»Ueberzeugen sie sich selbst, Frau Marschallin,« sagte der Arzt zurücktretend – »hier findet der menschliche Wille eine Grenze, die auch Ihro Gnaden nicht abändern können. Ein Schlagfluß hat einen an sich nicht tödtlichen Fall veranlaßt – es floß kein Blut mehr, obwol ich schon im Palais war, als der Zufall eintrat.«

Die Marschallin trat näher und schauderte zurück vor dem starren Gesicht ihres Gemahls, das sie nie geliebt. Er hatte seine eiserne, zürnende Miene, und sie konnte sich nicht überwinden, ihn zu berühren; ihre natürliche Härte war durch die Erlebnisse der letzten Zeit so gesteigert, daß sie um den Preis der Welt kein mildes Wort, kein Zeichen der Rührung zu geben vermocht hätte. Sie fühlte blos mit unendlichem Grolle, wie aufs neue ihre Vorsätze scheiterten, und sah in ein Gebiet von Erscheinungen, von denen es noch ungewiß blieb, ob sie ihr günstig oder störend sein würden.

»Ein Ehrenmann! ein großer Held! ein vollkommener Edelmann!« sprach sie endlich kalt – »eine Stütze des Thrones, von dem doch seine letzte Kränkung ausging. Jetzt kann man ihm keinen Wunsch mehr abschlagen – jetzt wird sein Name doch bis zu den Ohren dessen dringen, dessen Kindheit er schützen[256] half! – Meine Herren,« fuhr sie fort – »Sie werden die Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten machen, die in unsern erlauchten Häusern Sitte sind – ich werde die Hausoffizianten kommandiren, Ihnen beizustehen. Der Intendant wird das Schema der Ceremonie empfangen. – Ihr, Herr Kaplan, werdet in meinem Namen dem Herrn Erzbischof von Noailles die Anzeige von diesem Todesfalle machen; ich hoffe, er wird sich erinnern, was er dem Hause Crecy-Chabanne schuldig ist. – Ein Courir muß nach Ste. Roche abgefertigt werden.« –

Nach diesen Anordnungen verließ sie das Sterbezimmer ihres Gemahls und schritt mit kalter, strenger Miene an der weinenden Dienerschaft vorüber; ehe sie ihre Gemächer erreichte, hatte sie genau alle Vortheile dieser neuen Lage der Dinge übersehen, und ohne sich es einzugestehen, fand sie doch, dem alten, lebensmüden Greise sei die Ruhe zu gönnen, und der Augenblick dazu könne den Umständen eher günstig, als nachtheilig werden.

Ihre erste Sendung war nach dem Herzoge von Lesdiguères. Er ward beauftragt, dem Könige die Meldung dieses unerwarteten Todes zu machen.

Mit einer Fassung, die ihrem gleichgültigen Herzen sehr natürlich war, gab sie ihre Befehle zu der großen Umwandlung des Hauses. Vom Portale des Schlosses, welches das große Trauerwappen trug und von zwei mit Flor behangenen Herolden bewacht wurde, bis zu den Wohngemächern hinauf, ward das ganze Haus schwarz ausgeschlagen. Alle Livreen verschwanden, die dienenden Frauen zeigten keine Farben, und die Damen der Familien keuchten unter langen Trauerkleidern, Kappen und Schleiern.

Der größte Saal des Palais war mit schwarzem Sammet so fest verhangen, daß kein Strahl des Tages eindringen konnte. Hunderte von Kerzen ersetzten das Licht der Sonne. Die [257] einbalsamirte Leiche des Marschalls stand auf Stufen erhöht; seine Orden, der Marschallstab, Degen, Sporen und Helmsturz ruhten auf Tabourets um den Sarg vertheilt, an denen zahllose Pagen, mit Trauerflören und Wachskerzen in den Händen, in unbeweglicher Stellung Wache hielten.

Diesen Kreis umgaben den ganzen Tag von früh bis spät eine Abtheilung Mönche mit einigen fungirenden Priestern, welche die Gebete und einweihenden Funktionen verrichteten; denn der Erzbischof von Noailles hatte nicht vergessen, was er dem Hause Crecy-Chabanne schuldig war, und die Meldung dieses Todes war mit den gehörigen Weisungen an die dazu bestimmten Klöster ergangen. Die ganze Dienerschaft des Marschalls löste sich außerdem noch an dem Sarge ab, während die Chorknaben der Prozessionen in angemessenen Pausen den Sarg mit ihren Weihrauchbecken umzogen und Alles in betäubende Düfte hüllten.

Die Marschallin schien mit großem Takte ihre augenblickliche Stellung zu Hof und Adel vergessen zu haben. Die Trauerboten zogen mit der Todesmeldung durch alle Häuser, die durch ihren Rang auf diese Auszeichnung Anspruch machen konnten. Einen Augenblick hielt die ganze Korporation den Athem an und richtete die Augen nach dem Schlosse von Versailles. Es ward aber sogleich bekannt, daß der Herzog von Lesdiguères eine gnädige Audienz beim Könige gehabt, und der großmüthige Monarch seinen Unwillen nicht über das Grab hatte ausdehnen wollen. Der Herzog von Gêvres und der Prinz von Courtenaye bekamen Befehl, zur Beileidsbezeigung sich in das Trauerhaus zu begeben. Dies war die wohlverstandene Loosung für Alle Uebrigen, und die Königinnen und Prinzessinnen an der Spitze, die ihren Hofstaat beorderten, belagerte nunmehr der Adel in allem Pompe der Trauer das Palais Soubise.

[258] So war dies vor kurzem verödete Haus, jetzt seines Oberhauptes beraubt – damit zu seinem alten Glanze zurückgekehrt, und die Marschallin fühlte den bittersten Haß gegen die bezwungene Menge und den stolzesten Triumph über die gefügigen Schritte, womit Alle jetzt genöthigt waren, ihr entgegen zu kommen, nachdem sie es gewagt, sie zu verlassen.

Sie saß unter ihrem schwarz verhangenen Thronhimmel in der lästigen, steifen Trauerkleidung die üblichen Stunden des Empfangs, ohne ein Zeichen des Lebens, als die jedesmalige Neigung des Kopfes, wenn die herkömmlichen Beileidsbezeigungen an sie gerichtet wurden. Rechts saß die arme, weinende, kindlich betrübte Louise – links ihre erschütterte Schwiegertochter. Die nahen Verwandten schlossen sich sitzend auf beiden Seiten an; – nur die Hofchargen empfing die Marschallin stehend mit geziemender Ehrfurcht.

Und der, der bei diesem wichtigen Vorfall am meisten betheiligt war – Leonin, das nunmehrige Oberhaupt der Familie Crecy-Chabanne, fehlte noch immer!

Alle Boten, alle Briefe brachten keine Antwort zurück, oder wurden nur von einigen unvollkommenen Briefversuchen des Kammerdieners erwiedert, die der Intendant der Marschallin nicht selbst vor die Augen der Familie zu bringen wagte, und deren Gesammtinhalt, mündlich von ihm mitgetheilt, Alles in einer solchen Dunkelheit ließ, daß die Marschallin ihrer vollen Unruhe überlassen blieb.

Doch was litt die edle Viktorine in dieser Zeit! Aufs neue durch die Regeln der Trauer an ihr düsteres Schloß geknüpft, gab jeder Tag ihr neue, tiefere Leiden und hemmte die kräftigen Maaßregeln, die sie ohne Zweifel ergriffen hätte, wäre sie nicht daran behindert gewesen durch dies Ereigniß, dessen bindende Gewalt sie aus Liebe zu dem verstorbenen Marschalle sich doppelt gezwungen fühlte zu ertragen.

[259] Jede Stunde, die sie von den Audienzen erlöst blieb, brachte sie bei ihrem Kinde zu, dessen Gesundheit und kräftige Gestaltung ihr Trost und Hoffnung einflößte; hier, über der Wiege ihres Kindes, fand sie auch die einzige Freundin ihres Herzens, die edle, milde Marquise de Sevigné. – Obgleich im Alter weit auseinander gerückt, wußten doch Beide von diesem Unterschiede nichts. Sie war die einzige Frau an diesem Hofe, der Viktorine nachgegangen war, und um deren Aufmerksamkeit und Liebe sie sich kindlich weich und hingebend bemüht hatte. Die edle Frau hatte zu Anfange das lebhafte, kecke Mädchen, die ihr gegenüber so still und demüthig ward, mit Antheil betrachtet; als sie ihr verständiges und strenges Verfahren als Hofdame der Königin sah, hatte sie sie geachtet und ihr endlich ein Vertrauen gewidmet, welches zu einer mütterlich zärtlichen Freundschaft ward, deren Beweise immer inniger hervortraten und in der gegenwärtigen Periode, die ihren Liebling in Ungewißheit und Kummer stürzte, diese zu einem Gegenstande ihrer Sorgfalt machten – einer Sorgfalt, die, von dem Geiste der mildesten Schonung belebt, von Erfahrungen unterstützt, nicht verweichlichte oder verhärtete, sondern Viktorinens edle, freie Gesinnungen unverkümmert erhielt.

Viktorine war eine zu geschlossene, züchtige Seele, um selbst ihrer vertrautesten Freundin ein Gespräch über das nähere Verhältniß zu ihrem Gemahle gestatten zu können. Die Marquise verstand und ehrte diese keusche, weibliche Natur und kannte die Gefahren, in der Ehe Vertraute haben zu wollen, zu gut, um nicht dieser Gesinnung mehr eine Stütze, als ein Hinderniß zu sein. Aber es entging ihr nicht, daß Viktorine die Ruhe des Vertrauens verloren hatte, mit der man allein das Geheimniß des Glückes gewinnt. Ueberzeugt, daß diese Gabe uns nur selten auf lange verliehen ist, und uns aufgegeben bleibt, uns zu resigniren und die würdige Gestaltung eines [260] ehelichen Verhältnisses damit nicht aufzugeben, sondern darüber hinaus ihm einen so edeln und achtungswerthen Karakter zu sichern, daß die Rückkehr des Glückes immer möglich, wir wenigstens seiner werth bleiben – bemühte sich die geistreiche Frau, nur mit allgemeinen Andeutungen Viktorinens Geist in diesem Sinne zu erweitern.

»Es schien mir, meine Liebe,« sagte sie zu der wehmüthig über ihr Kind gebeugten Viktorine – »daß der Marschall manche Elemente in sich trug, die, von Ihrer Frau Schwiegermutter nicht übersehen, das eheliche Verhältniß dieses Hauses für spätere Tage wohl zu einem besseren Zustande hätten zurückführen können, als uns dargelegt ward.«

»Gewiß,« erwiederte Viktorine – »der Marschall war ein Felsen, aus dessen Schachte Quellen zu locken, der glaubensvolle Schlag einer Hand gehörte, die annahm, sie müßten hervor springen! Aber das war es gerade vor Allem, was meiner Schwiegermutter fehlte, der es überhaupt schwer wird, Menschen von Dingen zu unterscheiden, und die endlich sich mehr über die Symptome eines eignen Willens erzürnt, wie erfreut; da sie auch den leisesten Hauch einer Konkurrenz nicht verträgt.«

»Sie sind streng, Viktorine,« sagte Madame de Sevigné lächelnd – »doch weniger, da Sie wahr sind. Aber glauben Sie mir, wenn wir die Marschallin in so sorgloser Sicherheit bewerkstelligen sehen, was ihr gefällt, und sie weder eine andere Individualität achtet, noch ihr einen eignen Willen zu ihrer Entwicklung zugestehet, so ist das mehr oder weniger überall die trostlose Ursache der zahllosen unglücklichen Ehen, denen wir begegnen. Die Ehe ist Keinem mehr an sich etwas – eine göttliche Einrichtung – eine erhabene bürgerliche Existenz! Unsere jungen Frauen wollen bloß in einem solchen Verhältnisse genießen, eine größere Freiheit für ihre unter Zwang gestellten Neigungen erhalten und fangen immer damit an, wobei noch [261] kein Verhältniß der Erde bestand, von der einen Seite Alles zu fordern, und gleiche Forderungen an sie gestellt, für erkaltende Gefühle des Mannes zu halten.«

»Wenn sie nur lieben könnten!« sagte Viktorine. – »Ich denke oft, das ganze Geheimniß liegt darin, daß die Fähigkeit zu lieben in diesen jungen Mädchen früher zerstört wird, als das Alter sie zu diesem Gefühle beruft. Es hat keine mehr Innerlichkeit, der Strudel der Welt treibt sie aus sich heraus; sie lernen Alles nachmachen, was ihnen Geltung und Auszeichnung verspricht, endlich auch liebeln, wenn ihnen der Mann, dem es gilt, eine Stellung am Hofe verheißt. Wie sollen sie nun verheirathet nur begreifen, daß die Stellung, die sie wollten, sie zugleich mit einem Manne verbunden, der eine Seele hat – den sie schonen, ehren – dem sie gehorchen müssen!«

»Es ist nicht zu läugnen,« erwiederte die Marquise, »daß diese Entartung unser Geschlecht nicht allein verfolgt, daß allerdings selbst einer besser vorbereiteten Frau es doch oft sehr schwer werden würde, das bei ihrem Manne zu entdecken, was Sie eben mit Seele bezeichneten, und daß selbst, wenn sie Liebe zu ihm zu fassen vermag, dies doch nur eine zweifelhafte Stütze ihres Glückes wird; da – wenn die Anforderungen derselben nicht mäßig und vom Verstande geleitet bleiben, sie leicht ihre mögliche Zufriedenheit noch mehr bedrohen, wenn sie die erwartete Erwiederung nicht findet. Und dennoch, selbst wenn Sie lächeln sollten – ich mache es jeder Frau zum Vorwurf, der ihr Gatte untreu wird!«

»Das ist mindestens Viel gesagt!« rief Viktorine, ein wenig gereizt. – Die Marquise fuhr fort: »Es ist eine sehr verbrauchte Entschuldigung aller Frauen, die dies erleben, daß das häusliche Beisammensein in der Ehe Verhältnisse mit sich brächte, die Illusionen nothwendig zerstören und die Gattin, gegenüber dem Manne, in ihn verletzende und reizlose [262] Situationen bringen müsse. Hiervon glaube ich gerade das Gegentheil! Keine Frau hat die Mittel in Händen, einen Mann zu fesseln, die sich mit denen einer Gattin vergleichen ließen. Aber sie muß freilich vor allen Dingen ein Weib bleiben, eine züchtige Jungfrau in ihrem Gemüthe – den Schleier der Vesta muß die Flamme der Liebe nicht versengen.«

»Ja, ja,« rief Viktorine warm – »das, das ist das Rechte!«

»Ein großer Schriftsteller,« fuhr die Marquise fort – »sagt irgend wo – und sein Ausspruch enthält eine Erfahrung, die es scheinen lassen wird, er habe zu allen Zeiten gelebt, da er Recht haben wird, und wenn sein Enkel es hundert Jahre nach ihm wiederholt – indem er uns zwei gleich liebende Wesen von beiden Geschlechtern vorführt, von denen das Weib zuerst einen Mangel, einen Stillstand in den Gefühlen des Mannes wahrzunehmen glaubt: wenn eine Frau liebt, liebt sie in einem fort – ein Mann thut dazwischen etwas Anderes?«

Viktorine fuhr schnell mit beiden Händen empor. Einen Augenblick verhüllte sie ihr Gesicht – dann war es vorüber. Die Marquise hatte indessen, von Victorinen abgewendet, den Vorhang der Wiege etwas gelüftet. Viktorine glaubte sich unbemerkt. – »Dies ist eine Wahrheit,« sagte die Marquise, »die, tief in der männlichen Natur begründet, jedem Mädchen als Brautgeschenk gegeben werden sollte; denn es ist zugleich der Schlüssel, mit dem die Zweifel zu lösen wären, von denen wir ein weibliches Herz beschlichen sehen bei der ersten Wahrnehmung, daß der Mann, eben wie jener große Schriftsteller sagt, dazwischen etwas Anderes thut!«

Mit glühendem Gesicht und einer leisen Stimme, die in Bewegung bebte, sagte Viktorine: »nur, was dies Andere sei, ist die entscheidende Frage!«

[263] Die Marquise de Sevigné, die berühmt dafür war, selbst in die kleinsten Sorgen der Kinderpflege eingeweiht zu sein, sing an das Wiegenband zu lösen.

»Ich finde doch, meine Liebe, das Band ist zu stark angezogen; ich konnte es nie leiden, wenn dies kleine Bettchen zu Arm- und Beinschienen wird.« Damit beschäftigt, fuhr sie fort: »Es scheint mir überhaupt recht schwer, ein Mann zu sein – und das Gefühl der ihnen zuertheilten, so ungleich schwierigeren Aufgabe macht mich im Ganzen so nachsichtig gegen die große Masse unvollkommener Männer. Unsere Natur ist mit den sittlichen Gesetzen unserer Bestimmung im Einklange. Wenn wir diese nicht entarten lassen, sind wir Alles, was wir zu sein brauchen, und wenn ich denke, daß uns Gott gewürdiget hat, Mütter zu werden, so könnte ich oft trotz meiner Devotion in Versuchung kommen, uns für zu sehr bevorzugt zu halten. Etwas wie eine Frage an Gottes Gerechtigkeit, steigt in mir auf. Unsere Bestimmung ist so unendlich schön, so wichtig überdies! Welch ein Lebensprinzip bürgerlicher – religiöser Existenz ist der Heerd, an dem wir die zarten Kräfte pflegen, entwickeln und schützen, die dann sich über das Leben nach Außen verbreiten – die es uns zu danken haben, wenn sie nicht schon im Anbeginne verkrüpeln. Wir spielen in diesem kleineren, geschützten Kreise in Wahrheit durch, was der Staat im Großen und in Massen darstellt. Wir halten die Fäden in Händen, die alle Zustände leiten; schützend, sorgend, strafend und lohnend beherrschen wir sie – der Gesammtblick, welcher alle Verhältnisse dem richtigen Standpunkte gemäß leitet, ist die Höhenstufe, die wir erkennen lernen müssen. So wie wir uns auf dieser umsichtig, der Sache förderlich zeigen, können wir einen Schatz von Wohlthaten entwickeln. Und so reich und schön dies ist, wie in einander greifend ist es zugleich! Welche Einheit liegt in unserer Bestimmung – wie ist sie stets geschützt [264] und eine gewisse, unzerstörbare Heiligkeit an den Heerd gefesselt, die noch jetzt an die Sitte unserer rohen Urväter mahnt, die selbst den Feind am Heerde unberührt ließen – die Stelle nicht zu beflecken!« –

»O meine Freundin,« unterbrach sie Viktorine – »ich fürchte, wir haben uns in unseren sogenannten höheren Ständen sehr weit von dem heiligen Heerde entfernt, dessen Urbestimmung sich uns wahrhaft offenbaren konnte; und vielleicht erlahmt dadurch auch die Ehrfurcht davor in der Brust der Männer, und wir verlieren damit nach gerade alle unsere Stellung!«

»Ich möchte Ihnen nicht unbedingt Recht geben, Viktorine. Es bleibt allerdings nicht dasselbe, wie überhaupt Verschiedenheit in den Verhältnissen zur Weltordnung gehört. Aber Verschiedenheit – Abweichungen heben den Grundgedanken nicht auf. Sei der Zustand noch so verändert, wir werden uns immer zurecht finden, wenn wir den Hauptgedanken festhalten: daß wir durch Alles, was in uns liegt, berufen sind, einen würdigen Hausstand zu erhalten, den Verhältnissen gemäß, in die uns Gott geführt – und wie Viel wir von der patriarchalischen Uridee beibehalten oder aufgeben müssen, sie muß immer zu erkennen sein.«

»Und warum sollte es denn den Männern so viel höher angerechnet werden, was sie in ihrer Pflichterfüllung leisten? Warum ist denn ihr Beruf so viel schwerer – warum haben sie ein höheres Anrecht auf unsere Nachsicht?« rief Viktorine, mit weiblichem Zürnen in Blick und Ton.

Die Marquise lächelte, ohne Viktorine anzublicken. »Ich gestehe Ihnen zuvörderst, daß ich nicht sehr viele Theilnehmerinnen meiner Meinung unter Ihrem Geschlechte habe. Es ist auffallend, wie lange uns eine platt getretene Idee, die einen augenblicklichen Glanz hat, zu Combinationen verführen kann, die, an sich falsch, doch Irrthümer auferziehen, deren wahrer [265] Beschaffenheit wir gar nicht mehr nachfragen. Wir Frauen werden bei dem Gedanken erhalten, daß die Männer ein großes Vorrecht vor uns haben, weil sie sich sehr Viel mehr erlauben dürfen, als wir; und wir haben dieses unbezweifelte Recht mit dem Worte: Freiheit, profanirt. Was können wir denn in Wahrheit Freiheit nennen, wenn nicht die Entwickelung der Seele und des Karakters, die uns die Zustände beherrschen läßt, uns von Ihnen unabhängig macht, ihnen einen höheren Willen entgegen stellt. Es ist der einzige Begriff, der diese Idee aus dem Zustande relativer Willkür in eine feste, dann unangreifbare Stellung bringt, und das Vorrecht der Männer hat damit so wenig Zusammenhang, daß ich es gerade ihnen hinderlich erachten muß. Und sollen wir ihnen also den materiellen Besitz der Freiheit so hoch anrechnen? Ich schäme mich fast, daß wir dies thun! – Sie werden nun den Gang meiner Gedanken bald auffinden, wenn ich so nachsichtig bei den Fehlern der Männer erscheine. Unbehütet von Jugend auf, werden ihnen Reinheit und Züchtigkeit der Gedanken nicht bewahrt; in materielle Verhältnisse getrieben, ungestraft durch ihre sich gleich bleibende Stellung zur Gesellschaft – endlich von der Natur selbst mit anderen Bestandtheilen des Blutes versehen, die leicht zu erkennen sind, kämpfen sie mit einer schwierigen Naturanlage und entbehren dabei den Schutz der häuslich-sittlichen Ordnung, die das Weib von Jugend auf be stimmt ist einzuhegen. Wenn wir noch hinzu rechnen, wie sie eine doppelte Existenz entwickeln müssen, nämlich die häusliche und die öffentliche, und die eine oft mit der andern im grellsten Widerspruche steht, so erstaune ich billig über ihre schwierige Aufgabe und erstaune billig nicht mehr, sie oft ungelöst zu finden.« –

Viktorine schwieg; – dann sagte sie, wie sich überwindend: »nicht immer steht ihre äußere Stellung zu ihrer häuslichen in Widerspruch; und dennoch sehen wir sie diese gering [266] achten, nach kurzem Erfassen sie aufgeben, als gehörte sie nicht zu ihnen.«

»Ja wohl,« erwiederte die Marquise schnell – »die Harmonie zwischen Beiden herzustellen, erfordert eine so vollkommene, männliche Entwickelung, daß wir fast immer das Eine auf Kosten des Anderen bei ihnen erreicht sehen; und diese mangelhafte Reife macht, daß sie die Hand nach dem äußeren Leben lieber ausstrecken und erwarten, das andere werde schon hinterdrein kommen. Wie groß diese Täuschung ist, da es eine eben so warme Auffassung verlangt, beweist sich nur zu bald, indem sie die Häusliche allmälig ganz damit verlieren – und der Trübsinn, der Lebensüberdruß, der nirgends mehr anzuknüpfen weiß, gewöhnlich die traurige Folge ist. Aber eben so gewiß zwingt sie auch in den meisten Fällen das Leben, erst mit allen Erfordernissen die öffentliche Existenz sich zu erringen; und oft, ja vielleicht immer, wo diese Existenz auf edle, würdige Weise erstrebt wird, bilden sich zugleich Fähigkeiten aus für das natürlichere Leben des Hauses, wenn auch das Bedürfniß dafür erst später eintritt.«

»Ach, und darauf zu warten!« rief Viktorine – »vielleicht das ganze Leben vergeblich darauf zu warten – wie viele Herzen hat das indessen gebrochen!«

»Viele! Viele!« rief Frau von Sevigné gerührt – »denn es ist nur die Aufgabe für ein starkes, weibliches Herz, die schwere Prüfung zu bestehen und ungestört den heiligen Beruf zu verfolgen, den unsere Bestimmung dennoch festzuhalten erlaubt; – aber zugleich ein herrlicher Triumph, zu Gottes Ehre indessen ein Weib geworden zu sein in der vollen Pracht unseres Berufs – wie jener schöne, dunkle Baum des Südens, über gereiften, goldnen Früchten die duftenden Blüten zu tragen, und dem ermüdet zurückkehrenden Gatten, der lange vergessen und übersehen, was er besaß, zeigen zu können, ein Weib sei [267] für sich etwas Großes und Göttliches, wenn sie ihren Beruf verstanden; – und der Heerd, den er verschmachtend sucht, sei indessen wohl gehegt, und das göttliche Symbol unseres Geschlechtes, Milde und Vergebung, sei sein Empfang!«

Viktorine schwieg; aber sie weinte jetzt, den Kopf auf das Bettchen ihres Kindes gelehnt.

Die Marquise schien es nicht zu sehen – im leichteren Tone fuhr sie fort: »oft gedenke ich einer liebenswürdigen Freundin, die den lebhaftesten, Liebe suchendsten Mann der Erde gewählt hatte. Die Neigung zu Thorheiten aller Art, die ihr Gemahl besaß und die ihn in Versuchung führte, sich in jedes neue und schöne Gesicht zu verlieben, hatte mehr gute Eigenschaften an ihr entwickelt, als seine treuste, sorgfältigste Liebe erzogen hätte. Sie erzählte mir oft mit der heitersten Laune die Art und Weise, mit der sie dem Uebel gesteuert hatte. Als sie das erste Mal diese Entdeckung machte, überwältigte sie der Zorn fast; aber es erwachte zugleich ein Stolz, ein Selbstgefühl, was alle ihre Kräfte ins Leben rief. Die Frau, in die ihr Gemahl sich verliebt hatte, war schön und geistreich. Sie wurde Beides augenblicklich auch. Nie saß ich länger vor meiner Toilette,« sagte sie. »Aber nicht ich allein – mein ganzes Haus mußte meine Schönheit unterstützen – meine Küche, meine Service, Blumen, Düfte. Ueberall entlockte ich einen Reiz – eine Annehmlichkeit. Ich war coquett von dem kleinen Sammetpantoffel an, worin er zuerst meinen Fuß erblickte, bis zu dem Küchenzettel und der Visitenliste. Wie wählte, wie sonderte ich, wie überraschte ich ihn durch anmuthige Geselligkeit! Die Tonkunst, die er liebte, und die ich deshalb glaubte übersehen zu können – plötzlich beschützte ich sie; ich sang selbst ein Lied, was ich mit Thränen des Zornes einstudirt hatte, ihm lächelnd vor. Die Beschäftigung, die ich durch diese Vorkehrungen hatte, zerstreute mich; ich blieb frisch, von jener [268] übellaunigen Schwermuth verschont, mit der Frauen ihre Männer vollends zum Hause hinaus jagen – und jetzt hätten Sie sehen sollen, wie schnell ich meinen Gemahl aufs neue gefesselt hatte, wie liebenswürdig er mich fand, wie ich der andern Neigung Rang abgewann; und da er einige Male die Procedur wiederholte, ich die Mittel, ihn wieder einzufangen, so entwickelten sich wirklich gute Angewöhnungen in mir. Ich bekam Eigenschaften für mich selbst, die ich anfänglich für kleine Hülfsmittel geachtet hatte.« –

»Ach,« sagte Viktorine – »welch' ein Glück, wenn uns der Stolz nicht gegen uns selbst bewaffnet, wenn er die Kraft wird, mit der Achill den Felsblock aufhob, um die Waffen hervorzuholen, mit denen er unbesiegbar ward. Ich fürchte, wenn ich in solche Lage käme – der Felsblock fiele auf mein Herz, und die Waffen verrosteten.«

»Das werden Sie mich nicht überreden,« erwiederte die Marquise – und eben erwachte Louis Maria in seiner Wiege. Viktorine rührte die Glocke, die Wärterin erschien mit der Amme, und beide Frauen wendeten ihre Aufmerksamkeit den kleinen Beobachtungen zu, ob das Kind zugenommen habe, ob lustig zur Nahrung sei? So wichtig, so süß und beglückend für ein mütterliches Herz! –

Es war der letzte Tag vor der Beisetzung des Marschalls, und die Audienzen der Beileidsbezeigungen waren auch für diesen letzten Tag geschlossen. Von einigen allzu lästigen Stücken ihrer beschwerlichen Trauerkleidung befreit, saßen die Damen des Hauses mit dem Herzoge und der Herzogin von Lesdiguères beisammen, und es waltete über Allen der Zwang, den leere Trauer-Ceremonien so ermüdend ausüben, und denen man sich nicht entziehen darf, ohne gegen eine höhere Idee zu sündigen, die doch gerade in diesen lästigen äußeren Zeichen zu ersterben beginnt. Alle sehnten sich, von einander loszukommen, [269] um sich nur einmal der Natur nach regen und wenden zu können. Aber es war Sitte, daß man in den inneren Gemächern soupirte und bis dahin zusammen blieb; so hielt Jeder den Andern im Schache mit einer angenommenen Empfindung, die sich nach Wechsel sehnte.

Um diese Zeit fuhr derselbe einfache Wagen ohne Livreen, der einst, bloß von Jaques geführt, den Weg nach St. Sulpice zuürcklegte, unter dem Trauerwappen der Familie hindurch in das Schloßportal; und das Erste, womit der junge Herr des Schlosses begrüßt ward, war das Salutiren der Wappenherolde mit ihren düstern Fahnen, und schaudernd fühlte er erst jetzt die Wahrheit der erschütternden Nachricht.

Schweigend und mit der ängstlichen Spannung, die sein auffallendes Betragen auch jedem Diener gegeben, ward er in dem düstern Hause empfangen. Ach, die tiefe Trauer, die er um Fennimor trug, wie wohl paßte sie zu den schwarzen Treppen und Wänden, die ihn bald umfingen!

»Nach dem Trauersaale!« stammelte er kaum hörbar. Die Thüren öffneten sich – der schreckliche Pomp lag vor ihm ausgebreitet – der Sohn an den Stufen des Sarges auf seinen Knieen.

Sein Gebet war ein zuckend, schmerzhastes Aufblicken zu Gott; mehr eine Hoffnungslosigkeit, beten zu dürfen – mehr ein Ausruhen im Schmerz, als eine Erhebung zu Gottes Gemeinschaft! Laut hielten die Mönche von St. Sulpice die Exequien über die Leiche – der fungirende Priester fügte dem gewöhnlichen, vorgeschriebenen Ritus ein lautes Gebet hinzu: »Laß' Dir auch die Herzen empfohlen sein, die, belastet von der Noth, die eigne oder fremde Schuld ihnen gab, in Gram gebeugt vor Dir seufzen. Tröste und erhebe sie. Die Vergangenheit hast Du unwiederruflich gemacht; aber selbst die Schuld in ihr kannst Du erblassen machen durch den Muth, Deiner göttlichen[270] Gemeinschaft zukünftig theilhaft werden zu wollen. Es soll Allen vergeben werden, die von Herzen reumüthig sind, und ihre Schuld ihnen nicht folgen auf dem Pfade der Besserung!« Jetzt sprach er den Segen mit einer Kraft und Bewegung, daß Leonin über die Gewalt erbebte, von der sein Herz aufgerissen ward. Er hob den Kopf – Fenelon, der blasse Priester von St. Sulpice, stand mit erhobenen Armen und erhobenem Haupte über ihm, und schien vom Himmel die Flammen andächtiger Ueberzeugung hernieder zu rufen, mit denen er die Seelen erwärmte.

»Fenelon,« rief er – »hast Du den Schlüssel zu lösen und zu binden?« –

»Der hat ihn, der sich voll Glauben an seine göttliche Kraft dem in die Arme wirft, der Alle heilt, die reumüthig und beladen sind. In seinen Sünden verzweifeln wollen, heißt Gottes Allmacht verläugnen!« Er hatte dies leise nur zu ihm, dem Knieenden, gesprochen. Er machte das Zeichen des heiligen Kreuzes über ihm und schloß sich dann den Mönchen an, die ihren Umzug hielten. Als die erhabene Gestalt aber an ihm vorüberglitt, hörte Leonin wie einen Lufthauch die Worte: »rette Viktorine!«

Er fühlte sie bis in sein tiefstes Innere, und sie gaben ihm die Richtung, die er bei den schwachen Angaben seiner Gefühle vielleicht nicht erkannt hätte.

Er erhob sich und folgte dem harrenden Kammerdiener zu den Zimmern seiner Mutter. Wie lastete die düstere Pracht dieser Gemächer auf ihm! Jedes Zimmer schien ein Katafalk zu sein. Endlich öffnete sich der kleine Salon, in dem er seine Familie, fast zur Unkenntlichkeit in Trauergewänder eingehüllt, versammelt sah. – Er kam erwartet; dennoch überraschend. Ein kurzer Aufschrei verrieth ihm das einzige Wesen, nach dem sein Herz noch eine Richtung hatte; und überwältigt von der Vergangenheit, die zwischen ihm und seinem Weibe lag, eilte [271] er nicht in ihre Arme, sondern kniete in demselben Augenblicke zu ihren Füßen. Viktorine hatte sich leise in einen Stuhl gesenkt – ihre Füße bebten, wie ihr Herz. Beide sprachen nicht; es herrschte von allen Seiten ein verlegenes Stillschweigen; Keiner verstand das Gefühl des Anderen. Die Empfangenden standen trocken und müde von einer thränenreichen Begebenheit, mit der sie fertig waren, und Leonin's Ankunft, dessen Stimmung Keiner zu errathen vermochte, erregte die Befürchtung, mit allen Schmerzenszeichen von Vorn anfangen zu müssen. Man schien von ihm wenigstens die Anregung abwarten zu wollen und behielt eine Stellung, aus der gleich zu machen war, was sich nöthig zeigte.

Doch fand jeder unnatürliche Zwang bei Madame de Lesdiguères immer bald in ihrer raschen, geraden Gefühlsweise seine Erledigung. »Jetzt, Herr Graf Schwiegersohn,« rief sie plötzlich laut – »lassen wir das! Kommen Sie zu sich, und denken Sie, daß wir alle von den Quälereien und der ganzen Geschichte nachgerade müde und matt sind. Wir haben Alle unsere christliche Theilnahme dargelegt – ging mir auch selbst recht zu Herzen; aber jetzt muß es vorbei sein – wäre dem alten Marschalle selbst zuwider, wenn wir nicht endlich aufhören könnten!«

Leonin stand auf, nachdem er einen Blick des Schmerzes auf seine blasse Gemahlin geworfen. »Ich verlange gewiß nicht,« sprach er, »durch meine Gegenwart Euer Gnaden zu Gefühlen aufzufordern, über deren Dauer mit großem Rechte nur Jeder selbst bestimmen kann, und der Sohn darf sich gewiß in einem Verhältnisse bekennen, daß seine Gefühle nicht zur Richtschnur für Andere machen kann.«

»So,« sagte die Herzogin – »das nenne ich vernünftig gesprochen. Man kann oft Ihre absonderlich auffallenden Handlungen gar nicht begreifen, wenn man hört, wie verständig Sie sich zu äußern wissen.«

[272] Leonin hatte während dieser Worte die Anwesenden stumm und abgemessen begrüßt. Es hatte sich seiner bei dem Anblicke seiner Mutter ein so kaltes, bitteres Zürnen bemächtigt, daß er den Ausdruck für die herkömmliche Weise verlor; auch gab ihm die Herzogin bald Gelegenheit, sich zu entladen.

»Nun,« rief sie – »mein Kind, ich habe recht darauf gewartet, Sie wiederzusehn; denn nur Sie selbst können uns das Ereigniß erklären, das uns damals bei der Taufe Ihres Sohnes so sehr erschreckte. Waren Sie denn wirklich krank und liefen deshalb fort?«

»Nein, Madame,« erwiederte Leonin gemessen – »ich war nicht krank, als ich abreiste, ich ward es erst später.«

»Nun, sehen Sie, Marschallin,« fiel jetzt die Herzogin ins Wort, »ich konnte Ihre Erzählung gleich nicht glauben; denn kurz vorher hatte ich ihn gesehen, und mit eins sollte er toll und krank und deshalb davongejagt sein!«

»Sagte das meine Mutter?« fragte Leonin scharf betonend. – »In Wahrheit, ihr Irrthum ist sehr auffallend, da sie am besten, denke ich, den Grund meiner Abreise wissen mußte!«

»Ihre Mutter, Graf?« rief die Herzogin – »nun, das hätte ich nie für möglich gehalten!«

»Es war vielleicht eine zu große Schwäche von mir,« fuhr jetzt die Marschallin auf, durch Beide geängstigt und erzürnt – »daß ich die Unbesonnenheit meines Sohnes auf eine Weise zu erklären trachtete, die in der Handlung selbst sich mir darzubieten schien. Eine wahnsinnige Handlung dem plötzlichen Erkranken zuzuschreiben, möchte milder urtheilen heißen, als es ein Jeder in solchem Falle verdient!«

»Sie hätten Ihre Gnade nicht so weit treiben sollen,« erwiederte Leonin kalt; – »aus den Umständen, die Ihnen bekannt waren, hätten Sie annehmen können, wie wenig ich [273] mich geneigt fühlen müßte, eine Vormundschaft anzuerkennen, deren Erfolge ich eben einsehen lernte.«

Die Marschallin bebte vor Zorn. Niemals hatte sie eine solche Sprache von ihm gehört! Sie war zuerst um eine Antwort verlegen, die den ganzen tiefen Ingrimm ihres Herzens auszudrücken vermocht hätte. Doch überhob die Herzogin sie jeder Wahl. Aufs neue rief sie: »Kind, ich verstehe dieses Hin- und Herreden nicht, sagen Sie deutlich, wie es zusammenhing!«

»Enschuldigen mich Euer Gnaden,« sprach Leonin mit schonender Ehrerbietung – »Sie sind eine zu gefühlvolle Frau, eine zu gute Mutter, um nicht zu wissen, daß Viktorine das erste Recht an mein Vertrauen hat, und ich es abwarten muß, ob sie mich zur Rechenschaft ziehen will.«

»Dagegen läßt sich Nichts sagen,« erwiederte gutmüthig lachend die alte Herzogin; – »das heißt: schweige still, Du hast Dich nicht hinein zu mengen!«

»Dies möchte indessen nicht der Fall für Alle sein,« sprach die Marschallin scharf. »Der König hat eine persönliche Beleidigung, für die er Ihr Betragen nothwendig halten mußte, mit der Ungnade gegen Ihre Familie bestraft; – und diese Familie, die während ihrer langen Existenz etwas Aehnliches nicht erfuhr, möchte wohl das unbestrittene Recht haben, einer Handlungsweise nachzufragen, die so beleidigende Folgen für sie hatte.«

»Zwingen Sie mich nicht, Ihnen augenblicklich diese Erklärung zu geben!« rief Leonin, mit einer Wildheit in Ton und Blick, die Alle erschreckte. – »Ich bin bereit dazu; denn es ist vielleicht so besser, da ich in meiner Empfindung nicht mehr zu retten bin. Aber Sie – Sie, meine Mutter, – Sie sollten mich nicht dazu treiben wollen!«

Die Marschallin fühlte, daß sie zu weit gegangen war; aber sie hatte noch keine Beleidigung ungerügt erfahren, von ihrem Sohne sollte sie sie hinnehmen, der ihr bis jetzt noch nie [274] getrotzt? Es war zu viel und dennoch sah sie ein, sie habe ihn selbst zu der Grenze hingetrieben, von der sie ihn hatte abhalten wollen.

»Sie sollten mindestens fühlen,« sprach sie, sich mit Gewalt bezähmend – »daß der Augenblick zu Ihrer leidenschaftlichen Unhöflichkeit gegen mich schlecht gewählt ist. Ich bin die Witwe Ihres Vaters – vielleicht erinnern Sie sich, daß die Leiche dieses in Ungnade gefallenen, berühmten Mannes noch über der Erde ist – und daß ich Ihre Mutter bin!«

Leonin stand in düsterem Brüten vor dieser kunstvollen Rede; es blieb ungewiß, ob er sie gehört. Da fühlte er eine leichte Hand auf seiner Schulter, und eine Stimme, die ihn zu wecken und sich zu sammeln vermochte, sprach unsicher und schwach: »Glauben Sie nicht, mein Gemahl, daß Sie auch mich in der Stimmung des Zürnens oder der Neugierde gegen sich finden! Wenn Sie mir ein Recht zugestehen, wie ich eben zu hören glaubte, so lassen Sie es das des Vertrauens sein, das weder von Ihnen eine Erklärung fordert, noch nöthig hat. Fassen Sie sich aber jetzt. Der Schmerz, der so natürlich in Ihnen ist, sollte uns Alle zur Schonung gegen Sie auffordern; – vielleicht bedürfen wir sie auch,« setzte sie mit sinkender Stimme hinzu – »wir haben Viel gelitten!«

Leonin versenkte sich mit zärtlichem Antheil in die schönen, edlen Züge, die so blaß, so leidenvoll waren. Er führte die sichtlich bebende Gestalt zu ihrem Sitze zurück und nahm knieend neben ihr Platz. »Theure, edle Viktorine,« seufzte er, ihre Hand an seine Stirn drückend – »Sie sind die Einzige, die ein Recht hätte, mir zu zürnen; – aber Sie werden bloß der Engel sein, der über den Gefallenen weint!« – Und sie weinte bereits.

Der Herzog von Lesdiguères, der ein höchst verlegener Zuhörer dieser häuslichen Scene gewesen war, da er niemals [275] über gesellschaftliche Verhältnisse hinaus sich zu denken erlaubte, erfaßte nun eine Richtung, die er glaubte erkannt zu haben, und nahte sich seinem Schwiegersohne. »Ich bin,« sprach er – »nach dem Empfange, den ich bei Seiner Majestät genossen, als ich ihm die Todesmeldung des Hauses Crecy-Chabanne machte, fast überzeugt, daß eine bestimmte Hoffnung auf Gnade vorhanden ist, und, wenn Viktorine ihren Einfluß bei der gütigsten Königin anwendet, Ihnen, mein Herr Schwiegersohn, der König Ihren Platz bei seiner erhabenen Gemahlin zurückgiebt.«

So erfuhr Leonin seine Absetzung. Die Marschallin gönnte ihm einige Alteration und beobachtete ihn scharf. Er erhob sich jedoch sogleich ruhig von seinen Knieen und indem er dem Herzoge ehrerbietig für seinen Antheil dankte, setzte er hinzu: »Ich muß diese Absicht bei Seiner Majestät indessen entschieden ablehnen. Obwol ich meine Verweisung vom Hofe noch nicht kannte, mußte ich sie erwarten; doch dachte ich bisher nicht daran und war entschlossen, den König um meine Demission zu bitten.«

»Den König darum zu bitten?« riefen der Herzog und die Marschallin zugleich. – »Ich bin gesonnen,« fuhr Leonin fort – »wenn ich über meine näheren Angelegenheiten mit meiner Gemahlin die nöthige Rücksprache genommen und hier alle Pflichten erfüllt, die meine neue Stellung mir aufnöthiget, mich zum Marschalle von Louxemburg zu begeben und ohne bestimmte Anstellung, um die ich jetzt nicht bitten könnte, unter seinen Fahnen als Volontair den Krieg mitzumachen.«

»Den Krieg? den Krieg?« stammelte Viktorine, während Alle ihre Ueberraschung nicht zu verhehlen vermochten.

»Erschrecken Sie nicht, theure Viktorine!« – sprach Leonin, nur zu ihr sich wendend. »Es kann Ihnen nicht entgehen, daß mich ein ungewöhnliches Schicksal unerwartet und hart [276] niedergeworfen hat. Gott mag es denen vergeben, die mich hineinstießen gegen Pflicht und Gewissen! Ich kann es noch nicht – und eben so wenig auf dieser Stelle Ihnen gegenüber aushalten, Viktorine! Lassen Sie mich jetzt gewähren. Vielleicht rettet mich Anstrengung meiner Kräfte, Thätigkeit, Entbehrung, Mitgefühl bei der Noth des Krieges. Vielleicht komme ich Ihrer würdiger zurück; – jetzt ist Ihre Nähe mir ein Vorwurf – ich vermag sie nicht zu ertragen!«

»Genug!« rief hier die Marschallin mit ihrer alten Energie und außer sich gebracht über die rücksichtslose Sprache ihres Sohnes, die er selbst gar nicht zu bemerken schien. »Es dünkt mich, Sie sind in einer so maaßlosen Aufregung zu uns zurückgekehrt, daß Sie keine Beurtheilung über das Gewicht Ihrer Worte haben. Ich fühle mich unfähig, meinen Sohn länger in einer solchen Stimmung die wichtigsten Interessen seines künftigen Lebens absprechen zu hören! Lassen Sie uns nach dem kleinen Eßsaale gehen, wo uns einige der genauesten Freunde des Marschalls erwarten.«

»So bitte ich, mich zu beurlauben,« sagte Leonin; – »ich will mit meiner Stimmung, die gegen Ihre Absichten läuft, Ihnen nicht länger lästig fallen. Die Zeit wird lehren, ob sie eine augenblickliche Aufregung ist.«

Er entfernte sich, Alle ehrfurchtsvoll grüßend – gegen Viktorinen einige Worte schwärmerischer Verehrung aussprechend. –

Wenn wir einen Blick in die verschiedenen Gemächer thun, in die sich die drei Hauptpersonen dieses schweren Abends zurückgezogen hatten, nachdem es ihnen verstattet, sich zu trennen, so werden wir erfahren, was ihr Loos war, als die äußeren Rücksichten für sie aufhörten.

Die Marschallin hatte sich entkleiden lassen, und ihre Frauen warteten im Vorzimmer. Sie horchte dem Schließen [277] der Thür, was ihr endlich Alleinsein, dieses dringendste Bedürfniß, sicherte. – Fünf Minuten später würden wir die Marschallin von Crecy, die eben mit stolzer Ruhe ihre Frauen nach dem Vorzimmer entließ, kaum wieder erkannt haben. Die zurückgepreßten Leidenschaften, die diese letzte, verhängnißvolle Zeit ihres Lebens höher, wie jemals gesteigert hatte, brachen, wie ihres Zügels beraubt, plötzlich hervor. Bald durcheilte sie mit großen, ungleichen Schritten das Gemach, während ihre krampfhaft gepreßten Hände ihre ungestümen Gedanken ausdrückten; – bald sank sie in ihren Sessel, und ein kurzes, zorniges Schluchzen rang sich hervor. – Doch, wir halten inne, denn wir werden genug erfahren haben, um unsere Ueberzeugung anzudeuten, daß Jeden die Vergeltung erreicht, daß uns kein äußerer Schein täuschen sollte über die Gerechtigkeit des Himmels hier auf Erden, die, wenn sie das äußere Schaugerüst unberührt läßt, in dem Inneren des trotzigen Herzens erscheint und es beugt und zerreißt und demüthigt und die fürchterliche Strafe verhängt, mit lächelnder Miene aufrecht erhalten zu müssen, was, jedes Reizes entblößt, eine leere, tödtende Qual geworden ist und doch der Preis der Sünde war.

Die Marschallin, die nie einem Menschen seine eigene Entwicklung, seine eigene Ansicht gestattet, die ihr ganzes Leben als eine Aufgabe ihres Willens gehandhabt, die Menschen, die hineinfielen, ohne jede Rücksicht als Hebel und Stützen verbraucht hatte, deren eigene Bedürfnisse übersehend, gering achtend, oder die ihrigen doch wichtiger haltend; die durch das zeitherige, materielle Gelingen dieser Bestrebungen zu einer Sicherheit über den Werth derselben gelangt war, der sie auf die dünkelvollste Isolirhöhe des Stolzes erhoben – ihr war es plötzlich, als ob der Boden dieses ihr so fest erscheinenden Gebäudes ein Sieb geworden sei, das Alles unter ihren Händen [278] unaufhaltsam zerrinnen, zerfließen, in ein Nichts zurücksinken ließe, vor dem sie verarmt stehen bliebe, wie vor dem ganzen Ergebniß ihres berechneten Lebens, das ihr damit verloren erschien.

Sie erfuhr die Strafe, die ihr die härteste sein mußte, und ihr Zustand, wie wir ihn andeuteten, war dem gemäß.

Sie wollte in dieser qualvollen Stunde etwas erdenken, womit sie sich rächen könnte. Aber die Beleidigung, die jeden Blutstropfen in ihr vergiftete, kehrte immer wieder auf den einen Gegner zurück, der alle zahllos erlebten Kränkungen veranlaßt hatte; und dieser Gegner war ihr Sohn! Der Sohn, den sie zu ihrem Dienste erzogen, zur Stütze ihrer ehrgeizigen Pläne; er war es, der plötzlich seine Abstammung nicht gänzlich in sich erloschen zeigte und ihr, ehe sie es ahnte, mit eigensinnigem, rücksichtslosem Willen entgegen trat. Sie dachte alle Möglichkeiten durch, ihn noch ein Mal gedemüthigt, – ihres Willens Unterthan – zu sich zurück zu führen. Sie hatte, ehe sie ihn sah, so sicher darauf gerechnet; sie hatte ihm ein Zürnen zugedacht, was nur um den Preis einer gänzlichen Uebergabe Versöhnung hoffen lassen sollte, und jetzt kam er in einer Stimmung des Zürnens zurück, die weder Ausgleichung suchte, noch nöthig hatte; da er sich sogleich damit unabhängig erklärte. Sie konnte nicht einmal irgend etwas erdenken, worin sie ihm nachgeben konnte! – Nur eine leise Hoffnung blieb ihr. Souvré war entweder selbst betrogen, oder er hatte sie auch betrogen. Sie hatte Fennimor's Tod wirklich vor der Vermählung ihres Sohnes angenommen, und es war klar, daran zweifelte Leonin – er bezüchtigte sie des Frevels, ihn in das doppelte Verhältniß getrieben zu haben! Dieser Irrthum sollte sich nun auflösen. Die Reue darüber – blieb ihre einzige Hoffnung; – aber sie ward dennoch kein Ruhekissen, worauf die Marschallin den Schlaf gefunden hätte. –

[279] Von ihrem geheimen Leben wenden wir uns nach dem stillen Schlafgemache, aus dem Viktorine für die ersten Stunden der Nacht gleichfalls ihre Frauen entfernt hatte, um, mit ihrem Kinde allein, jedes Zwanges enthoben, sich ihres Zustandes bewußt zu werden. Es giebt Menschen, deren edle Natur sich überall gleich bleibt; sie behalten eine Decenz des Ausdruckes selbst in ihrer tiefsten Aufregung, die ihren einsamen Stunden ein Maaß verleiht, durch das sie vor sich selbst gesichert bleiben. Dies war bei Viktorinen der Fall. Sie war sich eine Achtung gebietende Gesellschaft – die Vertraute, von der wir wissen, nicht mißverstanden zu werden, und deren Billigung wir uns doch zu erhalten wünschen, da sie uns schwerer zu erreichen scheint, als der Beifall der Welt.

Sie knieete nieder und beugte sich über das süß schlafende Kind. Schwere Seufzer deuteten es an, daß ein lang bezwungener Zustand sich Luft schaffte; dann weinte sie lange und schmerzlich, und endlich wurden ihre Empfindungen Gebete. Als sie aufstand, sagte sie: »Weise Freundin, ich habe Dich verstanden! Du hast mein Schicksal geahnet; – ich werde Dir folgen. Ein Weib ist an sich etwas Göttliches und Großes; – ich habe einen Heerd! Ich habe ein Kind! Beides werde ich hüten zur Ehre Gottes und der Menschen; – und kömmt er ermüdet zurück und sucht verschmachtend den verlassenen Heerd, dann finde er mein Symbol: Milde und Verzeihung!«

Als sie ihre Frauen rief, war jedes Wort sanft und gütig. Eine verklärte Ruhe lag über ihr ausgebreitet; eine frei gewordene Kraft, die von sich selbst eine versöhnende Ausgleichung des Lebens verlangt. –

Nicht so Leonin! Halbe Zustände – Unglück und Glück – Schuld und Unschuld – wie sie sich in ihm vorfanden, erfordern einen starken Geist, der Alles erfaßt und sondert und auf sich nimmt und von sich wirft, der Wahrheit nach, und [280] dann abschließt und von neuem beginnt. Nicht so Leonin. Er dachte daran, den Zuständen zu entfliehen, ohne sie vorher zu ordnen. Die jedesmalige Folge dieses schwachen Waltens trat auch bei ihm ein. Die Erbitterung wuchs auf dem falschen Wege, der überall unbeseitigte Hindernisse zeigte und die Erholung, nach der er strebte, fern hielt. Er grollte der ganzen Welt. Die Weichheit, die ihn sonst gutmüthig sein ließ, verschwand. Seine Diener erkannten ihren ehemaligen Herrn nicht wieder. Er war unruhig, heftig, ungerecht; Nichts schien ihm zur Zufriedenheit gemacht; er forderte und stieß das Geforderte zurück; er erzürnte und kränkte Alle, und der Unfriede schien, was er noch begehrte.

Unter diesen Umständen erreichte die Marschallin ihren Zweck nur in dem für sie unwesentlichsten Theile. Er überzeugte sich, daß so wenig sie, wie Souvré Fennimor's Wiederbelebung gewußt habe. Aber keine Reue gegen sie trat ein. Ihre Schuld, und mehr noch die Härte, die ihm jetzt natürlich geworden war und die sich gegen sie, die er bisher so sklavisch gefürchtet hatte, Bahn gebrochen, sie sollte motivirt sein in ihrer Schuld – und die Marschallin fühlte bald, wäre jene auch geringer gewesen, als sie wirklich war – er habe einmal die Stellung gegen sie ergriffen, die eine Art Schild gegen seine eignen Vorwürfe ward, und gerade die Schwäche, die sie in ihm geschätzt und beabsichtigt, erhielt ihn jetzt in dieser Stellung gegen sie.

Doch hatte diese Erklärung die Folge, daß ein beabsichtigtes Duell mit Souvré unterblieb; und der gewandte Unterhändler kam zu dem vollen Genusse des Gelingens, wenn er, wohlbehaglich in einem Fauteuil in Leonin's Zimmern ruhend, diesen mit der gereizten Wildheit eines gestörten Friedens an sich vorüber streifen sah. – Er überlegte die Resultate seiner Bemühungen und rechnete sich gleichgültig an den Fingern her: [281] der blühende, schöne Mann – ist bleich, gekrümmt, mit schwindendem Haare – der vornehme Edelmann vom Hofe verbannt – in die höhnenden Prachträume eines öden Pallastes verwiesen. Der Gatte der schönsten und vornehmsten Dame hat diese entehrt und seinen Erben zum Bastarde gemacht, und das ewig heitere, sorglose Kind des Glückes kommt von der Leiche seines gemordeten Weibes, von dem Anblicke seines rechtmäßigen und verläugneten Sohnes mit Kummer beladen, und um Ruhe und Frieden durch Alles, was er erlebt und gethan, auf immer betrogen! –

Es war nach der Bestattung des Marschalls nicht schwer, Leonin's Angelegenheiten zu ordnen; da seine Anwesenheit ein Inkognito bleiben mußte, war er von manchem lästigen Gebrauche befreit. Wie Viktorine ihm in dieser Krisis gegenüber stand, brauchen wir kaum zu erwähnen. Sie war mit dem, was sie sein wollte, so vertraut, daß sie keinen Hauch von Selbstgefühl oder Tugendpathos zeigte. Sie hörte sich nicht in ihren Worten, ihre Augen suchten weder den Himmel, noch den Beifall Anderer; sie langweilte und verscheuchte Niemanden, indem sie sich beispiellos hervorzuheben trachtete und mit ernster Würde eine Sprache einzuführen strebte, die den Zuständen der kranken Gemüther um sie her zum Vorwurfe gereichen mußte. – Sie war ohne Hochmuth, daher mit ihrem besseren Zustande vor Gott nicht befriedigt und nicht geneigt, ihn hervorzuheben. Sie war voll wahrer Liebe, daher ohne das Richtschwert der Verwerfung – sie war edel und klug, daher den Augenblick und seine krankhaften Erscheinungen schonend, die auffallenden Mißtöne überhörend, um ein verderbliches Verstummen zu verhüten, was selbst die Hoffnung der Ausgleichung aufhebt.

Dessen ungeachtet mußte sie bald erkennen, daß sie nur auf eine spätere Zukunft zu hoffen habe und ihre Rechte nur [282] bewahren könne, wenn sie jetzt ihre Kränkung übersehe, Streit oder Rechenschaft darüber ablehne. Vielleicht hatte an dieser Stellung, die sie nahm, nicht ihr richtig berechnender Verstand allein Antheil; ein tiefes Grauen vor der Aufklärung der geheimen Geschichte ihres Gemahls hielt nicht minder ihr ganzes Wesen instinktartig in abwehrender Mäßigung.

Ob Leonin den ganzen Werth dieses Verfahrens erkannte, wäre schwer zu bestimmen; doch suchte er die Nähe seiner Gemahlin auf, freilich, um auch bei ihr wieder in sein düsteres Nachdenken zu verfallen, das jeden Zug seines Gesichtes beschattet hatte und ihn kaum kenntlich sein ließ. Besonders trat dies hervor, wenn ihm sein Kind gebracht wurde, und er genöthigt war, es zu betrachten. Viktorine entsagte bald auch diesem Glücke; denn ein fast auffallender Schmerz erschütterte ihn dann und erregte die Beobachtung der Wärterinnen; muthig erdrückte sie die bangen Ahnungen ihrer Brust und hielt ihr Kind von da an entfernt.

In Leonins Verhältniß zum Hofe hatte sich Nichts geändert. Die Trauerzeit verschloß, den Vorschriften nach, die ganze Familie noch in ihrem Palais; die Marschallin hatte daher noch keine Versuche darüber machen können, wie weit der Tod des Marschalls die Versöhnung vermittelt habe. Regelmäßig den achten Tag erschienen die Hofchargen zu einem kurzen, ceremoniösen Besuche im Hotel Soubise. Dies konnte natürlich nur auf Befehl der Majestäten geschehen und blieb ein Gnadenzeichen, das, wie schon erwähnt, eine Loosung für den übrigen Adel ward; und so konnte es unter den an sich beschränkenden Umständen scheinen, alle Verhältnisse wären ausgeglichen. Hiervon ließ sich die Marschallin jedoch nicht täuschen, die sehr wohl alle Abstufungen der Gunst kannte und mit einem mittemäßigen Zustande der Dinge nicht zufrieden sein konnte; da sie bisher den ersten Rang erstrebt und erreicht hatte.

[283] Leonin blieb dagegen hartnäckig bei seinem Vorsatze, jetzt keine Begnadigung nachzusuchen und der Gunst des Marschalls von Louxemburg anheim zu stellen, sein Erscheinen bei der Armee zu entschuldigen. Da die Maischallin ein Mißglücken eben so fürchtete, fand er weniger Widerstand, als er erwartet; und seine Gemahlin mit ausgedehnten Vollmachten versehend, und ihr jeden Beweis der Achtung dadurch gebend, verließ er endlich das väterliche Haus und begab sich zur Armee des Niederrheins, in einem Augenblicke, wo ein ziemlich zweifelhafter Zustand des Gelingens bei den Armeen obwaltete.


Fünf Jahre waren verflossen. Der Nymweger Friede war geschlossen, die Armeen kehrten nach Frankreich zurück. Durch alle Provinzen des Landes vertheilt, erreichten die Truppen ihre Heimath, ohne daß damit eine Auflösung der Armee verbunden gewesen wäre, die Ludwig der Vierzehnte schon damals nicht für politisch erkannte und damit dem übrigen Europa, dem die Mittel fehlten, diese Maaßregel nachzuahmen, ein stets furchtbarer und überlegener Gegner blieb, dessen Freundschaft zu erhalten, die gefügigsten Schritte gethan wurden, die dem Uebermuthe, der damals schon Ludwigs Gesinnung ausschließlich zu beherrschen begann, einen schrankenlosen Spielraum gaben.

Nach fünfjähriger Trennung kehrte Leonin als Adjudant des Marschalls von Louxemburg zu seiner Familie zurück. Die Marschallin war Oberhofmeisterin der Prinzessin von der Pfalz geworden, der zweiten Gemahlin des Herzogs von Orleans. Sie lebte fast immer am Hofe, obwol ihr jede Freiheit zugestanden war, die sie sich selbst geben wollte. Immer mehr jedoch war der Hof eine Art Kultus geworden, dessen Dienste sich weihen zu dürfen, der Inbegriff aller Wünsche, aller Bestrebungen [284] ward. In dem Maaße, wie sie durch die ihr gewordene Auszeichnung über alle ihre Feinde triumphirte, hoffte sie, ihre Familie auch zu dem alten Glanze zurückzuführen, der durch die zweifelhafte Stellung ihres Sohnes noch immer in Schatten gestellt blieb. Obwol unter den zahlreichen Nachrichten von der Armee die günstigsten über Leonins Verhalten, seinen Muth, seinen rastlosen Eifer einliefen, nimmer war eine Gelegenheit zu finden, dieselben bis zu dem Könige zu führen. Außer in diesem Zauberkreise schmeichelten Alle der stolzen Mutter damit; in Gegenwart des Königs aber schwiegen Alle davon, weil Jeder wußte, daß, als einst Madame mit ihrer kecken, deutschen Weise, die viel Gnade vor Ludwig fand, auf diesen Gegenstand kommen wollte, der König sie verwundert angesehen, und als ob sie Deutsch mit ihm gesprochen, ihr gar nicht geantwortet und ihr den Rücken zugekehrt habe.

Jetzt sammelten sich die hohen Häupter der Armee wieder um den König, und der Monarch, getragen und gehoben von dem Ruhme seiner Armeen, spendete Ehren, Vermögen, Gunst und Auszeichnung jeder Art an seine Helden. Die Eroberung von Mastricht und die Schlacht bei Montcastel, kurz vor dem Frieden, diesen so bedeutend erleichternd, gaben dem Herzoge von Louxemburg ein besonders frisches Andenken und ein eingeräumtes Recht an die Gunst seines Königs.

Es war daher der Herzog von Louxemburg, der das Eis brach, auf dem Alle zu fallen fürchteten, und den König um die Erlaubniß bat, ihm seinen Adjudanten, den Grafen Crecy-Chabanne, dem er das Leben auf dem Schlachtfelde von Montcastel verdanke, vorstellen zu dürfen.

Die Form war gut gewählt, und diese beherrschte Ludwig immer despotischer; er ward dadurch an nichts der Vergangenheit Angehöriges erinnert, diese in seine Willkür gestellt, und für seine Erlaubniß, im Fall er sie geben wollte, eine Brücke [285] gebaut, die bloß den Marschall zu ehren schien und so gar nicht übersehen werden konnte, ohne diesen zu kränken. Er neigte daher einwilligend das Haupt und ging augenblicklich zu dem Ereignisse sebst über, indem er den Herzog von Louxemburg fragte, bei welcher Gelegenheit er in so dringender Gefahr gewesen sei.

Der Marschall hatte jetzt Veranlassung, Leonins Verdienst hervor zu heben, welches er mit der höfischen Vorsicht that, welche es vermeidet, eine Meinung bestimmen oder lenken zu wollen und nur, wie von dem Gegenstande gezwungen, die Dinge vorzutragen scheint. Der König glaubte durchaus seine Ansicht hierüber dem Hofe entzogen und seiner Willkür überlassen, während schon Alle sicher waren, Leonin werde sich eines gnädigen Empfanges zu erfreuen haben. Doch täuschte Ludwig, erfindungsreich in Nüancen des Ceremoniels, welches immer mehr zur karrikaturartigen Uebertreibung ausartete, auch hier seine Höflinge. Zwar durfte Leonin die geweihte Schwelle des königlichen Audienzzimmers betreten und in die Reihen der gleich berechtigten Cavaliere treten; aber der König schien ihn dennoch nicht zu sehen, obwol er bei seinen verhängnißvollen Wanderungen ihn sehen mußte. Als er jedoch an dem Marschalle von Louxemburg vorüber schritt und dessen besonders bekümmerte Miene sah, rief er: »Ah, Marschall, wir sollten den Retter Ihres Lebens kennen lernen!«

Leonin beugte das Knie; der König betrachtete ihn einen Augenblick stumm, dann hieß er ihn aufstehen und jetzt sprach er zu ihm, wie zu einem völlig fremden, nie gesehenen Manne; und indem er seine Handlungsweise lobte, verrieth doch nicht die kleinste Aeußerung, daß er ihn je früher gesehen habe. So demüthigend dies war, mußte Leonin es doch für eine Gnade ansehen; auch erhielt der Herzog für ihn ohne Einwendung die Bestätigung zu einer Oberstenstelle, die ihn jedoch nicht von der Person seines Generals trennte.

[286] Die Königin empfing ihn dagegen ohne alle Zeichen der Empfindlichkeit. Viktorine nahm ihren Platz unbestritten bei ihr ein, und niemals hätte sie den Gatten derselben zu kränken vermocht.

Dazwischen sehen wir Leonin, sobald er Muße finden kann, den Weg nach St. Sulpice einschlagen. Mit unbeschreiblicher Bewegung erreicht er das Gitterthor; aber als es ihn einläßt, verfolgt er nicht den Weg nach dem Stiftshause, sondern wendet sich links und hat sich bald in die Klostergänge verloren, in denen ihm ein voran schreitender Laienbruder die Zelle Fenelons öffnet.

Tief athmend bleibt Leonin auf der Schwelle stehen. Es ist gegen Abend – die Sonne scheint mild durch Rebengeländer in das geöffnete Fenster. Auf einem hölzernen Stuhle sitzt Femelon vor einem einfachen Tische, mit Büchern und Schreibgeräth bedeckt. Auf einem Bänkchen neben ihm steht ein Knabe von sieben Jahren und liest nach Fenelons Anweisung in einem lateinischen Breviere. Der Knabe wendet ihm den Rücken zu; aber er darf nur den reichen Heiligenschein goldbesäumter, brauner Locken sehen, um zu wissen, daß vor ihm Fennimors Sohn steht! Fenelon streckt dem Erwarteten, über den Knaben hinweg, die Hand entgegen. Auch dieser hört den Eintretenden; er blickt zu seinem Lehrer auf, dann wendet er rasch den Kopf, sieht den Fremden und ist mit einem Satze von dem Bänkchen gesprungen. Außer sich, aber stumm vor Bewegung, steht Leonin vor seinem Sohne! Er wagt nicht, ihn an sein Herz zu drücken; die maaßlose Wonne, die ihn bei seinem Anblicke durchströmt, ist zugleich der wahnsinnigste Schmerz. Es sind Fennimors tiefblaue Augen; das zarte Oval mit dem süß gerundeten Kinne; dieser volle, lächelnde, blühende Mund mit den kleinen, weißen Zähnen, dieser Ausdruck zwischen Ernst und Schelmerei, dieser bezaubernd warme Farbenglanz!

[287] So sah er ihr Antlitz, als sie noch auf der Grenze der Kindheit ihm zuerst entgegen trat! Der Knabe trug ein offenes Hemd, das über Schultern und Brust aufgeschlagen war wegen der Wärme des Tages und besonders anmuthig zu einem Pagenkleide von blaßblauer Seide paßte. So wie er seinen Satz gemacht hatte, griff er nach seinem Barett und machte dann eine der kleinen, zierlichen Verbeugungen, die kein Tanzmeister und Erzieher lehrt und die nur aus der Schönheit des Körpers – aus dem befiederten Geist eines Kindes hervorzutreten vermögen. Es war wieder Fennimors unaussprechlich schwebende Anmuth, ihr wunderbarer Pathos zugleich!

»Faßt Euch,« sprach Fenelon mild – »und umarmt dies Kind Eurer seligen Freundin. – Reginald,« fuhr er fort, sich zu ihm wendend, »dieser Herr ist Dein Vormund, den Du so liebst, weil er Dich hier erziehen läßt.«

»Das dachte ich!« rief Reginald – und im Augenblicke sprang er Leonin um den Hals. Jetzt hatte er ihn im Arme! An seine Brust gedrückt, durfte er ihn küssen, ihm die süßesten Namen geben – über ihm die ersten Thränen der lang vertrockneten Augen weinen! –

Wir erzählen indeß, wie er hierher kam. – Als Reginald sein viertes Jahr zurückgelegt, erklärte der Vikar Emmy Gray's Dienst bei ihm erledigt. Er predigte tauben Ohren. Sie wollte das Kind nicht herausgeben, und faßte den finstersten Haß gegen den Vikar und seine Schwester, die sie zu diesem Schritt in Güte bereden wollten. Reginald hatte sich körperlich und geistig kräftig entwickelt; aber Emmy hielt ihn wie einen Vogel im Käfig, und da sie selbst weder schreiben, noch lesen konnte, so waren auch diese ersten Grundlagen dem Kinde nicht von ihr beizubringen. Aber gerade, weil sie gegen diese Einwürfe nichts zu erwiedern wußte, verbaute sie ihren Willen mit dem hartnäckigsten Eigensinne; und die Geschwister, die Fennimors [288] Kind nicht aufgeben konnten, wendeten sich an den Grafen Crecy selbst, obwol dieser noch bei der Armee war.

Dies brachte einen Entschluß in Leonin zur Reife, den er schon lange genährt. Er trat mit Fenelon über die Erziehung seines Sohnes in Unterhandlungen. In St. Sulpice wurde eine kleine Anzahl Kostgänger aufgenommen, die den sehr ausgezeichneten Unterricht der Mönche und ihre moralische Leitung genossen. Unter diese Zahl Reginald aufzunehmen, flehete Leonin Fenelon an. Doch fand er hier den auffallendsten Widerspruch. Fenelon äußerte die entschiedenste Abneigung, sich in diese geheime Angelegenheit zu mischen. Er sagte ihm, daß es ihm unerträglich sei, ein Geheimniß, von dem Viktorinens Lebensglück abhinge, zu kennen, und daß er wenigstens nichts damit zu thun haben wolle, da er es nicht habe verhüten können, so Viel davon zu erfahren. Doch Leonin ließ nicht nach in seinen Bitten, und endlich willigte Fenelon ein, aber nur unter folgenden Bedingungen: Niemals sollte Viktorine das Verhältniß des Kindes zu Leonin erfahren – niemals dies Kind selbst, daß Leonin sein Vater sei! Er unterstützte diese Forderungen durch Gründe, die genugsam bewiesen, daß selbst dem aufgeklärtesten Katholiken immer die Stunde schlägt, wo er in dem Dünkel seiner ihm allein berechtigt erscheinenden Kirche die Grenze findet für christliche Gesinnung; daß vornämlich der Priester stets darauf zurückkommt, jede andere Form des Bekenntnisses, als die seine, für unzuläßlich, ohne bindende Kraft anzusehen, und daß die Entscheidung über Rechte – wie klar sie auch christlich und sittlich der andern Kirche zugehören mögen – doch immer die Stütze der ausschließenden Berechtigung entbehren wird, die eben, als untrüglich angenommen, keiner Frage des Gewissens mehr unterworfen wird, und mit der angewöhnten Ueberzeugung zugleich die kaum eingestandene Furcht vor den Zwangsmitteln dieser Kirche verbindet, mit [289] welcher die kleinste Abweichung von ihrer konsequenten Despotie sogleich unrettbar entzweit.

Fenelon deutete wirklich an, daß er Leonin's erste Verbindung nicht für gültig halten könne; darüber aber dennoch Viktorinen, als ihr Beichtiger, die Entscheidung erspart wissen wolle. Er forderte Leonin auf, dies Kind vortheilhaft zu dotiren; doch durch keine weiteren Zugeständnisse sein Gemüth in falsche Richtung zu bringen – und Leonin gab nach!

Der Vikar bekam Fenelon's Brief und Leonin's Entscheidung. Herr St. Albans, der bejahrte Kastellan von Ste. Roche, entführte halb mit Gewalt das holde Kind den Armen der verzweifelnden Emmy Gray und lieferte dasselbe in die Fenelon's.

Leonin ließ Emmy die Wahl, zurückzukehren oder zu bleiben. Doch wild wies sie den ersten Vorschlag von sich. Sie hatte Nichts geliebt, als Fennimor; – mit Widerwillen dachte sie an John Gray, ja, selbst an ihre kleine Tochter. Sie sagte oft: »Ich kann Nichts mehr lieben! Was sollen sie mit mir!« Sie blieb im Schlosse und bewachte die Zimmer, in denen ihr Liebling einst gelebt und hütete sie, und blieb der ganzen übrigen Welt unzugänglich und bitter grollend.

Dagegen blühete das herrliche Kind unter Fenelon's weiser Hand trefflich empor. Er stürzte sich auf den Unterricht, den er erhielt, mit der Begierde eines Hungrigen; und sein Lehrer fühlte bald eine so warme, innige Zärtlichkeit für ihn, daß er ihn in Allem selbst zu unterrichten anfing. –

Nachdem Leonin den Rausch des Herzens durchgemacht, theilte ihm Fenelon mit, daß Viktorine, die ihre Andacht in St. Sulpice hielt, ihn gebeten habe, ihren Sohn den Kostgängern des Klosters zuzugesellen. Er habe die Entscheidung hinzuhalten gesucht bis zu seiner Rückkehr und frage jetzt um seine Meinung. Augenblicklich willigte Leonin in diesen Plan, [290] der ihm eine süße Hoffnung gab, die Brüder vereinigt zu erziehen, vielleicht Freunde aus ihnen werden zu sehen. »Dies hoffnungsvolle Kind,« sprach Fenelon – »hat Viktorine mit dem Wunsche erfüllt, beide Knaben mit einander verbunden zu sehen, da Ludwig, ihr Sohn, von zarterer Natur und von geringeren Fähigkeiten ist.«

Diese Nachricht war der erste Trost für Leonin's darbendes Herz, und er kehrte mit so verändertem Wesen zu Viktorinen zurück, daß diese sich tief gerührt fühlte, da sie es dem Vergnügen glaubte zurechnen zu müssen, mit welchem Leonin ihren Plan für die Erziehung ihres Sohnes auffaßte und mit ihr die Ausführung desselben verabredete. »Gottlob er liebt sein Kind noch!« rief sie in Thränen der Freude, als sie allein war; »dies Gefühl wird die Brücke werden, die über die Tiefe zwischen uns aufsteigen und sie verdecken muß!«

Auch gab es außerdem Familienfeste, denen Leonin sich nicht entziehen konnte. Louise de Crecy sollte jetzt mit dem Marquis d'Anville, der den Feldzug mitgemacht und nach dem Frieden zu seiner Familie zurückgekehrt war, vermählt werden. Das Glück, das ihrer wartete, schloß Louise nur noch inniger an ihren Bruder. Sie konnte es nicht fassen, warum ihr sonst heiterer, immer mit ihr scherzender Leonin so finster und ernst sei. Sie hing sich mit der jugendlichen Hoffnung an ihn, sie werde ihn erheitern können, und Leonin mußte sich wenigstens in Etwas theilnehmend zeigen, um das geliebte Wesen nicht zu schmerzlich zu täuschen. Er durfte sich überhaupt diesen Anforderungen nicht entziehen, da es ihm, als Oberhaupt der Familie, zukam, seiner Schwester die Honneurs zu machen. Man konnte in dieser Zeit nichts Schöneres sehen, als den Marquis d'Anville mit seiner Braut, und der Hof nahm selbst den schmeichelhaftesten Antheil an dieser Erscheinung, welche Lebrun in einem ausgezeichneten Bilde verewigte.

[291] Nach den vollzogenen Vermählungs-Feierlichkeiten beurlaubte sich das junge Ehepaar vom Hofe, und Leonin hatte nun Zeit, für seinen Sohn die Einrichtungen in St. Sulpice zu betreiben. Bald zeigte sich die geheime Hoffnung Leonins erfüllt. Beide Knaben schlossen sich mit größter Liebe an einander, und besonders hatte Ludwigs Liebe fast etwas Leidenschaftliches und Schwärmerisches für Reginald; denn, sei es das eine Jahr, was dieser älter war, sei es ihre auffallende Karakterverschiedenheit, genug, ungesucht wurde ihr Verhältniß das eines Beschützers und eines Beschützten.

Wir verlassen hier den Kreis, den wir bisher Schritt vor Schritt verfolgten. Es kommen in dem Leben jeder Familie Zeiten vor, die leer erscheinen und erst mehrerer Jahre bedürfen, um Resultate zu zeigen. Eine solche trat hier ein. Es wird weniger ermüdend sein, uns aus den angegebenen Stellungen der Karaktere und der Verhältnisse, die wachsenden Zustände selbst zu erklären, als ihnen an der kleinen Stufenleiter reizloser Begebenheiten nach zu klimmen – und so wollen wir erst da wieder unsere Mittheilungen beginnen, wo wir Thatsachen anführen können, die ein Resultat der Vergangenheit sind und neue Katastrophen herbeiführen.

[292]

[1] Dritter Theil

Obwol Fenelon nicht mehr persönlich die Erziehung in St. Sulpice leitete, da seine großen Fähigkeiten, nach mehreren, besonders durch den König ihm übertragenen Missionen, ihn jetzt zum Erzbischofe von Cambray berufen hatten, so behielt er dennoch ein leitendes Auge für die dortigen Angelegenheiten, und vor Allem für Reginald und Ludwig – er erklärte die Erziehung der beiden jungen Leute für vollendet!

Reginald hatte sein einundzwanzigstes, Ludwig sein zwanzigstes Jahr erreicht; Fenelon fügte als Rath für Beide hinzu, sie nicht zu trennen, sondern vereinigt, wie ihre Herzen waren, sie auch gemeinsam auf Reisen zu schicken. Dieser Vorschlag ward von dem Grafen Crecy und seiner Gemahlin mit vollständiger Zustimmung aufgenommen; – er verschob für den Grafen den gefürchteten Augenblick, den Jüngling Reginald, der unter dem Titel des Chevalier de Ste. Roche, als sein Mündel, bis jetzt noch von jeder Nachfrage seiner Verhältnisse abgehalten war, zu einem neuen Lebensabschnitte geführt zu sehen, der die fast nothwendige Frage enthalten mußte, welcher Platz ihm zustehe, in der Welt einzunehmen. Obwol der Graf Crecy einundzwanzig Jahre Zeit gehabt hatte, diesen Augenblick zu überlegen, so hatte er ihn doch, seinem Karakter gemäß, heranschleichen lassen, ohne für seine Anfrage eine Antwort finden zu können; und gänzlich beruhigt durch die Freigebigkeit, mit der er beide junge Leute gleichmäßig ausstattete, war er sich nur bewußt, diese sorglose Freiheit des Reichthums ihm erhalten [1] zu wollen, die nöthige Form, in der sie ihm zu erhalten wäre, von seinem alten Troste, dem Zufall, erwartend. – Wir müssen annehmen, daß seine Gemahlin ebenfalls Gründe hatte, sich mit Fenelons Rath einverstanden zu erklären, da wir ihr großes Vertrauen zu ihrem ehemaligen Lehrer kennen; doch hatte die geheime Geschichte der zurückgelegten zwanzig Jahre, bis auf einige Punkte, sie der Wahrheit immer näher geführt, und sie in Reginald einen Anspruch an ihren Gemahl anerkennen lassen, den sie leise zu schützen und zu fördern suchte, und dies unbezweifelt aus einem Triebe ihres Edelmuthes; aber – wir müssen es gestehen – zugleich auch, um sich dadurch jede mögliche Erklärung oder Rechtfertigung abzuhalten; denn hier fühlte sie beständig die Grenze ihrer Selbstbeherrschung. Sie zitterte sogar vor sich selbst bei dem Gedanken, dies unglückselige Geheimniß wirklich zu kennen, und sie war zweifelhaft, ob sie es ferner dann in Reginalds Erscheinung werde ertragen können oder dürfen; da ihre Vermuthungen nie so weit gingen, die Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche zu ahnen.

So hatte denn der Graf Crecy volle Freiheit, die Dinge sich von selbst machen zu lassen, und fand sich sogar überall von seiner. Gemahlin hierin unterstützt.

Die auffallende Thatsache, daß Reginald den Namen der besonders dem Grafen gehörenden Besitzung Ste. Roche führte, schien ihr nie auffallend. Sie zählte Reginald so bestimmt zu ihrem Hausstande, nahm so fest an, daß jene Besitzung ihm gehöre, ohne diese merkwürdige Annahme je entschieden auszusprechen, daß damit viele andere Nachfragen, nach den Eltern oder den Berechtigungen Reginalds, von selbst wegfielen.

Auch mußte die Marschallin von Crecy bei diesen Verfügungen, die sie anfänglich mit dem größten Zorn erfüllten, da sie ihr den unberechtigten Jüngling, dessen größeres Recht sie hartnäckig vor sich läugnete, viel zu sehr begünstigten, endlich [2] verstummen. Denn nachdem ihre Schwiegertochter jede Anregung darüber überhört hatte, traf sie bei einem direkteren Angriffe hier auf einen so maaßlosen Ausbruch von Zorn und Heftigkeit, mit so drohenden Aeußerungen verbunden, daß sie schnell einsah, eine deutlichere Erklärung würde die Gemahlin ihres Sohnes zu den äußersten Schritten treiben, – sie würde sogar glauben, sie thun zu müssen – und die Marschallin hatte kaum noch Zeit, indem sie jede erfahrene persönliche Beleidigung der Erzürnten übersah, beschwichtigend einzuschreiten, wodurch die junge Gräfin nun auch von dieser Seite völlig Ruhe bekam. – Mit zarter Hand hatte Fenelon dagegen seine edle Schülerin in dieser Prüfung zu leiten und zu schützen gesucht; selbst die Beichte hatte nie den Namen für das Geheimniß des belasteten Herzens aufgedeckt; allgemein war das Vertrauen des tief wohnenden Schmerzes, allgemein der Trost des würdigen Freundes! Beide kannten sich vollständig, und es fehlte ihnen in dieser schonenden Form nicht an ausreichendem Verständniß. –

Nur der Gegenstand so vieler Vorsicht und Selbstüberwindung blieb völlig unbefangen und sorglos, diesen Verhältnissen gegenüber. Er sah sich als eine Waise an, dessen Eltern der Graf Crecy gekannt, und daher sein Vormund und Verwalter seines Vermögens, wofür er die Besitzung Ste. Roche hielt, deren Namen er trug, geworden war. Mit kindlicher Liebe hing er an dem Grafen Crecy, aber fast noch mehr an der Gräfin; denn das düstere, gedrückte Wesen seines Vormundes paßte viel weniger zu seinem raschen, glühenden Feuergeiste, als der lebhafte Geist der Gräfin. Auch liebte die Gräfin ihn wirklich; sie liebte ihn mit der schönen Unparteilichkeit, die sie seine seltenen Fähigkeiten erkennen ließ; sie liebte ihn zugleich als den Freund, als den Beschützer ihres eigenen Sohnes, der mit einer zarteren physischen Bildung, auch geringere geistige Gaben besaß.

[3]

Dieser Jüngling lebte nur von der befruchtenden Glut seines geliebten Reginald; er ward ergänzt, getragen, belebt durch ihn, und seine scharfblickende Mutter sah bald den ganzen Vortheil dieser innigen Verbindung, und war Reginald in der Stille dankbar für einen Dienst, den jener nicht ahnte, und den beide Jünglinge durch ihre innige Zuneigung für einander sich bezahlten.

Nur ein Wesen gab es in dieser friedlichen Ausgleichung, welches, jedem friedlichen Zustande zürnend, am wenigsten ihn einem Hause gönnte, dem es grollend gegenüber blieb – es war der Marquis de Souvré, welcher trotz Alles, was er erreicht, sich doch noch nicht genug gethan hatte und nie das Auge von der Hoffnung abwendete, mit einem plötzlichen Schlage die Mine, die, von Allen so sorgfältig verdeckt, dennoch unter ihren Füßen weglief, dereinst in die Luft sprengen zu können. Er war, wie zu erwarten stand, durch zunehmende Jahre nur verhärteter und böswilliger geworden; von tausend ehrgeizigen Plänen verscheucht, verachtete er Alles, was er erreicht, um seine vollständige Bitterkeit gegen die Welt fortsetzen zu können. Er rächte sich für jede ihm fehlgeschlagene Absicht an der ganzen Summe der menschlichen Gesellschaft; das Individuum galt ihm fast gleich; denn jedes Gelingen beleidigte ihn, und er trat demselben entgegen, so viel es möglich zu machen war. Ja, dies ward nach und nach eine größere Beschäftigung für ihn, als seine eignen Angelegenheiten, da er, ohne es sich einzugestehen, den Fluch der Sünde erfuhr, gegen alle erstrebten Vortheile mit Gleichgültigkeit und Ekel erfüllt zu sein.

Seit dem Tode der Königin machte er Madame de Maintenon den Hof und gehörte zu ihrem kleinen Zirkel, hier eben so, wie früher bei Madame Henriette und der Königin, gefürchtet und geschont. Er hatte den heiligen Geistorden und den Kammerherrn-Schlüssel, und Ludwig der Vierzehnte verfehlte [4] niemals, wenn er ihn sah, zu sagen: »Was hat uns unser geistreicher Herr Marquis mitzutheilen?« Er mußte sich selbst eingestehen, er werde es schwerlich höher treiben, und deshalb gewann sein Karakter in der angedeuteten Richtung Stärke und Dauer, und die Menschen blieben ein tief von ihm verachtetes Werkzeug, mit dem er sich herabließ, nach Laune und Willkür zu spielen. Wir werden begreifen, daß der Marquis de Souvré aus dem Leben gemacht hatte, was er als seinen Inhalt annahm, und daß seine ganze Erfahrung eine fortgesetzte Bestätigung dieser Annahme schien. – Nur einen Punkt in seinem Leben gab es, an den er nie ohne ein unfreiwilliges Erschrecken denken konnte; – es war die Erscheinung Fennimors! – Wie sehr er sich auch bemüht hatte, ihre wunderbare Ueberlegenheit zu verläugnen, sie gering zu schätzen, sie zu bespötteln und zu verachten, es zeigte sich Alles unzureichend, wenn in unbewachten Stunden der Augenblick vor ihm auftauchte, wo sie vor ihm stand, wie ein leuchtender Engel mit dem feurigen Schwerte der Gerechtigkeit, und mit ihrem erhabenen Mitleiden und religiösen Grauen ihm ein Bild seines eigenen Zustandes vorhielt, in dem er sich, überwältigt von der furchtbaren Gewalt der Wahrheit, erkannt hatte, und vor dem ihn eine stets geläugnete Ueberzeugung seiner Verworfenheit ergriffen hatte. Er erlebte, ohne es hindern zu können, die Strafe, sich an jedes Wort, jeden Zug ihres Gesichtes, jede Bewegung erinnern zu können. Er mußte der Erscheinung in seinem Innern, wie gefesselt stille stehen; er hörte den Ton ihrer Stimme, er mußte sie begleiten, bis sie vor seinen Augen, wie er damals glaubte, starb. Er hatte nie Aehnliches erlebt – dieser Tod hatte ihn nicht befriedigt, nicht an ihr gerächt; es schien umgekehrt – er lag wie eine Rache, die er erlitten, in seiner Seele. – Er selbst war von diesem Platze entflohen, von einer Macht in die Flucht geschlagen, die stärker war, als er; er nahm die ganze [5] Last einer Verwerfung und Herabwürdigung mit sich, die er nie zu erleiden gedacht, und er nahm sie mit, ohne sich seiner Empfindung nach gerächt zu haben. Kam Souvré Jahrelang nachher an diesen Punkt seiner Erinnerung, fuhr er in die Luft, wie von dem giftigen Bisse eines Skorpions verletzt. Er konnte es kaum fassen! Da es aber dasselbe blieb in seiner Ueberzeugung, warf er prüfend den Blick umher und suchte den Gegner zu entdecken, der mit diesem unverscheuchbaren Eindrucke seiner Seele zusammen hing. Er fand ihn nur zu bald in dem Hoheit blickenden Jüngling mit den tief blauen Augen und dem braunen, goldbesäumten Heiligenscheine seines Lockenhaares. Wenn dieser Jüngling, der ihn beständig reizte, alle Dämonen seines frivolen Geistes spielen zu lassen, ihn dann plötzlich ernst und ruhig anblickte, fühlte er den Blitz, den Fennimor einst über ihn entzündete; und wenn er ihn hassend und zürnend doch selbst zu locken schien, als ob der Dämon in ihm unter den Augen dieses Jünglings in Zuckungen verfiele, so gelobte er sich eben so oft, diese einzige Gewalt seines Lebens, die ihm ungebeugt gegenüber gestanden, sollte dennoch von ihm gebrochen werden.

Dies blieb auch das wohl befestigte Band zwischen ihm und der Marschallin von Crecy. Beide waren auf der Geistesbahn, die sie erwählt, nicht stehen geblieben. Bitter grollend stand die Marschallin, eben wie Souvré, der Welt gegenüber, die es gewagt, statt siegreichen Gelingens, ihr so viel gescheiterte Pläne und Wünsche zu geben. – Obwol jetzt in hohem Alter, hatte sie noch keine Schwächen desselben zu erleiden; und verknöchert in den Formen ihres Hofdienstes, schien sie fast dieselbe zu bleiben. Aber wo war der Glanz ihres Hauses, den ihr Sohn um jeden Preis aufrecht erhalten sollte? Niemals hatte derselbe seinen Hofplatz wieder eingenommen, also auch sein Ansehen in den Zirkeln, die sie einst beherrschte, [6] nie wieder erlangt. Seit dem Tode der Königin lebte ihre Schwiegertochter ebenfalls ganz vom Hofe entfernt; und da Leonin dem Marschalle von Louxembourg nicht wieder in den Krieg gefolgt war, setzten Beide ein, wie es der Marschallin schien, höchst unwürdiges Privatleben fort, das sie vergeblich zu verändern getrachtet hatte und nur von Zeit zu Zeit wieder zu stören versuchte, um mit derselben beleidigenden Ueberzeugung sich zurück zu ziehen, daß ihr Einfluß hier an dem finster grollenden Eigensinne ihres Sohnes und der kalten Ruhe ihrer Schwiegertochter scheitern müsse. Dessen ungeachtet entzogen sich Beide der Geselligkeit in dem Hause der Marschallin nicht, und scheinbar blieb das vollkommenste Einverständniß. Aber wenn die Marschallin, von immerwährender Mißbilligung gereizt, bedachte, wem sie das Scheitern aller ihrer ehrgeizigen Pläne danke, dann kam sie scharfsichtig kombinirend endlich zu dem kleinen, unscheinbaren Punkte, den sie so tief verachtet, so leicht zu erdrücken dachte, wie den Wurm unter ihrem Fuße – Fennimor, dies unberechtigte, geringe Wesen, dessen Ansprüche ihr kaum der Widerlegung werth geschienen, hatte doch mit seinem unbedeutenden Leben den Boden untergraben, auf dem sie fest zu stehen glaubte; und sterbend noch schien sie die Rache, alle Pläne umzustürzen, die auf ihren Untergang berechnet waren, vollführt zu haben. Von Leonin's Flucht bei der Nachricht ihres Sterbens, mußte die Marschallin den Verfall des Glanzes ihres Hauses herrechnen. Wenn sie an den Morgen des Tauftages dachte, mußte sie sich sagen, daß ihr Herz, in stolzer Befriedigung schwellend, ihr fast die Brust beklemmt habe; und wenige Stunden nachher war Alles in einem Grade verändert, den sie in ihren Verhältnissen für unmöglich gehalten hatte.

Wir haben hier noch einmal die Veranlassungen zu ihrem Gemüthszustande berührt, um uns dann um so deutlicher denken zu können, mit welchen Empfindungen sie Reginald, mit dem [7] beleidigenden Zunamen Ste. Roche, ansehen mußte, der, wenn ihm auch sein wahrer Name damit geraubt war, dennoch eine Begünstigung schien, gegen die sie noch immer Vertilgungsmittel in ihrem Geiste aufsuchte, nie die Hoffnung aufgebend, ihn aus Berechtigungen zu verdrängen, durch welche sie ihr Haus für beschimpft hielt.

So viel als möglich, leugnete sie seine Gegenwart ganz. Sie hatte eine Weise, über ihn wegzublicken, ihn nie zu hören, jede Anregung Anderer hinzunehmen, als sei sie auf diesem Punkte taub und blind, daß es bis jetzt unmöglich geblieben war, den jungen Mann ihr vorzustellen, wodurch sie jede Ermuthigung verhinderte, und ihr die Freiheit gesichert schien, einnie anerkanntes Verhältniß zur gelegenen Stunde mit unvergebener Stärke angreifen zu können.

Dessen ungeachtet ward es ihr nicht erspart, den Jüngling so oft, als ihren angebeteten Enkel sehen zu müssen. Da die jungen Leute an keiner Gesellschaft Theil nahmen, war es nur der Mittagskreis beim Grafen Crecy, in welchem sie zu gewissen Tagen erscheinen durften, und wo sie nur die nächsten Freunde und Verwandte fanden, und welche Tage die Marschallin zuletzt nicht mehr versäumte, um sich mit Uebergehung Reginald's an ihrem Enkel zu entzücken.

So bitter nun Souvré selbst den Chevalier de Ste. Roche haßte, so war ihm doch seine Gegenwart ein unendliches Ergötzen, der stolzen Marschallin gegenüber; und er hatte tausend kleine Kunstgriffe, um die feste Stellung seiner geehrten Freundin zu erschüttern oder das Maaß des Unwillens, woran sie zehrte, zu vermehren.

Auch war Reginald selbst wie dazu geschaffen, diesen bösen Willen zu unterstützen; denn es gab kein freieres, sorgloseres Betragen als das seinige. Er übersah jede Unfreundlichkeit; denn er hielt sie für unmöglich. Kein Zug seines Gesichtes [8] oder seines Karakters erinnerte an seinen Vater; er war das vollständigste Bild seiner Mutter. Sein Anstand war so ausgezeichnet, daß er Jedem eine Art Erstaunen einflößte; seine bezaubernde Höflichkeit, die von einem seelenvollen Ausdrucke der Güte unterstützt ward, machte auf die ältesten und vornehmsten Personen einen Eindruck, der sie unwillkürlich jede seiner Aeußerungen mit einer Art Verbindlichkeit aufnehmen ließ. Ohne daß man nachweisen konnte, wie es geschah, nahm er bald überall einen ausgezeichneten Platz ein. Es war kein Zug von Anmaßung in ihm; aber seine Unbefangenheit ließ ihn den Platz einnehmen, der ihm eingeräumt ward. Er hatte die unschuldige Freude der Entwicklung und schien seine jungen Kräfte auf jedem Platze mit Lust und Frische zu prüfen. So ergriff er auch mit einer rührenden Wärme und Hingebung das Verhältniß zu der Gemahlin des Grafen Crecy und zu dem jungen Grafen Ludwig. Er nahm mit der sicheren Voraussetzung ihrer Liebe, ihr Vertraun, ihre Theilnahme in Anspruch, und gab dafür mit reichen Händen Alles, was er selbst besaß. Beide junge Leute waren unzertrennlich; Ludwig betete seinen jungen Freund an, und Viktorine wußte, daß dies Gefühl bei ihm stärker sei, wie bei Reginald; denn sie hatte längst erkannt, daß dieser sie am meisten liebe. Ebenso war Reginald im Kloster bei seinen Lehrern und Erziehern besonders ausgezeichnet; er war ihr Stolz, ihr Triumph. Die jungen Leute aus der Fremde, besonders aus England, aus den vornehmen Familien, die mit den Stuarts sich verbannt hatten, und von denen einige den Vorzug erlangten, ihre Söhne den berühmten Mönchen von St. Sulpice anvertrauen zu dürfen, fanden alle in dem jungen Chevalier de Ste. Roche ein Vorbild, dem sie sich anschlossen. Seine Ueberlegenheit stützte sie Alle, und ihr ganzes Leben unter seiner heitern und doch so edeln und sittlich festen Leitung fand Genuß, ohne Tadel zu erwecken.

[9] Als die Marschallin von Crecy die Absicht erfuhr, beide junge Leute auf Reisen zu schicken, that sie noch ein Mal Alles, was ihr an Macht im Hause ihres Sohnes zustand, um diese unbegreifliche Unschicklichkeit zu hindern. Aber sie drang auch dies Mal nicht durch und entschloß sich endlich, diesen Gegenstand fallen zu lassen, um einen anderen, ihr wichtigeren verfolgen zu können.

Sie fand nämlich bei der sorglosen und unwürdigen Art, wie beide Eltern die höchst wichtigen Verhältnisse ihrer Familie vertraten, daß sie in ihrem Enkel, so viel es noch die ihr zugetheilten Lebensjahre zuließen, retten und schützen müsse, was ihm dereinst zur vollen Aufrichtung des alten Glanzes dieses Hauses behülflich werden könne; und dazu hielt sie eine Vermählung für das geeignetste Mittel. Die Gräfin La Fajette half aus eignem Familienstolze diese Wünsche unterstützen. Ihre Tochter, die Gräfin d'Aubaine, die Freundin Louise de Crecy's, der jetzigen Marquise d'Anville, hatte glücklicher wie Louise, welche mehrere Kinder verloren und erst jetzt zwei kleine Knaben heraufzog, drei blühende Kinder, einen Sohn, den Aeltesten der Familie, und zwei hold heranblühende Töchter, von denen die älteste, Franziska, diejenige war, welche die Marschallin ihrem Enkel bestimmte. Dieser Plan fand bei den Eltern des jungen Ludwigs keinen Widerspruch; doch verlangte die Gräfin Crecy, daß keine Vorherbestimmungen statt finden sollten, den jungen Leuten freie Wahl bleiben müsse, und keine Kenntniß dieser elterlichen Wünsche ihnen die nöthige Unbefangenheit rauben solle. Diesen Bedingungen gab die Marschallin mit stolzer Geringschätzung nach und verfügte, daß die Reise, die nunmehr festgesetzt ward, mit einem Besuche bei Louise auf dem Schlosse Arconville, und mit deren Familie vereinigt, alsdann bei dem Grafen d'Aubaine in Ardoise, anfangen solle. Bis dorthin sollte der Marquis de Souvré die jungen Leute begleiten; [10] dann sollten sie sich zuerst nach England und Schottland begeben, und zwar in Gesellschaft eines Freundes aus dem Collège von St. Sulpice, der, obwol bedeutend älter, als beide Jünglinge, doch mit dieser Reise eine Zugabe seiner für vollendet erklärten Erziehung zu machen wünschte und in dieser Zeit der zärtlichste Freund Reginald's ward. – Der Tod seines Vaters, der ihn zum Lord Duncan-Leithmorin gemacht, forderte seine Rückkehr nach England, wohin ihn die Freunde, mit Einwilligung des Grafen und der Gräfin Crecy, zu begleiten versprochen hatten.

Mit musterhafter Standhaftigkeit ertrug die Gräfin Crecy den Abschied von ihren beiden Lieblingen; denn ihre schnell herabgekommene Gesundheit gab ihr eine schmerzliche Ahnung, daß diese Trennung für immer sein würde. Aber wie sie ihren Sohn aus ihren Armen ließ, legte sie Reginald's Hand in die seinige, und indem sie Beide segnete, sagte sie: »Reginald, Sie werden meinem Sohne ein treuer, liebevoller Freund sein – ich vertraue Ihnen mit vollster Zuversicht die zartere Natur meines theuern Sohnes.«

Mit welchen Gefühlen kniete Reginald da vor der Frau nieder, die er am meisten liebte, und sah sie mit glühendem Antlitze an – wollte ihr antworten – und hatte Nichts, als feurige Thränen, die er ihr nicht verbarg! Sie verstand ihn, bog sich nieder und küßte mütterlich seine Stirn.

Beide traten ihre verhängnißvolle Reise an. Wir finden die jungen Leute erst in Ardoise wieder, wo sie in dem Kreise junger liebenswürdiger Gefährten den vollen Reiz der Jugend kennen lernten. Die Marquise d'Anville und ihr Gemahl, der Graf und die Gräfin d'Aubaine waren so vom Glücke begünstigt, so heiter und sorglos, daß sie noch jünger erschienen, als ihre Jahre angaben; und begünstigt von der Freiheit eines ländlichen Aufenthaltes, theilten sie das fröhliche Leben ihrer Kinder und [11] erhöhten dadurch ihre Freude. Der junge Graf d'Aubaine hatte sein zwanzigstes Jahr vollendet, die Gräfin Franziska trat ihren sechzehnten Sommer an, und eine vierzehnjährige Schwester war das Schooßkind Aller, der Armand und Leonce, die kleinen Knaben der Marquise d'Anville, sich anschlossen. Außerdem zogen liebe Gäste aus und ein. Der junge Lord Duncan ward von Allen zur Familie gerechnet, und er fühlte sich hier um so weniger fremd, als er zwei liebenswürdige Landsmänninnen fand. Gegen den Vater der einen, einer Miß Lester, der jüngeren Tochter eines Geistlichen, hatte Graf d'Aubaine eine Verpflichtung der Dankbarkeit; da der würdige Mann ihm bei seinen Reisen durch England in einer gefährlichen Krankheit durch treue Pflege das Leben gerettet hatte. Sie blieben von da an in immerwährendem Briefwechsel, und der würdige Herr Lester entschloß sich endlich, den Wunsch des Grafen d'Aubaine zu erfüllen und seine geliebte Margarith, die mit Franziska in einem Alter war, auf einige Zeit nach Frankreich zu schicken. Dies geschah in Begleitung einer Miß Ellen Gray, die als Pflegekind mit Margarith erzogen ward, und, bedeutend älter, ihr eine Art Schutz werden sollte.

Nur zu schnell verflossen hier ein Paar der glücklichsten Monate, und fast Alle fühlten sich überrascht, als der Moment da war, der die lange festgesetzte Trennung forderte.

Aber man trennte sich nicht, wie man sich zusammen gefunden hatte. Das Loos war geworfen. In dem heiteren Reigen der Jugend, in dem scherzenden Vertändeln der Stunden, in einer Lebenszeit, die den Ernst und die Wichtigkeit desselben in den Hintergrund drängt, hatte doch Jeder unbewußt das Loos empfangen, was über seine Zukunft entschied; und erst, als die Stunde der Trennung schlug, erkannten die Betheiligten, was sie erlebt!

Auch hier hatte Reginald den ersten Platz eingenommen. Wie mit Zauber lenkte er die Gemüther! Nicht allein die Jugend [12] hing ihm in Allem vertrauend an, selbst die Aeltern theilten dies Gefühl. Jauchzend, voll Jugendlust flog Reginald, jeder Anforderung genügend, von einem Platze zum anderen. Jede körperliche Geschicklichkeit, nicht für ihn allein, für alle Anderen ausreichend, führte ihn in das Interesse eines jeden Anwesenden. Seine Schönheit schien hier noch eine neue Entwicklung zu erfahren; es trat jenes bezaubernde, glühende Feuer hervor, welches das erste Stadium der Jugend überschritten anzeigt, und jeden Blick, jede Bewegung zu einer kühnen Herausforderung an das Leben macht, gegen dessen geheimnißvollen Inhalt eine zürnende Begierde hervortritt, die sich des Streites mit ihm zu erfreuen denkt; und ohne daß er es wußte, jagte sich der kindlichste Witz mit der glänzendsten Fülle der Gedanken und Gefühle über seine Lippen. – Fenelon's Schüler hatte Unterricht erhalten, der seine Geistesfähigkeit frei entwickelt hatte – und ihr Zweck und Ordnung gegeben, die ihm schon jetzt ein Resumé von Bildung gab, das der Jugend oft so schwer wird, aus wüst eingehandelten Kenntnissen zu gewinnen, die nur zu oft ein ganzes Leben hindurch einen beschwerten Zustand zurücklassen, der sich vergeblich auf das mühsam gesammelte Material stützt, das doch nicht Bildung werden will. Hiervon war Nichts in Reginald; von der todten Masse der Eingangsform schon erlöst, hauchte das Wissen sein geistiges Fluidum in ihm aus und belebte und erzeugte das Gegebene zu eigener Gestaltung; der Nachweis fand sich in seinen entwickelten Gedanken, nicht in Jahreszahlen und Namensregister.

Louise und ihr Gemahl ahnten sein besonderes Verhältniß zu ihrer Familie; die merkwürdige Dotation von Ste. Roche mußten sie nothwendig darauf führen. Alle Uebrigen kannten diesen Umstand nicht; und die Besitzung Ste. Roche, die fast nie als Crecy'sches Eigenthum genannt ward, schien selbst dem Grafen d'Aubaine unbekannt, in dessen Nähe sie lag; es wurde [13] ihm daher leicht, den jungen Mann als Besitzer anzuerkennen, da Graf Crecy, als Vormund, ihn unter diesem Titel ihm empfahl. Doch wurde er Veranlassung, daß Reginald selbst darauf aufmerksam ward; und ohne über die auffallende Art nachzudenken, mit der sein Vormund ihm die Nähe seiner angestammten Besitzung verschwiegen hatte, sprach er seinen Wunsch aus, sie kennen zu lernen. Graf d'Aubaine unterstützte dies um so mehr, da eine der jungen Engländerinnen, Miß Ellen Gray, sich verpflichtet fühlte, ihre Mutter aufzusuchen, die, aus unbekannten Gründen, dort ihren Aufenthalt hatte; was es für sie sehr wünschenswerth machte, die Reise unter Reginald's Schutz anzutreten. Doch hier schritt der Marquis de Souvré auf das Entschiedenste ein. Er erklärte diesen Besuch ganz gegen den bestimmten Reiseplan, für den er, wenigstens so lange sie auf französischem Boden wären, einzustehen habe; und Reginald, der stets eine ehrerbietige Nachgiebigkeit gegen Aeltere hatte, fügte sich in diesen Ausspruch.

Miß Ellen Gray reiste daher allein nach Ste. Roche ab, und Reginald schob die Besichtigung seiner Besitzung bis zur Beendigung seiner Reise auf, indem er sich von Ellen, die noch vor seiner Abreise zurückzukehren hoffte, versprechen ließ, recht Viel davon zu erzählen; da er es sehr wünschte, damit die frühesten Eindrücke seiner Kindheit aufzufrischen, die ihm immer einen reizenden Aufenthalt in Mitten eines Waldes vorspiegelten, wo er an einem seltsamen Schlosse kleine Treppen erklettert war, die um einen Thurm liefen, von einer alten Frau behütet, welche ihm dann schöne Früchte schenkte.

Auch traf Miß Ellen Gray einen Tag vor der Abreise der jungen Leute in Ardoise wieder ein, wie es schien, wenig befriedigt von ihrem Aufenthalte; da Mistreß Gray, ihre Mutter, keine Freude bei ihrem Wiedersehen gezeigt hatte und mehr ihre Abreise, als ihr längeres Bleiben zu betreiben schien. Auffallend[14] war es, wie der Marquis de Souvré Miß Gray bei ihrer Ankunft ausschließlich in Anspruch nahm und die kleine, unbedeutende, gebrochen französisch sprechende Miß Gray zum Gegenstand einer Aufmerksamkeit machte, als habe er erst jetzt ihr Verdienst erkannt und sie damit zu gleicher Zeit zu seiner ausschließlichen Gefährtin erhoben. Es ging aber aus dieser besonderen Auszeichnung natürlich hervor, daß er überall in ihrer Nähe blieb und ihr ziemlich ungeschicktes Bestreben, sich Reginald zu nähern, abzuwähren wußte. Doch scheiterte der Marquis endlich mit seiner ganzen Feinheit an der listigen Beobachtungsgabe dieses etwas derben und dreisten Mädchens, die sehr bald, seine Aufmerksamkeiten für Spott und Hohn haltend und bloß die Absicht darin sehend, sie von ihren jungen Freunden zu trennen, ihm den Streich spielte, während einer kurzen Unterredung des Marquis mit einem Anderen, ihm zu entwischen, ohne Bedenken zu Reginald hinzulaufen, ihn mit sich nach der Bibliothek zu ziehen und diese eilig hinter sich zu verschließen. »O hört, hört, ehe der listige Mann mir wieder nachrückt!« rief sie athemlos; »meine Mutter ist die alte Frau, die Euch in Eurer Jugend pflegte; sie beschwört Euch, nicht abzureisen, ehe Ihr nach Ste. Roche gekommen seid; – sie hat Euch ein großes, wichtiges Geheimniß zu entdecken, von dem Euer ganzes Lebensglück abhängt. Aber Ihr müßtet selbst kommen – und solltet Euch um Gotteswillen vor dem abscheulichen Marquis de Souvré hüten; denn er habe Eure Aeltern ins Unglück gestürzt!«

Reginald blickte das kleine, hastige Mädchen, das so unweiblich lebhaft und übereilt ihm ihre Mittheilungen machte, mit einem nicht zu beherrschenden Ausdrucke von Mißbehagen an, und es ward ihm fast unmöglich, darauf einzugehen. Sie waren so geheimnißvoll, Argwohn erregend, daß sie ihn aus seiner ganzen bisherigen Stellung und Gemüthsstimmung zu [15] reißen drohten, wenn er ihnen Glauben schenkte. Er, der bis zu diesem Augenblicke das Mißtrauen nur dem Namen nach kannte, konnte es unmöglich durch diese Mittheilungen in sich aufnehmen. Er hörte daher nur höflich zu, ohne die Alteration des jungen Mädchens theilen zu können, und bat sie endlich, ihre Mutter von der Unmöglichkeit zu unterrichten, jetzt nach Ste. Roche kommen zu können; da die Abreise nach England für den andern Morgen festgesetzt sei, und es nicht mehr in seiner Macht stehe, dies abzuändern. Bei seiner Rückkehr werde er dagegen den Besuch von Ste. Roche als eine Pflicht ansehen und sich dann sehr freuen, seine alte Pflegerin wiederzusehen.

Ellen Gray hatte einen Anlauf zu ihren Mittheilungen genommen, der ihr vollständig durch die Wichtigkeit, die sie denselben beilegte, gerechtfertigt schien; jetzt sah sie sie ziemlich kalt und ohne das erwartete Erstaunen aufgenommen. Sie fühlte sich dadurch beschämt und ward bei ihrem empfindlichen Karakter sehr beleidigt.

»Ganz nach Ihrem Belieben, mein Herr!« sagte sie, hochroth werdend; »ich habe bloß meine Schuldigkeit gethan, bloß den Befehl meiner Mutter erfüllt, die allerdings klüger scheint, als manche anderen Leute, und durch ihre Jahre wohl berechtigt, Dinge zu wissen, von denen die Jugend sich Nichts träumen läßt. Jetzt muß ich überdies sehr um Verzeihung bitten; denn ich habe noch die letzten Stunden mit Gräfin Franziska gestört.«

Vergeblich war Reginald bemüht, die Beleidigte aufzuhalten oder zu versöhnen. Sie enteilte, ihn empfindlich grüßend, und hatte die Gesellschaft erreicht, ehe der Marquis ihre kurze Abwesenheit inne ward.

Dagegen müssen wir gestehen, daß Reginald von dem ganzen Zusammensein mit Miß Gray nichts behalten hatte, als ihre letzten Worte. Das Nahen der Abreise hatte sein Herz [16] erfaßt und die Ueberzeugung, Franziska d'Aubaine mit allen Kräften seiner Seele innig zu lieben, bestätigt. Seit diesem Morgen ihrer Gegenliebe gewiß, trug er in seinem hochschwellenden Busen das höchste Glück, bedroht von dem Schmerze der nahen Trennung! – Es war kein Augenblick, sein Interesse in Anspruch zu nehmen für eine trübe, Argwohn erweckende Richtung. Viel näher lag es ihm, dem Grafen d'Aubaine in die Arme zu eilen und um seine Tochter öffentlich zu werben; aber seine Jugend machte ihn schüchtern; er hielt sich des Glückes nicht werth, das er begehrte – er wollte durch Reisen entwickelter werden und dann seine Stellung zu erheben suchen für den Anspruch, den sein Herz machte. Auch war dies die Bitte der von ihren Gefühlen überraschten, kindlichen Franziska; und sie entschied über ein Schweigen, so heilig und süß, wie die Andacht ihrer unschuldigen Herzen!

So verließen die jungen Leute, in Gesellschaft Lord Duncan's, Ardoise, das sie erst nach zwei Jahren wiedersehen sollten; und wir müssen es gestehen, alle Drei das Bild der schönen Franziska d'Aubaine im Herzen tragend.

Der Marquis de Souvré aber eilte nach Paris zurück.

»Madame,« sagte er zur Marschallin von Crecy, »Ihr Enkel hat mir seine Liebe zur jungen Gräfin d'Aubaine gestanden und ist entzückt über die Pläne seiner Großmutter.«

Er hielt inne und ließ sie erst den Triumph verrathen, den das Gelingen ihres Planes ihr machte – dann fuhr er fort: »Doch, wie überall, steht auch hier der Chevalier de Ste. Roche im Wege – entschieden war der Vorzug, den die junge Dame dem sterblich in sie verliebten jungen Manne gab, und der Zufall machte mich zum Zeugen ihrer gegenseitigen Liebeserklärung.«

Mit verbindlichem Lächeln beobachtete er das aschfarbene Erbleichen der Marschallin, welches plötzlich, durch die Schminke durch, sich in glühende Röthe verwandelte.

[17] »Und Sie – Sie ließen das zu?« stotterte sie endlich.

»Ich kannte Ihre Absichten nicht – ich fürchtete voreilig zu sein!« erwiederte Souvré lächelnd.

Die Marschallin verstand vollkommen seine Absicht und war schnell gefaßt. »Sie hatten Recht, Marquis,« sagte sie ruhig, »ich werde Alles selbst ordnen und darf um so weniger an dem Gelingen zweifeln, da es nicht die erste Angelegenheit ist, die ich nach meinem Willen lenkte.«

»Ohne Zweifel werden Euer Gnaden es ganz in Ihrer Willkür haben,« erwiederte Souvré verbindlich, »wenn man an das glänzende Beispiel denkt, welches das Schicksal Ihres Herrn Sohnes darüber zum Belege führt.«

Ein glühender Blick bitteren Hasses fuhr aus den Augen der Marschallin. Aber sie durfte Souvré nicht verstehen, um nicht noch mehr in Nachtheil zu kommen; und wünschte auch zu lebhaft, von den Vorfällen in Ardoise unterrichtet zu werden, um ihren böswilligen Vertrauten nicht schonen zu wollen.

Sie erfuhr nun den glänzenden Eindruck, den Reginald in Ardoise hervorgebracht, ohne alle Schonung und Milderung, und eben so auch die Anwesenheit der beiden jungen Engländerinnen, die, in einem gefährlichen Zusammenbange mit der Bewohnerin von Ste. Roche stehend, ihr eine nicht ungegründete Besorgniß einflößten; doch, bevor noch der Marquis seine Erzählung geendet, hatte die Marschallin ihren Plan entworfen, dessen Resultat uns nicht erspart bleiben wird.


* * *


Ein Jahr nach der Abreise ihres Sohnes blieb über den Zustand der Gräfin Crecy kein Zweifel mehr, und das Frühjahr des zweiten Jahres senkte die ausgezeichnete und edle Frau in ihr frühes Grab. Ihre Aeltern waren ihr Beide vorangegangen, [18] und sie hatte in der Marschallin nie einen andern Anspruch anerkannt, als den der äußeren Sitte. Ihr Gemahl betrauerte sie mit der ganzen düsteren Melancholie eines Gemüthes, das sich kaum das Recht zugesteht, was den Schmerz selbst zu einem süßen Eigenthume machen kann. Fenelon hatte ihre letzten Stunden beseligt und den Athemzug gehört, der sie vom Leben trennte; er hatte keine Thräne für die Verklärte – begeistert schaute er ihr nach! Eine süße Befriedigung lag in dem Glauben, daß sie ihn jetzt ganz erkennen werde – und er schmückte seine Seele mit Frieden und Seligkeit, um würdig zu sein, wenn sie sich zu ihm nieder neige.

Der Schmerz der Abwesenden war groß – und mit der ganzen Energie der Jugend hielten sie ihn fest, und übertrugen ihn lange auf alle ihre Zustände.

Der Graf Crecy zog sich in die tiefste Einsamkeit zurück; er ward immer düsterer, menschenscheuer und argwöhnischer; aber die Marschallin fing nach dem Tode seiner Gemahlin wieder an, in ihrem Einflusse zu steigen, und da sie kluger Weise sein Bedürfniß nach Ruhe nicht störte, überließ er ihr die Handhabung der Verhältnisse, die darüber hinausreichten; und so gewann sie das Feld, was sie nöthig hatte.

Mit kluger Umsicht bestimmte sie die Familie d'Aubaine, den Winter am Hofe zu leben; sie hoffte dadurch sowol Franziska, als ihren Aeltern die Weihe für ihre Pläne zu geben und sie den wahren Standpunkt, auf den sie ihr Rang und ihre Ansprüche beriefen, erkennen zu lassen; da sie fürchtete, daß ihr ländlicher Aufenthalt sie etwas den Ansichten entzogen haben könnte, die zu behaupten, ihr die erste Pflicht einer solchen Familie schien. Außerdem mußte dies nothwendig eine Folge haben, die sie sehnlichst wünschte – entweder die beiden englischen Mädchen, deren Rang ihnen keinen Anspruch an die Hofverbindungen der Familie gab, ganz von ihnen trennen und[19] sie nach ihrem Vaterlande zurückführen, oder, im Falle sie dieselben bei sich behielten, doch eine Trennung von ihren Verbindungen in Ste. Roche veranlassen. Dieser letztere Fall trat ein; Miß Lester und Ellen Gray begleiteten die Familie, und es ist leicht zu denken, mit welchen Augen die Marschallin zwei Mädchen betrachtete, die in so naher Verbindung mit dem Schicksale ihres Hauses standen. – Unter diesen Umständen gereichte es ihr zur ungemeinen Erleichterung, daß ihr Sohn sich während des ganzen Winters aller Geselligkeit bestimmt entzog; und wenn sie auch mit Unwillen sah, wie sein Karakter verwilderte, so hatte sie doch immer mehr die Pläne ihres Ehrgeizes in ihm geliebt, als ihn selbst, und indem sie diese auf ihren Enkel übertrug, verlor ihr Sohn, der gewagt sie darin zu betrügen, die Kraft, sie durch seinen Zustand zu kränken.

Nicht ganz so glücklich war sie in Bezug zur Familie d'Aubaine. Nicht, wie sie gehofft, ließ sich dieselbe für das ganze Jahr am Hofe festhalten, sondern bezog, nachdem sie den Sommer auf dem Stammschlosse zugebracht, gegen den Herbst das in jagdreichen Wäldern versteckte Ardoise. Doch hielt der Graf dessen ungeachtet die verabredete Verbindung für abgeschlossen und erlaubte seiner Gemahlin, der Gräfin Franziska die Absichten der Aeltern mitzutheilen.

Betäubt von Schmerz und Schrecken, bis ins tiefste Innere erschüttert, hörte die unglückliche Franziska diese Erklärung, die sie von allen Hoffnungen ihres jungen Herzens für immer zu trennen drohte; und zu aufrichtig und natürlich, um sich beherrschen zu können, erfuhr die Mutter in demselben Augenblicke ihr Geheimniß.

In der Zeit, in welcher diese jungen Leute sich durch ihr Herz wollten leiten lassen, gab es fast keine andere Art ehelicher Verbindung, als die, welche Aeltern unter einander beschlossen, und keine anderen Ueberlegungen, als die dabei zu bedenkenden [20] äußeren Verhältnisse. Nicht Bildung, nicht Güte des Herzens oder Liebe zu den Kindern veränderte dies ruhig geordnete System aller vornehmen Häuser, und die daraus entstehenden Schein-Ehen, die in dem überhandnehmenden Zustande der Sittenlosigkeit der höheren Stände vollkommen Platz fanden und ihre Ausartungen unterstützten, machten Niemanden aufmerksam auf diese gewissenlose Procedur. Hier trat jedoch eine kleine Abweichung ein, die besonders Reginald's Persönlichkeit zuzurechnen war. Beide Aeltern hatten ihn selbst so ausgezeichnet gefunden, daß eine Art von Verstehen mit dem Gefühl ihrer Tochter, eintrat. Sie hätten sich zufrieden gefühlt, wenn Reginald der Graf von Crecy gewesen wäre – und hatten Theilnahme für die Wünsche Franziska's. Es konnte jedoch nur in so fern davon die Rede sein, daß sie erwarten wollten, ob bei der Anwesenheit der beiden jungen Leute, wie aller Familienhäupter, sich eine Auskunft treffen lasse, vorausgesetzt, daß die Familienverhältnisse des ziemlich unbekannten jungen Mannes eine solche Möglichkeit überhaupt denkbar machten. Diese großmüthige Zusicherung der Aeltern, die sie über ihr Jahrhundert erhob, rettete Franziska's Herz vor dem langsam zehrenden Gifte hoffnungsloser Liebe und ließ sie größeres Vertrauen fassen, als es den Aeltern möglich gewesen wäre, erwecken zu wollen.

Die Ankunft der Marschallin von Crecy, die, wie sie vorgab, in Ardoise ihren Enkel empfangen wollte, belebte diese Hoffnungen nicht sehr; denn sie trat sogleich mit der entschiedenen Haltung auf, die ein festgestelltes Verhältniß andeutet, und Franziska fühlte, daß sie von ihr als ihre Enkelin behandelt wurde, als wäre keine Zurückhaltung mehr nöthig.

Die gefaßte Frau übersah den Vortheil, den die Gegenwart ihr bot, fest entschlossen, eben so die Zukunft zu bewachen und keine Störungen mehr zu dulden. Zwei lästige Zugaben waren wenigstens entfernt; Miß Lester war nach England [21] zurückgekehrt, Ellen Gray war als Braut zwar geblieben; aber jetzt bereits mit dem Sohne des verstorbenen Kastellans St. Albans verheirathet. – Dessen ungeachtet begehrte die Marschallin von ihrem Sohne, daß er an Reginald den Befehl schicke, den Grafen Ludwig nicht nach Ardoise zu begleiten, sondern zu ihm nach Paris zu kommen.

Gewiß würde Reginald den Befehl seines Vormundes erfüllt haben, wie schwer es ihm auch in diesem Falle gewesen sein würde; aber die Botschaft des Grafen verfehlte ihn.

Die Sehnsucht, Ardoise zu erreichen, die Beide uneingestanden in gleichem Maaße fühlten, hatte sie ihre Reise so beeilen lassen, daß sie um zwei Tage früher eintrafen, als sie erwartet wurden.

Dieses plötzliche Erscheinen brachte den Plan der Marschallin, durch einen schnellen Abschluß der Verlobung Alle zu überrennen, zuerst aus dem Gleise. Die ganze Sache ward nun in eine natürlichere Bahn geleitet. Franziska und Reginald sahen sich in einem Zeitpunkte der Jugend wieder, wo zwei Jahre Trennung nur vortheilhafte Veränderungen mit sich führen. Erstaunen und Entzücken war der leuchtende Gruß ihrer Augen; – und die Marschallin konnte nicht hindern, daß ein flüchtiges Wort die unveränderte Gesinnung verrieth, welches Franziska, noch von leisen Hoffnungen genährt, anhören durfte.

Aus dem Empfange, der Reginald von der ganzen Familie zu Theil ward, stieg eine unbeschreiblich zürnende, befürchtende Stimmung für die Marschallin auf; und nach einer kurzen Ueberlegung mit dem Marquis de Souvré, der sie begleitet hatte, ließ sie den Vater Franziska's zu sich einladen.

»Graf d'Aubaine,« hob sie sogleich an – »ich habe Ihnen eine Entschuldigung zu machen, indem ich fürchten muß, daß Sie, bei der großen, unbedachtsamen Schwäche des Grafen und der verstorbenen Gräfin Crecy, für den jungen, unberufenen [22] Menschen, den Sie Chevalier Ste. Roche nannten, mich beargwöhnen könnten, ich mache mich derselben theilhaft, indem ich seine Anwesenheit hier gut heiße. – Dem ist indessen nicht so. Ich habe diesen jungen Menschen, der gar keine Anrechte hat, sich in unsern Zirkel zu drängen, nicht allein stets so behandelt, wie es mir zukam, sondern auch jetzt darauf gedrungen, daß er sich hier nicht abermals in Ihr Haus eindränge und ihm der Befehl entgegen geschickt werde, direct nach Paris zu gehen. Der junge Mensch giebt indessen vor, diesen Befehl nicht erhalten zu haben, was ich genöthigt bin zu glauben, da es mein Enkel bestätigt; so ist seine Anwesenheit zu erklären, und hoffentlich rechnen Sie mir diese unpassende Gesellschaft nicht ferner zu.«

»Ich bin nicht wenig erstaunt, meine Gnädigste,« erwiederte Graf d'Aubaine mit wirklicher Unruhe, »eine solche Erklärung über einen jungen Mann zu hören, den ich, wegen der Vorzüge, die man ihm in Ihrer Familie gestattete, allerdings durch seine Geburt für dazu berechtigt hielt. Ich kann nicht läugnen, daß ich es nicht ganz zu entschuldigen weiß, daß Graf Crecy mir darüber nicht früher einen Wink gab; da ich ohne Zweifel seine Verhältnisse zu uns alsdann vorsichtiger gestellt haben würde. Doch sagen Sie mir, Frau Marschallin, wer ist dieser junge Mann?«

»Das mag Gott wissen,« sprach die Marschallin entschlossen; – »irgend ein Findling, ein Sprosse unerlaubter Verbindung, über die meine Schwiegertochter oder mein Sohn Grund zu schweigen hatten. Sie wissen, daß Beide voll überspannter Ansichten waren. – Anstatt aus einer so dunkeln Kreatur einen Kammerdiener meines Enkels zu bilden, zogen sie es vor, einen Spielkameraden daraus zu machen, ihn endlich erziehen zu lassen, als habe er Ansprüche, und die Unschicklichkeit hinzu zu fügen, ihn zu den Gesellschaftskreisen ihres Sohnes zu erheben.«

[23] »Ich gestehe,« sagte Graf d'Aubaine, aus mehr als einem Grunde gekränkt – »daß ich dies eben so wenig, wie Euer Gnaden billigen kann. Der junge Mensch selbst wird diese Ueberhebung zu büßen haben! Er ist jetzt in dem Alter, wo seine Berechtigungen geprüft werden, und es ihn dann sehr überraschen wird, sie in Nichts zerfallen zu sehen.«

»Mag er denn die Strafe seines Uebermuthes tragen,« erwiederte die Marschallin kalt, »wenn wir nur unsere Gesellschaft gegen solche Befleckungen rein erhalten! Ich würde ihm befehlen, augenblicklich nach Paris abzureisen, wenn ich nicht dadurch gezwungen würde, von meinem bis jetzt gegen ihn befolgten Systeme, ihn überhaupt nie zu bemerken, abzugehen; denn bis jetzt habe ich seine usurpirte Gegenwart noch durch keinen Blick, oder gar durch Worte anerkannt. – Da der Aufenthalt meines Enkels überdies nur zwei Tage dauern kann, weil die Zeit der großen Präsentation in Versailles damit herangerückt ist, so denke ich, beachten wir, wenn Sie bis dahin diesen Mißgriff zu lenken übernehmen, seine Gegenwart nicht; und in Paris, bei der Stellung, die der junge Graf dort einnehmen wird, müssen sich ihre Wege von selbst trennen, und wir werden diesem Menschen nicht mehr begegnen.«

»Wie,« rief der Graf d'Aubaine, »nur so kurze Zeit wird die Anwesenheit des Grafen Crecy dauern? Wissen Sie wohl, meine Gnädigste,« fügte er lächelnd hinzu – »daß wir bis dahin noch Viel zu thun haben?«

»So scheint es, mein lieber Graf,« erwiederte die Marschallin geschmeichelt; – »und da ich Sie nicht mißverstehen kann und als Repräsentantin des Werbenden billig zuerst reden muß, so wollen wir uns, wenn es Ihnen beliebt, zur Gräfin d'Aubaine begeben – ich will dort meinen Vortrag halten.«

Er bot ihr den Arm, und Beide begaben sich, völlig eines Sinnes, zu dieser so wichtigen, so entscheidenden Zusammenkunft, [24] die das Lebensglück zweier Menschen bestimmen sollte, ohne daß man ihrer Ueberzeugung nachgefragt hätte. Dem Grafen d'Aubaine kam in der That nach dem, was er so eben vernommen, kein Zweifel über die Stellung ein, die er allein noch für passend halten konnte; denn indem wir ihm das Zeugniß des besten Menschen und Vaters geben müssen, konnte er doch unmöglich seiner Zeit so entwachsen sein, um durch persönliches Verdienst den Standesunterschied für ausgleichbar halten zu können. Er fühlte mit Unwillen den Mißgriff, diesen jungen Mann ohne voran gegangene Sicherheit so nahe gezogen zu haben und dachte mit väterlicher Liebe daran, Franziska die Last der Beschämung zu erleichtern, die es ihr, wie er voraussetzte, machen mußte, wenn sie erfuhr, wie unberechtigt der Gegenstand war, dem sie Einfluß auf ihr Gefühl zugestanden hatte. Um jedoch seiner unvorbereiteten Gemahlin einen lenkenden Wink zu geben, hob er nach den Empfangsfeierlichkeiten sogleich an sie zu bitten, auch ihrerseits die Frau Marschallin über ihre Besorgnisse in Bezug auf den Begleiter des jungen Grafen Crecy zu beruhigen, indem er das herabsetzende Bild, welches die Marschallin entworfen, noch ein Mal vor seiner Gemahlin aufrollte. – Die Wirkung konnte bei ihr nicht viel anders sein, wie bei ihrem Gemahle. Die Marschallin hüllte sich in einen Schwall von Worten und schien weiter nichts zu sehn; aber sie bemerkte sehr wohl den Blick, mit dem beide Ehegatten sich mit einer Art von Entsetzen verständigten, und sah darin die Bestätigung, wie nöthig dieser beeilte Schritt gewesen.

Als die Eltern darauf in aller Form den Heirathsantrag ihres Enkels von der Marschallin entgegen genommen und ihre Einwilligung ohne weitere Beschränkung auf Franziska gegeben, ward der junge Graf Ludwig gerufen, und die Marschallin verkündigte ihm sein Glück, was er mit dem vollen Entzücken eines jungen, verliebten Mannes aufnahm.

[25] Damit mußte er sich jedoch vorläufig begnügen; denn die Gräfin d'Aubaine wollte ihre Tochter, wie sie sagte, erst auf den Besuch ihres Verlobten vorbereiten, und der junge Graf war genöthigt, die Abendtafel an der Seite Franziska's zuzubringen, ohne seine Gefühle verrathen zu dürfen.

Als man sich für die Nacht getrennt hatte, beschied die Gräfin d'Aubaine ihre Tochter nach ihrem Zimmer, und hier erfuhr die unglückliche Franziska, daß sie mit dem Grafen Crecy verlobt sei! Die Gräfin d'Aubaine sah, wie ihre Tochter unter ihren Worten erbleichte und mit trüben, hinsterbenden Blicken das mütterliche Auge suchte; sie eilte daher, ihr Alles zu sagen, was sie für hinreichend hielt, die mißgeleiteten Wünsche derselben auszulöschen, und es erfolgte eine Erklärung über Reginald, nach der Angabe der Marschallin.

Das war zu Viel! Denn Franziska war in den Ansichten ihres Standes erzogen; sie wußte, daß es gegen einen solchen Makel der Geburt, wie hier angedeutet war, keine Rettung gab – daß der Tod sie nicht sicherer trennen könnte, als solche Stellung zum Leben. Aber dieser Gewißheit gegenüber stand Reginalds Bild in einer Bevorrechtung der Natur, die jeden Vorzug, den ihr Herz und ihr Verstand ihm eingeräumt, so vollständig rechtfertigte, daß sie sich sagen mußte, ein Irrthum sei es nicht gewesen, nur ein entsetzliches Schicksal! Dies Gefühl erfaßte sie mit vollster Stärke, und schluchzend stürzte sie zu den Füßen ihrer Mutter.

Ob die sanfte Gräfin d'Aubaine ihre Tochter ganz verstand, bleibt dahin gestellt; vielleicht glaubte sie auch, Franziska weine aus Beschämung; – und es waren milde, gütige Worte, die sie, mütterlich erweicht, ziemlich ins Ungewisse hinein über die heftig Weinende sprach. Jedenfalls erzeigte sie ihr die Wohlthat, ihre Thränen nicht durch voreilige Ermahnungen zu hemmen; – und so weinte die [26] Unglückliche die erste Herbigkeit des Schmerzes vor ihrer Mutter aus.

Wie die Nacht gewesen, die dieser späten, traurigen Entdeckung folgte, war dem leicht zu errathen, der am anderen Morgen das bleiche Antlitz der schönen Franziska erblickte.

Aber es ward theils mit Absicht, theils aus Unbefangenheit übersehen; die Verlobung der beiden jungen Leute ging vor sich, und Franziska sah in einem träumerisch betäubten Zustande so ruhig und kalt, wie ihre Hand in die des ungeliebten Jünglings überging, als sehe sie einer fremden, ihr durchaus gleichgültigen Ceremonie zu. Wenn Etwas diesen Schritt Franziska erleichterte und Etwas dem Glücke des jungen Grafen Crecy fehlte, so war es die Abwesenheit Reginalds, die schon am Abende vorher bemerkt ward. Für den andern Morgen war die Abreise Beider festgesetzt, und sein plötzliches Verschwinden um so auffallender, da er Ludwig nichts darüber gesagt hatte und die Mittagstafel bereits vorüber war. Frostig ging Graf d'Aubaine endlich auf die Bitten seines neuen Schwiegersohnes ein, nach dem jungen Manne auszusenden; und da auch diese Boten gegen Abend, ohne Nachricht von ihm zu bringen, zurückkehrten, ließ sich Graf Ludwig durch Nichts abhalten, seine Nachforschungen selbst anzustellen. Auch sollten diese glücklicher sein; denn Reginalds Vorliebe kennend, eilte der Graf zuerst in den Wald, der an den Park grenzte, und hier wohl bekannte Signale und Anrufungen gebend, erhielt er ungefähr in der Mitte des Waldes, an einen alten Steinbruch gelangt, die wohl bekannten Antworten. Außer sich vor Freude, stürzte er der Gegend zu, woher er die Antwort vernommen, und in demselben Augenblicke flog Reginald, aus der entgegen gesetzten Richtung des Waldes kommend, ihm entgegen.

Beide stürzten sich in die Arme, als wären sie Jahre getrennt gewesen, und noch inniger selbst, als Ludwig, schien [27] Reginald's Liebe und Zärtlichkeit von einer ungewöhnlichen Stimmung angeregt. »O, Ludwig, geliebter, theurer Ludwig, wie glücklich macht mich Deine Liebe, Deine Treue, selbst wenn sie Dir Sorge verursachte!« – So beantwortete er die zärtlichen Fragen und Vorwürfe des Grafen, und Arm in Arm erreichten sie eben eine offene Stelle des Waldes, wohin der Mond mit Tageshelle schien. Hier hielt Reginald an und wendete den Grafen gegen den hellen Schein des Mondes, um ihn anzublicken, als habe er ihn noch nie gesehen! – Zur selben Zeit bemerkte der Graf, wie bleich und verändert Reginald war – wie heftig bewegt sein Inneres – wie er kaum sich zu fassen wußte. »Reginald,« sprach er, »Dir ist etwas ganz Besonderes geschehen!«

»Morgen! morgen!« rief Reginald, und warf einen bedeutungsvollen Blick auf das Gefolge, das der Graf mit sich geführt, und besonders auf den Kammerdiener des Marquis de Souvré, der sie mit spähenden Blicken verfolgte.

Doch Ludwig hatte dem geliebten Vertrauten selbst so Viel zu sagen, daß er befahl, man solle vorangehen und ihre glücklichen Erfolge den Herrschaften anzeigen. Aber auch, als Beide allein waren, schien es Reginald unmöglich, seinen Bericht zu machen.

»Schone mich, Ludwig!« sprach er – »ich habe so Ungeheures erfahren, daß ich wie verwirrt von der erlebten Aufregung bin; doch sei gewiß, das, was ich erfuhr, kettet uns nur noch inniger, noch fester aneinander; es bestätigt unsere innige Liebe und wird großes Unrecht versöhnen!« –

»Das bin ich gewiß, daß Nichts unsere Liebe beeinträchtigen kann, theurer Reginald – darum fragte ich nicht; nur voll Erstaunen bin ich, daß Du etwas erleben konntest, was Dich so besonders betrifft!« –

»Es betrisst mich nicht besonders! Es enthält Dein, wie mein uns bis jetzt vorenthaltenes Schicksal! – Doch laß' [28] mich – es preßt mir das Herz ab. – Nur das Eine höre noch: ich mache Dir Bedingungen – die eine ist, daß wir Beide über Ste. Roche nach Paris gehen, daher noch in der Nacht abreisen – und daß wir über diesen Umweg das tiefste Schweigen beobachten; denn erfährt die Marschallin oder Souvré unsere Absicht, würden wir auf jeden Fall daran gehindert werden.«

»Das ist seltsam Reginald!« rief Ludwig – »und nur ungern gehe ich darauf ein, da jede Heimlichkeit mir schwer wird.« –

»Auch mir, theurer Ludwig! Und doch habe ich es mir gelobt, Dich dahin zu bringen. Denke also, wie mich die Umstände bewältigen müssen, und löse mein mir selbst gegebenes Wort!«

»Das will ich – es sei beschlossen, und weiter keine Rede davon!« rief Ludwig; – »und da Du mir für den Augenblick so wenig zu sagen vermagst, so höre denn, was mich verlangt, Dir auszusprechen. Ich – Reginald, bin glücklich! Seit heute Morgen ist mir Franziska verlobt, und Nichts hat meinem Glücke gefehlt, als Du – Deine Abwesenheit war mir fast unerträglich!«

Heftig fuhr Reginald an Ludwig's Seite zusammen – er blieb stehen – er blickte zu ihm auf. Der Weg, auf dem sie jetzt wandelten, war wieder dunkel – er sah den Glücklichen nur undeutlich, der ahnungslos den Liebling tödtlich getroffen. »Franziska, Franziska Dir verlobt?« rief er gebrochen. »Es ist nicht möglich! Noch gestern – nein, Ludwig – nein, Du neckst mich – es ist nicht möglich – nein! Franziska kann Dir nicht verlobt sein – sage nein! Sage die Wahrheit – der Scherz ist zu grausam!«

»Was ist das?« rief Ludwig ahnend und tief erschrocken. – »Reginald fasse Dich! Sprich offen, deutlich zu mir – Gott, welche Ahnung! Warum erfüllt Dich mit Schreck und [29] Schmerz, worin ich nur Veranlassung zur Freude für Dich wähnte?«

»Sage mir,« sprach Reginald – »verlobt bist Du?Sie hat sich Dir verlobt – sie hat Dir ihre Liebe gestanden? – Antworte, Ludwig, oder ich verliere den Verstand!«

»Nein, Reginald, nicht sie – sie hat sich mir weder verlobt, noch mir ihre Liebe gestanden – und jetzt fühle ich erst, was das sagen will – jetzt erst erkenne ich, wie mich die eigenen Wünsche verblendet haben; da ich die von den Eltern vollzogene Verlobung für die Erfüllung meiner Wünsche hielt! O Reginald, was haben wir gethan, so innig uns geliebt und doch das Wichtigste uns verschwiegen! O, sage mir – sage, was ich ahne – Du besitzest mehr, als ich, in dieser Verlobung?«

»Ludwig,« rief Reginald, an seine Brust stürzend, »ich besaß ihr Herz; – schon vor zwei Jahren gelobten wir uns Treue – schweigen mußte ich auch gegen Dich; denn sie verlangte es so!«

»Aber jetzt, jetzt,« stammelte Ludwig – »sprachst Du sie nach Deiner Rückkehr?« –

»Noch gestern gestand sie mir ihr unverändertes Herz!« –

Ludwig wendete sich von ihm, und heiße Thränen stürzten aus seinen Augen. »Ich verstehe Alles,« sagte er gebrochen – »ihr todtenbleiches Angesicht – ihre leblose Ergebung – Gott, warum erkannte ich es nicht früher!«

Es entstand eine schmerzliche Pause – dann erhob sich Ludwig zuerst, und den Liebling suchend, sank er an seine Brust.

»Ludwig,« sagte Reginald – »wir können jetzt keinen Entschluß fassen, als den einen, uns nicht fremd zu werden und gemeinschaftlich, treu und redlich mit jedem Opfer das theure Wesen zu schützen! Wie es kommen mag, ich weiß es nicht! Aber wenn sie ihren Eltern gehorsam sein muß, so rechne auf mich, ich werde dann allein zu leiden suchen; – können wir[30] ihr Herz retten, so verbinde Dich mit mir zu gleicher Verzichtleistung!«

»So sei es!« rief Ludwig, erhoben und getröstet durch einen edeln Entschluß, der ihn nicht von dem Freunde trennte, sondern nur noch inniger mit ihm verband. Beide hielten hier inne; denn ein Geräusch, wie das eines Davoneilenden, ließ sie fürchten, belauscht worden zu sein. Ihrem Anrufe erfolgte jedoch keine Erwiederung, und sie waren zu lebhaft durch sich selbst beschäftigt, um lange bei dieser Störung verweilen zu können.

Sie kamen erst spät nach dem Schlosse von Ardoise zurück; nur der Graf d'Aubaine war noch im Gesellschaftssaale; er empfing Beide etwas trocken und schien einige Worte der Entschuldigung von Reginald kaum zu beachten.

Ludwig fühlte augenblicklich die Kränkung für den Freund und gewann dadurch mehr Sicherheit, dem Grafen ihre schnelle Abreise anzukündigen und ihm die Empfehlungen an die Damen zu übertragen. Es schien den Grafen d'Aubaine sichtlich zu beleidigen; und nachdem er einige Versuche gemacht, diesen Eindruck hervorzuheben, widersprach er ihrem Vorsatze nicht und nahm augenblicklich Abschied.

So trennte man sich in sehr seltsamer Stimmung, und die des lebhaftesten Erstaunens, von Seiten des Grafen d'Aubaine, war in mehr als einer Hinsicht gerechtfertigt; denn die jungen Leute ahnten in ihrer großen Gemüthsbewegung nicht, wie auffallend ihr Betragen war. Schon ihr Aeußeres konnte befremden, da es bei Reginald besonders eine große Aufregung zeigte und solche tödtliche Blässe und Entstellung seiner Züge, daß der Graf ihn als einen Verzweifelten ansehen mußte und sehr betrübt war, wenigstens einen Theil dieser Stimmung auf Ludwig übertragen zu sehen, deren Ursache zu errathen, ihm allerdings mit einigem Widerstreben möglich ward.

[31] Auf ihren Zimmern angelangt, hörten die jungen Leute, Gräfin Franziska sei erkrankt, doch bereits in besserem Zustande.

»Vor allen Dingen müssen wir fort,« rief Ludwig schmerzlich – »das sehe ich ein. In Paris müssen wir mit Fenelon und dem Vater Alles beschließen!«

»O, warum lebt Deine Mutter nicht mehr!« seufzte Reginald schmerzlich. – –

In derselben Nacht verließen die jungen Leute mit ihrem Gefolge Ardoise, und wechselten von da an in rastloser Anstrengung die Pferde, so oft sie deren finden konnten, um, wo möglich, noch am andern Abend Ste. Roche zu erreichen.

Während dieser traurigen Reise versuchte Reginald seine Bewegung so weit zu überwinden, um seinem Freunde eine Erklärung dieses heimlichen und beeilten Schrittes geben zu können. Aber es ward ihm schwer; denn er schien ganz überwältigt von besonders inniger Zärtlichkeit gegen Ludwig, und von einer Wehmuth – von einer innern Angst verfolgt, die ihn mehr geneigt machte, den Augenblick in stummer Hingebung zu durchleben. Gebrochen – in Zwischenräumen trat endlich hervor, was wir hier im Zusammenhange mittheilen wollen.

An dem Abend, als Reginald zuerst vermißt ward, hatte ihm ein Diener des Hauses gemeldet, es sei so eben ein Bote im Schlosse gewesen, der ihn gesucht, um ihm zu sagen, daß im Walde am Försterhause Jemand auf ihn warte, der ihn beschwöre, augenblicklich dort hinzukommen.

Da Reginald vor der Abendtafel keine Hoffnung hatte, Franziska d'Aubaine im Salon zu sehen, so schien ihm der Waldweg eine anmuthige Zerstreuung; auf das Geheimnißvolle dieser Aufforderung gab er sehr wenig Acht, dagegen bedenkend, daß er, um den Waldweg zu erreichen, den Theil des Schlosses berühren mußte, wo Franziska wohnte. Auch gelang ihm, was er gehofft; die Thüren nach dem niedrigen Balkon waren [32] geöffnet – von fern schon sah er den blaß-blauen Atlas ihres Kleides und die weißen Rosen in ihren dunkeln Locken. Diese Kleidung war an sich wie ein Zeichen der Treue; denn er hatte sie zuerst darin gesehen, und sie wußte, wie sehr er sie liebe. Als sie ihn bemerkte, und er, von Zweigen gedeckt, aufs Knie sank und die Hände aufhob, wie um ein Zeichen ihrer Liebe bittend, sah er, wie sie eine von den Rosen löste, dann Härchen aus ihren Locken an einander knüpfte, an denen sie die zarte, weiße Rose langsam über den Rand des Altans herabschweben ließ, um dem Glücklichen Alles zu geben, was er glaubte nöthig zu haben. – Froh entfloh er in der Richtung nach dem Forsthause.

Wir werden ihm vergeben müssen, daß er ganz vergessen hatte, was er dort sollte, und als er eintraf, sich erst besinnen mußte, was der Förster damit wollte, daß er ihn nach hinten hinaus, in ein kleines, abgelegenes Stübchen führte.

Doch erkannte er, noch geblendet und deshalb nicht recht sehend, wenigstens sogleich die helle, schneidende Stimme mit dem breiten, entstellenden Dialekte, die augenblicklich anhob: »bloß um meiner Mutter gehorsam zu sein, bin ich hier; denn die Art, wie Ihr mich das erste Mal abwieset, war gänzlich hinreichend, mich von solchen Sendungen abzuhalten!«

»Miß Ellen Gray!« rief Reginald – »wie bin ich überrascht, Euch hier zu finden!«

»Ueberrascht oder nicht,« erwiederte sie schmollend; – »es ist Eure Angelegenheit, nicht die meinige, um deretwegen ich hier bin – und ich heiße, wenn's Euch beliebt, nicht Ellen Gray, sondern Madame St. Albans.« –

»Verzeiht, Madame, und seid meiner Dankbarkeit gewiß! Auch rechnet mir nicht zu, wenn ich Euch beleidigt habe; denn ich erinnere mich, daß Ihr mir vor meiner Abreise eine Mittheilung machtet, die meine unbedachtsame Jugend überhört hat.« –

[33] »Ja, ja, überhört!« rief sie heftig – »überhört, weil natürlich eine so unbedeutende Person, wie Ellen Gray, nichts mitzutheilen haben konnte, was wichtig genug war, um es zu behalten.«

»Vielleicht,« erwiederte Reginald, herzlich gelangweilt durch dies Betragen – »vielleicht kann ich jetzt gut machen, was ich damals verschuldete, und Euern ungerechten Verdacht widerlegen.«

»Das will ich wünschen!« rief sie, plötzlich in einen jener Thränenströme ausbrechend, die so leicht die Theilnahme entkräften, da sie ein Gemisch von Rührung und jener gewöhnlichen, weiblichen Empfindlichkeit sind, die, ohne Erweichung der Gesinnung, mehr ein fortgesetzter Versuch zu zürnen ist – »und glaubt mir,« fuhr sie fort, »es wird Euer Schade nicht sein; denn« – und sie schluchzte noch immer – »meine Mutter, die Wärterin Eurer Kindheit, die Ihr so schön vergessen habt, daß Ihr auf ihre Bitten nichts geben wolltet das erste Mal, diese läßt Euch auffordern, mir augenblicklich nach dem Kloster Tabor zu folgen, bis wohin sie Euch entgegenkommen wird.«

»Jetzt? heute?« rief Reginald erstaunt. –

»Ist das wieder zu Viel verlangt? Paßt es wieder nicht? Habt Ihr gar keine Verpflichtungen, als Euch dort bei den hochmüthigen Leuten zu vergnügen?«

»Ihr thut mir Unrecht, Madame St. Albans! Ich bin gegen die Verpflichtung, der Wärterin meiner Kindheit dankbar zu sein, nicht gleichgültig. Aber Ihr dürft, ohne ungerecht zu werden, nicht übersehen, daß meine Entfernung sehr unhöflich sein würde, da wir nur zwei Tage bleiben können.«

»Ach, meine arme, arme Mutter!« rief Madame St. Albans mit einem so wahren Ausdrucke von Schmerz, daß jetzt erst Reginald's Theilnahme erregt ward. – »Sie überlebt es nicht, wenn sie abermals getäuscht wird! Herr, ich bitte Euch – überlegt, was Ihr thut! Wenn Ihr die Frau kenntet, die Euch [34] begehrt, da würdet Ihr gehen, so weit sie Euch riefe. Seht, sie sagt nie ein Wort umsonst, und Jeder, der sie kennt, gehorcht ihr. Da sie nun Euch fordert, wie noch nie einen Menschen – da sie mich schickt, Euch zu treiben – und so voll Todesangst ist, als hinge Euer Leben daran – da seid sicher, es ist wichtig. – Laßt Alles, Alles fahren und brecht auf mit mir; ich habe im Walde ein kleines Fuhrwerk aus dem Kloster; fahren wir gleich ab, können wir noch in der Nacht eintreffen, und Ihr könnt um Mittag wieder zurück sein!«

Reginald schwankte. Mit einem Male – er wußte selbst nicht, ob durch Ellen's Gründe oder ob aus freier Wahl – fühlte er sich getrieben – er sagte es ihr und wollte den Förster auf das Schloß schicken, ihn zu entschuldigen.

Doch dem widersetzte sich Ellen auf das Bestimmteste. Niemand dürfe ihre Anwesenheit ahnen, das gerade habe die Mutter bestimmt geboten, und auch der Förster, der ihrer Mutter zugethan sei, werde nicht gegen ihre Befehle handeln.

Nach einigen Minuten saß er neben Ellen in einem kleinen Wägelchen, in welchem die Mönche zu ihren Pfarrkindern fuhren, und rollte rasch dem Kloster Tabor zu, ohne von Ellen's Unterhaltung belästigt zu werden, die in einem übellaunigen Schweigen verblieb, gelegentlich ihre linkische Empfindlichkeit darthuend.

Doch graute der Morgen bereits, ehe Beide das alte Kloster erreichten, von dessen Bewohnern sie freundlich empfangen wurden und benachrichtigt, daß Mistreß Gray bereits angekommen sei und ihrer in den Gemächern des Priors harre. – Als Reginald in das hohe, gewölbte Gemach eintrat, das vollständig den Reichthum bezeichnete, welcher dem Oberhaupte der Abtei zustand, sah er den ehrwürdigen Prior vor einer Frau stehen, die in einem hohen Lehnstuhle vor ihm saß, ein bleiches, abgezehrtes, strenges Antlitz zu ihm aufhob und, wie es schien, sehr mißfällig seinen Worten zuhörte.

[35] »Bedenkt und überlegt wohl, was ich Euch sagte,« sprach er, wie zum Weggehen bereit – »ein Wort ist bald gesprochen; – aber das Gesprochene nie zu widerrufen. Sobald der Andere es vernommen, ist es sein Eigenthum mit allen seinen Gefahren, mit allen Folgen, die kein Wort mehr abzuhalten vermag.«

Die Frau neigte kalt das Haupt. »Ihr habt Rath er theilt, wie es Euch trieb, und Ihr hattet Recht dazu – ich thue gleichfalls, wie es mich treibt, und thue gleichfalls Recht!«

Der Prior hörte diesen schroffen Worten, die noch durch den trockenen Ton der Stimme und eine mangelhafte Aussprache verstärkt wurden, mit einem leisen Schütteln des Kopfes zu; aber in seinem Blicke lag zugleich die Hoffnungslosigkeit, diesen festen Sinn zu ändern.

»So sei Euch Gott gnädig und segne Eure Vorsätze!« sprach er sie grüßend und blieb, indem er sich wendete, überrascht vor Reginald stehen, der an der Seite des Laienbruders, der ihn geführt hatte, im Hintergrunde des Gemaches stehen geblieben war. »Ich glaube, Mistreß Gray,« sprach er sich umdrehend – »dies ist Euer Zögling!«

Die unglückliche Frau folgte der Richtung, die der Prior ihr gab; – und wie hätte sie ihn verkennen können, der in jedem Zuge Fennimor's Sohn war!

Sie richtete sich heftig in ihrem Lehnstuhle auf, als wollte sie ihm entgegen; dann hielt sie sich plötzlich an seiner festen Lehne und starrte Reginald an, der sich ihr mit dem freundlichen Lächeln nahete, das ihn Fennimor nur noch ähnlicher machte.

»Um Gott, Madame,« rief der Prior jetzt, »faßt Euch – und setzt Euch!« – Die Gestalt der früh Gealterten wankte, und ihre Augen schlossen sich. Der Prior unterstützte sie beim Niedersitzen; aber er sah, sie kämpfte mit einer Ohnmacht, und der wohlwollende Mann hielt ihr selbst ein erfrischendes Elixir vor, das auch bald die starken Lebensgeister dieser heftig[36] empfindenden Frau sammelte. Unwillig fast wies sie die Bemühungen zurück; – sie schien von ihrer Schwäche überrascht und ihr zürnend. »Laßt das,« sagte sie rauh – »es war Nichts! Schwäche in den Füßen – die Reise – so Etwas bin ich nicht gewohnt – es war ein Schwindel.«

»O, gute Liebe,« rief hier Reginald, der ihr Bild wie einen Traum in sich auftauchen fühlte – »sieh' mich doch nur an – Du mußt mich gewiß wiedererkennen, da ich es vermag! Sag', heißt Du nicht Emmy?«

Die harte Frau zuckte bei dem ersten Tone seiner sanften, liebevollen Stimme zusammen. Der Prior trat seitwärts, und Emmy sah den Jüngling dicht neben ihrem Stuhle knien und das volle Morgenlicht jeden Zug seines schönen, ihr so erinnerungsreichen Angesichtes erhellen. Sie legte die Hand auf seine vollen Locken, und ihre Augen wurzelten prüfend auf seinen Zügen. Sie vergaß sich gänzlich selbst; schmerzlich stöhnend, hob sich zuweilen ihre Brust, und große Thränen rollten einzeln über ihre Wangen; aber sie ahnte nicht, wie sie ihre Gefühle darthat. Reginald mit seinem edeln, verstehenden Herzen störte sie nicht; liebevoll lächelnd, hielt er das lange Examen ihrer trostlosen Augen aus, ohne sich zu regen; nur der Prior störte endlich diese stumme Scene, die er nicht mehr verstand.

Mit ihrer alten, kecken Weise fuhr jetzt Emmy, wie sie ihn, den Vergessenen, als Zeugen ihrer Empfindungen sah, ohne Bedenken auf: »Ihr hier, Prior? Ich dachte, Ihr hättet mir ungestörtes Beisammensein zugesagt? – Nun, es sei! Wenn wir Euch hier zu viel sind, so weist uns einen andern Platz an.«

»Beruhigt Euch,« lächelte der Prior gutmüthig, »ich werde gehen, und Ihr sollt nicht weiter gestört werden.«

»Nun so thut das,« rief sie ungeduldig – »die Zeit wartet nicht auf uns!«

[37] Als der Prior sich zurückgezogen hatte, sprang Reginald von seinen Knieen auf und fiel der vollständig wieder erkannten, alten Wärterin mit dem Ungestüme eines Kindes um den Hals. »O Emmy, liebe Emmy, wie habe ich Dich so vergessen können, da mir Alles einfällt, nun ich Dich wiedersehe? O, wie danke ich Dir, daß Du mich gezwungen hast, Dich zu sehen – wie von Herzen froh werde ich nun sein, mit Dir schwatzen zu können – all' die lieben Erinnerungen meiner Kindheit mit Dir zu sammeln!«

Emmy's Gesicht bekam fast einen Ausdruck, als wollte sie lächeln; aber zu tief hatte sie den Schmerz sich mit jeder Faser ihres Wesens verketten lassen – es ging nicht mehr! Selbst die Wonne, die der Anblick dieses Lieblings ihr gab, riß nur in heftigen Erschütterungen erstarrte Schmerzen wieder lebendiger hervor.

»Reginald! Reginald! geliebtes Kind! theures Andenken Deiner seligen Mutter!« rief sie – »wir haben Wichtigeres – Ernsteres zu thun! Lange – lange schon mußtest Du wissen, was ich Dir erst jetzt sagen kann; – aber die Barbaren rissen Dich von mir; denn sie fürchteten, was in meine Gewalt gegeben war Dir zu sagen. Wo sollte ich Dich finden in dem schrecklichen Sodom, wohin sie Dich schleppten – und als Ellen Dich sah, Du zuerst in meine Nähe gekommen warst – da hast Du Dich geweigert, meinem Gebote zu folgen. Die thörichten Leute dort hielten Dein Herz fest, und Du vergaßest Deine Pflicht gegen mich!« –

»O vergieb doch nur und halte mir nicht mehr vor, was mich so tief betrübt. Sieh', ich hatte Dich ja vergessen!« –

»Vergessen! vergessen« – wiederholte Emmy bitter – »vergessen! Das ist eine Ader aus dem Herzen Deines Vaters – Deine Mutter wußte davon Nichts. Ha, junger Bursche, wenn ich dächte, Du hättest noch mehr von diesem [38] Vater in Dir!« Sie starrte ihn so wild an, daß er fast davor schauderte.

»Sag' mir, Emmy,« hob er an, um sie zu zerstreuen – »kanntest Du meinen Vater so gut – und willst Du mir von beiden Aeltern sagen, von denen ich nie erfuhr?« –

»Das will ich, mein Sohn! Darum kam ich her und entbot Dich zu mir. Aber freue Dich nicht darauf; – was Du hören wirst, wird Deinen Herzschlag hemmen und Deine Jugend welken lassen. – Und doch mußt Du es wissen; denn Du mußt Recht fordern für Deine Mutter, von Deinem Vater entehrte Mutter!«

»O Emmy,« rief Reginald, von ihrer Stimmung unsicher gemacht und an ihren klaren Sinnen Zweifel bekommend; – »schone die Todten! Er wird schon vor Gott das ewige Gericht erfahren haben, hat er gefehlt; – laß' den Sohn nicht Richter werden über den Verstorbenen!«

»Den Verstorbenen?« – rief Emmy heftig – »ha, Gott hat ihm zu seiner Strafe das Leben gelassen. – Ja, er lebt; und ich hoffe so elend, wie er es verdient! Sag' mir,« fuhr sie fort, ohne von Reginald's Entsetzen Kenntniß zu nehmen – »sag' mir, ob sie mir recht gesagt hat, das plappernde Ding, die Ellen, lebt der Graf Crecy in finsterer, menschenfeindlicher Zurückgezogenheit und findet weder Trost, noch Freude?«

»Was willst Du mit ihm, Emmy?« rief Reginald bebend; – »was kümmert Dich der unglückliche Mann, der mein Wohlthäter war von Jugend auf, und dessen Trübsinn ich schmerzlich beklage?«

»Ha, schweig',« rief Emmy – »und spare Dein thöricht Mitleiden! Dieser Wohlthäter, wie Du ihn zu nennen wagst, ist der Räuber Deines Namens, Deines Ranges – der Mörder Deiner Mutter – der größte Bösewicht der Erde und Dein rechtmäßiger Vater – Du sein erstgeborner, ehelicher Sohn!«

[39] Mit einem Schrei sprang Reginald von seinem Platze auf – wild, außer sich, ergriff er Emmy – er schüttelte sie mit einer Kraft, daß sie bebte, und bleich, mit Schweißtropfen die Stirn bedeckt, schrie er auf, als wolle ihm das Herz brechen. »Weib, Du bist wahnsinnig!« stieß er endlich hervor – »oder Du lügst – wo bin ich – wer rettet mich vor dem Gifte ihrer Worte!« Er stürzte zu Boden und verhüllte sein Angesicht.

Emmy sah dem Allen ohne Erschütterung zu, wie einem längst Erwarteten – Unabweislichen. Endlich sagte sie fast ruhig: »Ja, ja, Du hast Recht – es wäre besser, ich wäre wahnsinnig – besser selbst, ich löge – als daß es Wahrheit, schreckliche Wahrheit ist! Auch war es nah' daran, mein Kind – und nur Du hast mich vor Wahnsinn bewahrt, nur Dein unschuldig Kinderauge, Dein Lächeln, Dein erstes Stammeln, Deine kleinen Schritte – daran blieb ich ein Mensch!« Sie seufzte tief und schwieg, ruhig, wie es schien, den ersten Schmerzin Reginald abwartend. Sie brauchte nicht viel Zeit; er sprang empor, gereizt von der angeregten Qual. Aber sie hatte Recht gesagt – sein Herzschlag war gehemmt – seine Jugend schien zu welken!

»Gieb mir Rechenschaft,« sagte er hohl – »beweise! Es ist schwer – sehr schwer, was Du da sagst – das tödtet Viele; – und ich – ich kann dann nie wieder froh sein!«

»Was liegt an Allen!« sagte Emmy hart – »wenn Du nur Deine Mutter rächst – wenn Du nur, Dueinzig rechtmäßiger Graf Crecy, diesen Namen wiederforderst und ihn behauptest, um der Ehre Deiner Mutter willen!«

»Und der jetzige Graf Crecy, Ludwig?« rief Reginald mit Schmerzenslauten. –

»Ist ein Bastard! Ein verworfenes, von allen Gesetzen im Himmel und auf Erden verdammtes, rechtloses Kind!«

»Aber mein Bruder!« rief Reginald. – »Mein Bruder! – Ludwig mein Bruder!« Dieser Gedanke rettete ihn. [40] Es war der Sonnenblick der Liebe, der dies in der Erstarrung seufzende Herz seinem Elemente zurückgab. Ludwig war sein Bruder; – welch' eine Wonne! O, vergeben wir ihm, daß er weniger Sohn als Bruder war! Sollte er doch jenes um den fürchterlichen Preis des Hasses und der Rache werden – schien ihm doch der Bruder der einzige Trost dieses entsetzlichen Augenblickes!

Mißbilligend betrachtete ihn Emmy Gray. Er entsprach ihrem zürnenden Herzen nicht. Sie hatte keinen Maaßstab für ein junges, edles Gemüth, von böser Sucht noch unberührt. Doch faßte sie sich. Noch kannte er das Schicksal seiner Mutter nicht; – damit mußte ihm die Stimmung kommen, die sie erwartete.

»Setze Dich,« sagte sie gebietend – »wir haben noch Viel vor uns – Viel – Viel mußt Du hören – mit vollen, klaren Sinnen hören und wohl bewahren in Deinem Gedächtnisse, damit Du den Teufelskünsten stehen kannst, die Dir entgegen treten werden.«

Schaudernd folgte Reginald ihrem Gebote. Der jähe Zustand, den das bis jetzt Erfahrene in ihm erregt, ließ ihn keine Richtung festhalten; er beschloß, das, was er hören müßte, streng zu prüfen. Einer Unwahrheit beschuldigte seine fürchtende Seele die alte, gebietende Frau nicht; aber er dachte an eine Entstellung durch ihre leidenschaftliche Stimmung. O, wie schön und warm belebte ihn das jugendliche Verlangen, zu versöhnen und zu entschuldigen!

Wir wissen, was ihm von Emmy Gray mitgetheilt werden konnte; und indem wir hinzusetzen, daß sie Nichts verschwieg, Nicht mit ihrem gegenwärtigen Verstande versäumte, was die Dinge zur anschaulichen Thatsache erhob, werden wir begreifen können, wie Reginald sich zuletzt um alle seine frommen Hoffnungen betrogen fand. Immer bleicher und bleicher werdend, [41] starrte er die rächende Frau vor sich an, in deren harten Zügen kein Hauch von Schonung oder Mitleiden neben der zornigen Anklage Raum fand. Das frühe Alter hatte ihr Antlitz gefurcht, ihre Gestalt gebeugt; sie trug schwere, steife Trauerkleider, und ihre Bewegungen waren durch die Wichtigkeit der Gedanken, die sie erfüllten, tragisch und edel. Eine solche Persönlichkeit unterstützte, ohne daß er darüber zum Bewußtsein kam, was sie sagte. Reginald fühlte die Macht der Wahrheit; er hörte bloß noch, und nahm auf, was sie ihm gab, er urtheilte nicht mehr darüber. Auch sagte sie nur die Wahrheit – sie war inhaltsschwer genug! – Als sie geendet, wurzelte ihr durchdringendes Auge auf Reginald. Er sprang auf und rief, die Hände zum Himmel streckend: »Mutter, Mutter, ich will Dein Sohn sein vor Gott und Menschen! O, sieh' herab; denn ich bin damit dem Unglücke geweiht!«

»Das Grab meiner Mutter will ich sehen!« rief er dann hastig, zu Emmy gewendet – »Ste. Roche will ich sehen! – Großer Gott, diesen Namen trage ich!« Er verstummte; – dann fuhr er wieder auf: »Doch Ludwig bleibt mein Bruder – mein unschuldiger Bruder! Ha, Emmy, den werde ich schützen und retten, der soll nicht entehrt und dem Auge der Welt zum Hohn werden – hörst Du, Emmy? Meine Mutter,« rief er die Hände zum Himmel hebend – »ich will den Bruder schützen und die damit ehren, die Deinen Sohn geschützt und geliebt hat! Emmy,« fuhr er fort – »morgen bringe ich Dir meinen Bruder, Du wirst ihm selbst Alles, Alles sagen, wie mir.«

»Ha, dem Bastarde?« rief Emmy – »dem, der Dich verdrängte von Deinem angestammten Platze?«

»Schweig!« rief Reginald, mit der Heftigkeit des ersten Schmerzes – »und wage nicht, ihn noch ein Mal so zu nennen! Mein Bruder ist Ludwig; – er soll so rechtlich geboren sein, wie ich selbst, und nur theilen will ich mit ihm!«

[42] Emmy verblödete einen Augenblick mit geheimer Lust vor der heftigen Entschlossenheit des jungen Mannes. Es war ihr schon recht, daß er selbst ihr Trotz bot, und sie erlebte von dem Zöglinge gern, was sie von Niemandem duldete.

»Die Dokumente, das Blatt des Kirchenbuches über die Vermählung meiner Eltern und meinen Taufschein, den hebe mir auf. Ich muß Ste. Roche sehen – ihr Grab – ihr Grab! O, ich habe Nichts früher auf dieser Welt zu thun! – Erst ihr Grab,« rief er – »und dann das trostlose Leben!«

Plötzlich siegte die Wehmuth; er brach in Thränen aus, und sie, die selbst keine mehr zu ihrer Erleichterung weinen konnte, sah in tiefem, ernstem Schweigen zu, wie sein junges, zertrümmertes Herz sich abarbeitete. Sie freute sich dabei seines ganzen Wesens – wie ihn der Schmerz nicht entkräftet hatte, und wie er den Vater nicht ein einziges Mal genannt.

Endlich sprang er auf, er schüttelte die nassen Locken aus dem Gesichte und nahete der alten Freundin: »Geh zurück nach Ste. Roche, Emmy, und erwarte mich morgen dort; – ich komme mit meinem Bruder Ludwig – ich werde ihn vorbereiten; denn er hört das besser von mir; und über ihrem Grabe werden wir das Weitere beschließen. Ich verspreche Dir dabei, daß ich der Marschallin und Allen, die es ihr verrathen könnten, verbergen werde, wohin wir gehen; – ihr werde ich keine Einmischung gestatten, darüber sei sicher.«

Es war die höchste Zeit, daß man sich trennte, wenn Reginald Ardoise noch erreichen wollte, ohne Verdacht zu erregen; aber trotz seines schnellen Aufbruches war die Zeit unter den traurigen Mittheilungen doch rasch verflossen, und Reginald erreichte erst das Forsthaus, nachdem, wie uns bekannt, seine Abwesenheit von Allen bemerkt worden war. –

Was wir hier in seiner Folge ruhig nach einander erzählten, trat in vielen Zwischensätzen mit dem reichen Gefühlswechsel [43] in beiden Jünglingen, wie er nothwendig in dieser Mittheilung begriffen sein mußte, hervor; – aber in Beiden siegte die rein getheilte Freude, Brüder zu sein; und so fest, so sicher waren sie sich, daß Keiner dem Anderen eine Versicherung gab, Beide durch ihre Liebe geschützt, die nur noch erhöhter, noch gerechtfertigter schien durch die neuen Bande.

Die Außenwelt erinnerte sie erst wieder an sich, als sie zum Pferdewechsel die Gastfreundschaft des Klosters Tabor in Anspruch nahmen. Der Himmel war nicht allein von dem nahenden Abend umdüstert – ein Gewitter hing mit schweren, bleifarbenen Wolken-Gebirgen über ihren Häuptern. Dringend luden die Mönche die jungen Männer zum Verweilen ein, ihnen den Weg durch die Wälder von Ste. Roche in der Nacht fast unwegsam schildernd; vergeblich waren diese Abmahnungen, Reginald wies sie alle zurück, mit dem düsteren und heftigen Ungestüme, den seine Erregung mit sich führte. Der gutmüthige Prior konnte endlich nichts thun, als ihren Wagen mit einigem Proviante zu füllen und die besten Pferde und den kundigsten Wegweiser hinzuzufügen.

Doch begriffen sie bald selbst die angedrohten Schwierigkeiten, als sie den Wald erreicht hatten. So lange die Blitze ihren Weg erhellten, zeigte sich der Wegweiser nützlich, und der Wagen bewegte sich langsam vorwärts; aber sie hörten auf, ohne daß der Mond durch die schwarzen Wolken dringen konnte, und jetzt stürzte der Regen in Strömen herab. Der Weg ward zum Gießbache, Fackeln und Windlichter erloschen, und die Pferde an den Zügeln führend, bewegten die Leute den Wagen nur unter großen Schwierigkeiten vorwärts. Wie langsam und beschwerlich ihre Reise unter solchen Umständen vor sich gehen mußte, ist leicht zu übersehen. Oft ließen sie halten, oft kehrten sie um, wenn sie in völlig unwegsame Bahn gerathen waren; und es glich mehr einem Wunder, daß sie endlich das Ende [44] des Waldes erreichten, als einem erwarteten Resultat ihrer oft so vergeblichen Anstrengungen.

Mitternacht war indessen vorüber, als sie die gelichteteren Stellen des Waldes, die das Schloß Ste. Roche erkennen ließen, erreichten. Der Regen hatte aufgehört; aber der Sturm wälzte sich heulend und mit furchtbarer Gewalt über den zitternden Boden. Die jungen Leute hatten den Wagen verlassen, sie wollten sich selbst den Eingang zum Schlosse suchen; denn ihre Diener hatten mit den erschöpften Pferden zu thun, und der Wegweiser erklärte, daß er um keinen Preis das alte Geisterschloß betreten würde und that Alles, was seine plumpe Ueberredungsgabe vermochte, die jungen Herren gleichfalls davon abzuhalten.

»Herr, Herr,« sprach er – »das ist ein Unglückshaus; noch Niemand hat es unbeschädigt verlassen, die Meisten fanden ihr Grab darin und litten vorher viele höllische Qualen. Räuber sollen auch darin hausen! Und was Wunder – seit St. Albans, der alte Kastellan, verstorben ist, und der Sohn die Pachtung vom Kloster Tabor übernommen, steht Alles verlassen; die Thore und Gitter sind auf, ohne Wächter, ohne Schloß und Riegel. Was Wunder, daß sich einnistet, wer finster Werk treibt; denn die alte böse Hexe, die sich dort abgesperrt, die wird es nicht hindern!«

Dessen ungeachtet machte diese Rede nur bei der Dienerschaft Eindruck; die jungen Männer befahlen, daß man den Mundvorrath, nach dem sie anfingen, einiges Verlangen zu tragen, ihr nöthiges Gepäck und die Windlichter nachbringen möchte, der Wagen langsam den Eingang suchen sollte, und eilten Arm in Arm dem Schlosse zu. Jetzt standen sie an einer terrassenartig ansteigenden Befestigung, die, durch Gräben getrennt, mit kaum wahrzunehmenden Brücken überbaut waren, hinter welchen sich die dunkle Masse des Schlosses zeigte, die [45] gegen den Nachthimmel, der, mit zerrissenen Wolken bedeckt, die, vom Sturm gejagt, einen schauerlichen Wechsel trieben, wahrhaft drohend und gebietend abstach.

Beide blieben stehen, lebhafter von seinem Anblick ergriffen, als sie erwartet hatten. »Weiß Gott,« rief Reginald – »man möchte zu den bösen Dingen Glauben fassen, die über dies alte Schloß in dem Munde der Nachbaren sind; es sieht aus, als riefe es Jedem eine Warnung vor seinem Bereiche zu!«

»Ja,« sprach Ludwig bewegt – »wie das riesige Grabmal eines ganzen Geschlechtes sieht es aus! Die Valois erbauten es, wie Du mir sagtest; – sie hätten mit allen ihren Sünden darunter Raum!«

Sie schritten vor und erreichten trotz des wüthenden Sturmes, der sich wie Menschenhände ihnen entgegen drängte und sie zurück zu schleudern schien, die Eingangsbrücken. »Dieser Nacht werde ich gedenken bis an mein Ende!« rief Reginald und ergriff das Gitter, was den düstern Hof mit Theophims Grabmal umschloß. Er zog Ludwig nach sich, der, matt und erschöpft, ihm kaum folgen konnte; und Beide traten nun durch das offene Gitter in den Schloßhof, der ihnen wenigstens einigen Schutz verlieh, obwol das Geheul des Sturmes sich nur noch schauerlicher gegen alle die Ecken und Giebel brach, die, mit eisernen Gittern und Wetterfähnchen besteckt, ein wunderliches Konzert bildeten.

»Laß uns Quartier machen, wo wir zukommen!« sprach Reginald. – »So spät, so über Mitternacht hinaus, erwartet uns die alte Freundin nicht mehr; wir wollen sie nicht beunruhigen und werden doch Dach und Fach finden für die wenigen Stunden.«

»Ja,« erwiederte Ludwig – »laß uns Schutz suchen ohne Zeitverlust, ich fühle mich erschöpft; – vielleicht bestätigt sich das Gerücht, daß die Thüren aufblieben.« –

[46] Beide überschritten nunmehr den Hof, und ihre Erwartung erfüllte sich. Sie traten ohne Hinderniß in die weitläufige Halle des unteren Geschosses; und nachdem die Diener Windlichter angezündet hatten, sahen sie, wie von hier aus schwere, eichene Treppen, mit großem Aufwande von Raum, in die oberen Gemächer führten.

»Hier ist nicht Bleibens, trotz der alten Kamine, die vielleicht unseren Leuten nützlich werden,« sprach Ludwig; – »es ist hier kalt und feucht; wir wollen höher steigen, wir finden oben wohl bessere Räume.«

Die Diener leuchteten, und man erreichte den oberen Treppensaal, der, mit dunkelm Marmor getäfelt, an eben solchen Wänden mit Portraitstatuen umstellt war und rechts und links große Eingangsthüren zeigte, die, von Eichenholz, schwerfällig und überladen verziert, in Einfassungen von schwarzem Marmor liefen.

»Das sind finstere Eingänge,« rief Ludwig – »wie die Pforten zu einer Gruft!«

Reginald schauderte. »Laß uns lieber den Theil des Schlosses suchen, wo Emmy wohnt!« rief er lebhaft. »Zu Entdeckungen in diesen düstern Räumen sind wir nicht hergekommen.«

»Nein,« rief Ludwig – »das Bedürfniß nach Ruhe beherrscht mich ausschließend! Laß uns eintreten – rechts oder links – ich strecke mich sogleich nieder, wäre es auch auf den Stufen eines Grabmals. – Leuchtet, wir treten hier ein!«

Die Diener gingen zögernd voran, Ludwig schob sie weg; er selbst drückte das kunstreich umschnörkelte Schloß; es gab nach, und sie traten in ein schmales, hohes, gewölbtes Zimmer, welches, mit breitem Kamin und herumlaufenden Bänken, einem großen steinernen Becken in der Wand und daneben befestigtem Schenktisch, als ein Vorzimmer zum Eß- oder Banket-Saal, zu erkennen war.

[47] »Das zweite Zimmer wird besser sein!« rief Ludwig, jetzt thätiger werdend, als Reginald, der mit unbeschreiblicher Gemüthsbewegung und höchst widerwillig nur dem Grafen folgte. »Halt,« sagte er, die angelehnte Thür aufstoßend – »das ist ein Prunkgemach – und offenbar noch königlichen Ursprunges. Sieh den Thronhimmel mit der Krone und den kostbaren Purpurbehängen!«

Die Lichter erhellten nur sparsam den großen Prachtsaal früherer Zeiten; denn dem damaligen Geschmacke gemäß, war überall düsteres Material, wie schwarzer Marmor, Ebenholz, eichenes Getäfel und von der Zeit leicht geschwärzte Vergoldungen zu abenteuerlichen und gigantischen Verzierungen verbraucht. Doch waren hier bequeme Stühle, Kamine, die vielleicht die Feuerung vertrugen, und was sie mit näherem Forschen erspähen konnten, machte diesen Raum für furchtlose Gemüther zu einem tadellosen Ruhepunkte weniger Stunden. Ludwig schob sogleich einen der großen, damastenen Lehnstühle gegen einen Kamin, und indem er befahl, von einigen zusammengestürzten, auf dem Heerde aufgehäuften Möbeltrümmern Feuer zu machen, verrieth seine abgebrochene Rede, seine todtenähnliche Farbe, wie groß seine physische Erschöpfung sei. Obwol dies für Reginald, wie für ihre Diener nichts Ungewöhnliches war, regte es doch auch jedes Mal den guten Willen Aller an, ihm zu Hülfe zu kommen. Während die Diener sich mit dem Feuer beschäftigten, bemühte sich Reginald, von den alten Stühlen und ihren bauschigen Kissen Ludwigs Stuhl bequemer zu machen, und als der ihn stumm, aber dankbar anlächelnde Bruder ruhte und mit warmen Mänteln überdeckt war, zog er ein klirrendes, schreiendes Tischchen von getriebenem Kupfer herbei, das seine Staubdecke räumen mußte, und auf dessen mit künstlichen Bildern eingelegter Platte Reginald mit jugendlich gelenkiger Geschicklichkeit die Mundvorräthe ausbreitete, die der gute Prior [48] ihnen mitgegeben. Bald war so eine Art Bequemlichkeit eingetreten, die wenigstens als Gegensatz des draußen wüthenden Sturmwindes so genannt werden konnte; da der Kamin wirklich in hellen, prasselnden Flammen die zertrümmerte Pracht des vorigen Jahrhunderts verzehrte und damit in seiner Nähe wohlthuende Wärme verbreitete. Ludwig griff nun auch, sichtlich erquickt, zu den Speisen, die der Klosterküche Ehre brachten, und fühlte sich besonders von dem starken, alten Weine neu belebt, welcher ihnen in einer Berechnung zugetheilt war, die den Maaßstaab des dort zuerkannten Bedürfnisses verrieth.

»Jetzt,« rief Reginald – »bin ich erquickt, und unsere Leute werden es auch sein. Ruhe Du hier, mein Lieber – ich will mit den Leuten und unseren Pistolen die nächsten Räume untersuchen; denn ein offenes Haus will ein nöthiges Bedenken erregen. Behalte Du eine von Deinen geladenen Pistolen hier, mit den anderen bewaffnen wir uns.«

Ludwig war es zufrieden, und Reginald durchspähte zuerst ihren Aufenthalt. Das Zimmer war mit kostbaren, aber verwitterten Gobelins behangen, darunter standen fest und unversehrt verschlossene Schränke, die eine fortgesetzte Skulptur in Ebenholz waren und, mit Gold, Silber und Elfenbein untermischt, Gegenstände aus dem alten und neuen Testamente darstellten. In der Gegend des Thronhimmels stand eine lange, eben so kostbar gearbeitete Tafel, über der ein verstaubter Teppich von purpurrothem Sammet mit goldenen Frangen hing. Außer der Eingangsthüre befanden sich noch zwei kleinere in diesem Zimmer; die eine öffnete sich nach einer offenen Gallerie, von der ihnen sogleich der Sturm entgegen wehte, der sie der festen Thüre froh werden ließ. Dagegen war neben dem Thronhimmel eine vierte, größere Thüre, die Neugierde und Verdacht in ihnen erweckte; da sie mit mehreren Schlössern und eisernen Balken verwahrt war, die nach einigen Versuchen, sie zu öffnen, [49] sich als zu stark befestigt zeigten, um den Eingang möglich zu machen. Dies machte auf Reginald einen sehr unangenehmen Eindruck, und er fühlte damit Sorge und Unruhe in sich angeregt; obwol er bemüht war, sie zu verbergen, da er Ludwigs eintretende Ruhe zu stören fürchtete. Um so viel sorgfältiger untersuchte er die anstoßenden Räume; und alle zeigten sich durchaus beruhigend. Er befahl einem der Diener, mit dem Pistol in der Hand im Vorsaale zu lagern, den zweiten ließ er vor die Thür nach der Gallerie sich legen; er selbst aber nahm Ludwig gegenüber am kupfernen Tischchen Platz, so daß er die geheimnißvolle Thür im Auge behielt. Er hoffte, Ludwigs leichten, krankhaften Schlummer bewachen zu können, trank mehr Wein, als gewöhnlich, um sich munter zu erhalten; und da das sonderbare, wehklagende Geschrei der vom Sturm umwehten Zinnen und Thürme in dem mannigfachsten Wechsel seine Phantasie anregte, fühlte er sich auch der Müdigkeit widerstehend, die ihn von dem Augenblick an bedrohte, als Ludwig vor ihm in gleichmäßigeren, ruhigeren Schlaf versank. Er faßte das scharf geladene Pistol fest in die rechte Hand und sich in den Lehnstuhl zurücklehnend, blieben seine Augen, wie gefesselt, an der verschlossenen Thüre haften. O, wie sammelte die Ruhe, die für seine Gedanken eintrat, die Bilder, die aus Emmy's mächtiger Rede über das Verhängniß dieses Hauses in ihm niedergelegt waren! Von der Gruft der Claudia von Bretagne an, bis zu dem blühenden, schönen Bilde seiner kindlichen Mutter, durchlief seine angeregte Phantasie nach Emmy's strenger Anordnung alle Begebenheiten. Wie schmerzlich und qualvoll stieg ihr und sein Schicksal in ihm auf, und wie dämonisch wuchs besonders Souvré's Gestalt in diesem Bilde an, von dem er sich erst jetzt eingestand, wie sehr er ihm in der Stille abgeneigt geblieben war. Wie verhängnißvoll erschien ihm dies Schloß selbst, das in seinem Bereich immer nur Unglück und [50] Schuld über seine Bewohner häufte; denn Emmy hatte nicht unterlassen, die Gräuel der Katharina von Medicis, des Theophim von Crecy, des Spinola zu berühren, wenn auch nur, um den Vorwurf zu verstärken, daß man Fennimor eine so entweihte Wohnung angewiesen. – So reihete sich Bild an Bild und erregte fieberhaft sein wallendes Blut. Der kühne Jüngling, der die Furcht noch erst erfahren sollte, lernte plötzlich ein Gefühl kennen, für das er, da es ihm neu war, den Namen nicht wußte. Er blickte in dem ungeheuren, dunkeln Raume mit klopfendem Herzen umher; das tiefe Schweigen, was jetzt hier herrschte, schien ihm entsetzlich; dieser Schauplatz geselliger Lust, ohne Zweifel von allen und den verschiedensten Bewohnern zu diesem Zwecke benutzt, zeigte keine Spur mehr seines früheren Lebens. Die Sessel blieben unbesetzt, die Tische leer, und die ungeheuren Schränke verhüllten ihren Inhalt, zum Dienste jener Zeit gehörend. »O,« rief Reginald plötzlich unbewußt – »dies Schweigen ist unerträglich! Besser, es belebte sich Alles mit den Gestalten der Vergangenheit!«

»So folge mir!« rief eine hohle, ernste Stimme hinter ihm. Entsetzt wandte er sich und sah, daß er bei seinem Umherblicken die Richtung nach der verschlossenen Thür aufgegeben hatte, die jetzt geöffnet war; von da her, das übersah er mit einem Blicke, war die Männergestalt gekommen, die diese Worte zu ihm sprach. Aber Reginald fühlte seinen Athem stocken; und doch konnte er es nicht nachweisen, warum ihn eben diese Gestalt so entsetzte. Seine Züge waren nicht ganz zu erkennen; ein spanischer Hut mit breiter Krempe, nur seitwärts mit einer Agraffe aufgeschlagen, beschattete sein Gesicht; doch schien es Reginald gelb und bleich. Um seine Schultern hatte er einen kurzen, feuerfarbenen Mantel, der drei große Löcher auf der Brust zeigte; übrigens schien er in schwarzem[51] Sammet altspanisch gekleidet, und trug ein breites Schwert in reicher Scheide eng an sich gedrückt.

Immer deutlicher trat es Reginald hervor – er hatte die ganze Gestalt, so wie sie jetzt vor ihm stand, noch so eben unter den Portaitfiguren auf dem Treppensaal erblickt; dazwischen schien es ihm, er sähe Souvré's Züge, und die Gestalt nur widersprach in ihrer Größe dem flüchtigen Gedanken. – Und dieser Mann aus einem anderen Jahrhunderte forderte ihn auf, ihm zu folgen; Reginald fühlte sich wie von einer unabweisbaren Autorität beherrscht! Ohne es deutlich sehen zu können, glaubte er das stechende Auge des rothen Mannes zu fühlen; er wandte sich ängstlich nach Ludwig um. Aber dieser war nicht allein schon erwacht, es schien sogar, er war früher aufgefordert worden, als er selbst; denn er stand bereits eben so willfährig, als Reginald.

»Gesellschaft sollt Ihr finden,« fuhr der rothe Mann fort – »und für zwei Grafen von Crecy, an deren Leben die Erhaltung des Hauses Crecy-Chabanne hängt, soll es passende, unterhaltende Gesellschaft sein! Ihr fürchtet Euch doch nicht?« setzte er höhnisch hinzu.

Dies schreckte Reginald empor. Jetzt erst fühlte er den erstarrten Zorn sich in seiner Brust beleben. »Wer seid Ihr?« rief er. »Welch ein Recht habt Ihr, in unserem Schlosse eine Einladung an uns zu richten, als wäret Ihr der Herr desselben?«

Eine Art Schnauben, wie es der Zorn zuweilen bei sehr wilden Menschen hören läßt, ging voran, dann folgte ein höhnendes Lachen. »Kind, halte ein mit Deiner Wichtigkeit,« rief dann der rothe Mann – »und hüte Dich, mich zu reizen, daß Du nicht gleich erfährst, welche Macht ich hier habe – eine solche, die in ihrem Alter und in ihrer Rechtmäßigkeit die Deinige überbieten könnte!«

[52] Und Reginald – der kühne, hochherzige Jüngling – schwieg. Ihm war so fremd und erdrückt zu Muth; als er sprach, fühlte er keine Kraft, seinen Worten Ton und Stärke zu geben; sein Athem war so kurz, sein Kopf schien ihm nicht frei; – nur die Nähe Ludwigs beruhigte ihn. An seiner Seite folgte er dem voran schreitenden, rothen Manne, willenlos – wie durch Zauber ihm nachgezogen, und an Ludwig dieselbe Gewalt wahrnehmend.

Als sie die Schwelle der jetzt geöffneten, früher so fest verschlossenen Thür überschritten, blieb der rothe Mann stehen; und indem er zurückschaute, sagte er: »Ihr hattet, denke ich, große Lust, diese Räume zu betreten! Als ich Euch an den Schlössern hämmern hörte, konnte ich denken, wer es war. Ihr hattet Recht, hier Einlaß zu wünschen; – nur kam es mir zu, Euch hier willkommen zu heißen; denn es ist so recht eigentlich mein Bezirk. – Auch wartete ich schon längst auf Euch, Ihr Grafen von Crecy-Chabanne!« Ein kurzes, feindliches Lachen folgte, und die erschütterten Jünglinge eilten ihm nach, der mit geräuschlosen Schritten über das dunkle Getäfel voranglitt.

Sie fanden erleuchtete Räume, ohne den Moder der Zerstörung, doch in dem Geschmacke des Jahrhunderts eingerichtet, dem der Mann im rothen Mantel anzugehören schien. Sie kamen erst durch einige kleinere Wohnzimmer, durch ein Schlafzimmer mit einem großen Bette, gegen dessen verschlossene, schwersammetne Vorhänge ihr Führer wild drohend die Hand erhob – und wie glich er jetzt Souvré! Dann öffneten sich weite Säle, und die Jünglinge erstaunten über die Ausdehnung des Schlosses und den Glanz der Ausstattung. Diese Räume wurden jedoch von einer Schaar geschäftiger Diener und Dienerinnen belebt, die in einer ungewöhnlichen Thätigkeit umhersausten; doch ohne anderes Geräusch vernehmen zu lassen, als [53] daß sie die Luft zu bewegen schienen, die oft schneidend und kalt an den Jünglingen vorüberstreifte, und auch die zahllosen Kerzen in einer beständig wehenden Bewegung erhielten.

Der rothe Mann hatte mit Allen zu verkehren, und Beide behielten Zeit, das zahlreiche, wunderliche Personal zu betrachten, das, einig und in derselben Richtung wirkend, doch durch das Kostüm so getrennt erschien, als lägen zwischen den einzelnen Gruppen Jahrhunderte. Das Erstaunen Beider verschlang jede Frage; sie waren im Sehen aufgelöst und von großer Beklemmung und einem nicht zu beherrschenden Grauen erfüllt; denn diese wort- und geräuschlosen Geschöpfe änderten jeden Augenblick mit Blitzesschnelle ihre Plätze, und die abenteuerlichsten, längst vergessenen Kostüme, die, schwerfällig und beladen, jede Bewegung zu hindern drohten, wurden hier mit einer Leichtigkeit getragen, als wären es Gewänder, von Staub und Luft gewoben. Die Jünglinge wurden von Niemandem bemerkt, von Niemandem berührt; obwol sie von der großen Anzahl immer umkreist waren und ihren kalten Lufthauch fühlten. Alle waren beschäftigt, eine Tafel zuzurichten; von den alten Geschirren in den kostbarsten Metallen, die sie herbeischleppten und ordneten, waren einige kaum in ihrer Bestimmung zu erkennen, so fern mußte die Zeit ihres Gebrauches liegen; dazwischen kamen neuere Gegenstände; die köstlichsten Geschirre und Becher, zu deren vervielfältigten Modellen Benvenuto Cellini als Erfinder genannt wird. Dann das leichte, florartige Glas der Venetianer mit Wappen, Farben und Vergoldungen; – jedes Jahrhundert, schien es, hatte seine Geschirre und seine ihm zugehörende Bedienung.

Vergeblich rang Reginald mit der wahnsinnigen Verwirrung, in die er sich gestürzt fühlte; die Dinge behielten ihre Gestalt und zogen ihn endlich in einem Maaße an, daß die Ueberlegung in ihm erstarb; – nur Ludwig's Arm, sein [54] antwortendes Auge, das er zuweilen suchte, gab ihm ein Gefühl von Haltung und Ruhe.

Jetzt winkte ihnen der rothe Mann, ihm zu folgen, und Beide traten mit ihm in den nächsten Saal, welcher glänzend erhellt und von großer Ausdehnung, aber mit einer Masse von Gestalten beinah' überfüllt war. – Doch waren sie früher den Dienern begegnet, standen sie hier unverkennbar den Gebietern gegenüber. Wohin in dieser glänzenden Versammlung zuerst das Auge richten – wie den Reichthum fassen, der hier den Glanz aller erdenklichen Kleiderpracht mit dem Zauber von Schönheit und Jugend vereinigt zeigte? – Die Jünglinge waren geblendet – ihre Phantasie war überboten; sie fühlten eine schüchterne Hingebung und schienen sich kaum berechtigt, zu einer so anspruchsvollen Versammlung gehören zu wollen. Doch auch hier fiel Reginald bald die chronologische Folge auf, auch hier zeigten sich aus der Gesellschaft verschwundene Kostüme, oder solche, die nur noch in alten Bildwerken bewahrt wurden; und bei ruhigerer Betrachtung sah er zwei Frauen, die wie schroff bezeichnete Zeitabschnitte sich gegenüber standen und einen ganzen Kreis ähnlicher Gestalten um sich versammelten. Es ist ein Maskenscherz, wollte Reginald denken; aber er glaubte an dem Gedanken zu ersticken. Der Athem blieb ihm stehen, er wollte laut aufschreien, sich die Qual zu erleichtern; – aber der Laut erstarb – die Lippen blieben tonlos. – Da trat der rothe Mann, der Alle wie seine Gäste zu leiten schien, zu ihnen; er führte sie umher. Sie wurden vorgestellt – er hörte viele Namen – und sich und Ludwig immer gleich als Grafen Crecy bezeichnen; doch schien es ihm, der rothe Mann spreche kein Wort, und hier, wie bei den Dienern, herrsche lautlose Stille. Dennoch wußte er, die blasse hagere Frau mit den tiefgesenkten Augenliedern, mit der ruhigen Stirn und dem Ernst einer Heiligen, sei Claudia von Bretagne. Sie trug den thurmhohen [55] Bau eines steifleinenen Kopfputzes, jener Mode, woran radförmig Halskrause und Brustlatz liefen, die keine Ahnung einer menschlich weiblichen Gestalt zuließ. Von grobem aschfarbenen Wollenzeuge hingen die Gewänder in festgenähten Falten ohne Gürtel bis zum Boden; nur die Hände sahen mit den Fingerspitzen aus den aufgeschlagenen Aermeln hervor; sie waren schön und fein, doch gelblich weiß, und umschlossen ein schwarzes Kruzifix. Aus den Falten des Rockes hing ein Spindel nieder, und nur auf der höchsten Spitze des widrig steifen Kopfputzes saß die kleine Königskrone; sie hatte aber einen Schein wie Sternenlicht, und so auch leuchtete ein Kreuz von Edelsteinen, was auf dem Brustlatze ruhte. Um sie standen junge, bleiche Frauenbilder in der entstellenden Tracht der Zeit, mit Angesichtern, so still, so mienenlos und kalt, als sei das Buch des Lebens mit seinem ganzen Inhalte vor ihnen verschlossen geblieben. Sie standen um die stille, unbewegliche Herrin, die ihrer nicht zu achten schien; dazwischen sah man Ritter mit unbedecktem Haupte, Pagen in Wappenfarben, gleich Gerüsten dieser Abzeichen, geschmacklos überladen mit bunten Farben und ungefälligem Schnitte der Kleider. Klein jedoch nur war die die Zahl, die um die Königin kenntlich zu erblicken war; denn nur die Bezeichneten traten deutlicher hervor. Hinter ihrem Stuhle schwirrte noch ein ganzer Knäuel verbundener Gestalten, die lebendig um einander glitten und bei dem unsicheren Lichte der wehenden Kerzen immer zu wechseln schienen.

An einen großen, weitläufigen Kamin gelehnt, in dessen Heerd die jähe Flamme, in Regenbogenfarben spielend, nach allen Seiten züngelte – so nah, daß der Rand der reichen Gewänder in jedem Augenblicke von den hervor schlüpfenden Flammen besäumt ward, stand ein Weib von mächtiger Schönheit! Sie hatte wohl die starre, kalte Weise der übrigen Frauen; doch ihr, wie allen um sie versammelten Schönen glühte ein fremdartig, [56] schimmerndes Roth auf den Wangen. Der Kopf war unbedeckt; in vollen Ringeln floß das dunkle Haar bis auf die marmorbleichen Schultern; auf der Mitte ihres Hauptes aber ruhte eine große, mächtige Krone von Brillanten; – es war Katharina von Medicis! – Sie schaute mit den glühenden Augen in die Ferne. Ihr Gewand war purpurrother Sammet; es deckte um die volle Taille kaum die preisgegebene Schönheit ihrer Formen. So waren alle Frauen ihres Kreises schön und zum Erschrecken fast enthüllt. Dazwischen bewegten sich zahllose Männergestalten in den prachtvollen Kostümen der Valois zur Zeit der Medicäerin. – Die Namen der Geschichte wurden den beiden Jünglingen genannt, sie sahen ihre belebten Gestalten, es schien, als habe Alle, die nacheinander dieser Zeit gedient, ein Hoffest hier vereinigt. Es waren die Sitten, die damals geltenden, bewunderten Formen der Geselligkeit; Alles diente, empfing, erwiederte; und man sah Alle gruppenweis in gesellschaftlicher Beweglichkeit.

Die Jünglinge wurden wie im Wirbel fortgetrieben; ob es Sekunden, ob es Stunden waren, sie wurden sich dessen nicht mehr bewußt; mit überspannter Neugierde ernteten sie mit ihren Augen die Wunder ein, die sich ihnen enthüllten. – Bald waren sie getrennt, bald waren sie vereint; – doch Keiner sagte dem Anderen mehr ein Wort; es schien, als verlören auch sie die Sprache. Denn, wie sehr auch Reginald sich mühte, klar zu werden, ob dieser glanzvolle Kreis durch Worte sich verständige, es gelang ihm nicht; – er verlor den Gedanken daran; oder die Anstrengung, ihn festzuhalten, verging in angstvoller Betäubung, die endlich in dem Anblick unterging, der so berauschend war. – Da ergriff sie plötzlich der rothe Mann, zog sie zum Kamin und stellte sie dicht vor die Königin; – er nannte ihre Namen und starrte höhnend auf sie hin. Sie fuhr zusammen; – einen Schrei des Schmerzes glaubten sie zu [57] hören. Die Flammen des Kamins umzüngelten wie ein Saum das glänzende Gewand; – sie sträubte sich und strich die Flammen mit den Händen ab. Da sah Reginald, wie ihre, Füße nackt und bis zum Knöchel roth gefärbt waren; – sie wehrte die Jünglinge ab, der rothe Mann jedoch hielt sie vor ihr fest und forderte eine hohe, in Goldstoff gekleidete Gestalt, die hinter Katharina stand, heraus, hervorzutreten; hohnneckend zeigte er ihr die Jünglinge, dann hob er den rothen Mantel auf und zählte die runden Löcher: eins – zwei – drei; – da taumelte der Andere und sank zusammen. – Es war Theophim, Graf von Crecy! Im nächsten Augenblicke wurden die glänzenden Tischchen von getriebenem Kupfer mit sammetnen Beuteln zum Spiele eingerichtet, herbeigerollt. Die verschiedensten Partieen wurden schnell geordnet. – Alles saß – die Königin Claudia ausgenommen; sie hatte die Spindel los gemacht und zog die feinen Fäden, langsam durch die bunten Reihen wandelnd, als sei sie hier allein.

Reginald erblickte Ludwig mit Katharinens schönen Frauen beim Brettspiele; heftig erregt, suchte er zu ihm zu kommen; aber die Luft schien in schweren, hindernden Schichten zwischen ihnen zu liegen; er konnte ihn nicht erreichen. Dagegen stand er mit einem Male zur Seite der Medicäerin; sie spielte mit Theophim von Crecy ein mystisches Spiel mit goldenen und silbernen Figuren; auf der kupfernen Platte des Tisches waren Bilder eingelassen, nach deren Zeichen sich die Spieler zu richten schienen. Schrecklich war ihm Theophim's Bild – bleich – das Gesicht mit grünen Flecken übersäet – die Hände mit goldgestickten Handschuhen bedeckt, die so grauenhaft schlotterten, als ob sie eine dürre Knochenhand bedeckten.

Unruhig auch war der Königin Betragen, und schaudernd – zuckend – fuhr sie oft zusammen. Da sah Reginald mit Entsetzen, daß in den reichen Locken die rothen, schwarzgefleckten Würmer [58] krochen, die den lebendigen Leib der Menschen fliehen und nur bei Todten hausen; – er sah, wie aus den Falten des Sammtes, aus dem Juwelenplatze sie ihren Weg lustwandelnd über die reine Wölbung des schönen Halses nahmen – wie sie den runden Arm entlang bis zu den Fingerspitzen krochen – und wie die Königin ohne Weigern ihrem Treiben sich ergab.

Doch schien es ihm, das Auge werde ihm stets klarer und deutlicher, die Gegenstände zu erfassen; – die Frauen, so schön, so reizend und glänzend anfangs erscheinend – erstarrten plötzlich – sie hatten keinen Blick im Auge – sie glitten pfeilschnell ohne Schatten, ohne Schritt oder Bewegung über den Boden. – Claudia ging, als ob der Fußboden sich langsam mit ihr fortzöge. Keiner berührte den Anderen; – seufzend, wie fernes Geheul, durchfuhr den ganzen Raum schneidender Zugwind; – überhaupt wehte eine kalte und belastende Luft, die bis zum Herzen die Kraft zu hemmen drohte. Reginald erwartete immer bestimmter einen Hauptmoment, ein Entsetzliches – das alles Grauenhafte vor ihm überbot. Doch schien es auszubleiben; – die Thüren öffneten sich, die Tafel war gerüstet, der Dienerschwarm eilte herein; wie rollender Sand durchdrang er blitzschnell die jetzt fast ganz erstarrten Gruppen der stolzen Versammlung. Alles schob sich vor, die Herren und die Damen, wie getrieben, wie gejagt von dem sturmschnellen Dienertrosse. – Zwischen ihnen Beiden stand hohnlachend der rothe Mann am Eingange des Banketsaales, und ängstlich schaudernd drängten die Eindringenden sich zusammen, als ob sie seine Berührung fürchteten. Er aber zeigte mit dem langen, dürren Finger auf den Einen oder Anderen, bald Mann, bald Frau; und jeder der Bezeichneten trug ein ähnliches Merkmal, als er selbst – ein Paar runde Löcher im Mantel oder Wamms, die Frauen in dem zarten Mieder. – O, wie gern hätte sich Reginald der Einen in Silberstoff, mit[59] dem Halsbande von niedertropfenden Rubinen, genaht! Es war Eudoxia Nemours; – sie deckte mit der lilienweißen Hand die Stelle in dem Mieder, wohin der unerbittliche Rothmantel höhnend deutete. Doch kreiste die Besinnung wieder in Reginald, überwältigt von den Gegenständen und ihrem fabelhaften Gemische. – Er saß an der Tafel neben schönen starrblickenden Frauen; er sah am oberen Ende derselben Ludwig an der Königin und Teophim's Seite sitzen und ward umsaust von der rastlosen Bedienung. Er wußte selbst nicht, ob man Speisen gab und nahm, ob die Becher leer oder gefüllt die Tafel umkreisten; – immer qualvoller, immer bänger ward sein physischer Zustand – Todesangst hemmte jeden Pulsschlag – er glaubte Modergeruch wahrzunehmen – er schauderte, die starren Weibergestalten mit den schönen, leblosen Armen und Händen, die dicht neben den seinigen auf der Tafel ruhten, sich bewegen, ihn berühren zu sehen – er wollte aufspringen, Ludwig aus dieser Gesellschaft reißen, mit ihm entfliehen! Er schaute nach ihm hin – er fehlte. Jetzt schien das Maaß gefüllt. Er sprang mit Riesenkräften, die er nöthig hatte, auf – er stand vor dem Manne im rothen Mantel mit Souvré's Zügen. »Bleib'!« rief dieser – und lähmte so die Kraft des Jünglings. »Die Zeit der Rache ist gekommen, erloschen in diesem Augenblicke das Geschlecht der Crecy-Chabanne; – denn so Du lebst, blüht es in Dir nicht weiter. – Ich bin Spinola! Der von Deinem Ahnherrn Theophim beraubte und ermordete Spinola; – und ich lebe fort in Souvré, dessen Mutter eine Spinola und meine Enkelin war! Hier hast Du den letzten Grafen Crecy-Chabanne!« – Er schlug den Mantel zurück – im Arme trug er Ludwig's bleiches, blutiges Haupt!

Ein Schrei der Wuth rang sich aus Reginald's Brust; – er fühlte mit Entzücken das Pistol in seiner Hand – er hob es auf – der Schuß fiel. – In demselben Augenblicke zerstob [60] Alles um ihn her; – tiefe Dunkelheit umgab ihn – er fühlte, er war erwacht. – Traum war das entsetzliche Erlebniß! –

Keuchend hob sich noch die Brust, der Angstschweiß floß von seiner Stirn, die Besinnung schien ihm noch zu mangeln; noch glaubte er leises Gewimmer – Todesröcheln zu vernehmen, sein Körper schien ihm steif und gelähmt – doch meinte er, der Schuß sei gefallen; denn er erwachte, wie seine Hand mit dem Pistole noch in der Luft schwebte.

Jetzt hörte er eine Thüre sich öffnen – er hörte Schritte – Lichtschein drang ein – mehrere Personen standen vor ihm – der Schein der Kerzen traf ihr Gesicht. – Es war der Marquis de Souvré, bleich, entstellt durch Sturm und Regen – von vielen Dienern gefolgt. »Ha,« rief Reginald – »Du bist der Rachegeist des Spinola!« – Souvré sprang entsetzt zurück; – Reginald glich einem Wahnsinnigen. »Fort!« schrie Reginald, wild den Marquis bedrohend – »Du hinderst mich nicht mehr, mein Werk ist gethan, die ewige Gerechtigkeit wird siegen, mein Bruder ist Ludwig!« – Alles fuhr zurück – er stürzte vor nach Ludwig's Stuhle – jeder Blick folgte ihm. –

»Ungeheuer,« schrie Souvré – »was hast Du gethan? Mörder! Mörder!«

Das Licht beleuchtete so eben scharf, ohne Täuschung Ludwig's erbleichtes, im Todeskampfe zuckendes Gesicht. Der Schuß hatte ihn getroffen. Aus der tiefen Wunde seiner Brust floß das Blut in vollen Strömen dahin; – röchelnd hob sich der nur selten noch wiederkehrende Athem – es war vorbei – der letzte Augenblick hing über ihm!

Starr blickte Reginald – versteinert in dies geliebte Antlitz. Er hatte eben so Entsetzliches erfahren – es war gewichen; zum zweiten Male sagte ihm eine Stimme: kannst Du träumen – es wird nicht sein! Umsonst, die Wahrheit trägt eine andere Farbe – sie überzeugt uns schnell!

[61] »Bösewicht,« schrie Souvré – »bekenne – gleich hier bekenne – Du bist sein Mörder!«

»Ich bin's!« rief Reginald mit schrecklichen, erschütternden Lauten. – »Ich bin Dein Mörder, Ludwig! Mein Bruder – Ludwig – höre mich! stirb nicht! erwache! sieh' mich an! – Mein Bruder, ich habe Dich gemordet!«

Es war, als ob der Sterbende auffuhr – Reginald war über ihn gestürzt – sein Blut überströmte ihn – Ludwig rang mit dem letzten Seufzer – seine Leiche sank über ihm zusammen. –

Souvré riß Reginald schnaubend vor Wuth in die Höhe. Dieser hatte das Bewußtsein verloren; er schleuderte ihn zu Boden, er wagte es, ihn mit seinen Füßen fortzustoßen. Sein Haß, seine Wuth brach aus allen Schranken hervor. »Bindet ihn – weckt das Dorf – ruft den Richter herbei!« rief er wie rasend. Seine Natur trieb ihn an, früher an Reginald's Bestrafung, wie an Ludwig's mögliche Rettung zu denken.

Doch die Diener der beiden jungen Leute, innig von der entsetzlichen Begebenheit ergriffen, versahen das Werk der Menschlichkeit. Der Kammerdiener Ludwig's riß ihm die Kleider auf, er wusch das Blut von der Wunde; doch ein Blick reichte bin, von jedem Rettungsversuche abzustehen. – Mit der größten Sorgfalt hätte der beste Schütze sein Ziel nicht sicherer treffen können, als Reginald's im Schlaf abgeschossenes Pistol, das mitten durch das Herz traf!

Als die treuen Diener diese traurige Ueberzeugung erlangt hatten, legten sie die heiß beweinte Leiche ihres jungen Herrn auf die große Tafel des Banketsaales und beschäftigten sich nun mit Reginald, der noch immer leblos auf dem Boden lag; denn Niemand theilte die Meinung des Marquis – Niemand hielt den jungen, verehrten Herrn des Mordes fähig!

Souvré war indessen zu den gewaltsamen Mitteln geschritten, die seinem Grolle zusagten. Er ließ von seinen Leuten [62] die Thüre bewachen und Andere schickte er nach dem Flecken, die Gerichtspersonen zu holen. Was indessen in ihm vorgehen mochte, als er den alten Saal, den Schauplatz so vieler Schrecken, auf und nieder wandelte, werden wir begreifen, wenn wir denken, daß er, sobald die Abreise der jungen Leute der Marschallin bekannt ward, dieser das erlauschte Gespräch seines Kammerdieners mittheilte, woraus hervorging, daß Beide den Weg nach Ste. Roche genommen hatten, von welchem Orte Reginald, wie aus dem mit Ludwig geführten Gespräche sich ersehen ließ, wichtige Mittheilungen mußte erhalten haben. Diese Reise wollte die Marschallin um jeden Preis hindern, und Souvré, dem Jünglinge so bitter zürnend, entschlossen, ihm jeden Vortheil zu rauben, war schnell erbötig, sie einzuholen, und dann entweder ihre Rückkehr zu erzwingen, oder Ludwig allein nach Paris zu führen. Der Vorsprung, den Beide hatten, ihre jugendliche Eile, das böse Wetter, welches den Marquis noch heftiger getroffen, verzögerte seine Ankunft bis wenige Augenblicke vor der entsetzlichen Katastrophe, die das Lebensglück so Vieler entschied.

Schon brach der Morgen mit seinem fahlen Lichte an; der sturmdurchwühlte Himmel sandte einen verwirrenden Wechsel von Licht und Dunkelheit; die Kerzen verglommen. Reginald regte sich; der Unglückliche sollte erwachen! Nicht lange blieb sein Bewußtsein aus. Betäubt – seufzend blickte er die treuen Diener an, die sich weinend um ihn bemühten; er richtete sich auf, und mit dem ersten Blick umher, stieß er einen wilden Schrei aus, der selbst Souvré durch alle Nerven drang. »Ludwig, Ludwig!« rief er, halb ahnend, halb fragend, und ergriff krampfhaft die Arme der mitleidigen Diener, die ihn halten wollten.

»Laßt ihn nicht entfliehen!« rief Souvré, als sie vor dem hastig Vorschreitenden zurücktraten, »der Bösewicht muß [63] in Ketten gelegt werden!« Aber Reginald hörte und verstand ihn nicht, ja, er erkannte ihn wohl kaum; denn der schwächliche Marquis flog wie ein Zweig, den man zurückschlägt, von seiner Hand bei Seite, als er ihm in den Weg treten wollte.

Wie ein Gespenst, mit Blut überdeckt, bleich und entstellt, eilte der unglückliche Jüngling vor und suchte den Bruder. Noch war seine Vorstellung nicht klar, nur wie von einer dunkeln, schweren Last fühlte er sich niedergebeugt und suchte ahnungsvoll den Bruder, damit Erklärung erwartend. Er erblickte den Kamin, an dem Beide gesessen; aber indem er darauf zustürzen wollte, streifte er die Tafel, worauf der Entseelte ruhte.

Er stürzte wildschreiend darauf hin – er rief mit allen Tönen der Verzweiflung seinen Namen, er ergriff seine Hände, sein Haupt und verwechselte den entsetzlichen Traum mit der Wirklichkeit. An Ludwig's Tod begann er zu glauben; – aber wie es geschehen, konnte er nicht fassen. Hände ringend blickte er Alle an. »Wer – wer – hat das gethan?« rief er mit erschütterndem Jammer. »Spinola? Das Ungeheuer, unter seinem Mantel trug er das Haupt! – Aber – Ludwig's Haupt liegt nicht getrennt – aus der Brust fließt das Blut – sagt, sagt, habe ich geschossen? Ja, ich hatte das Pistol! – Ich – ich habe den Schuß gehört! Spinola, Spinola, Du hast meine Hand geführt! Du – Du bist sein Mörder!« Außer sich stürzte er auf Souvré zu, der in demselben Augenblicke mit den Gerichtspersonen des Fleckens Ste. Roche näher trat. Wüthend faßte er den Marquis: »Gestehe, gestehe, Deine Mutter war eine Spinola! Rache, Rache hat Dich geleitet – Du hast den Erben der Crecy-Chabanne getödtet – Du wolltest dies unschuldige Geschlecht ausrotten, dem Ahnherrn zur Sühne! Doch zittere, zittere! Ich lebe – ich bin der älteste Graf Crecy-Chabanne – ich werde ihn rächen, Ludwig – Ludwig meinen [64] theuern Bruder!« Hier tauchte sein Gefühl in dem tiefsten Schmerz unter; er stürzte aufs neue über Ludwig's Leiche, und krampfhaftes Schluchzen erstickte jedes weitere Wort.

»Mein Herr,« sagte der Richter von Ste. Roche zu dem Marquis de Souvré, der von Reginald's letzter Rede wie vom Blitze getroffen stand – »soll das der mir bezeichnete Mörder sein?«

»Ich glaube,« sagte Souvré zerstreut und kaum hörbar. Fennimor's Sohn hatte aufs neue den Schleier von seinem Inneren weggerissen, den er sich selbst kaum zu lüften gewagt. Zwei Mal, unter demselben Dache, von der Mutter und dem Sohne, ward der jähe Blitz der Wahrheit in seine schwarze Seele geschleudert, daß er sie erkennen mußte! – Ja, seine Mutter war eine Spinola, die Enkelin des hier gemordeten Spinola; oft hatte sie dem Sohne die Geschichte des Ahnherrn erzählt, oft ihr Eigenthumsrecht über das Besitzthum der Crecy ausgesprochen, und in Souvré's Herzen hatte sich mit der Begierde zum Reichthume und der Unmöglichkeit, ihn in Rechtsanspruch zu nehmen, der finstere Groll genährt gegen dieses ihn beraubende Geschlecht. Doch überdeckt von der gesellschaftlichen Bequemlichkeit, die dies zu Glanz und Ehre erhobene Haus gewährte, hatte schon die Mutter ihm die Anweisung zur Verstellung gegeben, die er lauernd, Böses schürend, zu benutzen wußte, wie wir es erfahren haben. – Doch woher wußte der Jüngling dies? Souvré hatte den zufälligen Streit vergessen, der zwischen ihm und Fenelon in Gegenwart der Jünglinge einst vorfiel, und worin er, von seinem Hasse überrascht, sich seiner Anrechte auf das von Ste. Roche stammende Vermögen gerühmt; er aber glaubte überall die Andeutungen vermieden zu haben, als kenne er das Schicksal der Seinigen. Wie konnte es nun der Jüngling wissen? – Ein Grauen faßte ihn unwillkürlich; er wäre gern entflohen! Fennimor's Sohn trieb den sicheren Streiter eben so, wiesie einst, aus der festen Bahn, daß ein [65] Stillstand im raschen Vorschreiten eintrat – ein lästiges Erschrecken vor sich selbst.

»Mein Herr, Sie müssen sich erklären!« wiederholte der Richter das oft Gesprochene. »Bleiben Sie dabei, diesen Jüngling als den Thäter, als vorsätzlichen Thäter zu bezeichnen?«

»Ja,« rief Souvré, jede Unsicherheit abschüttelnd, mit dem Siege der Hölle in der frohlockenden Stimme – »ja, er ist der Mörder! Hierher hat er ihn, gegen den Willen der Seinigen, absichtlich gelockt, die schwarze That zu vollführen; – und zu spät mußte ich kommen, sie zu verhindern.«

Der Richter warf einen prüfenden Blick auf Souvré, dann sagte er kalt: »Ich habe blos den augenblicklichen Thatbestand zu Protokoll zu nehmen. Die unglückliche Begebenheit wird bald in andere Hände übergehen. Sie scheint mir sehr verwickelt; doch muß ich darauf aufmerksam machen, wie wichtig das erste Zeugniß ist, wie sehr wir uns hüten müssen, mit vorgefaßter Meinung hier zu Werke zu gehen; denn er wiesen ist hier nur der Tod!«

»Erwiesen,« rief Souvré – »ist absichtlicher Todtschlag! Denn wir fanden den jungen Bösewicht mit dem Pistol in der Hand vor dem schlafend Ermordeten.«

Der Richter schwieg und blickte auf die weinenden Diener: »Haltet Ihr den jungen Herrn dort für den Mörder?«

»Nein, nein, unmöglich! Sie liebten sich so sehr!« so erscholl es aus Aller Munde.

Souvré wollte sprechen; doch seine Klugheit kehrte zurück – er hielt ein. – »Mein Herr, hier handelt es sich nicht um unsere Meinungen,« rief er, anscheinend ruhig – »untersuchen Sie!«

Der Richter beorderte den Schreiber mit seinen Papieren an dasselbe kupferne Tischchen mit eingelegten Bildern, an dem einst Katharina von Medicis mit Spinola und Theophim zu [66] spielen pflegte, an dem die jungen Leute so eben in brüderlicher Eintracht gesessen, und an welchem jetzt der Eine zum Mörder des Andern erklärt werden sollte. Die Aussagen der Diener waren bald verzeichnet. Sie konnten, so widerstrebend es ihnen auch war, ein böses Motiv unterzulegen, doch nicht abläugnen, daß Reginald hauptsächlich mit Hast und Ungeduld die Reise betrieben und die Bitten des Priors im Kloster Tabor, dort das Ungewitter abzuwarten, zurückgewiesen habe. Dagegen bezeugten sie freudig das innige Einverständniß der beiden jungen Leute, erzählten die Sorgfalt Reginald's für den ermüdeten Ludwig und überzeugten den Richter bald, wie viel mehr bei diesen Aussagen ihre Neigung und Ueberzeugung zusammenfiel. – »Und dieser Schmerz,« sagte der Richter ernst – »bezeichnet er wohl den Mörder?«

»Ha,« rief Souvré – »es ist die Reue, die natürlich der jetzt ertappten Schandthat nicht fehlen kann!«

Der Richter nahete sich indeß dem Angeklagten, der im wahnsinnigsten Schmerze noch immer laut schluchzend über der Leiche lag.

»Richtet Euch auf, junger Mann,« rief der Richter – »antwortet uns!« Reginald fuhr empor.

»Ja, ja,« rief er mit der schrecklichen Zerstreutheit, die der Vorbote des Wahnsinnes zu sein pflegt – »sprecht zu mir! O, sagt mir die Wahrheit – Ihr habt weißes Haar – Ihr dürft nicht lügen – o, das ist schön – das Alter ist auch weise, und was vorgeht in der Welt, hat es geprüft. Sagt mir, ich bitte Euch bei Eurer Seele Seligkeit – habe ich ihn getödtet, oder Spinola, der schreckliche Rothmantel, der Ahnherr des Marquis de Souvré?«

Er bog sich weit vor, um forschend das Gesicht des Richters zu prüfen, und als dieser in ernstem Schweigen vor ihm stehen blieb, fuhr er bittend fort: »Sag', das Pistol – das [67] Pistol, sag', wie war das? Der Rothmantel brachte mir Ludwig's geliebtes Haupt. – Gott der Barmherzigkeit, da schoß ich! Habt Ihr's gehört? Habt Ihr den Schuß gehört? – Sprich, alter Mann! Dir will ich glauben – hat dieser Schuß meinen Bruder getroffen?« Ein lautes Geschrei – krampfhaft zerrissen von Schluchzen – brach bei diesen Worten aus seinem Munde.

Der Richter schüttelte schmerzlich das Haupt. »Gott weiß,« sagte er halb vor sich hin – »der beging keinen absichtlichen Todtschlag! – Junger Mann,« fuhr er dann lauter fort – »sammelt Eure Lebensgeister! Ihr müßt mir Antwort geben – wir wollen nicht Schuld – wir wollen Wahrheit entdecken! Ich – ich hörte den Schuß nicht – und weiß nicht, ob er aus Eurem Pistol kam.«

»Nicht? nicht? Du hörtest ihn nicht? Du sahest mich nicht?« schrie Reginald, auf ihn zustürzend; – »o, dann – dann bin ich es vielleicht nicht – dann fiel vielleicht kein Schuß – wenigstens nicht aus meinem Pistol!«

»Wozu die Heuchelei!« schrie Souvré, empört über die milde Weise des Richters – »ich hörte – ich sah es! – Elender, ich traf Dich, das Pistol auf Deinen Freund gerichtet – ich hörte den Schuß, ehe ich die Thür öffnete.«

Aber ehe der Richter noch antworten konnte, stürzte Reginald auf Souvré zu, er griff ihn und schüttelte ihn mit der Gewalt des Wahnsinnes.

»Ungeheuer,« rief er – »Du lügst! Dein ganzes Leben ist Lüge und Verbrechen! Du hast meine Mutter getödtet – Du hast ihren Gatten zum Verbrechen geführt – Du hast mich, den rechtmäßigen Erben, zum Bastard gemacht – Dein Zeugniß gilt nicht! Denn Du bist die Lüge selbst – Du bist der Rachegeist des Spinola – des fürchterlichen Rothmantels, der es mir so eben selbst gesagt!«

[68] Bis dahin hatte keiner der Diener den Marquis zu befreien gesucht. Niemand liebte ihn, und die gehässige Stellung, die er hier, einem Geheimnisse und dem angebeteten Jünglinge gegenüber, einnahm, ließ ihnen den heftigen Ausbruch desselben fast zur Befriedigung gereichen. Doch eben hatten sie Worte vernommen, die zu sichtlich den Stempel des Wahnsinnes trugen; – erschrocken befreiten sie den zitternden Marquis.

»Bindet ihn! Bindet ihn!« schrie Souvré, fast erstickt in Wuth – »er ist wahnsinnig – wahnsinnig!«

»Und um so weniger vielleicht schuldig!« rief der Richter. –

»Genug, mein Herr, genug! – Ich erkläre sie ihres Geschäftes hier dispensirt; – das Recht wird sich finden – es wird ohne Sie gehandhabt werden.«

Souvré ergriff die unvollendeten Blätter des Protokolls. Der Richter verneigte sich und schied schweigend und erschüttert aus seiner Nähe, die Blicke noch voll Rührung auf das nothwendige Opfer dieser schrecklichen Begebenheit gerichtet. – Der Marquis befahl augenblicklich, die Leiche in einen der Reisewagen zu tragen, und Reginald gebunden und bewacht daneben zu setzen. Langsam sollte dieser Zug erfolgen – er wollte nach Ardoise voran, um die traurige Vorbereitung zu übernehmen.

Doch, ob die Bemühungen der Diener nur gering – ob Reginald's Widerstand so mächtig war – sie erklärten dem Marquis, ihn zu binden sei unmöglich; – und da er ihres guten Willens bedurfte und das Hinderniß in ihnen argwöhnte, so begnügte er sich mit dem Befehl an seinen eignen Kammerdiener, ihn im Wagen zu bewachen. Es war ein unnützes Gebot! Fest hielt Reginald die theure Leiche umklammert; – ohne auf eine Vorstellung zu achten, schien er das unerklärliche, das schreckliche Geheimniß dieses Todes nur an dem leblosen Busen des Lieblings ergründen zu wollen, hier allein [69] von der wahnsinnigen Angst erleichtert zu werden, die seinen Verstand bedrohte. So ging die Reise langsam, aber unaufhaltsam fort. Souvré eilte voran; doch erreichte er erst am anderen Morgen, bei vorgeschrittener Zeit, Ardoise. Hier mußte er zu seinem großen Verdrusse erfahren, daß sämmtliche Herrschaften Tag's vorher nach Mont-Réal, dem Stammschlosse der Familie d'Aubaine, aufgebrochen seien, und man sie erst zur Tafel zurück erwarte. Um diese Zeit mußte auch die Leiche eintreffen; Souvré sah die Gefahr der Ueberraschung ein und beschloß, augenblicklich ihnen entgegen zu reisen, und mit Hülfe des Grafen die Uebrigen aufzuhalten, bis sie das Unvermeidliche erfahren. Doch der geschäftige Zufall drängte sich auch hier zwischen die Beschlüsse des Marquis!

Die Familie war schon früher von Mont-Réal aufgebrochen, um ein seitwärts liegendes, erst kürzlich vom Grafen d'Aubaine erbautes, kleines Jagdschloß zu besehen, welches die Damen noch nicht kannten. Dies machte, daß sie den Marquis de Souvré verfehlten, der erst später einigen auf geradem Wege zurückkehrenden Dienern begegnete und von ihnen die Abschweifung der Herrschaften erfuhr. Damit war wahrscheinlich Alles verloren! Souvré ließ, so rasch die Pferde laufen konnten, umwenden; wir werden erfahren, wann er eintraf. –

Die Marschallin, Madame d'Aubaine und ihre beiden Töchter fuhren in einer bequemen Jagdkarosse, wie sie in Versailles Mode waren, von der Besichtigung des kleinen Waldschlößchens nach Ardoise zurückkehrend, durch den schönen, herbstlich kolorirten Buchenwald, der in den Park überging, und an ihrer Seite ritten die beiden Grafen d'Aubaine, Vater und Sohn, begleitet von Jägern und Stallleuten.

Franziska reizte durch ihre tief bekümmerte Stimmung die üble Laune der Marschallin in hohem Grade; sie kannte die Ursache dazu – und zugleich über Souvrés Sendung in höchster [70] Spannung, trachtete sie nur darnach, Alles zu verbergen, was in ihr vorging, und führte mit besonderer Lebhaftigkeit die Unterhaltung. Als man in den Schloßhof einfuhr, erkannte die Marschallin die Reisekutsche ihres Enkels, welche angespannt im Hofe stand.

»Mein Enkel ist zurückgekehrt!« rief sie, sichtlich erfreut – »Souvré wahrscheinlich auch!«

Dagegen bemerkte der Graf d'Aubaine mit Erstaunen, daß die Diener aus dem Hause nicht, wie es Sitte war, zum Empfange ihrer Herrschaften ihnen entgegen eilten, um den Wagen zu öffnen, sondern daß die bestaubte Reisebegleitung diesen Dienst versehen mußte. Franziska verließ zuerst den Wagen. Ihr ahnendes Herz durchbrach die strengen Formen, die sie am Wagen festgehalten hätten – sie eilte mit flüchtigen Schritten der Entscheidung ihres Schicksals entgegen. Der Portikus des Hauses war mit allen Bewohnern gefüllt, Niemand beachtete das Geräusch der ankommenden Herrschaften; in eine Gruppe zusammengedrängt, umgaben sie einen Gegenstand in ihrer Mitte. Doch die junge Gräfin erkannte Reginalds laute Stimme, der in einer Heftigkeit, die ihren Ton seltsam veränderte, einzelne Worte und Reden ausstieß.

»Um Gottes Willen, was ist hier geschehen?« rief sie mit der höchsten Seelenangst – und der Kreis der bestürzten Menge wich bei ihrer, Allen so eindringlichen Stimme zurück. Sie stand jetzt vor Reginald, der glühend im Fieberwahnsinne, die Leiche des von der Reise bereits entstellten Ludwig, mit Riesenkräften an seine Brust gedrückt hielt.

»Reginald,« rief Franziska überwältigt – »was ist geschehen? Um Gottes Willen, wer ist das?«

»Franziska,« sagte er, seufzend vor ihr niederknieend – und alle Wogen seines brausenden Innern sanken bei ihrer Anrede zusammen. – »Dich will ich fragen! Du – Du wirst [71] es begreifen – Du wirst es mir erklären – ob Souvré, der Rothmantel – oder ob ich der Mörder bin?«

In diesem Augenblicke theilte sich der Kreis; die Herrschaften standen alle vor der entsetzlichen Scene!

»Reginald,« rief Graf d'Aubaine – »Chevalier – stehen Sie auf!« fuhr er heftig fort – »zu welcher unschicklichen Scene gebrauchen Sie hier meine Tochter!«

»Unschicklich?« rief Reginald – »Thor, sage entsetzlich! schrecklich! Ist denn sein Tod unschicklich? O, sage lieber – das jammervollste, grausamste Elend der Erde!«

»Wer – wer ist die Leiche, die der Wahnsinnige hält?« stammelte die Marschallin und drang mit Heftigkeit vor. Doch Graf d'Aubaine vertrat ihr den Weg – er wollte sie wegführen, aufhalten; die entsetzliche Wahrheit, daß dies ihr Enkel sei – wie entstellt er auch war – tagte in ihm! Er bat, sich rasch an seine Gemahlin wendend, daß die Damen die Halle verlassen möchten; doch nur Madame d'Aubaine war dazu bereit; mit Eifer stieß die Marschallin den Grafen zurück, während Franziska wie am Boden gewurzelt vor Reginald stand und keine Aufforderung hörte, die an sie erging.

Es hatte sich indeß der Kammerdiener des Marquis de Souvré dem Grafen genaht und ihm einen Theil der Wahrheit flüchtig mitgetheilt. Die Marschallin hörte einzelne Worte – sie schritt vor. – »Mein Enkel,« sprach sie zitternd – »ein Mord sagst Du – wer – wer – wo ist Dein Herr?«

»Ich glaubte ihn hier zu finden,« sprach der Kammerdiener. »Ja,« riefen mehrere Stimmen – »er war hier – und fuhr der Herrschaft nach Mont-Réal entgegen.«

»Fragen Sie den Menschen dort?« sprach die Marschallin, am ganzen Körper zitternd und auf Reginald zeigend. Doch ein Blick dahin zerstörte die wenige Fassung, die sie noch behaupten wollte; – sie stürzte vor – riß die Leiche selbst von [72] Reginalds Brust, die sie ihr verhüllte, und erkannte trotz der Entstellung die Leiche des Enkels – den einzigen ihrem Ehrgeize noch lebenden Grafen Crecy-Chabanne!

Ihre Zähne schlugen zusammen; sie hatte keinen Laut in der Kehle. »Ja, es ist Ludwig – Dein Enkel!« rief Reginald. »Er ist todt – ermordet; – mein theurer Bruder ist todt – und Niemand weiß, ob Souvré oder ich ihn ermordet habe!« –

»Du – Du, Elender – Du sein Mörder?« Mit diesen Worten, den ersten, die sie ihm jemals gönnte, brach der Starrkrampf ihrer Lippen. – »Mein Enkel todt – todt! Durch Dich getödtet! Schlange, die Du Dich unter uns genährt – warum hast Du ihn Deiner Bosheit geopfert?« –

»Halt!« rief Reginald und ließ seine Arme langsam los, da mehrere Diener sich bemühten, die Leiche ihm zu entwinden. – »Arme alte Frau, Du dauerst mich um Deiner Schmerzen Willen! Aber Du weißt nicht, was Du sprichst; – ich werde es Dir sagen – später – später – doch jetzt bin ich krank – mein Kopf ist wüst! Ich war ja sein Bruder – Du weißt es! – Sein ältester Bruder war ich – an dem Du Dich so sehr versündigt hast, böse alte Frau!«

Die Marschallin sah das ruhige, hinsterbende Antlitz Reginalds, und ihr klarer Verstand überraschte sie gegen ihren Willen mit der Ueberzeugung – er sei der Mörder nicht! »Wer ist der Mörder?« stammelte sie.

Reginald faßte an seine immer bleicher werdende Stirn. – »O,« sprach er mit den herzzerreißendsten Tönen des Schmerzes – »das kann ich nicht ergründen, so sehr ich mich darum bemühe! Wer mir das sagte! Wer mir sagte – ich sei es nicht! Aber Einer muß es sein – entweder der Rothmantel, der Spinola, oder Souvré, der Bösewicht, der schon meine Mutter tödtete – oder ich selbst!«

[73] Da stieß Franziska einen Schrei aus – sie trat dicht vor ihn hin – »Reginald,« rief sie, »Du bist es nicht; – nein, nein, Du bist kein Mörder!«

»Und doch – und doch ist er der Mörder!« schrie plötzlich eine nur zu kenntliche Stimme – und Souvré stand unter ihnen. »Graf d'Aubaine, ich fordere Sie auf, augenblicklich gerichtlich über diesen Menschen zu bestimmen; – er ist der Mörder des Grafen Crecy! – Ich kam zu spät, das Verbrechen zu hindern. – Er hatte ihn nach Ste. Roche gelockt – ich kam in dem Augenblicke an, wo der Schuß fiel, und fand ihn noch mit aufgehobenem Pistol vor seinem Opfer.«

»Sag' – sag' Du« – rief Franziska mit brechender Stimme – »ich will nur Dir glauben – sag' – antworte ihm – ermanne Dich! Nein, Du bist der Mörder nicht!«

»Gebe Gott, daß ich es nicht bin!« seufzte Reginald; – »aber es war mein Pistol – und Alle haben den Schuß gehört.« Er schien sich noch ein Mal aufraffen zu wollen; – plötzlich brach er zusammen. Leblos stürzte er zu Franziska's Füßen.

»Uebergebt dies Ungeheuer den Gerichten!« rief die Marschallin – »säubert die Luft von dieser Pest!«

Graf d'Aubaine schwieg; Souvré befahl, den Verbrecher aus dem Schlosse zu bringen.

»Vater,« rief Franziska, »er ist dennoch der Mörder nicht!«

Zornig fuhr der Graf auf. Er befahl ihr, augenblicklich sich hinweg zu begeben. Alle Frauen wurden von seinen Worten erschreckt. Selbst die Marschallin ließ sich hinweg führen; nur Franziska blieb, als habe sie nichts gehört, neben ihrem Vater stehen; und als er dies sanfte, folgsame Kind so sicheren Widerspruch mit so festem Vertrauen gegen ihn behaupten sah, wendete er sich sanft und gerührt zu ihr, indem er seine Hand [74] auf ihr kaltes, entstelltes Gesicht legte: »Vertraue mir, Frauziska, und zeige Dich fest und würdig; auch ich glaube nicht, daß er der Mörder ist, und werde ihn danach behandeln!«

O, welch ein Blick herzzerschlagener Ergebung traf ihn da aus ihren trüben Augen! Nach einigen vergeblichen Versuchen zu sprechen, lallte sie endlich: »Denn er ist krank, Vater – und von Sinnen!«

»Ja, ja, mein Kind! Geh' jetzt – auch Du bist krank.« – Diese Worte vollendeten den Zustand, der nur bis dahin von der Seelenangst bewältigt war; sie schloß die Augen; ihre Frauen trugen sie nach ihrem Zimmer. –

Der Graf d'Aubaine stand als Hausherr in dem wild kreisenden Strudel von Anforderungen, die, einem so entsetzlichen Ereignisse gemäß, alle eine leidenschaftliche Uebertreibung zeigten, die ihn zwar nur zufällig, aber dennoch unabweislich in den verschiedensten Richtungen, zu Entscheidungen nöthigte, da er sich, wenn auch selbst tief getroffen, doch für den Besonnensten, den Absichtslosesten erkennen mußte. Es kam in diesen ersten, unbewachten Augenblicken dabei Manches zur Kenntniß des Grafen, was ihn überraschte und seine Vorsicht und Beobachtung schärfte.

Die Marschallin machte so heftige körperliche und geistige Zustände in Zeit von vierundzwanzig Stunden durch, daß der Zügel der Selbstbeherrschung, den sie sonst nie aus der Hand verlor, kein Bändiger ihrer so jäh aufgestörten Leidenschaften war, und Graf d'Aubaine hatte bei aller Theilnahme doch mit Widerwillen einen bösen Sinn, ein mehr rachsüchtiges, als kummervolles Herz erkannt. Durch diesen Eindruck ward es ihm auch leichter, dem Marquis de Souvré zu begegnen, der, umsichtiger als die Marschallin, den Grafen zu übersehen glaubte und seine Schritte seinem Willen gemäß zu lenken hoffte. – Die Marschallin war nämlich mit sich einig geworden, [75] diesen Mord so öffentlich, als möglich zu machen, um dadurch einen unauslöschlichen Makel auf Reginald zu werfen, der ihm vielleicht das Leben kosten konnte – wenn nicht, doch den bürgerlichen Tod unbezweifelt bereiten mußte. Sie glaubte, eine solche Schranke um so nöthiger aufführen zu müssen, da sie ihn von seiner Geburt unterrichtet halten mußte, diesen Mord als eine Folge ansah, und in der Schwäche seines Vaters eine wahrscheinliche Gefahr ahnte, daß die Zeit seine bedrohlichen Ansprüche noch dereinst ans Licht ziehen könnte. Dazu war sie aber ohne den kleinsten Zweifel entschlossen, lieber den berühmten Namen Crecy-Chabanne aussterben zu sehen, als ihn in diesem durch seine Mutter ihr entehrt scheinenden Abkömmling fortbestehen zu sehen. Diese Ansprüche jedoch überhaupt als leere Erfindungen zu läugnen, ihre geringste Kenntniß derselben wenigstens bestimmt abzuweisen, und dadurch auch ihre Berechtigung in Zweifel zu stellen, wenn sie ihr je bis zu Erklärungen nahe gerückt würden, war die vorläufige Richtung, die sie ihren Gedanken gegeben hatte, nachdem die maaßlose Aufregung der ersten Stunden von ihrer Geisteskraft wieder eingefangen war.

Es blieb ihr ein großer Trost, daß der Graf d'Aubaine die Aeußerungen Reginald's, die, bei dem ersten Zusammentreffen mit der Marschallin, auf seine Geburtsansprüche hingewiesen hatten, entweder überhört, oder auf die Rechnung des Wahnsinnes geschoben hatte, von dem er ihm ergriffen geschienen. Sie schonte ihn dagegen eben so, indem sie ihm keine Frage über Franziska that, die aus dem trüben Kreise der Hausbewohner verschwunden war. Dagegen hatten ihre raschen Schritte nach Außen hin den Widerstand des Grafen zu erfahren, indem er mit mehr Scharfblick, als sie ihm zugetraut, die traurige Weitläufigkeit eines Prozesses darthat, der, fast zwecklos, nur mehr Leiden herbeiführen mußte und kaum eine so [76] bestimmte Entscheidung erwarten ließ, daß die traurige Thatsache außer Zweifel hervortreten werde. Aber die Marschallin hatte Gründe, diesen Prozeß herbeizuführen, die sie aber nicht aussprechen durfte; und der Graf d'Aubaine hatte für diese Oeffentlichkeit Befürchtungen, die er verschwieg, weil sie sein eigenes Interesse berührten und die in der Möglichkeit beruhten, daß bei der dem Richter zustehenden Erforschung der Gründe, die dem Angeklagten zur Last fallen müßten, seine Tochter erwähnt werden könnte; da er selbst die Liebe der beiden jungen Leute, die sich in einem Gegenstande begegnet war, heimlich als ein wahrscheinliches Motiv dieser entsetzlichen Katastrophe ansah. Da Beide so mit verdeckten Karten gegen einander spielten, mußte nothwendig die Marschallin gewinnen; denn sie hatte schlagendere Wendungen zu machen – und sie versäumte keine! –

Der Courier war abgesendet, der zugleich dem unglücklichen, wenig geschonten Vater die Meldung des Todes, mit der Bezeichnung Reginald's als Mörder, machte und eine Anzeige anbefahl, die den Kriminal-Hof von Paris zur gerichtlichen Einmischung aufforderte.

Bei allen diesen raschen und gebieterischen Handlungen zeigten sich die beiden Verbündeten, der Marquis de Souvré und die Marschallin, nicht vollkommen einig, und Ersterer sah das zornige Dahinstürmen derselben mit Besorgniß und nicht, ohne sich dagegen aufzulehnen. In einer ihrer geheimen Zusammenkünfte sagte er deshalb: »Wir spielen doch ein gewagtes Spiel, diese Kreatur aus ihrem Dunkel zu ziehen! Wenn dieser Mensch durch Emmy Gray von seiner Geburt unterrichtet ist, wird er durch diese gerichtliche Procedur von uns eigentlich erst dahin gestellt, wo er auch zugleich seine Ansprüche geltend machen kann; was er nur wünschen wird. Denken Sie, Madame, welch' ein Aergerniß, wenn Sie diese auch nur bekämpfen müßten!«

[77] »Ha, mein lieber Marquis, worauf stützen sich denn solche Ansprüche? Hat mir denn nicht Lord Gersey sein Wort gegeben, daß er das Zeugniß des Kirchenbuches in Stirlings-Bai vernichten ließ? – Und hier – das Zeugniß von der Geburt dieses Geschöpfes, was beweist es anders, als daß es ein Kind war, dem der wahre Name nicht zustand! Haben Sie mir das nicht selbst gesagt?«

»Gut, Madame; aber welche Sicherheit giebt Ihnen Ihr Herr Sohn? Wird er nicht, von diesem jungen Bösewichte gedrängt, Alles eingestehen? Und wird das Eingeständniß des Grafen nicht alle Kirchenbücher hinlänglich ersetzen?« –

»Ich werde ihm mit meinem Fluche drohen, wenn er dies wagt!« rief die Marschallin, außer sich; – »aber ich werde ihn entfernt halten, daß das nicht möglich ist; man macht ihn krank – man verdächtigt seinen Verstand; – glauben Sie mir, ich werde Mittel finden, dies von mir abzuhalten!«

»Ich darf daran allerdings nicht zweifeln,« sagte Souvré höhnisch – »da Euer Gnaden über die Mittel nicht schwierig sind, wie ich höre. Doch besser wäre es gewesen, den guten, schwachen Leonin auf seinem Schlosse zu lassen; wozu ihn hierher berufen, wenn seine Anwesenheit Gefahren bringt?«

»Welch' Geschwätz!« rief die Marschallin ungeduldig; – »bleibt der Gemordete nicht sein Sohn? Kann ich den Schutz der Gesetze aufbieten und den Vater dabei übergehen? Außerdem wußte ich, daß ein bedeutendes Erkranken ihn an das Bett fesselt. Ich beklage das in diesem Augenblicke nicht; – die Form ist beobachtet, und die Sache wird nicht durch ihn gestört werden.«

»Sie überbieten mich immer, meine Gnädigste!« erwiederte Souvré. – »Man kann Ihnen in Ihren kühnen Combinationen nicht folgen; vorzüglich, wenn man noch immer so, wie ich, einen lächerlichen Rest von Menschlichkeit mit sich herum schleppt [78] und so mauvais ton ist, mütterliche Weichheit in Euer Gnaden anzunehmen.«

»Ich dispensire Sie von Ihren Reflexionen über mich, Herr Marquis,« sagte die Marschallin mit dem Versuche, ihm zu imponiren. »Wer, wie ich, die Ehre einer Familie, die dem Throne so nahe steht, zu schützen hat, kann von Personen in anderen Verhältnissen nicht immer verstanden werden.«

»Vollkommen richtig,« sagte der unerschütterliche Marquis – »ich – zum Beispiel – verstehe weder diese Ehre, noch die Mittel, sie zu schützen. Doch das thut Nichts. Immer jedoch, Madame, komme ich darauf zurück, daß wir diesen jungen Menschen reizen werden, Alles zu sagen, was er irgend hervorbringen kann.«

»Und ich zweifle nicht, daß dies Geschwätz eines unbekannten Menschen, der so sehr verdächtig ist durch die Anklage, die so eben über ihm schwebt, nicht aufkommen wird gegen das Zeugniß einer Frau, die meine Stellung in der Welt einnimmt. Wir behalten immer Recht, wenn ein Zeugniß aus diesen niederen Ständen, zu denen seine Mutter, also auch er gehört, gegen uns aufzutauchen wagt. Lehren Sie mich unsere Stellung nicht kennen!«

Diese Unterredung endete, wie jede frühere. Man trennte sich mit erhöhtem Hasse, mit dem Gefühle der Last und der nothwendigen Hülfe, die man an einander hatte; und Jeder behielt seine Meinung. –

Unterdessen schien es, daß das Opfer dieser Maaßregeln, von Gott selbst aus der Gewalt seiner Feinde erlöst werden sollte. Ein hitziges Fieber zerstörte die Jugendblüte des unglücklichen Jünglings, der noch wenige Tage früher eine Zierde der Menschheit, ein verschwenderisch ausgestatteter Liebling des Himmels schien. Ihm ward die Sorgfalt und Pflege, die in einem so edlen Hause zu erwarten stand; der Graf ließ ihn [79] behüten und bewachen; ja, er selbst nahm zuweilen in dem Zimmer des Kranken Platz und hörte mit Erstaunen, den Wahnsinn des Gequälten die fern liegendsten Dinge mit der Gegenwart und mit Einbildungen über dieselbe, wie der Graf wähnte, verknüpfen, die jedoch alle theils von Liebe für den Verstorbenen, theils von Schmerz über seinen Tod erfüllt waren.

Von da wandelte der unglückliche Vater nach den stillen Gemächern Franziska's. Er fand hier täglich dieselbe rührende Erscheinung. Sie ward nicht krank; es war ihr wenigstens nicht zu beweisen, daß sie es war. Sie ließ sich jeden Abend entkleiden und bestieg ihr Bett; aber nach kurzem Schlummer saß sie dann, bis der Morgen anbrach, in ihrem Bette aufrecht, ohne ein Zeichen der Theilnahme. Ihre alte Amme, die sie allein zu hören schien, öffnete dann die Fenster; und aus ihrer Hand nahm sie ein wenig leichte Nahrung. Dann schien sie alle Tage von derselben Idee getrieben zu werden; sie stand hastig auf und begehrte dasselbe blaue Atlaskleid und die weißen Rosen zum Haarputze, und erwartete so angezogen, an dem niederen Balkon sitzend, ihren Vater. Sobald er eintrat, ging sie ihm entgegen und schmiegte sich an seine Brust – mit einem Lächeln, das dem schon fest eingegrabenen Schmerzesdruck auf Stirn und Auge einen Werth der Liebe verlieh, den der unglückliche Vater tief empfand, und der ihn weicher und hingebender machte, als er es je in sich gekannt. Er sagte einige Worte über Reginald's Befinden – und für diesen Augenblick schien sie gelebt zu haben! Dies Erwarten des Vaters, dies Aufhorchen seiner Worte war das einzige Eigenmächtige an ihr; dann blieb sie nur ein zwischen Gehorsam und sanftem Widerstande getheiltes Werkzeug in fremder Hand, in tiefes, unablässiges Nachdenken versunken.

Es ward indessen dem Grafen kaum möglich, der Marschallin zu beweisen, daß eine gerichtliche Vorbereitung der [80] Sache von seinen Gerichtsbeamten unzulässig sei; da der Angeklagte, als Fieberkranker, unmöglich in Verhör genommen werden könnte. Sie war in ihrem Schmerze von allen Dämonen ihres Inneren so verfolgt, daß sie um jeden Preis eine Thätigkeit herbeizurufen trachtete; und Reginald's Krankheitszustand, der sowol den Prozeß, wie sie selbst aufhielt, und sie an diesen einförmigen Landaufenthalt fesselte, da sie über Alles doch selbst Wache halten wollte, ließ sie mit Jedem zürnen, der sie auf die Unmöglichkeit einer schnelleren Entwickelung hinwies.

So hörte sie denn mit grausamem Vergnügen endlich die Nachricht, daß die Krankheit des Unglücklichen sich gebrochen habe, und seine Genesung bei seiner Jugend nicht lange zu erwarten stehe. Wenige Tage später fuhr zu ihrer maaßlosen Ueberraschung der Reisewagen ihres Sohnes in den Hof, der von einigen Kriminal-Richtern und dem nöthigen Gefolge in einem zweiten Wagen begleitet ward. Von zwei Dienern gestützt, in den Händen einen Stock, der ihn aufrecht erhalten mußte, so wankte Leonin, Graf von Crecy-Chabanne der Vater des Gemordeten und des angeklagten Mörders, dem theilnehmenden Grafen d'Aubaine entgegen, der, tief erschüttert von seiner traurigen Verfallenheit, ihn in einem Lehnstuhl in die für ihn bereiteten Zimmer tragen ließ.

Wir übergehen die verschiedenen Scenen des Wiedersehens, die keinen versöhnenden Anklang für uns enthalten würden, da Keiner die Gefühle des Anderen theilte, und zwischen Mutter und Sohn eine nicht mehr zu überdeckende Kälte obwaltete, die noch auffallender in einem Augenblicke ward, der Liebe und Theilnahme aus ihrem tiefsten Verstecke hätte hervorheben müssen.

Die Marschallin hatte Zeit gehabt, sich mit ihrem Schmerze einzurichten, und das gewohntere Gefühl, jede erlittene Unbill an irgend wem zu strafen, machte das Gefühl der Rache gegen [81] Reginald zu einer ihr zusagenden Thätigkeit. Sie wußte daher ihr kaltes Herz unter religiösen Floskeln von Ergebung und Vertrauen zu verbergen und trat ihrem Sohne begierig, mit ihren fertigen Plänen zu Reginald's Vertilgung, entgegen. Aber entweder war sein Schmerz, oder seine körperliche Abspannung zu groß, um sich zu bestimmten Aeußerungen erheben zu können; keinesfalls gelang es der Marschallin, eine Theilnahme zu erwecken, wie sie ihr nöthig war; und nachdem sie mit Souvré vergeblich alle Mittel versucht hatte, ihn zu lenken, beschlossen Beide bei ihrer vertraulichen Mittheilung, von ihm Nichts mehr zu erwarten, sondern die Gerichtspersonen in Thätigkeit treten zu lassen, und ihn, so viel als möglich, außer Wirksamkeit dabei zu setzen.

Der Graf d'Aubaine mußte daher einwilligen, einen Saal des unteren Schlosses zu den Verhandlungen in Bereitschaft setzen zu lassen. Reginald war bereits außer dem Bette, bei vollständig wiedererlangter Geisteskraft, und bot kein Hinderniß mehr dar. Auch nährte der Graf eine Sehnsucht, hiermit eine so trostlose Belästigung seiner Familie endlich aufgehoben zu sehen; da er allerdings die Nothwendigkeit einer ersten gerichtlichen Verhandlung in seinem Schlosse, von wo der Angeklagte ohne Gefahr noch nicht zu entfernen war, und bei der größeren Nähe des trostlosen Schauplatzes dieses Vorfalles, wie aller zu versammelnden Zeugen, einsah und sich ihr nicht zu entziehen wußte.

Während dieser Vorbereitungen hatte er Reginald nur auf kurze Zeit gesehen, um ihm die bevorstehenden Verhöre mit der menschlichen Güte anzukündigen, die in seinem Herzen vorwaltete. Er fand ihn stets ruhig, mit dem tiefsten Ausdruck eines männlichen Schmerzes, ohne Absicht, auf die Theilnahme des Grafen einzuwirken, oder die Anklagen zu berühren, denen er, nach einzelnen Andeutungen, mit einer festen Ueberzeugung entgegen [82] ging, die er eben so bei Anderen vorauszusetzen schien, ohne sie näher zu bezeichnen.

Als der Graf d'Aubaine am Tage des Verhörs bei dem unglücklichen Kranken eintrat, fand er eine Pflegerin dort, von der seine Leute ihm nichts zu sagen wußten, als daß Herr St. Albans aus der Pachtung Tabor mit seinem Fuhrwerke sie hergebracht; und, nachdem er sich auf ihr ausdrückliches Gebot sogleich habe zurückziehen müssen, sei sie nicht mehr von dem Kranken gewichen.

Sie war in steife, etwas fremdartige Trauerkleidung gehüllt und trug einen auffallenden Ausdruck von kalter Strenge und finsterem Kummer in ihren verfallenen Zügen. Der Graf konnte sie nicht ohne Theilnahme betrachten, wozu er hinreichend Zeit behielt, da sie, in ihre eigenen, schwermüthigen Gedanken vertieft, auf nichts zu achten schien; denn der Kranke, an dessen Bette sie saß und an dessen entstellten Zügen ihre Augen hafteten, lag in einem leichten Schlummer, der ihre Thätigkeit für ihn eingestellt hatte. Nachdem der Graf sie hinreichend beobachtet, trat er so nah, daß sie ihn bemerkte. Sie richtete einen einen düsteren, prüfenden Blick auf ihn; dann zeigte sie auf den Kranken, als gebiete sie ihm Stille. – Sie machte dem Grafen einen imponirenden Eindruck; ihre Persönlichkeit übte die Gewalt, die von einem entschiedenen Karakter ausgeht, und weder von Rang, noch Reichthum ihre Macht zu borgen hat. Die Sicherheit, mit der solche Personen ihren Weg verfolgen, macht ihnen unwillkürlich die minder starken Naturen dienstbar, und räumt ihnen eine Herrschaft ein, die sie überall zu erwarten scheinen.

Doch in demselben Augenblicke machte der Kranke so unruhige Bewegungen, mit so ängstlich stöhnenden Lauten verbunden, daß sie ihm die Hand auf die Stirn legte, um ihn zu erwecken. »Ob Du den elenden Schlummer genießest oder nicht,« [83] sagte sie mit düsterem harten Tone, und wie nur zu ihm redend – »das ist nur eine andere Art von Qual, und eine, aus der Du Dich noch weniger retten kannst. – Graf d'Aubaine,« fuhr sie dann, sich zu ihm wendend, fort – »glaubt Ihr auch, daß der arme Knabe dort ein Mörder ist?«

Es lag in der Frage und in dem Blicke, mit dem sie von ihm fort zum wieder entschlummerten Reginald sah, eine verächtliche Herausforderung an die ganze Welt, die That ihr zu beweisen, die jede Sylbe ihrer Worte, jedes Zucken ihrer Muskeln verwarf; und die auf halbem Wege stehen gebliebene Ueberzeugung des Grafen ward dadurch mit fortgerissen, so daß sie sich aus seiner Brust hervordrängte, wie ein frei gewordener Strom, ihn selbst überraschend, als er sein festes, ruhiges: »Nein!« hörte. –

»Da seid Ihr Euch denn selbst gerecht und erzeigt Euch einen größern Dienst, als Ihr jetzt begreifen mögt; denn Gottes Fluch muß die treffen, welche die Hand noch gegen dies Kind ausstrecken. –

Ihr scheint diese unglückliche Begebenheit sehr genau zu kennen,« erwiederte der Graf – »der junge Mann scheint Euch nahe anzugehen?«

»So ist es!« erwiederte sie, mit einem rührenden Zucken von Schmerz; – »und Euch will ich sagen, wie der Zusammenbang ist. – Setzt Euch,« fuhr sie fort – »und befehlt Euren Leuten, daß sie uns ein Weilchen mit ihren albernen Gesichtern verschonen. Ich will nicht gestört sein, wenn ich an meinem Herzen reißen muß.«

Der Graf that, wie sie befahl. Ihre unbeugsame Weise verrieth sich so bestimmt, daß er ihr nachzukommen trachtete, ohne ihrer Berechtigung zu gedenken.

Als er sich ihr gegenüber gesetzt hatte, sagte sie sogleich: »Meiner Tochter, Ellen Gray, habt Ihr einst Gastfreundschaft erzeigt; ich theile nicht die Meinung dieser Thörin, [84] die Euch und die Eurigen für hochmüthig hielt, und Ihr habt eben meinen Glauben bestätigt. Ich war die unglückliche Dienerin, welche die Mutter dieses Knaben, die rechtmäßige Gräfin Crecy-Chabanne, aus England nach diesem verfluchten Lande begleitete, wo man ihr Ehre und Leben zu nehmen trachtete.«

»Wen,« rief der Graf – »wen meint Ihr damit? Ihr sagtet, die Gräfin Crecy-Chabanne!«

»Und ich sagte recht!« fuhr Emmy finster blickend fort – »ich sagte die Wahrheit, Graf d'Aubaine! Die Mutter dieses Kindes war in England rechtmäßig an Leonin, Grafen von Crecy-Chabanne vermählt. Als seine Gemahlin folgte sie ihm hieher, und er vergrub sie in das düstere Schloß Ste. Roche; – er verläugnete vor dem Altare sein rechtmäßiges Kind und raubte ihm seinen Namen; – und während er vor Gott nach gültigen Gebräuchen vermählt war, heirathete er ein anderes Fräulein in Paris und betrog so Beide und hatte zwei Frauen. Aber dem Bastarde, den er dort erzeugte, gab er den Namen: Ludwig, Graf von Crecy-Chabanne, während er seinem rechtmäßigen Kinde den Namen Ste. Roche beilegte.«

Der Graf sprang auf. Dürr, trocken und hart hatte das unglückliche Weib die Worte herausgestoßen. Wie früher Reginald, so zweifelte jetzt der Graf an ihren klaren Sinnen. »Frau,« rief er, »Ihr sprecht fürchterlich sicher die schrecklichsten Anschuldigungen aus! Wißt Ihr, was Ihr sagt?«

»Ich weiß es!« sagte sie fest – »obwol ich selbst nicht begreife, daß ich so viel Elend mit gesunden Sinnen überlebte. Doch Gott wird mich aufgespart haben, Zeugniß abzulegen; und es wird wahr sein und richtig, als stände ich vor meinem ewigen Richter, und wird doch Allen, wie Euch eben jetzt, das Haar zu Berge treiben.«

»Emmy, Emmy,« rief jetzt der erwachte Reginald – »was hast Du vor mit Deinem kühnen Einschreiten? Wage es [85] nicht, mich leiten zu wollen – ich weiß, was mir zusteht. Die Gerechtigkeit, die Du mich gelehrt hast erkennen, werde ich fordern, um des heiligen Andenkens meiner Mutter willen – und dieselbe Gerechtigkeit wird ihren dann anerkannten Sohn vernichten und den Namen begraben, an dem so schwerer Fluch hängt!«

»Herr Graf,« sprach er dann, indem er sich auf dem Lager aufrichtete, auf dem er angekleidet geruht hatte – »ich bin bereit – ist das Gericht versammelt?«

»Noch nicht,« erwiederte der Graf verwirrt und erschüttert; – »ich wollte mich selbst überzeugen, ob Ihr zu den Verhandlungen fähig wäret.«

»Ich bin es!« rief Reginald mit Festigkeit. »Meine Kräfte werden die kurze Zeit ausreichen. Seid gewiß, Herr Graf, was ich zu sagen habe, wird die Verhandlungen abkürzen; wir werden bald zur Entscheidung kommen.«

»Unglückliches Kind,« rief Emmy, hier einfallend, – »zu welchem Wahnsinne bist Du entschlossen? Kannst Du Dich Deinen Henkern, die Dich von Jugend auf verfolgten, ausliefern wollen, damit sie Recht behielten, und ihnen Alles gelänge, was sie beschlossen seit Anbeginn?«

Reginald faßte sanft ihre Hand und sah ihr fest in die trostlosen Augen: »Emmy, ich kann das Letzte nicht von Dir abhalten – tröste Dich Gott!«

»Junger Mann,« sagte Graf d'Aubaine theilnehmend, »Gerechtigkeit ist, daß wir auch gegen uns selbst nicht voreilig entscheiden, wenn ein großer Schmerz uns um unsere Lebenshoffnungen gebracht hat. Das Leben ist lang, die Zeit schreitet ein; wir können noch oft von Vorn anfangen, wenn wir auch von dem uns bis dahin angewiesenen Wege verschlagen werden.«

»Ich danke Euch!« sagte Reginald. »Ihr würdet gewiß mein Vertrauen zurückweisen müssen, darum nöthigte ich es Euch nie auf; bald werdet Ihr mich hören!«

[86] Mit der tiefsten Bewegung verließ der Graf Beide. Neue, traurige Anklagen hatte er vernommen, und immer mehr fiel sein Herz den Anklägern heimlich ab, immer lebhafter schloß er den Jüngling darin ein.


Da die Marschallin erklärt hatte, den Verhandlungen beiwohnen zu wollen, sah sich die Gräfin d'Aubaine genöthigt, sie zu begleiten, und beide Damen erschienen daher, in tiefer Trauer, von ihren Frauen umgeben. Der Gerichtssaal war dem Zwecke gemäß würdig eingerichtet. Am oberen Ende, der Eingangsthüre gegenüber, stand in der Breite eine schwarz behangene Tafel mit dem Kruzifix, hinter welchem der Kriminal-Rath, Herr von Mauville, Platz genommen hatte; ihm zur Seite saßen zwei Assistenten. An den beiden Enden der Tafel befanden sich die Protokollführenden Schreiber. Links von der Tafel, unter der Fensterreihe, saß der Marquis de Souvré, hinter ihm standen seine Domestiken als Zeugen; ihm zur Seite nahm man den Prior des Klosters Tabor wahr, hinter ihm die Mönche, die mit den jungen Leuten verhandelt hatten; weiterhin befand sich eine Gruppe, die der Arzt des Schlosses mit den ihm beigegebenen Gerichtspersonen aus Ardoise und dem Richter von Ste. Roche bildete. Diese hatten den Zustand der Leiche am Morgen in dem Erbbegräbnisse, wo sie vorläufig beigesetzt war, untersucht. Ihnen allen gegenüber hatten die Damen ihre Plätze genommen; zunächst der Tafel saß Graf Leonin, bleich, wie vom Fieber geschüttelt, mit halb geschlossenen Augen; er hatte es bestimmt verweigert, als Kläger aufzutreten, und so war die Marschallin in seine Stelle eingerückt. Theilnehmend sah man die beiden Grafen d'Aubaine an seiner Seite. In der [87] Mitte des Zimmers stand ein einzelner Lehnstuhl; er war noch leer; der Angeklagte ward erwartet.

Alle Anwesenden waren in Schwarz gekleidet, und die ganze Versammlung trug einen ernsten, feierlichen Karakter, der selbst in den Zügen sich ausdrückte. Der Kriminal-Rath, Herr von Mauville, empfing die Meldung, daß Alle versammelt waren; er erhob sich und erklärte die Sitzung für eröffnet. Der Graf Crecy, der nur geführt zu gehen vermochte, sprang plötzlich auf und rief, wie außer sich: »Ich kann nicht bleiben, ich muß fort!« Doch diese Anstrengung der Verzweiflung stützte den gebrochenen Körper nur einen Augenblick; er sank in den Stuhl zurück und verhüllte sein Gesicht; mitleidig von den beiden Grafen gedeckt, ward er den Blicken der Anwesenden entzogen.

Die Thüren öffneten sich; man sah den Angeklagten, von zwei Dienern unterstützt, daher wanken! Reginald war selbst in den Verheerungen dieser letzten Ereignisse seines Lebens noch er selbst geblieben; aber er sah wie seine schöne Leiche aus. Ueber der Stirn, den gedrückten Augenliedern hatte der Schmerz seinen unverkennbaren Stempel eingeprägt, und die sonst fröhlich sich um seine Stirn kräuselnden Locken hingen jetzt weich und müde um das schmale, bleiche Antlitz. – Als er die Schwelle überschritt, schien die Wichtigkeit des Momentes ihn zu erfassen; man sah, wie die Kraft, an den Gedanken in seiner zuckenden Stirn sich entzündend, sich durch alle Muskeln seines Körpers ergoß; er verließ, mit der alten Anmuth seinen Führern dankend, ihren Arm und ging allein vor bis zur Lehne des Stuhls. Hier blieb er stehen; und als er den schönen Kopf aufhob, schien er von der ganzen Versammlung Nichts zu sehen, als das hoch vor ihm aufgerichtete Kruzifix. Ein feines Roth trat hervor, ein Blick der Begeisterung durchbrach den Druck des Schmerzes, eine Fülle unaussprechlicher Anbetung entwickelte sich in dem Schüler Fenelon's, eine entzückende Rührung über den Segen, [88] der ihm von dort aus zu Theil ward, beugte sein Haupt in Dank und Demuth – Alle schwiegen; Jeder fühlte, er bete!

Mit sanfter, gehaltener Stimme begann Herr von Mauville alsdann seinen Vortrag, nachdem er den Angeklagten aufgefordert, sich niederzusetzen. »Es handelt sich hier,« fuhr er nach der schicklichen Anrede gegen die Anwesenden fort, »um ein Attentat, welches in seiner geheimnißvollen Verwicklung zu verfolgen, eine doppelte Pflicht wird; da es nicht allein eines der berühmtesten Geschlechter Frankreichs in seinem einzigen, hoffnungsvollen Erben erlöschen macht, sondern zugleich der menschlichen Gesellschaft einen entehrenden Makel aufzunöthigen scheint, indem in dem Angeklagten uns ein Jüngling bezeichnet wird, der, in dem Falle der Ueberweisung, alle menschlichen Bande, die heiligsten Verpflichtungen der Dankbarkeit zerrissen hat. Wir finden hier von den bis jetzt damit beschäftigten Gerichtspersonen Fakta gesammelt, die man uns übergeben hat, um an Ort und Stelle eine vorbereitende Uebersicht zu veranlassen, die dem hohen Kriminal-Hofe von Paris zur letzten Prüfung vorgelegt werden kann. Wir wollen, indem wir diese ernste und heilige Pflicht auszuüben uns berufen finden, uns alle ermahnen, unsere Seele von dem Vorurtheile frei zu erhalten, welches gehäufte Wahrscheinlichkeiten gegen den Angeklagten erzeugen könnten, damit wir geneigt bleiben, die mögliche Rechtfertigung mit eben der Treue und Sorgfalt zu verfolgen, als wir gefaßt sein müssen, die Vergehung zu finden und zu bestrafen.«

Jetzt erfolgte eine ruhige und klare Erzählung der Thatsache, in wie weit sie den Richtern vertraut sein konnte. Wir übergehen sie um so eher, da wir nicht gesonnen sind, unsere Mittheilungen in den geschlossenen Formen einer gerichtlichen Verhandlung zu machen. Indem wir auf die Erinnerungen des selbst mit Durchlebten den Leser verweisen, werden wir die [89] daraus entstehenden Ansichten nur in der Weise mittheilen, wie sie zur vollständigen Theilnahme des Folgenden verhelfen wird.

Unbezweifelt lag in den wohlgesammelten und geordneten Anschuldigungen eine auffallende Wahrscheinlichkeit für den bezeichneten Thäter; selbst der Unbefangenste, Wohlwollendste konnte dies nicht in Abrede stellen. Der Kammerdiener des Marquis erzählte das erlauschte Gespräch, in welchem Reginald durch die dringendsten Bitten den jungen Grafen zu der Reise nach Ste. Roche bewogen hatte. Der hier sich anknüpfende Verdacht ward besonders dadurch gestützt, daß Reginald die Geheimhaltung dieses Schrittes verlangt und die Furcht ausgesprochen hatte, daß man sie sonst daran verhindern werde. Die Reise selbst sei nun mit einem Ungestüme und einer Uebereilung vorgeschritten, die selbst die ungern nur zeugenden Domestiken der beiden jungen Leute nicht läugnen konnten; ja, die, nach ihren Aussagen, hauptsächlich dem Angeklagten zur Last fiel. Dieser Verdachtgrund ward durch den Prior des Klosters Tabor, wie durch dessen Mönche verstärkt. Durch ihn erfuhr man Reginald's Anwesenheit im Kloster, am Tage vorher; durch ihn die lange, von Seiten Reginald's, mit heftigen Ausbrüchen endende Unterredung mit der alten Bewohnerin des Schlosses Ste. Roche, welche der Prior, als das Haus Crecy aus unbekannten Gründen bitter hassend, bezeichnete. Weiter ward der Ungestüm erzählt, mit dem Reginald bei dem heftigsten Gewitter und dem nahenden Abende, dennoch die Fortsetzung der Reise betrieben hatte; und selbst der Wegweiser mußte diese Anschuldigungen fortsetzen, da er seine Abmahnungen erwähnte, und wie der Angeklagte dessen ungeachtet den anderen jungen Herrn sich nachgezogen hatte, um das Schloß zu erreichen.

Vor Allem freilich erhielt nun die Aussage des Marquis de Souvré, deren Inhalt uns hinlänglich bekannt ist, die Wichtigkeit, alle bereits vorhandenen Verdachtgründe in einen [90] Zusammenhang zu bringen, der dem Angeschuldigten fast keine Ausflucht gestattete und ein Eingeständniß erwarten ließ, daß in den Thatsachen schon klar enthalten schien.

Als alle Einzelheiten verhandelt waren, kam der, von allen Anwesenden mit Spannung und den verschiedensten Empfindungen erwartete Moment, der den Angeklagten zu seiner Vertheidigung oder seinem Eingeständnisse aufforderte.

Mit Ruhe und Sammlung hatte der junge Mann, ohne durch Worte oder Bewegung eine Unterbrechung auch nur anzudeuten, dieser langen und schrecklichen Vorbereitung beigewohnt. Was in ihm vorging, blieb auch den ihn näher kennenden Freunden unergründlich. Der Schmerz, der mit dem verrätherischen Wechsel der Farbe sein Gepräge so verständlich in seinen Zügen ausgedrückt hatte, war doch entfernt von Verzweiflung oder Gewissensangst. Herr von Mauville, der erfahrene Rath eines so würdigen Gerichtes, als der Kriminal-Hof von Paris, hätte doch, trotz aller Beweisgründe, die er sich bemühen mußte darzulegen, schwören mögen: der Jüngling sei der absichtliche Thäter nicht. Und da er fand, daß die Züge des Angeklagten weder Schrecken, noch Unruhe zeigten, fürchtete er, der Jüngling übersehe die Größe der Gefahr und werde dadurch vielleicht weniger sorgsam sein, zu seiner Vertheidigung die ihn noch möglicherweise entschuldigenden Umstände zu sammeln. Er erhob sich demnach und leitete seine Aufforderung zur Vertheidigung an den Jüngling auf eine Weise ein, die seine Achtsamkeit wecken sollte.

»Obwol sich aus den eben beendigten Angaben der vorhandenen Zeugen eine traurige Wahrscheinlichkeit entwickelt hat, die das Attentat mit Ihnen, mein Herr, in einen kaum zu trennenden Zusammenhang bringt, muß ich Sie doch darauf aufmerksam machen, wie viel hierbei dennoch im Dunkeln bleibt, was in demselben Maaße die Wahrscheinlichkeit zu widerlegen[91] scheint und Widersprüche erzeugt, die wir geneigt sein werden, zu Ihren Gunsten erklärt zu sehen. Sie werden, indem wir Sie auffordern, Ihre Erklärungen abzugeben, die Wichtigkeit derselben nicht übersehen und sich mit Besonnenheit sammeln; da, trotz Ihrer Jugend, die Ueberweisung eines solchen Verbrechens nur mit dem Tode bestraft werden dürfte. So sehr ich nun bemüht war, den vorhandenen Akten meine Aufmerksamkeit zu widmen, ist es mir doch nicht gelungen, eine Hauptsache heraus zu finden: nämlich die Veranlassung – die Nothwendigkeit einer solchen Handlung. Ihr Verhältniß zum Grafen Ludwig war von Jugend auf das der zärtlichsten Freundschaft; Ihre Diener beschwören, daß Ihre gemeinschaftlichen Reisen die innigste Einigkeit verschönte. Sie waren überall die Stütze des schwächeren Grafen. – Dies Verhältniß hat sich bis in die Mauern von Ste. Roche erstreckt; auch hier verschafften Sie dem Freunde erst Ruhe und Bequemlichkeit; und das Pistol, was man nachher in Ihrer Hand fand, hatten Sie nach Aussage der Diener ergriffen, den schlafenden Freund zu bewachen. Außerdem waren Ihre bürgerlichen Verhältnisse außer aller Berührung mit denen des Grafen Ludwig; Sie besaßen ein unabhängiges Vermögen und konnten durch den Tod des Grafen keinen Vortheil erreichen, da Sie in keinem verwandtschaftlichen Grade mit einander standen. Wo also – da Liebe und Eintracht bis zum letzten Augenblicke erwiesen sind, wo bleibt die Veranlassung zu einem so fürchterlichen Verbrechen, da in Ihrem Leben kein Nachweis bösartiger Leidenschaften vorliegt? – Indem ich Sie pflichtmäßig auf diese Umstände aufmerksam mache, fordere ich Sie nunmehr auf, die vorangehenden, nöthigen Erklärungen über Ihren Namen und Ihre Geburt zu geben und dann den Eid zu leisten, mit dem Sie sich vor Gott verpflichten, die Wahrheit höher zu achten, als irdischen Vortheil.«

[92] »Mein Herr, Sie heißen Reginald, Chevalier de Ste. Roche, sind in Paris in dem Stadttheile St. Sulpice geboren, in dem Kloster St. Sulpice unter der Vormundschaft des Grafen Crecy-Chabanne erzogen. Haben Sie diesen Notizen noch etwas über Ihre Eltern und Familie hinzuzufügen, von denen ich hier keine weitere Erwähnung finde?«

Wir werden die Aufregung begreifen, die diese nöthigen und doch von den Anklägern übersehenen oder vergessenen Aufforderungen bei den Anwesenden erregen mußten. – Graf d'Aubaine blickte mit ungetheilter Erwartung auf den bleichen Jüngling, der jetzt den Versuch machte, sich zu erheben, und langsam an dem Stuhle sich stützend, endlich aufrecht stand und das schwermüthige Auge aufschlug, um das Antlitz des Richters zu suchen, der eben so mild und menschlich zu ihm geredet. Da traf sein Blick zuerst auf Franziska's Vater, und der Jüngling erbebte, als wolle er zurück sinken – dann war es vorüber! Er preßte krampfhaft einen Augenblick die Hände vor die Stirn, dann richtete er sich fest auf. Graf d'Aubaine ahnte die Ursache dieser heftigen Bewegung nicht, und Wenige außer Reginald sahen sie, so gespannt war die Aufmerksamkeit Aller; – und so blieb Franziska d'Aubaine, welche während der Rede des Herrn von Mauville leise durch eine Seitenthüre eingetreten war, ohne Störung, an den Stuhl ihres Vaters gelehnt, stehen. Mit der sorglosen Ruhe und Sicherheit, die bei so zarten, weiblichen Naturen immer das Zeichen einer Geistzerstörenden Gemüthsbewegung ist, schloß sie sich einer Verhandlung an, die weder für ihr Alter, noch für ihr Geschlecht passen wollte. Doch werden wir die Wirkung für Reginald begreifen; nach der ersten Erschütterung fühlte er nur eine Steigerung seiner Empfindungen dadurch eintreten. Es schien ihm, Gott habe den Engel gesendet, der ihn trösten und stärken solle; – auch glich sie einer solchen Erscheinung mehr, als [93] einem irdischen Wesen! Ihr schönes, todtenbleiches Antlitz war von ihrem reichen Haare umwallt, und drei weiße Rosen schienen die seltene Fülle halten zu wollen. Von ihrer hohen, schlanken Gestalt floß das bedeutungsvolle Kleid von blaßblauem Atlas nieder; und um so glänzender hob sich ihre Erscheinung hervor, da Alles um sie her in die tiefste Trauer gehüllt war.

Herr von Mauville wünschte, dem Jünglinge nur über das erste Wort hinweg zu helfen. »Mein Herr,« sagte er, »die Formalität, die Ihre Identität beweisen soll, erfordert Nichts, als ein bestätigendes: Ja! Es wird an Eides Statt angenommen werden, und es bleibt Ihnen frei, dem hohen Gerichtshofe später darüber die dort nöthigen Anzeigen zu machen, wenn Sie sich jetzt zu bewegt dazu fühlen sollten.«

»So kann ich diese Bestätigung nicht geben!« rief plötzlich Reginald, indem er sich frei aufrichtete.

»Mein Herr,« sagte Herr von Mauville – »Sie mißverstehen vielleicht meine Frage! Es handelt sich hier bloß um die einfache Bestätigung, daß Sie der Chevalier de Ste. Roche sind.«

»Ich habe Sie vollkommen verstanden,« entgegnete Reginald; – »doch soll meine Antwort an Eides Statt gelten, so kann ich sie nicht bestätigend geben; denn der Name und Titel: Chevalier de Ste. Roche gehört mir nicht wirklich, sondern ward mir mit böser Absicht bei meiner Geburt untergeschoben.«

»Verweisen Sie den Lügner dort zur Ruhe!« rief hier plötzlich die Marschallin von Crecy, indem sie außer sich aufsprang; – »er will die Angelegenheit verwirren, indem er etwas Fremdes – Ungehöriges hineinmischt!«

Herr von Mauville verneigte sich. »Das Verhör darf nicht unterbrochen werden, Madame! Wir sind genöthigt, den Angeklagten zu hören; zweifeln Sie nicht, Madame, daß wir die Dinge werden zu ordnen wissen.«

[94] Die Marschallin setzte sich in der größten Empörung, da sie einsah, nicht durchdringen zu können.

Reginald hatte sie keines Blickes gewürdigt; er blieb ruhig gegen die Richter gewendet. Als eine augenblickliche Stille eintrat, sagte er: »Ich habe Gott vor Augen und achte die Wahrheit höher, als irdischen Vortheil, darum habe ich diese Erklärung abgeben müssen. Aber diese Angelegenheit, die ich entschlossen bin, um der verletzten Ehre meiner tugendhaften Mutter willen, der Wahrheit nach, an das Licht zu ziehen, hat nur einen vorüber gehenden Einfluß auf die Angelegenheiten, die ich hier zu erklären habe. Daher bitte ich, mir die Angabe meines wahren Namens zu erlassen; – meine übrigen Erklärungen werden bald darthun, wie wenig ich geneigt bin, dieselben zu meinem Vortheile zu lenken.«

»Ich glaube, mein Herr,« sprach Herr von Mauville, nach kurzer Besprechung mit den beisitzenden Richtern – »daß wir um so eher in Ihren Wunsch einwilligen können, da Sie nicht vor dem hohen Gerichtshofe selbst stehen, und wir unsere Verhandlung nur als ein vorbereitendes Verhör ansehen können, indem die endliche Entscheidung nach Paris gehört; wenn unsere ungewöhnliche Sendung hierher allerdings schon der Rücksicht gegen eine der ersten Familien des Königreiches zuzurechnen ist.«

»So muß ich ferner erklären,« fuhr Reginald fort, »daß ich zu gleicher Zeit außer Stande bin, die Ursachen anzugeben, warum ich den Grafen Ludwig bewog, mit mir nach Ste. Roche zu gehen. Doch dies wird alles Ihre Funktionen als Richter nicht stören; denn mein Eingeständniß läßt alle Beweisgründe weit hinter sich zurück; – und so verzeichnen Sie denn, meine Herren, daß ich der Mörder des Grafen Ludwig bin, da mein abgeschossenes Pistol ihm das Leben geraubt hat!«

Der Angeklagte lehnte sich nach diesen Worten sehr bleich und kurz athmend an seinen Stuhl. Er hörte eine tumultuarische [95] Bewegung um sich her; es schien ihm, Graf Leonin werde an ihm vorüber aus dem Saale getragen. Als er sich wieder gesammelt hatte, sah er den Stuhl des Grafen Leonin leer; – sonst hatten Alle ihre Plätze behalten. Auf ein Zeichen des Herrn von Mauville trat Stille ein.

»Junger Mann,« rief er mit starkem, überredenden Tone – »ich ermahne Sie, sich zu sammeln! Sie waren krank, Ihre Geisteskräfte waren geschwächt; vielleicht sind Sie noch ohne klare Anschauung und verfallen in den oft sich zeigenden Fehler der Jugend, sich lieber bei dem ersten Verdachte, der ihren Ruf angreift, aufzugeben, als zu einer verständigen Vertheidigung überzugehen, die Geduld und Selbstbeherrschung erfordert.«

»Weiser, verständiger Richter,« rief hier eine rauhe, trockene Stimme laut und hart – »Dich segne Gott! Du bist der Erste, der auf dem verfluchten Boden Frankreichs die Rede eines Christen hören läßt!«

»Unglückliche Frau,« rief Reginald, zu Emmy Gray aufblickend, »was willst Du hier? wie kamst Du hierher?«

»Als sie ihn hinaus trugen, den sein Gewissen gerichtet, fand ich den Weg offen; und hier bin ich mit allem Rechte, Zeugniß abzulegen,« rief sie fest – »da Deine Lammsnatur das Schwert in der Scheide läßt, und Du den hungrigen Löwen die Speise vorwirfst, nach der sie trachten! Sagt,« sprach sie, bis zur Tafel vorschreitend und die Hand gegen den Richter aufhebend, »stehe ich vor einem christlichen, berechtigten Gerichtshofe? Wird hier Zeugniß angenommen – und unverfälscht vor Gottes Angesicht gerichtet?«

Herr von Mauville blickte mit Erstaunen auf eine Gestalt, die, wie aus einem anderen Jahrhunderte, an ein lebendig gewordenes Bild jener Zeit erinnerte, und die in Wort und Bewegung eine Kraft des Willens ausdrückte, unterstützt von [96] dem düstersten Ausdrucke des Zürnens, wodurch sie den vollkommensten Antheil erregte. »Zweifelt nicht, daß Ihr vor Christen stehet, die von Gott die Kraft erwarten, recht zu richten,« sagte er mild – »was habt Ihr uns zu sagen?«

»Meine Herren,« schrie hier der Marquis de Souvré, heftig aufspringend – »diese Frau kann kein Zeugniß vor Gericht ablegen; es ist die Bewohnerin von Ste. Roche, die schon längst dem Wahnsinne verfallen ist und wahrscheinlich durch ihren thörichten Einfluß den jungen Menschen zu dem bereits eingestandenen Verbrechen verführt hat!«

»Herr Marquis,« rief Reginald, mit einer Energie, die sein früheres Verhalten nicht angedeutet hatte, »Sie haben am wenigsten das Recht, die klaren und gesunden Sinne dieser ehrwürdigen und unglücklichen Frau zu schmähen. Reizen Sie mich nicht durch Beleidigungen gegen dieselbe, die ich nie dulden werde, sie mit den Mitteln zu vertheidigen, die mir, wie Sie wohl wissen, zu Gebote stehen!«

»Ja,« sagte Emmy Gray, welche den Marquis mit kalter Verachtung betrachtet hatte; – »jetzt erkenne ich das Gesicht des Sünders wieder; und der, der den Namen des Mörders verdient, wie kein Anderer, wagt, als Zeuge Dir gegenüber zu treten? Gott wird den Engel der Vergeltung senden und den Boden verwüsten, wo sein Fuß weilte! – Richter, der Du Dich rühmst, hier im Namen Gottes zu richten, laß den Bösewicht nicht Zeugniß sprechen – und höre von mir, wie schwarz seine Seele ist!«

»Herr von Mauville,« sagte die Marschallin mit der kalten Anmaßung, welche ihren hohen Rang in Erinnerung bringen sollte – »wir wollen nicht Zeuge sein von den Ausbrüchen einer elenden Geisteskranken; und ich muß Sie erinnern, daß die traurige Veranlassung, die uns pflichtmäßig hier gegenwärtig sein ließ, durch das Geständniß des [97] Verbrechers beendigt ist; ich fordere Sie auf, das Verhör zu schließen.«

Würdevoll erhob sich Herr von Mauville gegen die Marschallin. »Madame,« sagte er – »die Gegenwart Euer Gnaden ist eine freie Wahl, welche weder von uns verlangt, noch verweigert ward; daher ist die Entfernung Euer Gnaden gewiß Ihrem eignen Ermessen überlassen; doch kann ich damit das uns vorliegende Verhör um so weniger für beendigt erklären, da das Geständniß eines Angeklagten immer nur dann die Entscheidung mit sich bringt, wenn es mit den verschiedenen Anklagen zusammen fällt und dieselben vollständig erklärt. Dies ist hier nicht der Fall. Das Geständniß, welches unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, hüllt sich in ein Dunkel, das wir aufzuhellen trachten müssen; da wir nicht allein berufen sind, Schuldige zu entdecken, sondern auch Unschuldige zu beschützen. Jeder Nachweis, der sich dazu uns darbietet, muß von uns benutzt werden, und das Auftreten dieser Frau ist, wenn auch außer der Form, doch bei einem bloßen Verhöre, welches Beweise zu sammeln hat, vollständig zulässig.«

Es kostete der Marschallin einen sichtlichen Kampf, diese höfliche Zurückweisung hinzunehmen. Sie wünschte wenigstens, durch Entfernung ihre Beleidigung hervorzuheben; aber das brennende Verlangen, hier noch lenkend, oder abwehrend einzuschreiten, hielt sie zwischen Gehen und Bleiben in Aufruhr zurück, bis sie entschlossen auf ihrem Platze verblieb.

Herr von Mauville wendete sich nach seiner kurzen Entgegnung an die Marschallin, gegen Emmy Gray, und fragte sie, ob das Zeugniß, das sie hier anböte, im Zusammenhange stehe mit der unglücklichen Begebenheit, die hier verhandelt werde; sonst möge sie den Gang des Gerichtes nicht durch Einmischung fremder Interessen stören.

[98] »Meine Aussagen gehören dazu, wie Eure Augen zu Eurem Kopfe!« rief Emmy Gray – »darum gebt mir Raum, Richter, damit ich Euch sagen kann, was Ihr von ihm schwerlich erfahren werdet.«

»Emmy,« sagte Reginald mit Ernst – »Du hast nicht Wort gehalten und bist doch in großem Irrthume, weil Du den zu retten hoffst, der von Deinen Aussagen doch keinen Vortheil ziehen kann; – denn die eine Thatsache steht fest: Graf Ludwig fiel von meiner Hand!«

»Nun, um so besser, mein Kind!« rief die Alte, heftig vorschreitend; – »so hast Du schon gerecht Gericht gehalten, und Du bist nun der einzige, rechtmäßige Graf Crecy-Chabanne!«

»O, Emmy,« rief Reginald, sein Gesicht verhüllend; – »wozu hier die Schande meines Vaters aufdecken!« Es entstand indessen ein begreiflicher Tumult. Viele Stimmen riefen zugleich; Souvré, die Marschallin überhäuften Herrn von Mauville mit Vorwürfen, der Wahnsinnigen, der Betrügerin das Wort gestattet zu haben.

Herr von Mauville saß indessen still und mit klugem Auge, wie Jemand, dem plötzlich ein heller Lichtstrahl sichtbar wird. Er hörte und erwiederte Niemandem, – einzelne Worte mit den beisitzenden Richtern wechselnd. Er ließ der Aufregung eine Zeit lang ihren Gang, dann stand er plötzlich auf. Er wiederholte das Gebot zum Stillschweigen mehrere Male, laute Schläge gegen die metallene Scheibe führend, die vor ihm stand; seine Stimme, die mächtig und tönend war, überbot dabei das Gemurmel der Menge und die einzeln erzürnt Redenden.

»Frau,« rief er mit zorniger Weise gegen Emmy Gray, – »wer bist Du? Was wagst Du hier gegen die ersten Familien Frankreichs zu behaupten? Was hast Du für Rechte, für Beglaubigungen zu Deinen Behauptungen?«

[99] »Laßt sie schweigen,« sagte Emmy, – »ich habe lange nicht unter so viel Volks gestanden; ihr rohes Geschrei betäubt meinen Kopf!«

Es trat Ruhe ein; die Marschallin unterlag fast der Qual, bleiben zu müssen; sie kam sich über alles Maaß hinaus beleidigt vor. Aber es stand zu Viel zu verlieren, und sie zweifelte nicht, Alles verdächtigen und unterdrücken zu können, was hier hervortreten wollte. Emmy dagegen lehnte sich an die Gerichtstafel, Allen den Rücken kehrend, und sagte nun so laut und fest, daß jedes Wort den Saal durchdrang:

»Ich bin Emmy Gray, diejenige, die aus England die rechtmäßige Gemahlin des Grafen Leonin von Crecy-Chabanne nach Frankreich begleitete. Das Kind dieser rechtmäßigen Ehe ist der hier anwesende, arme, verfolgte Knabe; der, zu dessen Mörder ihn Alle machen wollen, war ein Bastard; denn die erste Gemahlin lebte noch ein Jahr nachher, als der Graf die zweite geheirathet hatte.«

Die Marschallin, Souvré erhoben sich wieder; aber Herr von Mauville winkte beruhigend: »Ich bitte, führen Sie keine Störungen herbei, ich erkenne die Sache so gut, wie Sie, und verspreche Ihnen Gerechtigkeit.« Beide hofften, Herr von Mauville sei auf ihrer Seite, und begaben sich zur Ruhe.

»Begreifst Du, alte Frau, was Du da herausgestoßen?« rief er hart; – »denkst Du, wir werden Dir glauben ohne Beweise, da Du einen Mann, wie den Grafen Leonin, angreifst, dessen Rechtlichkeit außer Zweifel steht?«

»Er war auch nur eine elende, leidende Kreatur in der Hand Anderer!« rief Emmy Gray; – »er war zum Guten, wie zum Bösen zu schwach, ein verächtliches, halbes Ding von Mensch; aber er hatte ein böses Weib zur Mutter, die wußte um Alles, – und einen Teufel zum Freunde, der hier steht, und der vollführte, was sie beschloß!«

[100] »Thörin,« rief Herr von Mauville; – »denkst Du wirklich, daß man Dir ohne Beweise glauben wird? Du bist den Gesetzen wegen boshafter Verläumdungen verfallen!«

»Mein Herr,« sprach Reginald, – »ich muß Ihrem Eifer Einhalt thun! Obgleich ich das Hervortreten dieser unglücklichen Angelegenheit mißbillige, und diese tief gebeugte Frau mein ausdrückliches Gebot, hier nicht aufzutreten, überschritten hat, muß ich sie doch jetzt gegen jede unverdiente Beleidigung in Schutz nehmen. Sie ist keine Thörin, mein Herr! Sie wird nur zu wohl beweisen können, was sie sagt; und da die Schranke überschritten ist, die ich mir aus Achtung für den Namen, den ich rechtmäßig trage, auferlegt hatte, so gebe ich den Umständen nach und erkläre ebenfalls laut und bestimmt, daß ich der einzige, rechtmäßige Graf Crecy-Chabanne bin!«

»Mein Herr,« rief die Marschallin, zitternd vor Zorn; – »ich erkläre einer Procedur nicht länger beiwohnen zu wollen, in der man jede Achtung gegen mich und meine Familie aus den Augen setzt, und Gaukler und Betrüger zum Zeugnisse gegen uns zuläßt!« Sie wollte, sich erhebend, ihren Platz verlassen; doch Reginald sollte ihr den Beweis geben, daß das Blut der Crecy in seinen Adern fließe! Lebhaft, mit glühendem Antlitze trat er ein Paar Schritte gegen sie vor.

»Bleiben Sie, Madame,« rief er in einem gebieterischen Tone, »und nehmen Sie Ihren Platz wieder ein! Sie haben kein Recht, Beschimpfungen gegen mich auszustoßen; denn Sie vor Allen sind fest von der Wahrheit der eben vernommenen Aussagen überzeugt. Sie, Madame, haben den Namen Crecy-Chabanne entehrt; – Sie, Madame, haben Ihren Sohn, meinen Vater, zu dem Verbrechen doppelter Ehe – zur Beraubung seines rechtmäßigen Kindes verführt; – Sie, Madame, haben durch Ihre unmenschliche Grausamkeit, durch Ihren Agenten Souvré das Herz meiner engelgleichen Mutter, Ihrer [101] allein rechtmäßigen Schwiegertochter, gebrochen! Sie – Sie haben das edle Haus Lesdiguères zu einer beschimpfenden Verbindung mit dem Gemahl einer Anderen vermocht und auch das Herz dieser edeln, betrogenen Tochter jenes Hauses gebrochen!«

»Bleiben Sie,« rief er, da die Marschallin, aus der Erstarrung ihres Schreckens erwachend, zu enteilen trachtete; – »Sie sind hier noch nöthig. Ich befehle Ihnen, zu bleiben! Sie haben gewagt, mich Betrüger zu nennen. Sie hätten vor dem Worte zittern sollen! Ich, der ich es über die Nächsten ausrufen konnte, habe es zurückgedrängt, aus Achtung für den Namen, den meine reine Mutter trug. Jetzt, Madame, ist das Siegel von Ihnen selbst gelöst; – ein Crecy-Chabanne darf nicht Betrüger genannt werden. Tritt vor, Emmy Gray, entfalte die Dokumente, die Alles darthun; und Sie, Madame, werden Kenntniß davon nehmen und alsdann widerrufen – gegen mich widerrufen

Die Marschallin stand, wie unter einem Zauber gebannt, starr – besinnungslos fast vor dem glühenden, zürnenden Jünglinge. Auch schien mehr oder weniger die ganze Versammlung in ein rücksichtsloses Zuhören aufgelöst, während Herr von Mauville ein scharfer Beobachter blieb, und mit Willen das Kreisen dieser leidenschaftlichen Zustände nicht zu hindern suchte, ihnen die Fingerzeige ablauschend, die die Wahrheit zu enthüllen versprachen.

»Was wagt Ihr?« stammelte endlich die Marschallin; – »was für Rechte habt Ihr an mich, als die der Verachtung und des Abscheues? Wem soll ich gerecht werden? Dem Mörder meines Enkels, dessen ganze Anklage gegen uns nur eine neue Bestätigung seines absichtlichen Todtschlages ist!«

»Absichtlich! Absichtlich!« schrie Reginald, als ob alle Saiten seines Innern mißtönend zerrissen würden; – »ich absichtlich Ludwig getödtet – ihn, der wenige Stunden zuvor [102] mein Bruder ward – ihn, der auf meine Liebe, auf meinen Schutz angewiesen war durch meine älteren Rechte an den Rang und Namen, den er getragen? Ich – ihn absichtlich morden? Heiliger Gott, dieser Gedanke konnte nur in Euch entstehen!«

Indessen hatte Emmy Gray den Trauschein aus dem Kirchenbuche von Stirlings-Bai, dessen sie sich vor der damaligen Abreise heimlich zu bemächtigen gewußt, ehe Lord Gersey seine Vernichtung vollführen konnte, und aus dem Kirchenbuche von Ste. Roche das Tauf-Attest Reginald's und den Todtenschein Fennimor's ausgebreitet. Herr von Mauville prüfte Beide und gab sie dann den anderen Richtern.

»Madame,« sagte Herr von Mauville dann zur Marschallin, »die Dokumente müssen allerdings genauer geprüft werden; – doch haben sie einen glaubhaften Anstrich!«

»Wie,« entgegnete die Marschallin, – »eine Ceremonie des ketzerischen Priesters dieser abtrünnigen Sekte, die wir angehalten sind, nicht als Christen anzusehen, – sie sollte einen Rechtsanspruch enthalten? Bei wem, glauben Sie, wird das Anerkennung finden?«

»Bei Allen, Madame,« entgegnete Herr von Mauville, »die mit einer besonderen Bevorrechtung der schottischen Kirche bekannt sind, welche, aus der Zeit der Königin Maria herstammend, die Priester dieser Kirche als befähigt anerkannte, kirchliche Einsegnungen zu vollziehen; damals in der Hoffnung erlassen, die Confessionen durch Vermischung endlich der römischen Kirche wieder zu gewinnen. Sie haben dadurch einen rechtskräftigen Grund erhalten, den wenigstens der päbstliche Hof nicht verwirft.«

Die Marschallin verlor einen Augenblick die Fassung. Sie blickte auf Souvré – dieser lehnte sich kalt und hochmüthig gegen die Gerichtstafel. »Madame,« beantwortete er den Blick [103] der Marschallin – »es scheint mir, Sie lassen sich zu sehr herab, diese verworrene Verhandlung mit Ihrer Gegenwart zu beehren. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen den Arm gebe; Sie werden in Paris ein geeigneteres Gericht finden, was so ausgesuchte Beleidigungen abweisen und bestrafen wird. Wenigstens ich habe mit diesen Angelegenheiten Nichts mehr zu thun.«

Er nahete sich der Marschallin, und diese ließ sich hinwegführen, ohne sprechen zu können, ganz um ihre gewöhnliche, stolze Haltung gebracht; die Gräfin d'Aubaine folgte ihr; denn sie sah ihre arme Tochter nicht, welche auf einem Sessel hinter dem Stuhle ihres ebenfalls ahnungslosen Vaters saß, und mit der Gemüthsbewegung zuhörte, die sie gänzlich über ihre auffallende Handlungsweise hinweghob.

Als diese störenden Elemente sich entfernt hatten, ergriff Herr von Mauville wieder die oft unterbrochene Verhandlung. »Junger Mann,« redete er Reginald an; – »der Augenblick, in dem Ihre alte Beschützerin sie zwingt, sich einer so mächtigen und vornehmen Familie als ein nah berechtigtes Mitglied derselben zu zeigen, ist durch die traurige, vorangebende Veranlassung dieses Verhörs, ein sehr ungünstiger zu nennen. Dessen ungeachtet glaube ich annehmen zu können, daß mit dieser Entdeckung, die gegen Ihren Willen gemacht ist, und die Sie früher verweigert haben, der Grund weggefallen ist, der Sie abhielt, uns zu entdecken, warum Sie den Grafen Ludwig veranlaßten, mit Ihnen nach Ste. Roche zu gehen. Ueberhaupt, mein Herr – ich sage es mit Bedauern, aber es bleibt dennoch wahr – diese neuen Entdeckungen sind Ihnen nachtheiliger, als förderlich; denn die Frage wird jetzt wichtig, ob Sie, der Angabe nach, wirklich der ältere Graf Crecy-Chabanne sind, oder der bisher dafür geltende Jüngling; denn Ihre hiernach als unterdrückt erscheinenden Rechte könnten auf ein Verhältniß zwischen Ihnen und dem Gemordeten hinweisen, daß sein Leben [104] oder seinen Tod für Sie wichtig machte. Sammeln Sie sich daher und erzählen Sie aufrichtig den Verlauf der Begebenheit.«

»Mein Herr,« erwiederte Reginald sogleich, ohne Zögerung – »ich übersehe meine Lage ohne Täuschung, daher ohne Hoffnung. Der Tod Ludwig's durch meine Hand schließt überdies jede Möglichkeit wieder zu erlangenden Glückes gänzlich für mich aus! Mein Leben muß eine Sühne für sein schönes, früh geknicktes Dasein werden; – ich ersehne dies mehr, als daß ich ihm zu entrinnen trachte.«

Ein röchelnder Seufzer stieg hier aus Emmy's Brust; sie taumelte erbebend vor den festen Worten ihres Lieblings zusammen. Herr von Mauville befahl ihr einen Stuhl zu geben; starr blieb sie von da an sitzen, die Augen fest auf Reginald gerichtet.

»Was ich weiter von diesem entsetzlichen Verhängnisse zu berichten habe,« fuhr Reginald fort, »ist von so ungewöhnlicher Art, daß ich entschlossen war, es ganz zu verschweigen; da es unmöglich in den Augen meiner Richter sich zur Wahrheit erheben kann, und mich dieser daraus entstehende Zweifel gegen meine Wahrhaftigkeit doch tief kränken würde.«

»Sie müssen Vertrauen haben zu Ihren Richtern, junger Mann,« entgegnete Herr von Mauville; »wir sind nicht in der Absicht gekommen, Sie schuldig zu finden, und gewöhnt, das Ungewöhnliche zu hören. Kraft meines hohen Amtes fordere ich Sie auf, Alles auszusprechen, was Sie auf Ihrem Herzen haben.«

Nach einer Pause schmerzlichen Nachdenkens rief Reginald: »Es sei! Ich stehe vor einem edeln Manne, das fühle ich dankbar; – aber vor Allem fühle ich Gottes Nähe!«

Reginald erzählte jetzt mit Umsicht und Ruhe. Er berichtete die Unsicherheit über seine Familie, der er nicht nachgefragt habe in dem schützenden Verhältnisse zu der Familie [105] Crecy. Graf Leonin habe sich seinen Vormund genannt, und jede Auskunft für ihn bis nach zurückgelegter Reise verschoben. Dann erzählte er Emmy Gray's erste Aufforderung vor der Reise, die er abgelehnt; dann ihre zweite, welche ihn nach Tabor rief, und mit sichtlichem Widerstreben entdeckte er Emmy's Mittheilungen. Emmy verlangte, ihm in Ste. Roche die Dokumente zu übergeben – ihn trieb das Herz nach dem Grabe seiner Mutter – Ludwig sollte ihn begleiten. Er konnte Nichts von ihm getrennt denken; er sollte mit ihm, von den Dokumenten und Aussagen der Alten unterstützt, dort Alles bedenken und beschließen helfen! »Dies, mein Herr,« fuhr Reginald fort – »ist der wenig haltbare Grund, weshalb ich Graf Ludwig zu der Reise nach Ste. Roche bewog, den aber nur der begreifen kann, der weiß, wie wir uns liebten – wie kein Geheimniß unter uns waltete.«

»Doch ist dies dennoch viel wahrscheinlicher, als was ich weiter zu erzählen habe.« Er berührte jetzt den aufgeregten Zustand, in dem er, Ludwig zu bewachen, mit dem Pistol in der Hand, vor ihm gesessen habe und endlich, von unbewußter Müdigkeit überwältigt, entschlafen sei, wo ihn dann der Traum erfaßt, den er mit der Gewalt des tiefsten Grauens, das jetzt noch seine Seele zu überwältigen drohte, ergreifend vortrug. – Lautlose Stille herrschte im Saale. Vielleicht war Keiner in der ganzen Versammlung, der nicht den Jüngling als unschuldig und des tiefsten Mitleids würdig erkannt hätte.

Erschöpft und todtenbleich lehnte sich der Unglückliche, nachdem er geendigt, von der Anstrengung fast überwältigt, in den Lehnstuhl zurück. Mauville's Augen ruheten auf diesem rührenden Opfer, mit dem Wunsche, er möge so enden; denn der erfahrene Richter wußte, daß er nicht zu retten war.

Da sagte der beisitzende Richter zu Herrn von Mauville: »Sie vergessen die Aussage des Kammerdieners, der uns noch [106] von einem Liebesstreite der beiden jungen Leute erzählte. Gleichfalls eine wichtige Möglichkeit, so rasche That zu erzeugen!«

Ein mißbilligender Blick des Herrn von Mauville traf ihn; doch ungehindert davon, fuhr er fort: »Die Neigung Beider traf dasselbe Fräulein aus diesem Hause; Graf Ludwig war am Morgen mit derselben verlobt worden. Das erfuhr der Angeklagte!«

»Halt,« rief Reginald – »mein Herr, um Gottes Willen halten Sie ein!« Konvulsivisch war er aufgesprungen; noch ein Mal jagte das Blut über das sterbende Antlitz. »Mischen Sie in mein elendes Schicksal nicht den heiligen Namen dieser Dame! Sprechen Sie es aus, das vernichtende Wort: überführt, schuldig! – Aber um Gotteswillen, diesen neuen Beweisgrund nicht – ich will ihn nicht hören – wiederholen Sie es nicht bei Ihrer Seele Seligkeit!«

Da schwankte plötzlich Franziska vor den entsetzten Blicken ihres Vaters vorüber; sie wandelte leichten Schrittes auf Reginald zu, der bis an seinen Sessel vor ihr zurück wich. Dicht vor ihm blieb sie stehen und sagte mit einer weichen, tonlosen Stimme ohne Ausdruck und Kraft, während schwere Seufzer jeden Satz unterbrachen: »Warum verläugnest Du mich, edler, unschuldiger Reginald? Ich war es, die Du liebtest – ich werde ewig daran gedenken! Die Welt hat uns getrennt – doch blieben wir treu – und Ludwig, der arme Bruder, wäre nicht zwischen uns getreten! – Nun bin ich Braut von Dir und ihm – und Eure Witwe! – Leb' wohl – auf Wiedersehen!«

Sie reichte ihm, wie zum heiteren Spiele, die blasse, marmorkalte Hand – er widerstand nicht – er kniete nieder – laut schluchzend preßte er ihre Hand an seine Lippen – er, sah zu dem schönen, starren Gesicht empor, aus dem die Augen so abwesend niedersahen. Da senkte sich das blaue Atlaskleid wie verhüllend um ihn her; die schöne Gestalt sank langsam[107] zusammen; sie glich einem Engel, der in einer Wolke den bleichen Jüngling verhüllen wollte. – Der Vater hob die Bewußtlose sanft aus den Armen Reginald's, der in diesem Augenblicke der Trennung das Todesurtheil erlitt. Er sah ihr nach, als wäre sie sein letzter Lebensathem – und in demselben Augenblicke fühlte er sich mit Liebe an ein warm schlagendes Herz gedrückt. Es war Franziska's Bruder!

Herr von Mauville hob das Verhör auf. – Reginald ward mit zärtlicher Sorgfalt hinweggeführt. Hart trat Emmy Gray den Richtern in den Weg; sie wollte bitten; – aber der unbeugsame Sinn lernte nicht so spät die nie gekannte Aufgabe. »Sprecht Recht! Sprecht Recht, Ihr Richter,« schrie sie mit Todesangst, und ergriff hart den Arm des Herrn von Mauville; – »er ist ja unschuldig – rein, wie an der Brust der Mutter!«

»Arme Frau!« sprach Herr von Mauville – »ich werde ihn der Gnade des Königs empfehlen!«

»Gnade? Gnade?« rief Emmy wild – »Recht, Recht! keine Gnade – Recht muß ihm werden!«

»Vom Rechte darf er nichts hoffen,« sagte der zweite Richter; – »jeder Gerichts-Hof wird ihn verdammen. Träume sind keine gültigen Zeugen!«

Sie zogen an ihr vorüber; sie starrte ihnen nach; ihr größtes Elend war, daß sie diese Gerechtigkeit nicht verstand. Sie stieß ein fürchterliches – wildes Geschrei aus! – Die mitleidigen Mönche erfaßten die Unglückliche, die in Konvulsionen fiel.


Die Marschallin reiste noch denselben Abend mit dem Marquis de Souvré nach Paris ab. Die Trennung von der Familie d'Aubaine war kalt und zeigte von gegenseitigem Mißtrauen. [108] Das entschiedene Betragen der Marschallin war zurückgekehrt; es lag eine Verachtung gegen die erfahrenen Anschuldigungen in ihrem Wesen, die sie unbedeutend machen sollten. Graf d'Aubaine war zu edel und zu stolz, sich die Richtung seiner Meinungen angeben zu lassen; er zeigte sich in gemessener Haltung. Graf Leonin folgte seiner Mutter – fieberkrank – gebrochenen Herzens!

Später fuhr dem Wagen des Herrn von Mauville eine verschlossene Kutsche nach; sie brachte Reginald nach der Bastille. Um Mitternacht rollte langsam ein Rüstwagen mit der Leiche des Grafen Ludwig dem trostlosen Zuge nach; er ging langsam nach dem Erbbegräbnisse in dem Schlosse Moncay.

Lange blieb Franziska d'Aubaine geisteskrank, fast ausschließlich von ihrem Vater gepflegt, dessen Nähe allein ihr Ruhe gab; jeder Andere beängstigte sie. Jahrelang dauerte dieser Zustand. Langsam genas sie, eine Fremde sich fühlend in der Welt. Ihr Vater that keine Forderung, die sie auf gewöhnliche Weise dem Leben anzuschmieden trachtete; er forderte Nichts, als die Wiederkehr einer würdigen Geistesthätigkeit. Indem er die Geselligkeit der großen Welt von ihr abhielt, führte er sie doch zuweilen nach einem Schlosse in der Nähe von Paris und versammelte dort die Heroen der Zeit, an deren Geist Franziska aufstrebend sich entwickelte, wenn auch ohne Wunsch, ohne Zweck. So ward sie dem Leben leise wieder zugeführt – seine schöne, uneigennützige Gefährtin! –

Die Marschallin wußte ihre weitverzweigten Verbindungen sehr wohl zu benutzen. Reginald's Prozeß ward in eine Art von Geheimniß gehüllt, welchem sie den Schein der Mäßigung zu geben wußte. Es schien, als ob ihre schmerzbeladene Seele vor Allem öffentliche Verhandlungen scheue; – sie wies mit leisen Andeutungen auf ihren Sohn. Man konnte denken, Leonin sei geisteskrank. Vergraben auf ein fernes Crecysches [109] Gut, blieb sein Zustand zweifelhaft. Zuweilen schien er zu rasen; er wollte dann Souvré umbringen und verwünschte seine Mutter. Dann brachte er Tage und Nächte auf seinen Knieen zu – er sah Geister! Viktorine an Fennimor's Seite erschien ihm; er redete mit ihnen, und dies war der Uebergang jener Raserei. Er sank dann auf den Teppich des Fußbodens; hier fand er ein Paar Stunden Schlaf, bis ihn neue Verzweiflung weckte.

Nach einem Jahre, in welchem das Schloß Ste. Roche mit der ganzen Situation noch ein Mal erforscht war, die Richter die Aussagen der wilden Emmy Gray, ohne Glauben an ihren Verstand, angehört, alle Zeugen vernommen, und bald für, bald wider beschlossen hatten, fiel das Erkenntniß, wie zu erwarten stand, gegen Reginald aus. Er ward zum Tode verurtheilt und – der König unterzeichnete das Todesurtheil.

Diesen Moment der Sicherheit hatte die Marschallin erwartet. Sie fuhr in tiefer Trauer nach Versailles und zeigte ihrem ganzen Zirkel vorher an, daß sie die Gnade des Königs anzurufen denke für den Feind, für den Mörder ihres Hauses! Alles drückte Erstaunen und Bewunderung für die erhabene Tugend der ehrwürdigen, großmüthigen Frau aus. Es war das Signal für Alle, ihr nach Versailles zu folgen; man fragte der Stunde ihrer Abfabrt nach; es schien ein Festzug.Eine Karosse mit rothem Himmel – ein Vorrecht der Familien höchsten Ranges – hinter der anderen rollte auf dem großen Wege nach dem Schlosse.

Der Prinz von Courtenaye bat beim Könige zur Zeit der Audienz-Stunde für die Marschallin von Crecy um Gehör. Der Prinz, der, gerade im Dienste, sich diesem Auftrage unterzog, hatte einigen Blicken Ludwigs zu begegnen, die ihn unruhig machten. Der König fragte nach dem Inhalte des Audienz-Zimmers – wie man dies zu nennen pflegte. Herr von Courtenay [110] nannte die ersten Namen des Landes. »O,« sagte der König, mit einem stolzen Lächeln – »der ganze Zirkel! – Sie sehen,« fuhr er fort, sich zu einem Geistlichen wendend, der im Hintergrunde stand, »man hat uns einen Platz in der letzten Scene des Trauerspieles zugedacht.« – Dieser Geistliche war Fenelon, der Erzbischof von Cambray. – »Mein Herr,« sagte der König darauf zum Prinzen – »die Versammlung ist uns genehm; wir werden sie später empfangen.«

Herr von Courtenaye wußte jetzt gewiß, daß der König in Zorn war. Als er, ganz bleich vor Schrecken, in das Audienz-Zimmer trat, erschien am anderen Ende die Marschallin mit eben so verändertem Gesichte. Sie hatte Madame de Maintenon ihre Aufwartung machen wollen, welche sie von fern in einem Damenkreise auf der großen Terrasse lustwandeln sah; der meldende Lakay brachte aber die Antwort zurück: die Frau Marquise wären beschäftigt und könnten die Frau Marschallin nicht empfangen. Die Marschallin traute ihren Sinnen nicht; die anwesenden Damen, die sie wie ein Hofstaat begleiteten, wurden außerordentlich verlegen; und als sie das Audienz-Zimmer er reichte, war von dem früheren Gefolge Niemand an ihrer Seite.

Welche qualvolle Stunde folgte jetzt! Den Fremden schien der Abend heran zu nahen, die Einheimischen starben vor Neugierde und Ungeduld; immer mehr wuchs der Kreis, die Feinde der Marschallin rückten an. Sie wußte genau, daß sie herbei gerufen waren; selbst Souvré war so überrascht, daß ihm das Nachdenken darüber seinen gewöhnlichen Witz kostete. – Da öffneten sich die Thüren; die dienstthuenden Cavaliere schritten voran, dann kamen die Prinzen des Hauses; Alle stellten sich an der Thür auf. Man sah in dem Saale zunächst den König daher kommen, langsamen Schrittes, mit der imponirenden Würde, die von einer ihm, im hohen Mannesalter, noch treu [111] bleibenden Schönheit gehoben ward. Die daraus hervorgehende, vollständige Anmuth der Bewegungen machte ihn zu dem Vorbilde, welches er für ganz Europa war. Etwas hinter ihm, an seiner linken Seite ging Fenelon, der Erzbischof von Cambray; Ludwig sprach zu ihm mit dem Wohlwollen und der feinen Hochachtung, die Alle, die es erfuhren, berauschte. Die Marschallin fühlte, daß ihre Knie bei Fenelon's Anblicke schnell zusammen schlugen; heftig richtete sie sich nur noch gerader in die Höhe; Souvré schien ihr Platz machen zu wollen – er zog sich noch weiter zurück.

Athemlos harrten die Anwesenden, bis der König die Schwelle überschritten; in demselben Augenblicke setzte er einen kleinen Hut auf, den er unter dem Arme trug, nahm ihn nach einigen Sekunden ab, grüßte die Versammlung und setzte ihn dann wieder auf.

»Die Gemeldeten haben den Vorrang!« rief der Prinz von Courtenaye.

Das war der entscheidende Moment! Aus der Masse lösten sich die Bezeichneten und naheten, in einen Kreis sich stellend. Rechts, dem Könige zunächst, hatte die Marschallin mit dem kühnsten Muth ihren Platz eingenommen. Ludwig grüßte noch ein Mal, indem er den Hut einen Augenblick abnahm, dann redete er den Grafen Villeroi an und schien Heiterkeit und Wohlwollen zu athmen, wenn auch nie die imponirende Wichtigkeit des Königs dabei zu vergessen war. Wer hätte ihn aber nicht lieben müssen, als er sich der alten achtzigjährigen Herzogin von Gêvres nahete, die, an einen goldenen, mit Juwelen verzierten Krückenstock gelehnt, herbei gekommen war, dem Könige für eine ihrem Enkel erwiesene Gnade zu danken. Mit dem Hut in der hocherhobenen Hand stand der König vor der alten munteren Frau, die ihr dankbares Herz mit der größten Lebhaftigkeit vor ihm ausströmen ließ. Er schalt sie dagegen [112] mit einer hinreißenden Güte, daß sie gekommen war, und rief mit lauter Stimme: »Ein Tabouret! ein Tabouret!« und als es herbeiflog, rief er noch ein Mal: »Mein Bruder – ein Tabouret!« Monsieur verstand dies augenblicklich und legte herbeieilend die Fingerspitzen daran, während der König der alten, in Wonne strahlenden Matrone den Arm gab und sie niedersitzen ließ; dann begrüßte er den harrenden Kreis weiter. Aber trotz dieser weichmüthigen Scene ließ sich Niemand über die Stimmung des Königs täuschen. Er hatte einen kleinen, rothen Fleck unter dem rechten Auge, und Jeder wußte, daß er über etwas in Zorn gewesen. Schon bezeichnete man den Gegenstand desselben; denn der König war an der Marschallin von Crecy vorübergegangen, ohne sie zu begrüßen.

Die Audienz, welcher der übrige Hof bloß als Zuschauer beiwohnte, war bis auf die Marschallin und Souvré, die der König nicht angeredet hatte, vorüber. Der König richtete sich stolz empor und rief: »Meine Prinzen, ich glaube, Sie haben Ihre Bekannten in diesem Kreise.«

Das war ein Zeichen, daß der König fertig war. Der Prinz von Courtenaye durfte in diesem Augenblick, im Falle der König Jemanden übersehen hatte, die Personen bezeichnen. Er trat vor und nannte die Marschallin und Souvré; der König neigte kaum merklich das Haupt, und die Marschallin trat vor, allein noch von ihrem Zorne Kraft erhaltend.

»Madame,« begann der König, den Hut gleichgültig abnehmend und die Hand damit niederhängen lassend, welches ein niederer Grad von Attention war – »wir bedauern um so mehr, Sie erst so spät zu begrüßen, da wir Ihnen eine Mittheilung machen können, die für Sie allerdings von großer Wichtigkeit ist. Wir haben auf die Bitte Ihres Sohnes, durch den Herrn Erzbischof von Cambray vermittelt, den jungen Mann begnadigt, der, unter dem Namen Chevalier Ste. Roche, [113] ein beklagenswerthes Opfer der Verirrung ward, die, wie ich denke, Andere mehr, als er selbst verschuldet.«

»Sire,« sprach die Marschallin mit gehobener Stimme – »ich harrte hier mit derselben Bitte um Gnade! Nicht Rache an dem Uebelthäter kann das berühmte, erlöschende Geschlecht der Crecy-Chabanne retten; – wir suchten nicht Sühne durch Blut!«

»Das ist uns lieb zu hören!« erwiederte der König, mit unerschütterlicher Kälte; – »wir werden es, Madame, unserer Frau Schwägerin melden lassen. Sie hat uns diesen Morgen ersucht, die Frau Marschallin ihres Dienstes als Oberhofmeisterin entheben zu dürfen.«

»Sire,« rief die Marschallin – »ist Unglück, wie es unser Haus verfolgt, ein Grund, uns zu entehren?«

»Madame,« sagte der König – »vergessen Sie Ihre Stellung nicht! Unglück fand in uns Schutz und Hülfe; wir beweisen es, indem wir den jungen Mann begnadigen, der durch unerhörte Vergehungen um Alles betrogen ward, was wir an irdischem Besitze zu schätzen haben: um rechtmäßige Ansprüche an einen vornehmen Namen und den damit verknüpften Besitz großer Reichthümer!«

»Mit Schmerz sehe ich,« entgegnete die Marschallin, noch immer ungebeugt – »daß meine Feinde Zeit hatten, mich zu verdächtigen! Ich darf es sagen, Euer Majestät sind falsch berichtet!«

Der rothe Fleck auf Ludwigs Wange begann zu leuchten, das strahlende Auge des Königs durchbohrte die Marschallin. »Falsch berichtet?« rief er; – »hüten Sie sich, Madame, und wissen Sie, daß Ihr eigner Sohn und der Erzbischof von Cambray unsere Berichterstatter waren!«

Die Marschallin wankte zurück. –

»So wahr ich König von Frankreich und Nachfolger des heiligen Ludwigs bin – wäre der unglückliche Jüngling nicht [114] so öffentlich eines Mordes bezüchtigt gewesen, ich würde hier ganz anderes Recht geschafft haben! – Und Sie, Madame, die Sie fortan außer Zweifel sein werden, daß wir unterrichtet sind, wie Sie bis dahin uns zu täuschen wagten – Sie, denke ich, werden dem Minister der Polizei bis heute Abend anzeigen, welches Kloster, zwanzig Meilen von Paris entfernt, Sie zu Ihrem Aufenthalte gewählt haben.«

Die Marschallin wankte hin und her; sie wollte noch reden. Der König setzte den Hut auf und wendete sich ab; in demselben Momente war die Marschallin, von den Hofleuten verdeckt, zurückgedrängt; sie schritt steif und fest durch alle Säle, stieg in den Wagen mit rothsammetenem Himmel und sagte kaum hörbar: »Nach Moncay!«

»Nun, Herr von Courtenaye,« rief der König dem Prinzen zu; – »was giebt es noch?«

Der Prinz hatte kein Wort gesagt. »Ah', ich verstehe,« sagte der König – »der Marquis de Souvré! Sagt ihm, die Luft am Hofe passe nicht mehr für ihn. Wir glauben, er wird sich in England besser befinden; wenigstens wird seine Korrespondenz mit Wilhelm von Oranien dann geringere Schwierigkeit haben! Sein Name fällt unangenehm in unser Ohr!«

Souvré, der von Niemandem geliebt und geachtet war, selbst in dem Sinne, wie es bei Hofe gilt, wartete nicht, bis man ihn aus dem Salon stoßen würde. Er hatte schon lange das Versprechen, in England Schutz zu finden, wenn seine Spionerien entdeckt würden; er eilte nach dem Hotel Crecy, wo er wohnte, um seine Reise sogleich anzutreten. Die Polizei empfing ihn, seine Papiere waren in ihren Händen. Nach einem kurzen Prozesse beschloß er sein Leben in der Festung Rochefort.

Der Erzbischof von Cambray eilte nach Beendigung der Audienz durch die Gemächer des Königs nach einer offenen Gallerie, die in den Garten von Versailles führte. Bald sah [115] er den Gegenstand, den er suchte. Auf zwei Diener gestützt, versuchte Leonin, Graf von Crecy-Chabanne, ihm entgegen zu eilen. Der großmüthige Fenelon beschleunigte seine Schritte und hielt, die Seelenqual des Unglücklichen abzukürzen, mit freudigem Antlitz ein Pergament hoch in die Luft. »Begnadigt! begnadigt!« – rief er – »schließen Sie jetzt Ihren Frieden mit Gott; Ihr König verzeiht Ihnen!« Leonin stieß einen ächzenden Seufzer aus; Fenelon schloß ihn an seine Brust. –

Wenige Tage später erschien um Mitternacht vor den Thoren der Bastille ein verschlossener Reisewagen, mit einer kleinen Eskorte Bewaffneter in einfacher grauer Reisetracht. Nach Abgebung der Parole fuhr der Wagen in den innern Hof. Ein Herr, in seinen Mantel gehüllt, stieg aus und ward nach Reginald's Zimmer geführt.

»Mein Herr,« sprach er, sich vor Reginald verneigend – »ich bin beauftragt, Sie laut Befehl des Königs hier wegzuführen!«

»Wegzuführen?« rief Reginald; – »ist mein Prozeß entschieden?«

Reginald war fünfundzwanzig Jahr; er hatte ein Jahr hinter den Mauern der Bastille geschmachtet. Luft! Luft! – eine Wiese – ein Baum – eine Blume nur! seufzte seine schmachtende Seele. Jetzt sollte er fort – diese Mauern verlassen – aber zu welchem Zwecke? Sollte sein Todesurtheil vollstreckt werden? Sollte eine neue Festung ihn umschließen?

Fenelon hatte seinen Schüler in dieser schweren Zeit nicht verlassen; er hatte das Gefühl der Unschuld in ihm verstärkt, da er das Gefühl des Unglücks nicht aus seiner Seele nehmen konnte. Er stellte ihn klar zum Leben, in der geheimen Hoffnung, ihn für dasselbe wieder zu gewinnen. Von der Jugend unterstützt, konnte er in freier Thätigkeit, im Fleiße, in nützlicher Bestrebung, nach und nach das Leben sich ihm erhalten denken.

[116] »Ihr Prozeß ist entschieden,« erwiederte der Herr – »und ich bin Ihnen hoffentlich keine feindliche Erscheinung.« Reginald erkannte Herrn von Mauville.

»O, nein!« rief er lebhaft – »Sie waren vom ersten Augenblick an mein guter Engel!« –

»So folgen Sie mir auch jetzt voll Vertrauen!« – In kurzer Zeit war Reginald zur Abreise gerüstet; Beide bestiegen den Wagen. Die Thore von Paris lagen weit hinter ihnen, als der Morgen anbrach. Da erblickte Reginald bei den ersten Strahlen der Morgensonne die lang ersehnte Natur. Der Eindruck war überwältigend! Mit trunkenen Blicken sog er einige Minuten die Gegenstände ein; dann wendete er sich zu Herrn von Mauville, der mit antheilvollem Ausdrucke der Züge den schönen blassen Jüngling betrachtete. Den liebevollen, väterlichen Blick erkennend, warf Reginald sich laut weinend an seine Brust. Fremde Arme umschlangen den Jüngling! Er hatte von allen reichen Liebesbanden, die ihn seit seiner frühesten Jugend umgaben, Nichts behalten, als seinen Richter, der ein Mensch war!

In einer Hafenstadt machten die Reisenden Abends Halt. Reginald schlief einen langen, erquickenden Schlaf. Am anderen Morgen fand er Herrn von Mauville in besonders feierlicher Stimmung. »Bis hierher,« sprach dieser, »habe ich mich verpflichtet, Sie zu begleiten, theurer junger Mann! Man hat mich durch das Vertrauen geehrt, mit dem man mir die Vollziehung dieser Maaßregel überließ. Der König hat Sie begnadigt! Sie sind frei! Der Erzbischof von Cambray hat mir diesen Brief für Sie mitgegeben; er wünscht, daß Sie von Ihrem Vaterlande, bis auf die Erinnerung, Abschied nehmen mögen! Er fordert Sie auf, keine Verbindung mit demselben zu unterhalten, selbst der brieflichen Mittheilungen zu entbehren. Nur so, glaubt er, kann es Ihnen gelingen, ein neues Leben zu beginnen. Ihr Vater –«

[117] »Mein Vater?« rief Reginald, und eine glühende Wallung zeigte sich auf seiner Stirn. »Mein Vater wird den Wunsch meiner gänzlichen Vernichtung, der Beraubung aller Bande, die dem Menschen heilig und theuer sind, und ihn an sein Vaterland knüpfen, unterstützen! Er hat von mir Nichts mehr zu fürchten! Da ich es aufgeben mußte, für meine heilige Mutter Gerechtigkeit zu fordern, so hört für mich jeder Anspruch an ihn auf!«

Wehmüthig blickte Herr von Mauville den Jüngling an. Er wußte ihm wenig zu sagen und fürchtete sein zürnendes Gefühl durch Widerspruch noch heftiger zu erregen. »Der Graf Crecy war es,« fuhr er sanft fort – »der, durch die Vermittelung des Erzbischofs von Cambray, dem Könige das ganze Geheimniß Ihrer Geburt, Ihres traurigen Geschickes entdeckt; – und so dürfen Sie sagen, ist Ihrer Mutter Recht geschehen!«

Reginald's erglühtes Auge ruhte einen Augenblick voll Befriedigung auf Herrn von Mauville. »So mag ihm Gott verzeihen, wie ich ihm verzeihe!« rief er plötzlich tief bewegt.

»Darum sollte ich Sie bitten!« sagte Herr von Mauville; – »der unglückliche Vater fühlte keinen Muth, dem tief beleidigten Sohne selbst zu nahen.«

Reginald verhüllte sein Gesicht mit beiden Händen; Fennimor's Sohn weinte über den unglücklichen Vater. »Sagen Sie meinem Vater – sagen Sie ihm« – »Daß Sie ihm verziehen haben!« ergänzte Herr von Mauville die schluchzend herausgestoßenen Worte des Erschütterten.

»O, welch' ein Wort gegen einen Vater!« seufzte Reginald. »Sagen Sie ihm, daß ich gedenken wolle, er habe einst meine Mutter geliebt; – daß ich ewig gedenken will, wie er mich mit Sorgfalt erziehen ließ und wie viel Liebe er mir bewiesen. Aber wenn ich voll Schmerz zugleich behalten muß, wie er den Lockungen [118] der vornehmen Welt mit ihren empörenden Anforderungen und erlogenen Rechten erlag, so sagen Sie ihm, daß ich ihr einen tiefen, unversöhnlichen Haß geschworen; daß ich seine unnatürliche, entmenschte Familie hasse, und daß es mein Stolz sein soll, sie zu verläugnen und mich nicht mehr zu ihr zu zählen!«

»Ich darf Sie nicht fragen, wohin Sie zu gehen gedenken,« entgegnete Herr von Mauville; – »meine Bestimmungen lauten, dies nicht wissen zu wollen. Aber ich bin ein alter Mann; Sie sollen ihr Vaterland nicht verlassen, ohne den Segen eines Herzens, das Sie lieb gewonnen hat, wie einen Sohn.«

Reginald stürzte an seine Brust; Herr von Mauville segnete ihn in tiefer Rührung mit einer erschütternden Fülle hochherziger Worte. Dann entriß er sich plötzlich seiner Umarmung und enteilte dem schmerzlich bewegten Jünglinge.

Lange blieb Reginald regungslos auf seinem Platze. Wir können sagen, er erlebte einen großen Entwickelungs-Moment. Von allen Seiten nahete sich das Vorbereitete und ward zum Bewußtsein, das schnell die neue Form des Daseins bildete, und sie mit dem Inhalt einer ernsten, männlichen Erkenntniß erfüllte. Aber dessen ungeachtet seufzte das junge Herz: »Du bist allein!«

Als der Abend sank, redete ihn in schüchternen Lauten eine bekannte Stimme an; erschrocken fast sprang der Einsame auf. Es war sein treuer Kammerdiener, der sich ihm zu Füßen stürzte: »Nehmen Sie mich mit, gnädiger Herr! Verstoßen Sie mich nicht, sonst bricht mir das Herz!«

»Wie,« rief Reginald; – »Du willst den Verstoßenen – den Verbannten begleiten?« –

»Ja, Herr, bis in den Tod! Laßt mich nicht zurück, ich überlebe es nicht!« –

»So komm mit!« rief Reginald, und ein warmes Gefühl durchströmte sein Herz. Er war nicht mehr allein!

[119] Die Reise war von dem sorgsamen Diener mit einer Umsicht vorbereitet, die seine Instruktionen verrieth. Als Reginald in den Wagen stieg, überreichte ihm der Kammerdiener ein Portefeuille; es enthielt ein bedeutendes Vermögen in Wechseln und Gold. Auf dem Umschlage standen die Worte: Das Vermögen von Fennimor Lester, verehelichten Gräfin Crecy-Chabanne.

Schaudernd verschloß Reginald die verspätete Urkunde der Gerechtigkeit. – »Hörtest Du nie von Emmy Gray?« fragte Reginald später. »Es sei die letzte Frage über die Vergangenheit; aber ich muß sie beantwortet haben, ehe ich das Land verlasse.« –

»Sie lebt – aber sie hat der Welt unerlöschlichen Haß geschworen; auch Euch wollte sie nicht wiedersehen! Der Herr Graf von Crecy lassen für sie sorgen, wie für eine Prinzeß.« –

Reginald änderte jetzt seinen Namen und blieb von da an verschwunden. Alle Bemühungen, ihn aufzufinden, scheiterten, wie wir es bereits wissen.


* * *


Wir wollen zu einer anderen Zeit dem Eindrucke nachfragen, den die Erzählung des Marquis d'Anville auf seine Zuhörer machte; näher liegt uns das junge Fräulein, das wir, von dem Arzte zu Madame St. Albans Hilfe herbeigerufen, in dem Vorflure des kleinen Thurmes verließen, der in die Zimmer der Mistreß Gray führte.

Trotz dem, daß der Arzt sie berufen, schienen dennoch über ihren Eintritt Schwierigkeiten obzuwalten; denn Elmerice hatte hinreichend Zeit, das ergreifende Schauspiel eines mit heftigen Ausbrüchen wild über die Erde dahin ziehenden Gewitters zu beobachten, und erst, als eine gleichmäßig graue Wolkenlage[120] einen frühen Abend herbeiführte, und der niederfallende feine und warme Regen die erschreckte und zerrissene Vegetation zu heilen schien, trat Asta zu der Harrenden und flüsterte ihr zu: »Bald! bald!«

Elmerice fühlte ihr Herz aufwallen; sie trat der Eingangsthüre näher und athmete bedürftig den Duft, der aus tausend kleinen, erquickten Kelchen balsamisch zu ihr aufstieg. Ihre Augen wurden naß, trotz dem, daß sie sich innerlich über eine Empfindung schalt, die ihr durch Nichts motivirt schien. Sie ward ungeduldig und wünschte um so lebhafter, in den bangen Zauberkreis eingeführt zu sein, den sie bald zu überwinden dachte durch Dienste, die sie leisten wollte. Auch sollte ihr Wunsch jetzt erfüllt werden. Asta war zurück geschlichen, mit ihr erschien der alte Arzt und führte sie stumm und leise durch die breite Flügelthüre, die sich geräuschlos in den Angeln drehte.

Obwol ein hoher, lang ausgestellter Schirm die Uebersicht des Zimmers hinderte, sah Elmerice doch an der weit ausgebreiteten Decke, daß sie in ein ungewöhnlich großes Zimmer trat. Der hohe Schirm bildete, wenige Fuß von der Wand abgestellt, einen verdeckten Gang, und als sie ihn, hinter dem Arzte hergehend, zurückgelegt, sah sie sich vor dem Bette der Madame St. Albans, die, auf Kissen gestützt, leise stöhnend darin ausruhte.

»Ach, Kind, Kind, ich habe es nicht gewollt, daß man Dich rief!« schluchzte Madame St. Albans leise. »Du armes Kind, wärest Du doch bei Deiner Gräfin geblieben! Was kommt nun Alles über Dich! Zwei Leichen wird es in kurzer Zeit geben; denn weder sie, noch ich, Keine von uns Beiden übersteht die Leiden!«

»Darum gerade ist es gut, daß ein Gesunder bei Euch ist,« erwiederte Elmerice freundlich, – »Ihr sollt bald erfahren, was gute Pflege thut.«

[121] »Ach,« sagte Madame St. Albans, fast verdrießlich, – »seid nicht so höflich mitten in dem Elende! Das kann Euch nicht von Herzen gehen; und ich habe nie den Leuten getraut, die so sehr höflich waren.« Grämlich lehnte sie sich in die Kissen zurück, als wolle sie Ruhe haben.

Elmerice wendete sich ab, wenig ermuthigt durch diesen Empfang, und sah in das Antlitz des alten Arztes, der, wie es schien, kaum ein lautes Gelächter bezwang.

»Da habt Ihr's!« sagte er, sie gegen eins der hohen Fenster führend, das mit dem Bette der Erzürnten in einer Reihe lag und eins der vier großen, breiten Fenster war, die diese Seite des Riesengemaches einnahmen. »Aber,« fuhr er fort, – »daran müßt Ihr Euch gewöhnen; ich habe lange gezaudert, ehe ich Euch zu diesen verrückten Weibern herbeschied; denn die Albans ist eine so kleine, jämmerliche Seele, die sich Wunder wie klug deucht, wenn sie Anderen nichts Gutes zutraut. Ich sage, solche sogenannte stille Leute, die immer thun, als wollten sie mit keinerlei Art von Verdienst in die Schranken treten, das sind innerlich die Tollsten, die sehen auf Alles mit Verachtung, was sie nicht verstehen; ihr Hochmuth macht sie bösartig.«

»Obwol ich Madame St. Albans bloß für launisch und nicht für bösartig halte,« sagte Elmerice – »habe ich doch von ihrer Weise schon manche Erfahrung gemacht, die mir jetzt zu Hilfe kommen wird.«

»Nur nicht zu gut, mein Kind! Schreit sie ein Paar Mal tüchtig an, das hilft mehr, als nachgeben. Bleibt Ihr immer sanft und freundlich, das versteht so ein Gemüth nicht. Weil sie selbst schreien und heulen würde, wenn man sie behandelte, wie sie Anderen thut, so hält sie Jeden, der es hinnimmt, für seiner Schuld überführt oder für falsch.«

[122] »Und doch,« lächelte Elmerice, belustigt von dem alten, klugen Manne, – »doch muß ich schon bei meiner Weise bleiben; es ist nicht so wichtig, daß sie mich versteht; aber ich würde mich selbst nicht verstehen, wenn ich ihr eben so erwiedern wollte, wie wir es ja an ihr nicht billigen. Ich werde weniger dadurch verletzt, wenn ich nicht darauf eingehe, und muß es leiden, wenn sie mich deshalb falsch schilt.«

»Ja, ja,« sagte der Alte, sie wohlgefällig anblickend, – »es giebt auch solche Weiberherzen! Ich kann sie wohl leiden, wenn ich dagegen den Anderen gern etwas auf den Leib hetze. Nun, mein Kind, ich werde zusehen, wie sie's machen, und komme schon zu Hilfe. – Jetzt will ich Euch sagen, daß Keine von den Beiden sterben wird, wenn sie im Bette bleiben; aber sehet, sie sind so krumm gezogen, so voll Gliederschmerzen, daß, wenn sie da nicht bleiben, ich für Nichts einstehen kann; denn alle Augenblicke wird es entzündlich, und die Alte liegt immer im Fieber. Das hält Einer in den Siebzigern auch nicht lange aus, wenn er gleich solchen Riesenkörper hat, wie sie. Bedurfte nun die Alte Etwas, was Asta nicht zu besorgen verstand, dann stand die Albans auf und that es; und da blieb die Geschichte, wie sie war, und Beide kommen mir von Kräften und können daran sterben.«

»Und hofft Ihr denn, lieber Herr,« rief hier Elmerice, angenehm überrascht, »daß Mistreß Gray sich von mir wird pflegen lassen?« –

»Davon kann vorerst bei Tage nicht die Rede sein; denn sicher litte sie es nicht. Aber sehet, in dem großen Himmelbette, da wird sie Euch nicht so bald entdecken, und nun ist Euer Geschäft, wenn ich nun doch einmal über Euch bestimmen soll, der Asta beizustehen, damit die Frau dort zu Bette bleiben kann, wenn es heißt, Umschläge kochen, Suppe oder Thee brauen, Wäsche wärmen, und was sonst noch vorfällt am[123] Krankenbette. Asta ist klug genug, es der Alten beizubringen; aber vorher will doch immer noch eine andere Hand dabei sein. – Und dann, mein Kind, des Nachts, da werdet Ihr zuweilen die Aeuglein aufhalten müssen; da tritt bei der Alten das Fieber ein, dann will sie aus dem Bette und redet Manches, worauf Ihr Nichts geben müßt; doch in dem Falle wird sie nicht merken, daß Ihr eine Fremde seid, und Ihr werdet sie beruhigen und im Bette festhalten können; denn sie ist schwach wie ein Kind. Der Frau aber da deutet an, ihre unnütze Geschäftigkeit wäre verboten; und weil Ihr entschlossen seid, von ihr zu leiden, so duldet ihren Widerspruch, aber haltet sie im Bett; ich werde dem Allen den gehörigea Nachdruck geben. – Und so segne Euch Gott, mein Kind!« fuhr er fort, und strich plötzlich mit der Freiheit eines alten Mannes ihr die Locken von der Stirn, und betrachtete sie zurückgebogen einen Augenblick mit seinen forschenden, runden Augen. Dann schüttelte er den Kopf und trat wieder an das Bett der Madame St. Albans.

»Frau,« sprach er – »betragt Euch jetzt vernünftig; ich habe Euch hier nicht das arme Fräulein hergeholt, daß Ihr an ihr Eure Launen und Tücken auslaßt. Was sie Euch sagt, müßt Ihr thun; denn das ist mein Wille, sonst könnt Ihr ins Gras beißen, und Herr Albans heirathet eine Andere. Na, das dachte ich wohl, nun geht das Weinen an; auf dem Punkte sind wir sehr empfindlich! Nun, ich sage Euch ja, thut, was ich von Euch fordere, und Ihr sollt tanzend und springend zum Herrn Gemahl zurückkommen!«

Ohne die schluchzende Entgegnung der Beleidigten abzuwarten, kehrte er sich um, und Elmerice, die noch immer an dem Fenster lehnte, sah mit Herzklopfen, wie er die Vorhänge des Bettes zurückschlug, in welchem die geheimnißvolle Alte ruhte.

[124] »Schickt die Ellen nach Haus, Doktor!« sagte eine rauhe, heisere Stimme; – »ich höre sie schon wieder schluchzen; ich will das lästige Weib nicht mehr um mich haben.«

»Zum nach Hause schicken gehören Zwei: Einer, der schickt, und Einer, der geht; zum Gehen aber gehören Beine, und die hat Ellen jetzt nicht; denn sie liegt lang aus, und hat das Gliederreißen, wie Ihr.«

»Daß Gott erbarm'! Warum kam sie denn her, wenn sie nicht besser war, als ich selbst?«

»Seid nicht undankbar, Emmy!« rief der Arzt; – »schon oft habe ich Euch gesagt, sie hat wie ein gutes Kind gethan; eine Andere, die so wenig von ihrer Mutter hätte, wie Ellen, würde nicht vom Krankenlager aufgestanden sein, um zu Euch zu kommen.«

»Jämmerliches – jämmerliches Menschenvolk!« rief die Alte. »Alles soll man Euch anrechnen! Geht – ich will nichts von Euch! Habe ich Euch doch oft gesagt, Ihr sollt mich lassen; denn ich kann Keinem mehr was sein und will daher auch Nichts annehmen; denn was thätet Ihr wohl umsonst? Für Alles soll man Euch dankbar sein – und hier ist Alles trocken in mir – ich habe für Euch Nichts übrig!«

»Wir wissen das,« sagte der Arzt – »Ihr seid eine halbe Wilde; – und Gott richte es! Nehmt nur ordentlich ein, dann habt Ihr uns bald Alle nicht mehr nöthig.« Dann bog er sich nieder; er schien ihren Puls zu fühlen. »Das Fieber kommt schon wieder; haltet Euch ruhig, das darf nicht oft mehr kommen!« –

»Laßt es kommen, so oft es will! Gottes Wunder, daß es noch in diesem morschen Leibe was auszudorren findet! Es ist ein schlechtes Fieber, wovon Ihr solch' Aufhebens macht; es thut nicht seine Schuldigkeit; ich bin's müde und satt und möchte es fördern, statt lindern.« –

[125] »Alte Sünderin!« rief der Doktor ungeduldig und riß die Vorhänge zu. Kurz grüßte er darauf Elmerice und war aus dem Zimmer verschwunden.

Ein augenblickliches Grauen beschlich diese, als sie sich ohne seinen kräftigen Beistand hier plötzlich allein fühlte. Die Reden der alten Frau, so bös und finster, hatten sie tief bewegt; sie fühlte, wie schwer es sein müßte, diesem Herzen zugänglich zu werden; aber sie hätte Viel darum gegeben, wenn sie den Versuch hätte machen dürfen. Dieser tiefen Verachtung, diesem Mißtrauen entgegen zu treten, sie zu versöhnen – diese jugendliche Schwärmerei erfüllte ihr Herz und Kopf.

Doch störte das fortgesetzte Schluchzen der Madame St. Albans ihr Nachdenken. Sie trat daher zu ihr, und ohne den Gegenstand ihrer Trauer weiter zu berühren, sagte sie ihr, sie möchte sich doch die Vorhänge lüften lassen, und that es zugleich, indem sie ihr auch die Kissen besser legte, das Haar unter die Haube schob und ein Getränk reichte, was Asta ihr stillschweigend andeutete.

Dies hatte bald die Folge, daß Madame St. Albans ruhiger ward; und obwol kein gutes Wort über ihre Lippen kam, so schien sie doch nachgiebiger in ihren Bewegungen zu werden. Auch blieb das letzte Beruhigungsmittel endlich nicht aus, und sie lag bald schlafend vor Elmerice's Augen. Jetzt gab diese ihrem Verlangen nach, sich mit dem Raume bekannt zu machen, der sie mit so besonderem Interesse erfüllte.

Es war ein so ungewöhnlich großes Zimmer, daß es nothwendig die ganze Tiefe des Seitenflügels, in welchem es lag, einnehmen mußte. Dies schienen zwei große Flügelthüren zu bestätigen, die zu beiden Seiten eines riesigen, marmornen Kamines lagen und die Wand einnahmen zwischen den Fensterwänden, und die in das Innere des Baues führen mußten, wahrscheinlich zu verschiedenen Zimmerreihen gehörend, die von [126] beiden Seiten des Flügels Licht bekamen; denn jetzt sah Elmerice auch, daß, den geöffneten Fenstern gegenüber, eine eben solche Reihe angebracht war, die vermuthlich in den Hof sah, doch jetzt mit Läden dicht verschlossen war.

Die Decke war ein Kuppelgewölbe, so schwer mit Stuckatur und geschwärzten Gemälden verziert, daß man ohne Schauder kaum die kolossalen Engel niederschweben sehen konnte, die, an schweren Blumenketten hängend, jeden Augenblick herabzustürzen drohten. Die Tapeten aber, von hochrothem Damast, mit weißen Blumen durchwirkt, waren noch wohl erhalten; eben so zeigten die Vorhänge der Fenster, des großen Himmelbettes von demselben Stoff, alle ihren Werth in ihrer Dauer. Wunderlich stach dagegen die Einrichtung ab, die das Bedürfniß der alten Frau hinzugefügt. Im Kamine stand ein Schränkchen mit hellpolirtem Zinn, Brennholz war daneben aufgehäuft und hölzerne Geräthe. Auf der anderen Seite bildete ein hoher Lehnstuhl von Ebenholz, mit Gold und Silber ausgelegt, den Gegensatz. Die Kissen waren, wenn auch verwittert, doch von kostbarem Stoffe; davor stand auf einem türkischen Teppich ein werthvolles Spinnrad mit aufgezogener Wolle, daneben ein kunstreiches Tischchen mit einigen Andachtsbüchern; weiter entfernt befand sich ein Gestell, wo hinter wenig zureichenden Vorhängen die geringe Garderobe aufbewahrt war, und daneben zeigte sich ein prachtvoller Schrank mit vielen Schlössern, der in seiner kostbaren Arbeit zu dem Armstuhl und Tischchen zu gehören schien.

So bildete Alles, was sich dem Auge darbot, einen Gegensatz, der unter anderen Umständen Elmerice vielleicht verletzt hätte; jetzt aber nur ihren Antheil weckte und den lebhaften Wunsch erregte, sich allen diesen Dingen nahen zu dürfen. Besonders aber hafteten ihre Augen auf den fest geschlossenen Thüren, von denen sie wußte, daß sie in die Gemächer der ehemaligen Gebieterin der alten Mistreß Gray führten. Doch trat [127] bald eine Dunkelheit ein, die ihr die Gegenstände entzog; und da Madame St. Albans durch Seufzen und Stöhnen ihr Erwachen andeutete, versuchte sie der Leidenden Hülfe zu leisten.

Asta dagegen lief ab und zu an das Bett der alten Frau, welche endlich begehrte, daß Feuer in den Kamin gelegt werde, um Licht zu bekommen. Es geschah, und wurde für Elmerice eine große Wohlthat, da die hoch aufwallende Flamme jeden Winkel erhellte.

Asta wies ihr nun freundlich bedienstlich ein altmodisches Sopha, mit Polstern und Decken belegt, das hinter dem Schirme stand, zur Nachtruhe an, und öffnete ein kleines Wandthürchen, das in ein kaum zehn Fuß messendes Kämmerchen führte, worin sie auf einem kleinen hölzernen Tisch einige einfache Mundvorräthe aufgestellt hatte, die wahrscheinlich Veronika gesendet. Dieser ganz leere, von rohem Mauerwerk aufgeführte Raum hatte eine Wohlthat für Elmerice – ein fast bis zur Erde reichendes Fenster, das geöffnet war und die warme Nacht genießen ließ, die mit völlig aufgehelltem Himmel und einem Meere glänzend funkelnder Sterne erquickend zu ihr niederschien. Asta hatte das Tischchen dicht vor das Fensterbrett geschoben, auf dem Elmerice sich niedersetzen mußte, da kein Möbel weiter vorhanden war; und sie fühlte zu sehr, wie das geschickte Kind bemüht gewesen, ihr Angenehmes zu erzeigen, als daß sie nicht der kleinen Mahlzeit zugesprochen hätte. Auch hier war dieselbe widersprechende Ordnung: ein silberner Teller und ein hölzernes Geschirr mit Milch, ein feines, damastnes Tuch und ein irdenes Gefäß mit Honig, ein goldener Löffel und ein eisernes, aus der Scheide gebrochenes Messer; das Brod lag in einer japanischen Vase und die Butter in grünen Blättern auf dem zerbrochenen Deckel derselben. – Asta sah dennoch wohlgefällig auf ihr Tischchen hin; – ihre junge Gefährtin lobte Alles sehr freundlich und genoß von Jedem, der Kleinen ihr Theil aufnöthigend. [128] Auch lag für Elmerice ein besonderes Interesse in dem Anblick dieser Gegenstände; und als hätte ein Alterthümler in den Schachten der Erde die Reste eines vergessenen Jahrhunderts gefunden, so betrachtete sie Alles und hielt die werthvolleren Geschirre zum Fenster hinaus, um sie besser erkennen zu können; und besonders erforschte sie, wie ein Heraldiker, das Wappen des Tellers, das die ihr doch unbekannten gekrönten Geier des Crecy'schen Hauses enthielt.

Endlich erinnerte Asta sie an ihre nächste Pflicht; denn das arme, überwachte Kind, für das Niemand gesorgt, schlief nach der erquicklichen Mahlzeit und von Elmerice's Nähe in Ruhe versetzt, bald fest ihr gegenüber ein, und sie umschlingend, führte sie die Kleine halb bewußtlos nach dem Sopha, das für sie bereitet war, und flüsterte der ängstlich Ankämpfenden zu, sie werde für sie wachen.

Tiefe Stille umgab Elmerice nun. Leise, mit großen Umwegen schlich sie nach dem Kamin und legte seitwärts einige stärkere Schichten Holz auf, das Ausgehen der tröstlichen Flamme zu verhüten. Sie nahm dann ihren Platz so, daß sie beide Krankenbetten beobachten konnte, und ließ die Stunden vorüberstreichen, ohne Müdigkeit zu empfinden. Madame St. Albans schien zu schlafen; aber Elmerice sah mit unbeschreiblicher Spannung, daß sich die Vorhänge vor dem Bette der alten Gray beständig bewegten, als regte Jemand sich dahinter hin und her; dann blieb es einen Augenblick ruhig. Allein plötzlich öffneten sich die Vorhänge vorsichtig; ein wunderlich vermummter Kopf fuhr hervor und wendete sich in allen Richtungen, wie es schien, um zu sehen, wie es außer dem Bette stände. Obwol Elmerice jede Bewegung sah, wußte sie sich doch hinter den bauschigen Fenstervorhängen hinreichend verborgen und lauschte mit klopfendem Herzen, was weiter geschehen würde. Die gemachten Beobachtungen schienen der Kranken zuzusagen; denn [129] sie nickte mit dem Kopfe und schob behutsam die Vorhänge weiter von einander. Elmerice sah deutlich eine aufgerichtete Gestalt, und nach wenigen Augenblicken schob sich eine alte, gekrümmte und dennoch große Frau hervor, die einen weiten dunkeln Pelzmantel um sich geschlagen hatte, und deren Füße mit Tuchsocken bezogen waren, die ihre Wanderung, die sie jetzt mühselig antrat, so geräuschlos machten, daß sie ein körperloses Wesen zu sein schien. Hier wäre der Moment gewesen, wo Elmerice, den Bestimmungen des Arztes zu Folge, hätte einschreiten müssen; aber hierzu fehlte ihr um so mehr der Muth, da die Handlung von ihr offenbar eine wohlüberlegte, nicht durch Fieberhitze eingegebene war; und so blieb sie eine unthätige bange Zeugin dieses Verfahrens.

Die Alte schien in ihrem großen Hause von Bett Alles verborgen zu haben, was sie zur Ausführung ihres Willens nöthig hatte; denn außerdem, daß ihre Kleidung warm und ausreichend war, sah Elmerice auch jetzt einen Stock in ihrer Hand, dessen Spitze vorsichtig umwickelt war. Und doch trug er sie kaum! Mit welchem Antheile sah Elmerice, wie sie wankte, oft wie zusammenbrechend stehen blieb und so mühvoll den weiten Weg zurücklegte, der sie gegen die Thüre führte, die zunächst den unverwahrten Fenstern lag. Wie gern wäre sie ihr zu Hülfe gekommen und hätte sie gestützt; denn schon fesselte das geheimnißvolle Wesen so ihr Herz, daß sie ihrem Willen sich unwillkürlich zuneigte, ihn höher achtend, als ihre empfangenen Vorschriften.

Die Alte blieb jetzt seitwärts am Kamine stehen, öffnete eine Feder in dem schönen Schranken, die ein Fach hervortreten ließ, aus welchem sie eine dicke, gelbe Wachskerze und einen Schlüssel zog; mit Mühe zündete sie das Licht an dem Feuer an und ruhete dann gänzlich erschöpft, wie es schien, einen Augenblick in dem hohen Lehnstuhle. Welch' ein schauerliches [130] Bild war ihr Anblick! Ihr starres, abgezehrtes Gesicht war von der Kerze in ihrer Hand scharf beschienen, während das Feuer eizelne, grellere Lichter darüber hinjagte. Sie hatte die Augen geschlossen, und die Ermattung der Krankheit rang mit der fast krampfhaften Festigkeit, mit der sie Kerze und Schlüssel gefaßt hielt. Bald öffnete sie auch wieder die kleinen, versunkenen Augen, und noch ein Mal prüfend umherblickend, erhob sie sich mühsam und erreichte die geheimnißvolle Thüre. Der Schlüssel faßte geräuschlos das Schloß, die Thüre öffnete sich, die Alte schritt über die Schwelle; und ehe sie dort Fuß gefaßt, blieb Zeit genug, den geöffneten Raum zu erkennen. Aber tiefe Nacht herrschte dort; die eine Kerze erhellte nur die Thüre, die von Innen, wie von Außen reich vergoldet war – dann schloß sie sich hinter der Alten. –

Mit welcher Bangigkeit harrte Elmerice ihrer Wiederkehr! Es schien ihr eine Stunde – da öffnete sich abermals die Thüre; das Licht beschien den gramvollen Ausdruck des bleichen, alten Gesichts. Langsam ward Alles verwahrt, und nach einiger Zeit verhüllten die Vorhänge des Bettes das ganze geheimnißvolle Treiben. –

Elmerice wußte sich kaum Rechenschaft zu geben von der Empfindung, mit der sie am anderen Morgen das Erlebte gegen den alten Arzt verschwieg, da sich Veranlassung genug zeigte, es ihm mitzutheilen. Schon fühlte sie sich der unglücklichen Alten verbindet; es schien ihr, sie habe eine Berechtigung zu ihrem Verfahren, das Andere nicht zu beurtheilen verständen; und das wider Willen abgelauschte Geheimniß verpflichte sie zum Schweigen.

Auch war die Aufmerksamkeit des Arztes an diesem Morgen mehr auf Madame St. Albans gerichtet, die, vom Fieber immerfort bewegt, ihn zu beunruhigen schien. Er saß sinnend, ängstlich ihren Puls prüfend, nahm endlich [131] Elmerice in das kleine Nebenstübchen und schüttete ihr seine Gedanken aus.

»Das ist seit gestern nicht mehr dasselbe,« sagte er; – »das wird ein Zehrfieber! Eine schlimme Sache, mein Kind – und welche Lage für so ein Krankenbett! Damit nützt sie der Alten nicht, und Beide belästigen einander. Was fangen wir aber an – verdreht wie Beider Köpfe sind?«

»Sprecht mit Veronika, lieber Herr,« rief Elmerice – »ob sie nicht Madame St. Albans zu sich nehmen will und pflegen; dann bleibe ich bei der alten Mistreß Gray und pflege sie allein.«

»Wo denkt Ihr hin?« lachte der Arzt; – »Ihr kennt die Alte nicht; das brächte sie nun vollends zum Rasen; – dem kann ich Euch nicht aussetzen, das hat sie noch nie geduldet.«

»Wagt es dennoch!« sagte Miß Eton lebhaft; – »ich habe eine Zusage in mir, daß sie mich dulden wird. Madame St. Albans muß gerettet werden; eine andere Pflege ist bei der armen Alten nöthig, und also Gott befohlen! Ueberlaßt es mir, ich werde durchsetzen, was ich will. Sie muß – sie soll – sie wird mich dulden!«

Der Arzt sah in Elmerice's sich röthendes Angesicht; er erstaunte über die Energie des jungen Mädchens, und Elmerice, die seine Gedanken aus seinen Zügen lesen konnte, lächelte und sagte: »Das dachtet Ihr nicht! Ihr wollt mir den Muth nicht zugestehen, den ich habe. Nun, erfahrt es denn durch das, was ich leisten werde; laßt alle Zweifel ruhen und thut lieber ohne Zeitverlust, was nöthig ist.«

»Du bist ein prächtiges Mädchen!« rief der Arzt. – »Weiß Gott, Du sollst Deinen Willen haben! Ordentlich neugierig bin ich, wie Du es treiben wirst; – und es ist wohl möglich, daß, soll es wem gelingen, es Dir gelingt!« –

[132] Von Madame St. Albans Einwilligung konnte nicht die Rede sein; sie hatte kein klares Bewußtsein. Veronika war zu Allem erbötig, obwol voll Sorge für Elmerice.

Am Nachmittage stand ein Lehnstuhl an Tragstangen gebunden, in dem kleinen Vorflure; in Betten und Decken gehüllt, ward die Kranke hinein getragen, und der Zug nach dem Pfarrhause begann unter Aufsicht des Arztes und der treuen Veronika.

Als Elmerice sich mit ihrer kleinen Gefährtin allein sah, kam eine wunderbare Ruhe, ja, mehr wie das, eine Befriedigung und Freude über sie, deren Grund sie nicht nachfragte, sondern mit dieser Kraft in ihrer neuen Stellung ganz vertraut zu werden suchte. Zierlich wußte sie die Verwirrung zu beseitigen, die sich nach und nach um zwei Krankenbetten angesammelt hatte. Der kleine Raum, der ihr zum Eßzimmer diente, war unschätzbar wegen seines Luftstromes, seiner sonnigen Helle. Veronika hatte ihr ein frisches Bett – einige Bücher – ihren Schreibapparat herbei geschafft; Alles ward dem vorhandenen, ausreichenden Raume mit seinen reichen Möbeltrümmern angepaßt und gewann bald ein klares, wohnliches Ansehen. – Der Abend war so über Beide unmerklich hereingebrochen, und die Alte hatte in dieser Zeit keine Störung veranlaßt, da es die Zeit ihres Schlafes war. Asta verließ nun das Schloß auf Veronika's ausdrücklichen Befehl, um Mundvorräthe einzuholen, und Elmerice hatte sich auf den breiten Fensterrand in das kleine Kabinet gesetzt, und das Tischchen mit Schreibzeug vor sich gestellt, um ihr Tagebuch an Marie Duncan fortzusetzen. Wie wohl that es ihr dabei, daß sie das Lager der alten Menschenfeindin hatte umschleichen können, so Manches für sie bewirken dürfen, ja, der fest Schlafenden eine blühende Rose durch die Vorhänge schieben können, deren süßen Duft sie nun wider Willen einathmete. Den silbernen Becher hatte sie ihr zuerkannt; [133] er stand auf dem silbernen Teller, mit wohlschmeckendem gemischtem, frischem Quellwasser; umher lagen einige der schönsten, reifen Früchte, welche ein Aroma verbreiteten, wie Blumen. Alles war auf dem feinen Ebenholztischchen so aufgestellt, daß eine leicht verschobene Falte des Vorhanges es ihr zeigen mußte, wenn sie erwachte. Elmerice lachte vor Freude, als sie damit fertig war, und ihre Augen wurden naß. Dies uneigennützige Werben um das arme, versteinerte Herz that ihr so wohl, als ob es mit Banden des Blutes an sie geknüpft sei.

Ehe sie aber zum Schreiben überging, nahm sie die Aussicht wahr, die sich ihr von dort aus darbot, und sie sah, daß sie einen Theil des Bauwerkes übersehen konnte, unbehindert des weiten Blickes, den sie in das Thal von Ste. Roche hatte. Vergessen war die Feder. Mit der gespanntesten Aufmerksamkeit suchte sie, was sie über das alte Schloß erfahren, an das anzuknüpfen, was sie von dem Baue vor sich erblickte. Die lange Reihe der Fenster, zu der auch das gehörte, worin sie saß, endete an einem runden, vortretenden Thurm, an dessen mittleren Fenstern ein kleiner Altan hervorsprang. Elmerice hielt den Athem an; ihre Wangen glühten; – das mußte der Eudoxien-Thurm sein! Am Fuße desselben grünte und blühte ein schmales Gärtchen, welches auf der hohen, wallartigen Untermauerung, die in das Theil reichte, angelegt war. Es war nicht künstlerisch von Gärtners-Hand geordnet; doch hatte es der Pflege nicht entbehrt. Der Eingang dazu mußte aus Fensterthüren sein, die in der verschlossenen Zimmerreihe lagen, die Emmy Gray behütete. Zwischen Rosenstämmen, die, angebunden und beschnitten, von einer sorgenden Hand zeigten, sah Elmerice sich einen Hügel wölben, mit zartem Rasen überdeckt; darauf ruhete ein Gegenstand – leuchtend – weiß; – er hob sich von der Erde ab, wie Menschenformen! Ihr Athem stockte; undeutlich verwirrten sich in ihr Begriffe und Gefühle. [134] Die Brücke der Phantasie, wie wir mit kluger Wägung auch den Ankergrund ihr rauben, ist nie ganz zerstört; sie harrt der Gelegenheit, um immer wieder leicht, von unbekanntem Material erbaut, sich aus dem tiefen Grunde des sehnsüchtigen Herzens vor uns zu erheben und, Sicherheit verheißend, den schönen Bogen in das Wunderland der Fabel hin zu senken, den Weg uns lockend zeigend, den wir bereit sind einzuschlagen, ohne Nachweis zu fordern vom warnenden Verstande, dessen ganzes Reich die zarte Brücke in den Lüften überwölbend deckt. Elmerice hoffte; wer mag um Rechenschaft sie fragen? Sie stand auf dem leichten Brückenbogen der Phantasie – und Alle, die dort stehen, hoffen, der Verstand habe sich geirrt! – Auf der Fensterbrüstung stehend, die schlanke Säule des Fensterkreuzes umschlingend, sich an ihr vorbeugend – so waren ihre Augen auf den geheimnißvollen Gegenstand gerichtet, während Stimmen und fröhliches Gelächter zu ihr drang, dem sie noch immer das Recht der Aufmerksamkeit versagte. Doch näher kam es; Pferde wieherten – sie schrak zusammen – ihre Augen folgten den Tönen – einem Wunder glich auch, was sich jetzt ihr darbot! Eine fröhliche Gesellschaft zu Pferde, von Herren und Damen in reicher modischer Tracht, von Dienern in kostbaren Livreen gefolgt, zog durch den Thalweg am Fuße des Walles vorüber. Erstaunt blickte sie zu ihnen nieder; da ward ihr klar, daß sie der Gegenstand der Beobachtung Aller sei, daß ihr weißes Kleid, vom Abendwinde leicht bewegt, die Blicke zu ihr hingezogen, daß vielleicht in dem verfallenen, menschenleeren Theile des Schlosses ihr Anblick bei den Vorüberziehenden gleiche Gefühle erregte, als die, deren sie sich eben bewußt geworden war. Obwol die Höhe ein Erkennen unmöglich machte, schrak doch ihr Herz zusammen, und schnell tauchte sie nieder und dankte Gott, als die Gebüsche sie verhüllten. Nicht so schnell schien man unter ihrem Fenster sich zu beruhigen. Sie hörte [135] länger noch den Wechsel lebhaft sich unterbrechender Stimmen und wagte, obgleich hinreichend verborgen, doch erst frei zu athmen, als sie den Hufschlag der davon eilenden Pferde hörte. So vernahm sie mit wahrer Erleichterung Asta's leises Klopfen an der stets verschlossenen Thür, und auch diese trat so bang bewegt herein, als werde sie verfolgt, und Elmerice gewahrte, daß die kleine Eingangsthüre zur Treppe schon fest verschlossen war.

»Was ist geschehen?« fragte sie das bewegte Kind; – »was hast Du?« Und Asta hätte die Frage zurückgeben können, so bewegt sah Elmerice auf ihre kleine Gefährtin, so sicher trug sie die Spuren ängstlicher Neugier.

»Ach,« sagte Asta, – »was muß im Schlosse los sein? Zur Nacht soll es in einem Feuer glänzen, als hielten Geister dort ihr Fest; – und bei Tage gehen Gestalten aus und ein, wie Keiner sie je gesehen – welche ganz von Gold – Andere in bunten Kleidern, wie die Feen sie tragen! Dann singen sie und halten Tafel; – ach, und das Alles uns so nah – wie schrecklich! Was soll aus uns wohl werden? Da hält ja kein Schloß, wenn sie wollen! Gut, daß ich das Stückchen Kohle hatte – ich habe das Kreuz über die Thür gezogen – das ist die einzige Rettung!«

Sinnend hörte Elmerice den Bericht an, und nachdem sie ihn in ihre Sprache umgesetzt hatte, erkannte sie, daß das Schloß von der Gesellschaft bewohnt sein müsse, die sie so eben am Fuße des Walles erblickt habe. Aber wer konnte das sein? Sie hatte von der Herrschaft dieses Schlosses noch nie gehört; – wer anders konnte jedoch mit so großem Eigenthumsrechte hier walten?

»Beruhige Dich, Asta,« sagte sie – »das sind Menschen, die das Schloß bezogen, wenn ich auch nicht weiß, wer hierzu das Recht hat. Eben vom Fenster sah ich sie zu Pferde einherziehen; sie hatten ein eben so menschliches Ansehen, als Du [136] und ich; sie waren nur, wie reiche Leute hohen Standes, kostbar gekleidet.«

Asta wagte einen Blick zu Elmerice, der alle die Zweifel des erschreckten Kindes, so wie die schüchterne Warnung enthielt, doch so Natürliches nicht zu glauben! Doch schwieg sie bescheiden, heimlich wohl sich mehr auf das Kreuz verlassend, als auf die Einsicht ihrer jungen Gefährtin.

Diese empfand jedoch in anderer Beziehung eine Unruhe, die Asta freilich nicht theilen konnte; denn plötzlich schien ihr ihre ganze Lage unpassend, besorglich. Die bängste Befürchtung für ein weibliches Herz – unbeschützt in zweideutige Verhältnisse zu gerathen – ergriff sie. Diese waren möglich, wenn der Eigenthümer plötzlich die Rechte Emmy Gray's verletzte und den Raum in Anspruch nahm, der bis dahin mit seinen unangerührten Rechten auch Elmerice und ihr gewagtes Unternehmen verhüllte. Doch war sie zu jung, als daß nicht diese ersteren Gedanken sich von der Frage durchkreuzt gefunden hätten, wer die zierliche Gesellschaft sein könne, die sie wieder in die Kreise zurück versetzt hatte, die sie seit dem Abschiede von Ardoise entbehrt.

Näher rückte ihr indeß ihr jetziges Verhältniß durch den harten, lauten Ruf der Alten, die nun zur Nacht, aus ihrem Schlaf erwachend, ihr krankhaftes Treiben zu beginnen schien.

»Asta,« rief sie – »wer hat dies aufgestellt? – Ist Ellen aus dem Bette?«

Asta sagte, sie wüßte Nichts davon, und Madame St. Albans sei zu Veronika gegangen, weil sie das Fieber stärker bekommen. –

»Nun, wer gab denn das? Warst Du der kecke Page, der wider meinen Willen sich hier breit gemacht?« –

»O nein! o nein!« rief Asta; – »ich weiß Nichts davon!« –

[137] »Schweige, Thörin,« rief die Alte, – »die Furcht macht Dich zur Lügnerin!«

Die Kleine schwieg. Wieder mußte sie das Feuer schüren, dann gebot sie ihr zu gehen.

Elmerice wies Asta stumm ihr Lager von vergangener Nacht und setzte sich an ihrem Bette nieder, um dem armen Kinde die erregte Furcht abzuwehren. Bald schlief sie sanft, und Elmerice setzte sich nun an das Lager der alten Emmy, von den dichten Vorhängen, die es umgaben, verdeckt.

Kein Schlaf kam mehr über die Kranke, und Elmerice konnte die ungewöhnliche Gemüthsbewegung der Alten erkennen, die in einzelnen Worten ausbrach, und zwar in Worten der alten Heimat-Sprache, von schweren Seufzern unterbrochen: »Asta war es nicht, – ich glaube es – sie log nicht – Ellen ist weggebracht – wer bleibt nun übrig? – Gerade, wie mein Engel es that – die Rose – und dann die Früchte – ach, mein Engel, warst Du hier? Warum erquicktest Du mein Auge nicht – bin ich es nicht werth, daß ich Dich auch schaue – die Rose zeigt doch Deine Liebe – Dein Mitleiden! – Sprich, hab' ich Recht?«

»Ja!« sprach Elmerice, von ihrem Gefühl überrascht, in derselben Sprache; – »ich möchte Dich gern trösten!«

Ein Entzückenslaut, Schreck-gebrochen, war die Antwort. »Sprich, sprich noch ein Mal – das ist süßer, wie Engelgesang! Laß' mich den lange ersehnten Ton noch ein Mal hören!« – Kaum war die Stimme Emmy's, die so kindlich bat, in dem weichen, belebenden Tone zu erkennen.

Elmerice glühte vor Liebe und Eifer; sie eilte vor und knieete jetzt schon neben dem Bette. »Fasse Dich! Vertraue mir! Ich bin gekommen, um Dich mit Gott und Menschen zu versöhnen durch meine reine, uneigennützige Liebe!«

»O mein Engel – laß' die Menschen!« rief Emmy – »beflecke damit Deine reinen Lippen nicht; – sag' mir nur das [138] Eine – dürfte ich Dich wohl schauen? Bist Du bloß ein süßer Ton – oder umgiebt Dich noch ein wenig von dem lieben, schönen Engelsleibe? – Darf ich Dich sehen?«

»Und wenn Du mich siehst,« sagte Elmerice – »wirst Du nicht erschrecken? Werden Dir meine Züge nicht fremd und störend sein?«

»O nein – nein!« rief Emmy dringend – »Deine liebe Stimme ist ja dabei!«

»So ziehe den Vorhang auf – ich kniee an Deinem Bette.«

Elmerice in ihrem weißen, faltigen Kleide, das schöne, von Bewegung erblaßte Angesicht von braunen Locken, wie von einer Glorie, voll umspielt, die tiefen blauen Augen mit der schönen Begeisterung der Menschenliebe zu ihr aufgeschlagen, kniete in dem hellen Lichte des Feuers, glänzend wie ein Cherub, vor den anbetenden Augen der in starres, entzücktes Anblicken aufgelösten, alten Frau.

Beide schwiegen lange. Elmerice schien sich bis in den tiefsten Grund dieser kranken Seele drängen zu wollen. Emmy sog mit langen, durstigen Zügen den Anblick ein, der die öden, verschmachteten Jahre löschen sollte in dem alten Wonnerausche – gefesselt von der geheimen Angst, er werde ihr im nächsten Augenblick entschwunden sein.

Da rollten aus den blauen Augen des holden Wesens große Thränen über die bleichen Wangen, und die Alte erbebte vor diesem Zeichen der Sterblichkeit.

»Du weinst,« sagte sie; – »weint man denn dort, woher Du kommst, dieselben Thränen?«

»Ach,« sagte Elmerice – »woher denkst Du, daß ich komme? In Deinem England, woher ich komme, weint man dieselben Thränen.«

Emmy zuckte zusammen und ergriff mit beiden Händen ihre Stirn. »Kann es denn sein?« fragte sie zagend. »O [139] sprich,« fuhr sie leise bebend fort – »bist Du mein Herzenskind – der Abgott meines Lebens – bist Du Fennimor?«

»Fennimor? Fennimor hieß meine Großmutter,« rief Elmerice.

»Deine Großmutter? – Du – Du bist nicht Fennimor?« stöhnte Emmy Gray, – »Bedenke Dich, Kind,« rief sie mit halber Geistesverwirrung – »Du hast ihre blauen Augen – das sind ja ihre braunen Locken – ihre runden Kinderwangen – ihre langen, weißen Finger – so trug sie den Kopf halb zur Seite geneigt. Ach, sage doch – gestehe es doch ein – sieh, das sind ja Fennimors Thränen – da schimmern ja ihre kleinen, weißen Zähne! – Du wirst doch nicht nein sagen? Denke doch – denke doch!« Ein lautes, krampfhaftes Schluchzen zerriß Emmy's Brust – sie verhüllte ihr Gesicht.

Elmerice bebte und dachte an Nichts, als an den Trost, den sie mit ihrer Liebe ihr zu geben trachtete, mochte sie ihr auch gelten, für was sie wollte.

»Emmy, Emmy Gray! Ich will Alles sein, was Du willst; – Deine Fennimor – oder ihre Enkelin – ich will Dich lieben, wie Beide! Nur weine nicht mehr – und vertreibe mich nicht von Dir; – laß mich bei Dir – nie will ich von Dir gehen – nur weine nicht; – das bricht mir das Herz.«

Die Alte gab den zarten Händen nach, welche die ihrigen wegzogen, und erfaßte mit neuem Vertrauen den süßen Wahn, den jeder Zug, jeder Ton des lieblichen Wesens ihr bestätigte.

»Komm, mein Engel!« sagte sie leise – »ich schließ Deine Zimmer auf – Du sollst sehen, wie gut ich sie gehütet habe – da ziehst Du ein – Du, die Herrin dieses Schlosses! Ich will aufstehen und Dir Dein Bettchen machen – es ist Alles gelüftet, an die Sonne gekehrt und geklopft – ich lege Dir das kleine Kissen unter Dein Köpfchen, wie Du es liebst – der Fußschemel mit der seidenen Decke steht vor dem Bettchen.[140] Ach, weißt Du wohl noch, wie Du mit Deinen kleinen Füßen darauf schlugst, als wolltest Du unartig sein und lächeltest doch dazu, daß ich all Deine kleinen, weißen Zähne sehen konnte! Komm nur, mein Engel – hast Du auch schon Deine Milch getrunken und Dein Obst gegessen? – Komm nur – ich bringe es Dir – ich habe Dir Alles aufgehoben – Deine schönen Tellerchen und Täßchen – es ist spät – Du mußt schlafen gehen.«

Unaufhaltsam, wie ihr ganzer Karakter, folgte Emmy dem Strom ihrer Phantasie. Diese blühende, jugendliche Fennimor, die kein Zeichen der Krankheit trug, versetzte sie schnell in die Zeit der Jugend ihres Lieblings, wo sie ihrer Pflege allein anvertraut war, und der neckende Frohsinn dieses lieblichen, jungfräulichen Kindes ihr Herz entzückt hatte. Mit leisem Drucke wies sie Elmerice von ihrem Lager, um aufzustehen und auszuführen, was sie so eben ausgesprochen.

Die Taufe, die diese so eben mit Fennimors Namen bekommen, schien sie auch in den Bann von Emmy's Gefühlswelt zu ziehen. Wir sehen sie stumm, freundlich hingebend an die Phantasien der armen Alten sich anschließen und betrachten ihre Hingebung, ohne sie mit anatomischen Finger berühren zu wollen; selbst eine Ahnung ihres Busens, die sie in vergeltender Liebe der Alten unterordnete, gern möglich haltend.

Bald stand Emmy, wie in vergangener Nacht, gerüstet; aber sie wankte nicht, obwol Elmerice durch Nichts gehindert ward, sie zu stützen. Was in ihr angeregt war, trieb sie, von dem heftiger wiederkehrenden Fieber gesteigert, anscheinend mit der alten Kraft vorwärts. Bald hatte sie Kerze und Schlüssel ergriffen, und Elmerice ward der geheimnißvollen Thür entgegen gezogen.

Mit welchem Herzklopfen trat sie in die verhängnißvollen Zimmer, die sie mit tiefem Dunkel umhüllten. Denn was vermochte [141] das Licht einer Kerze in diesen großen Räumen! Selbst Emmy's leitende Hand verließ sie bald, und sie hörte sie, immerfort leise und freundlich redend, nach einer andern Gegend des Zimmers zu gehen. Bald entzündeten sich mehr und mehr vielfach vertheilte Kerzen, und die Wohlthat, sich durch eigne Anschauung zurecht zu finden, kam ihr zu Hilfe. In dem Maaße schwanden auch die Schrecken. Wie hätten sie sich hier sollen anknüpfen lassen, wo die sorgfältigste Liebe mit Fleiß und Ausdauer eine schöne, mit Geist und Geschmack geordnete Einrichtung behütet hatte? Hier war nicht die eingeschlossene Luft lang unbewohnter Räume; nicht Moder, nicht Staub hatte hier Platz gefunden. Neben dem dauernden Geruche, den kostbare Möbel von edlem Holze verbreiten, waren hier in schönen, reichen Gefäßen aus Japan und China die köstlichsten, frischen Blumen aufgestellt, deren Duft die Luft erfüllte, und welche, als die einzigen Bewohner dieser stillen Räume, ein um so ungestörteres, frischeres Leben führten. Daneben standen die breiten, bequemen Möbel, wie der Glanzpunkt des Luxus unter Ludwig dem Vierzehnten sie hervor rief; alle geordnet oder ungeordnet, wie der Gebrauch es herbeigeführt hatte, so lebenswarm, so bewohnt scheinend, daß Elmerice, plötzlich erschrocken, von ihren Beobachtungen abließ, der Alten nachblickend, die in einem Nebenzimmer dieselben Vorkehrungen mit dem Anzünden der Kerzen zu machen schien, wie hier, und die sie jetzt mit dem geheimnißvollen Bewohner wiederkehren zu sehen, fast erwartete.

Doch Emmy kehrte allein zurück – und auf Elmerice zueilend, führte sie diese mit froher Geschäftigkeit in das nächste Gemach. Hier waren große Fensterthüren nach dem kleinen Gärtchen geöffnet; die sternenhelle Nacht, die herein sah, unterstützte das Licht der Kerzen; es war hell und von dem wunderbaren Gegensatze dieser Beleuchtungen magisch verklärt. Gegen die mittlere Thür stand ein hoher Lehnstuhl, als sei dies ein [142] besonders bezeichnetes Lieblingsplätzchen. Rosen blühten in schönen Gefäßen umher; am Boden aber, nach der Mitte des Fensters zu, war ein Teppich ausgebreitet, auf dem glänzendes, silbernes Spielzeug lag.

Welch eine gediegene Pracht athmete dies hohe Gemach! Diese seidenen Tapeten, mit Spiegeln und Goldarbeiten unterbrochen; diese schweren, goldenen und silbernen Gueridons, die Tischchen und Büchergestelle von Gold, Marmor oder seltenen Holzarten und endlich das kleine Positiv, von Engeln getragen, und das künstlich geschnittene, hohe Lesepult von Eichenholz – dahinter die Sitzbank von gleicher Arbeit – Alles jetzt von brennenden Kerzen beleuchtet!

»Sieh – sieh!« rief Emmy immer fort; – »ist es Dir so recht – bist Du zufrieden – sag mir – sag mir – habe ich Alles gut besorgt?«

»O, schön – schön, wunderbar schön ist es bei Dir!« rief Elmerice, ganz berauscht von den Eindrücken, die ihr im wahnsinnigen Eifer aufgenöthigt wurden – und sah dabei liebevoll zu der Alten auf, die, so wie sie die Lippen öffnete, wie angerührt von neuem Entzücken, horchend stehen blieb und über das alte, gefurchte und vergrämte Antlitz alle Sonnenlichter des Glückes, die auf diesen verhärteten Boden noch wirken konnten, treiben ließ.

»Nun gehört Dir das Alles wieder!« sagte sie dann seufzend und sinnend – »Du wirst das Alles wieder bewohnen – und ich werde Dir dienen – und werde Dich sehen – Deine Engelsstimme hören – Deine hellen Augen sehen – und horchen, wie der Boden so leise knistert, als fühle er es gern, wenn Deine kleinen Füße darüber hinfliegen! Alle Nächte habe ich Deine Blumen begossen – den anderen frisch Wasser gegeben, die welken verscharrt – und Alles gelüftet und den Staub ausgekehrt. Sieh nur, wie es da draußen in[143] Deinem Gärtchen ist!« – Sie zog sie zur Thüre hinaus, und plötzlich stand Elmerice vor einem grünen Hügel, unter dem Schatten blühender Rosensträuche – und vor ihr ruhete auf einem Ruhebette von schwarzem Marmor die schöne, runde Gestalt einer jugendlichen Frau, in weißem Marmor gebildet. –

»Gott,« rief Elmerice – »wer ist das? O Emmy, Emmy, ist das Deine Fennimor?«

»Das ist meine Fennimor!« erwiederte Emmy stöhnend und sank über das schöne Bild. – »Du weißt ja, er ließ nach Lesüeur's Bilde Deinen Grabstein mit Deiner lieben Gestalt hier meißeln – da – da – hier unten lagst Du so lange!« Sie stöhnte herzzerreißend. – Elmerice ward hingerissen; es stürmte in ihrem Busen; sie wußte nicht mehr, ob sie Fennimor sei, ob nicht; aber sie war geneigt es zu glauben und fühlte ein inniges Bedürfniß, hier mit dieser Stelle so vertraut zu sein, als Emmy es begehrte. Eine Fülle von Liebe sprang aus reicher Quelle in ihrem Busen auf. Wie liebte sie diese schöne, kalte Fennimor, diese treu ergebene Emmy mit ihrem finstern poetischen Schmerze; – wie einem Kinde der Eltermutter, schlug ihr Herz ihr entgegen! Sie kniete zu ihr – sie umschlang sie – sie legte ihr warmes Haupt an die erkaltende Wange der Alten, die auf Fennimors Marmorhand ruhte.

»Emmy!« sagte sie erst leise, dann immer dringender flehend – endlich mit allen weichen Lauten der Liebe: »siebe auf und liebe mich – ich will Dich ja lieben, wie Deine Fennimor!«

Emmy schien aus ihrer Betäubung zu erwachen, und die letzten Worte trafen ihr Bewußtsein.

»Ha, Mädchen, wer spricht da?« rief sie wild, und riß Elmerice mit sich empor – »war das meines Engels liebe Stimme – Fennimor redet,« sagte sie sinnend – »und ist doch so lange todt, daß braune Locken weiß wurden, und [144] Jugend zum Greise – sag, wie kam das?« fuhr sie fort und schritt vor, Elmerice mit fester Hand sich nach in das Gemach zurückziehend. Sie sah vor sich nieder; ihr starker Verstand wollte die magische Gewalt brechen, von der sie beherrscht war; – sie sann und sann, und blieb vor dem hohen Lehnstuhl in der offenen Thüre stehen. – »Hier starbst Du – hier sah ich Dich als Leiche – Du warst todt – ich war jung damals – und jetzt im höchsten Alter – das ist Alles richtig!«

So weit hatte sie sich durchgearbeitet, da sagte Elmerice: »Ach, liebe doch mich, die Lebende!«

Sie zuckte zusammen – ihre Augen folgten dem Tone; – da stand das schöne Abbild ihrer Fennimor hell von den Kerzen umstrahlt, von dem Nachthimmel mit blauen Lichtern ätherisch angehaucht. – »Ha,« rief Emmy, »alte Thörin! – Mein göttlich Kind, da bist Du ja! Und ich – wo war ich? – Sag mir, Du bist da, und ich will nach Nichts fragen; – nein, schweig, mein Engel, sage nichts! – Die falschen Menschen schwören – beflecke Deine Lippen nicht damit – sehe ich Dich doch – Du bist da – mir wiedergeschenkt – ich darf Dich haben – sehen – Dich pflegen und warten. O, wie Du kalt bist!« rief sie plötzlich, mit ihrer fieberheißen Hand ihre Hände fassend. »Gern gehst Du früh in Dein schönes Bettchen – das blieb Dir zu lange heut aus – deshalb bist Du so blaß; – ach, wie lange habe ich nicht bei Dir gewacht! und doch hattest Du das so gern – ach, wie Du mich immer hinhieltest – bald Dies, bald Jenes fordertest, damit ich bleiben sollte; und lachtest dann unter der Decke, wenn ich wieder umkehrte und Dir den Willen that, als merkte ich Deine kleinen Unarten nicht – ach, wie sah ich das so gern! Heute bleibe ich gewiß bei Dir, mein liebes Kind! Darum komm nur, komm, es ist längst Schlafenszeit!« –

[145] Emmy zog sie gegen eine offene Thür, die ein gleichfalls erleuchtetes Zimmer zeigte; und als Elmerice eintrat, sah sie ein eben so kostbar eingerichtetes Schlafgemach und, mit einem nicht zu mäßigenden Schauer, ein Bett mit reichen, grünen Damastbehängen in dem Hintergrunde. Emmy schritt vor und zog die Behänge zurück; das Bett lag weiß, wie täglich gepflegt, dahinter; die seidenen Decken, mit Rosen überstreut, einen süßen Duft ausathmend, waren zierlich aufgeschlagen, bereit, den erwarteten Schläfer angenehm zu decken; der kleine Fußschemel mit der seidenen Decke stand daneben. – Alles athmete auch hier fortgesetztes Leben.

»O Emmy, hier ist es schön!« sagte das junge Mädchen. Das Grauen war von der Schönheit und dem rührende Sinne der Liebe überwältigt, der hier, den Zerstörungen der Zeit zum Trotze, zu erhalten verstanden hatte.

»Ja,« sagte Emmy – »ich habe Alles bereit gehalten – ich mußte wohl, wer kommen würde – nun ist es erfüllt. Sieh, wie Alles frisch ist – gerade, wie Du es liebtest – nicht? Auch Deine schönen Kleider – Deinen Schmuck habe ich gehegt – morgen sollst Du die Wahl haben.«

So glücklich, mit Erinnerungen wahnsinnig spielend, taumelte Emmy Gray in dem Zauberkreise ihres früheren, ihres einzigen Glückes umher, und ihre junge Gefährtin fühlte nur das Bedürfniß, nachgebend diesen heiligen Wahnsinn nicht roh zu stören, furchtlos von der Zeit die Erledigung eines Zustandes erwartend, von dem eine ahnende Stimme ihr sagte: er würde, auch von Fennimors Bild entkleidet, dennoch verhängnißvoll ihr Leben erfassen. Und doch glaubte sie schon im nächsten Augenblicke erliegen zu müssen; denn Emmy, die, vom Fieber mit Jugendkraft beflügelt, im Zimmer redend hin und her schritt, forderte sie nun auf, sich nieder zu legen; ja, sie machte, als Elmerice anstand, ihr zu folgen, eine Bewegung, [146] sie in ihren Armen aufzuheben, wie sie dies vielleicht früher Fennimor gethan. Erschrocken saß nun Elmerice sogleich auf dem Rande des Bettes, und stellte die Füße auf das kleine Schemelchen. Da kniete die Alte vor ihr hin, und ahnend, was sie wollte, aber zitternd vor Verwirrung, löste Elmerice nun selbst die Fußbekleidung mit rascher Hand unter den langen Gewändern und stellte dann verschämt die kleinen, weißen Füße vor Emmy auf das Schemelchen.

Still saß sie davor auf der Erde und sah sie an, als ob ein Himmel unschuldiger Freude vor ihr läge; – leise strich sie ein Mal mit der Hand darüber, und ein mühsames Lächeln wollte die in Schmerz erstarrten Züge brechen. Doch es ging nicht, und sie seufzte nur, als wäre ihr wohl. Dann sah sie auf und raffte sich empor, legte die Decken zurück, und schüchtern nachgebend, legte sich Elmerice nun in das weiche, herrlich duftende Bette. Emmy rückte und zog und schob daran umher, wie sie es früher dem Lieblinge gethan; dann senkte sie den einen Vorhang, hing den anderen halb aufgeschlagen um einen großen, mit Kissen fast zum Bette umgeschaffenen Stuhl und nahm darinnen Platz, mit einer Decke sich umhüllend. »Siehst Du,« sagte sie leise und matt – »hab' ich's nun recht gemacht? Nun, laß mich auch ruhig bei Dir bleiben diese Nacht – und schlafe Du unter Gottes Segen bis zum hellen Morgen!«

»Das will ich,« erwiederte Elmerice nachgiebig; denn sie sah, das Fieber sank in seiner Heftigkeit, Ermattung trat ein, sie durfte sie nicht stören. Eben so wenig konnte sie hoffen, ihre Lage zu ändern; denn Emmy hatte das ganze Bett verbaut; auch hatte sie die zweite Nacht bis jetzt gewacht, sie war jung, das Lager weich und schön. Schon schlief die Alte fest; da verwirrten sich die Bilder, einen Augenblick nur glaubte sie die Augen zu schließen – jugendlich sank sie damit dem Schlafe in die Arme. –

[147] Dagegen erwachte Asta am frühen Morgen und fand, nachdem sie mit ihrem treuen Eifer sich aufgerafft, Niemanden, der ihrer Hilfe oder Fürsorge benöthigt war. – Sowol das Bett der Alten, wie das Lager ihrer jungen Gefährtin war leer. Starr blieb das arme Kind nach dieser Wahrnehmung in ihrem Schrecken gefesselt; dann ergriff die Furcht vom vergangenen Abende ihr Herz. Sie war sicher, die Geister, die das Schloß bewohnten – sie waren eingedrungen und hatten Beide davon geführt, und nur ihr Kreuzchen hatte sie behütet! Außer sich vor Schreck und Entsetzen, ergriff sie nun die Flucht. Ach, wie erwiesen war Alles! Hingen doch Schlösser und Riegel unter dem Schutze ihres Kreuzes unversehrt; also auf andere Weise, durch die Luft – den Rauchfang waren sie entführt! Während dem flogen die Schlösser und Riegel unter Asta's zitternder Hand auseinander, und die Thüren weit hinter sich aufschlagend, flog sie, durch den Wald laufend, wie gejagt, um das Pfarrhaus, um den alten Arzt zu erreichen, der oft schon früh den ersten Besuch bei Madame St. Albans zu machen pflegte.

Um diese Zeit bogen sich die Gebüsche zurück, die um den Eingang des kleinen Thurmes ihre zarten Zweige wölbten. Ein blühendes, weibliches Angesicht lauschte mit dem anmuthigen Ausdrucke von Neugier und Frohsinn daraus hervor; endlich folgte die schlanke, elastische Gestalt, sie erstieg die Treppe; offene Thüren luden sie zum Nähertreten ein, leichten, schüchternen Schrittes schwebte sie herein – Alles leer! Doch jene Thüren – und die eine bloß angelehnt; – leise schob sie sie auf, erst sah der Kopf herein, bald folgten die Füße. Welch ein Zauberland lag hier aufgerollt! Offene Thüren nach dem kleinen Garten, blühende Blumen, brennende Kerzen, die im Tageslichte schon erblindeten, überall der Hauch des Lebens! Das zweite Zimmer ebenso; Schönheit, Reichthum, Geist – [148] in jeder Falte, jedem Schnörkel ein Gedanke! Doch das nächste Zimmer! So lange es noch Neues gab, wozu hier weilen? Ein Schlafgemach, ein aufgeschlagenes Bett! – Die Lichtgestalt blieb an der Schwelle stehen, das leichte Gewand des Busens hob sich so hoch, so schnell; wir wissen nicht warum. Dann glitt sie leicht über den leichten Boden und blickte auf das schöne Engelsbild, das, tief schlafend mit dem Ausdrucke eines lächelnden Kindes, in dem grünen Zelte schlummerte, von einer Greisin bewacht, deren tief gefurchte Züge und wunderlich verhüllte Gestalt an jene Fabeln erinnerte, die von Zauberinnen erzählten, welche Königskinder entführten und bewachten zu geheimen Zwecken. Es war, als ob der Engel der Schlummernden sie besuchte. Wie antheilvoll, wie hoch entzückt, wie ganz verloren in dem Anblicke stand das zarte Wesen zu ihr hingebeugt! Da rückte die Alte das gesunkene Haupt empor; entflohen war das Lichtbild – spurlos verschwunden – nicht einmal der Ambra-Duft, den Engel sonst zurücklassen sollen, war hier zu spüren!

Später trat der alte Arzt mit Asta zaudernd in den offenen Raum. »Geschlafen hast Du noch, Du Thörin! Von der Hexenfurcht am Abende bist Du noch besessen, und läßt die Thüren auf und versäumst über Deine Furcht Deine Pflicht.«

Asta that dagegen nichts als schluchzen, und die Arme nach allen Ecken ausstreckend, zeigte sie die leeren Räume. Unwirsch stürzte der Alte nun auf die Betten zu und suchte, als ob er Gnomen vermisse, in jeder Falte. Vergeblich, er fand sie nicht.

»Was ist denn das für neuer Unsinn?« schrie er wild und blickte Asta halb fragend, halb verlegen an – »hast Du denn Nichts gehört?«

»Sagte ich's Euch doch!« schluchzte diese; – »wie konnte ich's denn hören, sind denn Thüren gegangen? War es denn natürlich Werk?«

[149] »Thüren?« rief der Alte, und drehte sich rasch auf dem Absatz um. Er hatte die Richtung bekommen. Die Thüre, die sich seit Jahren Keinem geöffnet, war nur angelehnt. Sogleich erfaßte Besorgniß für das, was Elmerice erfahren haben könnte, sein theilnehmendes Herz; er eilte der Thüre zu, indem er Asta befahl, zurück zu bleiben; denn er selbst überschritt nur ungern diese so streng behütete Schwelle, die er, seit Reginald als Kind davon hinweg getragen ward, nie mehr betreten hatte. Doch hielt das Gefühl der Achtung für den düsteren Willen dieser armen Unglücklichen das Gefühl der Pflicht nicht auf, was ihn zum Schutze des jungen Wesens trieb, das hier so verlassen zu haben, er sich jetzt zum ernsten Vorwurfe machte. Er blieb von dem Anblicke dieser wohlerhaltenen, erinnerungsreichen Gemächer nicht ungerührt; aber er wollte erst erfahren, was neuerdings hier geschehen war, und eilte rasch bis zum Schlafgemache vor. Wer beschreibt sein Erstaunen, als er hier die tiefste Ruhe – eine Scene des Friedens und offenbar vorhergegangener Liebesbeweise vorfand! Er blieb wie eingewurzelt stehen und fragte endlich mit seinem klaren, geübten Verstande der stummen Scene vor sich ihren ganzen Hergang ab. Was war nun weiter zu thun? Er sah an dem blassen Gesichte der Alten, das Fieber habe sie verlassen; – was konnte nun das Schicksal des jungen Mädchens werden, wenn vielleicht bei voller Besinnung die Illusion nicht vorhielt, welche die Alte bis zu diesem Grade der Hingebung während der Nacht gebracht hatte?

Er schüttelte den Kopf, und ungewiß über das Nächste, was sich hier begeben konnte, beschloß er in der Nähe zu bleiben. Mitleidig, wie er unter der rauhen Hülle aber war, eilte er erst zurück zu Asta, die in der Mitte der Stube auf den Knieen kauerte, ihr Schürzchen über das Gesicht gedeckt und eifrig ihren Rosenkranz betend.

[150] »Laß' das Geschrei,« schalt er, aber dennoch freundlich blickend – »und sei endlich vernünftig! Sie sind gefunden – Beide gesund, wie Vögel im Neste. Lauf nach der Vikarei, und sag', es stände Alles gut; sie hätten nur die Schlafstätte verändert; ich bliebe und brächte ihnen nachher selbst Nachricht.«

Asta stand gehorsam auf und zog das Schürzchen von dem verweinten Gesichte. »Und – und« – stammelte sie, »es ist ihnen nichts geschehen?«

»Nichts, nichts, mein gutes Kind!« sagte der alte Arzt und strich ihr gutmüthig mit rauhem Finger die Locken unter das rothe Mützchen; – »sie schlafen, wie die Dächse! Nun fort – fort – hast Du doch Alles dort in Brand gesteckt; – fort! fort! mach' es wieder gut – die Albans schreit sich sonst den Hals ab!«

Fort war Asta, und der Arzt kehrte auf seinen Posten zurück und setzte sich so, daß er Alles, was vorgehen würde, sehen konnte, ohne doch selbst gesehen werden zu können.

Er brauchte nicht lange zu harren; die Sonnenstrahlen erreichten das Fenster; sie fielen bei nicht verschlossenen Läden gerade auf das Bett, und indem sie durch die grünseidenen Vorhänge schienen, erhellten sie blendend das Innere des Bettes mit seinen weißen Kissen und farbigen seidenen Decken.

Dies brach die Augen der Alten; sie erwachte, doch schien es, sie sah im Anfange nichts, sie stöhnte nur, sich aus bequemer Lage vorsichtig aufrichtend. Aber jetzt faßte ihr scharfes Auge die Gegenstände; – wo fand sie sich? Sie schaute einige Augenblicke verstört umher; aber ihr erster Blick nach dem Bette – nach der süßen Schläferin, verschönt von der erquickenden Ruhe, weckte ihre Erinnerung. Sie wußte den Inhalt der Nacht, wie uns ein Traumbild bei Tage erscheint, wahr, lebendig, mit allem Zauber des Gefühls nachhaltig uns beglückend, [151] oft gerade um der Möglichkeit Willen, die Wahrheit zu betrügen, die uns oft nicht mehr geben kann, was der Traum uns glaubhaft an einander reihet. Aber hier war der Traum nicht wesenlos verschwunden; hier wollte Wirklichkeit bleiben, was doch nicht wahr sein konnte! Es war vielleicht zu viel für einen Geist, der seit einigen vierzig Jahren nur eine Richtung der Gedanken und Gefühle gekannt hatte; er mußte straucheln an der Schwelle der Vernunft, wenn sie noch in vollem Rechte anzunehmen war, da wo der Geist mit starkem Willen der ganzen Ordnung der Natur entgegentrat, wie zum Trotze die Zeit mit aller ihrer Macht verläugnend, bezwingend, um der einen Richtung zu dienen in abgöttischer Hingebung! Wie gering konnte die Versuchung sein, die hier den Geist gänzlich abzuleiten vermochte – und sie war nicht gering! Das Zeugniß, wie groß sie war, stahl sich aus den Augen des alten Arztes, der einst Fennimor als junger Mann in diesen Räumen bedient und sich jetzt ungestört in den Anblick der Schlafenden versenkte und von dem Zauber der Erinnerung selbstvergessen überwältigt ward.

Die Alte war indessen auf den Rand des Bettes gerutscht – immer näher – immer näher. Wie seufzte sie so laut und schwer! Dann rang sie die Hände und forderte Rath von ihrem überwältigten Geiste. Emmy – die den verwünscht hätte, der ihr die Möglichkeit abgesprochen, den Liebling einst in diesen Räumen noch wiederzusehen – Emmy rang – von der anscheinenden Erfüllung ihres eigensinnigen Glaubens überwältigt – mit dem Einlaß dieses Wunders in ihrem Geist.

Der alte Arzt schaute klug dem Kampfe zu; er nickte mit dem Kopfe und dachte, sie könne es nun allein abmachen, was sie so lange allein verschuldet.

Dazu war Emmy Gray auch stets bereit, und die Weise ihres Verfahrens gehörte ihr gewiß allein – so tief, so [152] unheilbar die ganze Welt zu verachten, um des einen, heiß geliebten Wesens Willen.

Auch hier arbeitete sie sich dahin, wohin sie trachtete. »Was frage ich« – sagte sie wie zürnend zu der Welt, von deren Widerspruche sie sich ahnend verletzt fühlte – »welch' ein Wunder mir zu Gunsten kam? Bist Du es denn nicht in jedem Zuge – jedem Gliede – bist Du nicht warm, und ist Dein Athem nicht so süß – hast Du nicht die Lippen eben so, wie sie, geöffnet, daß die kleinen Zähne dämmern? Nein, nein, Du bist Fennimor – mein Kind – mein Engelsbild; – und Alles wird nicht wahr sein – das Alter und die Zeit, von der sie schwatzen – die Thoren mit ihren Einbildungen!«

Heftig verhüllte sie ihr Gesicht – sie schien in einem neuen, gewaltsamen Kampfe zu liegen. Da erwachte Elmerice über ihr; und auch ihr war die Begebenheit der Nacht so vertraut geblieben, daß sie augenblicklich wieder im vollen Zusammenhange war.

Als die Alte, die Bewegung spürend, sich hastig aufrichtete, sah sie in zwei, liebevoll auf sie blickende, blaue Augen, die ihr eine Gewißheit ihres kühn behaupteten Glückes zu geben schienen, welche ihr zugleich die seligste Freude ward.

»Es wird so sein,« sagte sie, wie zu sich gewendet – »rede nun zu mir, mein Engel; – denn in der Stimme liegt Wahrheit.«

»Ich will Dich nicht täuschen, liebe Alte,« sagte Elmerice; – »aber nimm Dir Alles, was Du von mir zu Deinem Glücke gebrauchen kannst – ich will gern sein, was Du wünschest.«

Die Alte hörte sinnend diese Worte, und der Ton berückte, obwol noch derselbe, doch nicht mehr ihre Sinne so gänzlich, um nicht zu fassen, was sie ausdrückten. »Fennimor's Stimme war das,« sagte sie, fast fragend – »ach, wie soll ich das fassen?«

[153] »Könnte ich Dir doch helfen!« seufzte Elmerice. »Gott weiß, wie ich Dich schon jetzt so liebe, wie ein Kind, wie Deine Fennimor es nur konnte. Ich möchte gestorben sein – ein Engel – ein Geist von der, die Du so geliebt hast.« –

»Und Du wärest das nicht? O, mein Kind, ich fürchte ja keine Geister – auch wenn Du ein Geist von ihr bist – gestehe es! Es soll mir dasselbe sein!«

»Fühl' doch nur meine Hand, meine Stirn,« sagte Elmerice kleinlaut – »es ist ja Lebenswärme darin. Ich fürchte, ich sehe Deiner Fennimor nur sehr ähnlich; – und – weil meine Großmutter so hieß – so bin ich vielleicht ihre Enkelin!«

Athemlos hatte Emmy zugehört, und es malte sich ein so wahnsinniger Ausdruck in ihren Zügen, daß Elmerice fast vor ihr erbebte. Aber bald kehrte das Vertrauen zurück, sie werde nie von ihr zu fürchten haben, und damit auch Ruhe und Hingebung.

»Ihre Enkelin?« sagte Emmy endlich, und konvulsivisch hob sich ihre Brust; – »ihre Enkelin? – Fennimor's Enkelin! Dann – dann fließt doch ihr Blut in Deinen Adern – dann hättest Du doch alle Deine lieben, schönen Gliederchen von ihr geerbt! Und dies Alles – und Du gehörtest ihr – es wäre fast, wie sie selbst!«

Es war ein fürchterlicher Moment, als Emmy hier plötzlich von einer Thränenfluth überrascht ward, die mit ihrem gewaltsamen Ausbruche sie fast zu zerreißen drohte. Sie sank mit ihrem Kopfe in Elmerice's Schooß. Thränen! – sie kannte an sich ihr Dasein nicht mehr – wie fremd, wie erschüttert fühlte sich die arme Alte in diesem neuen Zustande! Aber sanft weinte auch Elmerice über ihr und strich liebevoll mit ihren zarten Händen über den bebenden Körper. »Darum wirst Du mich doch nicht hassen! Wenn ich Fennimor's Enkelin bin, dann [154] bin ich ja eben auf Deine Liebe angewiesen – dann mußt Du mich schützen!«

»Schützen!« rief Emmy, sich aufrichtend; – »schützen! Ja, weiß Gott, Du hast Recht – schützen muß ich Dich – dann, dann hätten wir es ja! Dann wärst Du ja ihre Erbin – die große, mächtige Erbin dieses Hauses! Aber« – fuhr sie fort, ihren Kopf in ihre Hand stützend – »hilf mir, mein Kind – ich bin heraus aus der Welt; – kann ich doch nicht zusammenbringen, wie Du ihre Enkelin geworden bist. – Ach, Kind, Kind,« rief sie eifrig und voll Angst, als könnte ihr das Glück wieder geraubt werden – »Du bist es – Du bist entweder Fennimor – oder, wie Du sagst, ihre Enkelin! Aber wie wissen wir es denn?«

»Wie soll ich Dir das erklären!« seufzte Elmerice – »Als Du mich Fennimor nanntest, fiel mir ein, daß auf dem Einbande meines Thomas a Kempis, Fennimor Lester steht, und daß mein Vater mir dies Buch schenkte und mir sagte, es sei von meiner Großmutter.«

»Heiliger Gott,« rief Emmy, außer sich – »so ist Alles wahr – und Du bist Reginald's Tochter – Fennimor's Enkelin!«

Sie sprang auf – sie streckte beide Arme, wie eine begeisterte Prophetin, in die Luft – ihre gebeugte Gestalt richtete sich auf – ein neuer Lebensstrom schien ihre Gebeine zu durchrieseln.

»Gerecht, gerecht willst Du dieser Unschuld werden, Herr des Himmels! Deine Wege werden Feuerströme vor meinen Augen; – ich kann ihren mächtigen Lauf verfolgen von Anbeginn; – die Wüste der Welt hat sie nicht verschütten können; – das Menschengewürm ist mit seiner Sünde darin verschlungen worden, und die Unschuld hast Du geschützt und zu der rechten Stelle geführt – wo Du die aufgespart hast, die ihr Recht schaffen wird!«

[155] In gleicher Begeisterung wendete sie sich zu Elmerice: »Sei mir gegrüßt, Nachkommin meiner heiligen Fennimor und jetzt meine Herrin; berufen zu vergeltender Gerechtigkeit schrecklicher Schuld – rechtmäßige Gräfin Crecy-Chabanne – Herrin dieses Schlosses und aller seiner großen Besitzthümer! Herr des Himmels, auch hier wirst Du die Wege zeigen und er kennen lassen, die wir zu wandeln haben – und aus Staub und Asche wird – neues Leben erstehen. Fennimor's Enkelin, befiehl Du bis dahin über mich und gebiete in diesen Räumen – Dein vorläufiges, kleines Erbtheil, an welches sich die großen Güter Deines Hauses anschließen werden – und empfange hiermit den Segen derjenigen, die Deinen Vater an ihrem Busen trug, und deren Herzenskern Deine Großmutter war!«

Feierlich küßte sie Elmerice auf die Stirn und fing dann sogleich an, die Vorkehrungen der Nacht aus dem Wege zu räumen, behände und in geschickter Thätigkeit weder Alter, noch Krankheit verrathend.

Unmöglich war es Elmerice gewesen, den Strom der Worte und Gefühle, der sich aus Emmy's begeisterter Seele hervordrängte, unterbrechen zu können. In sprachlosem Erstaunen hatte sie ihr zugehört und in sich eine Gewalt angeregt gefühlt, die sie selbst fast über das Maaß hinaus bewegte. Tausend Stimmen in ihr wollten ihr zuflüstern, daß sie Wahrheit gehört habe; und dennoch – wenn sie die betagte Alte vor sich sah, und des Wahnsinns gedachte, dessen Spielwerk sie seit vergangener Nacht war, behielt sie keinen Muth, ihr zu glauben, und fühlte nur das Eine, daß sie vorerst dem Willen dieses kranken Sinnes nicht entgegen treten dürfe. Ja, dies ward ihr leichter, als der Zweifel; denn es war mit den verhängnißvollen Worten der Alten etwas Neues in ihr erweckt: eine stolze Hoffnung, ein Gefühl der Berechtigung zu einer hohen Stellung des Lebens, die wie ein belebender Sonnenstrahl auf begrabene Wünsche fiel.

[156] »Ha,« rief die Alte, indem sie sich umwendete – »Ihr hier?«

Der alte Arzt saß in dem Lehnstuhl, in welchen er sich gleich zu Anfang postirt hatte, und schaute mit seinem klugen Angesichte in die wunderbare Scene, die vor ihm aufgeführt ward. Er nahm jetzt den kleinen, dreieckigen Hut ab, stieß mit dem hohen Stocke, dessen Goldknopf weit über die Hand vorsah, auf den Fußboden, und aufstehend und sich gegen Emmy verneigend, sagte er: »Zu Befehl, Madame! Wenn die Patienten Tollmannswerk treiben und davon laufen, haben die Aerzte das unbequeme Vergnügen, hinterher gehen zu müssen. Darf man fragen, wie einer Fieberkranken die Nacht außer dem Bette bekommen ist?«

»Laßt Euer Geschwätz!« entgegnete Emmy Gray; – »ich bin nicht darauf aus, mich von Euch hofmeistern zu lassen; Ihr könnt alle Zeit gehen, ich bedarf Euch gar nicht mehr.«

»So,« sagte er, und ein unterdrücktes Lachen spielte um seinen Mund; – »also jetzt bedürft Ihr mich nicht mehr; und dann ist das Nächste, daß Ihr mir die Thür weiset; – nun, es ist nicht das erste Mal! – Ich muß Euch aber sagen, daß ich dies Mal hier mehr, als Euch zu besorgen habe; denn das junge Frauenzimmer dort, das Ihr, in einer Eurer liebenswürdigen Launen, in diese seidenen Windeln gewickelt habt, um sie zu Eurer Spielpuppe zu machen, die ist mir anvertraut, ich habe für ihr Wohlergehen einzustehen, und werde nicht leiden, daß Ihr fortfahrt, Eure Thorheiten ihr in den Kopf zu setzen. He, Madame, habt Ihr mich verstanden? Ich habe die ganze Historie mit angehört.«

»So ist es gut!« rief Emmy unerschüttert; – »denn obwol Euch Niemand zum Zuhören berief, mögt Ihr, als Fennimor's ehemaliger Diener, immer zuerst den Vorzug genießen, [157] ihre Enkelin mit der Ehrfurcht zu begrüßen, die ihr hier in ihrem Eigenthume gebührt.«

»Emmy, Emmy,« rief der Alte ungeduldig – »bist Du denn vergeblich alt und grau geworden; – hat sich denn nach so vielem nutzlosem Hassen und Zürnen, nach all den Jahren dauernden Rachegedanken, die alle an der Ohnmacht Deiner geringen Welterfahrung scheiterten, hat sich denn darnach die Quelle des alten Wahnsinnes dennoch unversiegt erhalten, und willst Du jetzt ein neues Opfer bezeichnen, indem Du dies schöne, unschuldige Geschöpf diesen Kämpfen preisgiebst?«

»Alter,« rief Emmy, mit gemildertem Ausdruck auf ihn zuschreitend – »denke, was Du sagst! – Sieh' sie an – sieh' sie an! Sag', ist nicht das Vermächtniß ihrer Ansprüche in jedem Gliede ihres Körpers ausgedrückt? Höre ihre Stimme, Alter! Ruft sie Dir nicht mit Fennimor's Tone zu, ihre Enkelin anzuerkennen? Ja, ja, nenne mich wahnsinnig – aber sage auch – wenn Wahnsinn erlaubt ist – so ist es hier!«

»Du hast Recht, armes Weib,« sagte der erweichte Arzt: »ehe Du sie sahst, hatte ich schon gedacht, was Dich jetzt so verwirrt. Aber was hilft Dir und ihr die traurige Entdeckung, da ihre Ansprüche auf immer verloren gingen, und Du und ich mit allen Gefühlen für die unglücklichen Opfer, die ich mit Dir betrauern werde, so lange ich lebe, doch den Bann nicht aufheben können, der sie vor den Augen der Welt ihrer Rechte beraubte. Unglückliche,« sagte er und zog sie näher, ihr leise zuflüsternd: »vergiß nicht, daß Fennimor's Sohn, als Mörder, aller bürgerlichen Rechte auf Frankreichs Boden für sich und seine Nachkommen beraubt ward, und ihm kein Erbe zuerkannt werden darf.«

Die Alte taumelte bei diesen Worten, die sie aufs neue dem hoffnungslosesten Elende preisgaben, fast zur Erde. Der Arzt führte sie zu einem Stuhl, und sogleich kam der Gegenstand [158] ihrer schmerzlichen Unterredung zu seinem Beistande herbei, und vor ihr niederknieend und ihre kalten Hände erwärmend, sie mit rührenden Blicken ansehend, redete Elmerice leise zu der trostlos zu ihr niederschauenden Emmy.

»Bleib' dennoch bei mir, mein Kind – meiner Fennimor lebendiges Ebenbild!« stammelte sie endlich mühsam. »Wir wollen Alles – Alles besprechen. Alles – Alles sollst Du mir sagen – und hier – hier sollst Du sein, was Du wirklich bist. Hier reicht der Schwefeldunst der Welt nicht hin, und die Gräuel der Menschen sollen Dich hier nicht erreichen. – Sag', daß Du willst, und ich will Alles vergessen – Nichts denken, als daß Fennimor's Hände mir die Augen zudrücken und dann das reiche Erbe, das ich hier gesammelt, in Empfang nehmen werden.«

Der alte Arzt nickte Elmerice zu, ihr zu gewähren, und diese konnte aus voller Seele einwilligen; denn mit Zauberbanden fühlte sie sich hier gefesselt, und die Welt schien auf dieser Stelle alle Rechte an sie zu verlieren.

Dies goß Frieden in Emmy's schwer getroffenes Herz; und die kräftige Weise, wie sie sich nun erhob und den Arzt mit sich fort in ihr eigenes Zimmer rief, war ihm eine merkwürdige, fast ärgerliche Wahrnehmung, wie der Geist des Menschen über die Beschwerden des Körpers zu siegen vermag, und ärztliche Ansichten, ihre Mittel, ihre Prophezeihungen, in solchen Augenblicken zu verhöhnen scheint.

Nach einer langen Berathung, in welcher der Arzt die ganze Energie seines Karakters dem eben so unbeugsamen Willen seiner alten Gefährtin entgegen setzte, hatte er die Befriedigung, sie wieder in ihre frühere Muthlosigkeit zurückgedrängt zu haben. Denn was er sich auch selbst vorgenommen haben mochte, Emmy's Wirksamkeit mußte er dabei fürchten, da ihr ewig zürnender Pathos, einmal in Lauf gerathen, so schwer aufzuhalten [159] war, wenn die Umstände, wie dies zu erwarten stand, kein günstiges Resultat zulassen, und das geräuschloseste Zurückziehen dann das Nöthigste sein würde.

»Erstlich also,« fuhr er fort – »müssen wir wissen, ob sie das wirklich ist, was sie uns jetzt scheint, nämlich die Tochter des verschollenen Reginald.«

»Elende, kurzsichtige Zweifel!« murmelte Emmy verächtlich; – »solche Zeugnisse fertigt Gott nicht umsonst aus, wie sie auf ihrem Angesichte trägt – und habe ich es Euch nicht gesagt, daß ich Reginald, als sie ihn mir damals als liebes Kind raubten, das Buch mit dem Namen seiner Mutter in das Gepäck steckte, und daß ich auf meine Frage von ihm hörte, wie sie ihn hatten glauben lassen, es sei der Name seiner Kinderfrau! Aber lügt nur, Ihr Heiden und Heuchler! Wenn Gott will, taucht auf, was Ihr noch so tief versenkt habt – und legt Zeugniß gegen Euch ab!«

»Das wird sich ja zeigen,« erwiederte der Arzt; – »sie wird doch von ihrer Jugend wissen, sie wird doch sagen können, bei wem wir etwa noch in England nachfragen könnten; selbst die Gräfin d'Aubaine mag Auskunft zu geben wissen.«

»O, all dies fremde Volk, was Ihr da hineinmischen wollt,« rief Emmy – »wie hasse ich Alle schon im Voraus für den bösen Willen, den sie haben werden! Wenn Ihr denkt, Einer wird Recht sprechen – täuscht Ihr Euch!«

»Nun – und was alsdann?« rief der alte Arzt ihr entgegen. »Sprecht Ihr nicht selbst die Schwierigkeiten aus, die ich erwarte? Und werden sie nicht gerade dadurch noch größer. daß zuerst, nach so langen Jahren, die Erben des Grafen Leonin hier eingezogen sind?«

So erfuhr denn Emmy mit maaßlosem Unwillen die Ankunft des Marquis d'Anville; und wir übergehen billig die Ausbrüche ihres Zornes, da wir uns sehr wohl denken können, [160] wie sie diesen Besuch beurtheilen mußte, den sie völlig unberechtigt, für einen räuberischen Einbruch in fremdes Eigenthum ansah. Dessen ungeachtet wußte ihr endlich der alte Arzt zankend und zürnend klar zu machen, sie müsse sich ruhig verhalten. Ja, er machte sie glauben, daß selbst die Sicherheit ihres Schützlings von der Art abhängen werde, mit der sie sich hier so verborgen, als möglich, halte. Er wolle dagegen, wenn sie ihm nach ihrer Unterredung mit Elmerice noch übereinstimmende Anzeichen geben könne, dann auch das Seinige thun, die Herrschaften zu sondiren. Beim Vikar wolle er dagegen versichern, daß hier Alles gut stehe und sie die Pflege der jungen Person angenommen habe.

»Ja,« setzte Emmy hinzu – »und macht, daß Ellen wieder wohl wird – und laßt sie dann abreisen; denn sie ist mir hier lästig. Ich mag ihr trockenes Pflichtgeschrei nicht leiden; ich soll ihr das Alles mit Worten bezahlen, und die habe ich nicht übrig!«

Der alte Arzt nickte lachend und beeilte sich, diesen plötzlich so wunderbar umgestalteten Boden zu verlassen.

Was sich jetzt hier im Laufe der Zeit entwickelte, nahm in seinen Erscheinungen nicht an fabelhafter Gestaltung ab, sondern steigerte sich in dem Grade, als Emmy, sich immer mehr ihren Erinnerungen hingebend, sie der Gegenwart aufzunöthigen trachtete. Der alte Arzt schlug oft die Hände zusammen, wenn er sah, was hier entstand. Aber er hatte nicht die muthwillige Rohheit, das ungewöhnliche Treiben seines Nächsten darum zu verspotten, weil es nicht seine eigene Weise war. Er fragte erst nach, ob ihr kein wichtiger Nachtheil nachzuweisen sei, und konnte, darüber beruhigt, mit großmüthiger Neugier zusehen, wie verschieden das Bedürfniß der Menschen ist.

Mit wahrem Antheil blickte er aber auf das junge und schöne Wesen, über die sich der Strom dieses phantastischen [161] Treibens so unerwartet ergossen, und die in stiller, sinniger Stimmung diesen Erscheinungen einen Inhalt abgelauscht zu haben schien, der sie zu einer neuen Richtung oder Entwicklung ihres Inneren führte, der sie sich mit Wohlgefallen, mit Berechtigung hinzugeben schien. Sie bewohnte die Zimmer Fennimor's, wie ein Geist, so leise und spurlos und doch so völlig darinnen zu Hause und zur Ruhe gekommen! Emmy lag in ihrem großen Eingangszimmer, wie der Riegel davor. Seitwärts war eine vergessene, verrammelte Küche geöffnet, und Emmy hatte eine erwachsene, weibliche Hülfe, die darin tausend Dinge bereiten mußte für den Schatz, den sie bewachte. Ihre eigene Erscheinung hatte sich gleichfalls verändert; ihr weißes, starkes Haar ward jeden Tag von Asta sorgsam gekämmt und um die hohe, gefurchte Stirn gescheitelt; darüber wurde dann die saubere, vielfach betollte, kleine weiße Haube gesetzt; ein Kleid von geblümtem Moor, nach längst vergessener Mode, mit steifer Taille und Aermeln, mit feiner Wäsche und feinem gefalteten Halstuche, bekleidete täglich die alte, hagere Frau; und wenn sie auch um ein halbes Jahrhundert zurücktrat, so entbehrte doch ihre Gestalt und ihr ganzes Benehmen nie die Würde eines starken Karakters, wodurch sie gegen jede Lächerlichkeit geschützt blieb. Sie vollführte ihre gewöhnliche Usurpationen der Zeit mit so stolzem Ernst, daß ihr unwillkürlich Jeder einen Grund zu dem, was sie that, zutraute; und so flößte sie immer eher Erstaunen und Neugier ein, als daß sie Tadel und Spottsucht erregt hätte.

Wenn Elmerice von dieser Gewalt mit fortgerissen ward, war dies doch keine Nachgiebigkeit. Es war Trieb, Sehnsucht, mit Emmy in die Vergangenheit einzudringen; sie wollte in ihr den Boden ihrer Heimat ergründen; sie wünschte ihre Berechtigung zu der Stelle, die ihr Emmy anwies, aufzufinden, und bald schien ihr, mit der jugendlichen Ueberspannung, die[162] wir ihr zugestehen müssen, die sonderbare Herbeiführung ihrer Lage der Wille des Himmels zu sein, der an ihr die Unbill gut machen wollte, die ihre theure Vorfahrin erlitten. Noch war es jedoch nicht zu den Mittheilungen gekommen, die Emmy ihr versprochen, und die sie darüber hätten aufklären können; denn trotz dem, daß diese ihre Krankheit wie eine lästige Hülle abgeworfen hatte, war ihr eine Abspannung wohl anzumerken, die, nach der ihr neu gewordenen Lebensweise, gerade in den Stunden eintrat, die zu diesen Mittheilungen geeignet waren; und dann ward sie von Elmerice so sorgfältig geschont, daß sie an Emmy selbst fast unbemerkt vorüberging.

Außerdem eilte Elmerice, ihrem Verhältnisse nach Außen Gültigkeit zu verschaffen; denn jedenfalls wünschte sie vorerst die arme Alte nicht zu verlassen, und mit diesem Wunsche war eine geheime Hoffnung verknüpft, daß sich aus den Andeutungen, die sie gehört, eine neue Bestimmung für ihr Leben entwickeln werde.

Sie konnte der Gräfin d'Aubaine ihre Anwesenheit in St. Roche nicht länger vorenthalten; sie sagte ihr, daß sie Madame St. Albans aus den uns bekannten Gründen hierher begleitet habe und bei ihrem ernstlicheren Erkranken, in die Stelle der Pflegerin bei deren Mutter übergegangen sei. »Dies Verhältniß,« schrieb sie weiter – »ist jedoch weit entfernt, für mich eine Belästigung zu sein; ja, ich bin kaum noch eine Pflegerin zu nennen, da mich Mistreß Gray mit einer geheimnißvollen Liebe überschüttet, deren Grund in ihrem früheren Leben zu suchen ist; mir aber bis jetzt noch unbekannt blieb, da es mit erschütternden Begebenheiten zusammenhängen soll. Ihre Liebe räumt mir große Vorzüge ein; ich bewohne schöne Räume, und sie nöthigt mir Bedürfnisse auf, und hegt und pflegt mich, wie in früheren Tagen einen Liebling ihres Herzens, mit dem sie mich in Zusammenhang hält. Ich fühle mich selbst zu dem [163] wunderbaren, hochbetagten Wesen hingezogen, als gehöre sie auf irgend eine Art zu mir; und die Ueberzeugung, ihr mit meiner augenblicklichen Entfernung einen vielleicht tödtlichen Kummer einzuflößen, läßt mich bitten, daß meine theure Beschützerin mir ihre Einwilligung zu diesem verlängerten Aufenthalte giebt, und zugleich die Erlaubniß, ihr von dem Verlaufe der hiesigen Verhältnisse Nachricht geben zu dürfen. Ich halte dieselben bis jetzt für vollkommen anständig, da sie mich in ein strenges Geheimniß gehüllt haben und mir die größte Einsamkeit sichern.«

Dagegen enthielt ihr an Lady Marie Duncan abgesendetes Tagebuch die vollständigste Darlegung des Erlebten; und nun stand ihr nur noch der Abschied von Madame St. Albans bevor, die, jetzt hergestellt, mit Ungestüm ihre Abreise verlangte. Der alte Arzt hielt ihre völlige Genesung auch nur in ihrem eigenen Hause, unterstützt von ihren alten Gewohnheiten für möglich; und so kündigte er Elmerice ihren Besuch an, da Mistreß Gray kalt in diesen Abschied eingewilligt hatte.

Madame St. Albans kam sehr übler Laune an dem bezeichneten Tage nach dem Schlosse; denn sie hatte mit dem neuen Prior des Klosters Tabor um die Pachtung unterhandelt, welche sie dem Kloster abzukaufen wünschte. Nachdem sie mit dem verstorbenen Prior einig gewesen war, die Kaufsumme in jährlichen Abzahlungen entrichten zu können, ward sie jetzt von seinem Nachfolger mit dieser Einrichtung abgewiesen, welcher die Kaufsumme auf ein Mal bezahlt verlangte, wodurch sich die Unterhandlung, an die Madame St. Albans so viele Hoffnungen geknüpft, mit einem Male ganz zerschlug.

Ihre schnell umherrollenden Augen faßten bald den veränderten Zustand in diesen einst so düsteren Gemächern auf; und vor Allem überraschte sie die Umwandlung ihrer Mutter, welche, kalt und steif in ihrem Eintrittszimmer sitzend, die [164] Tochter empfing, sehr mißbilligend auf Elmerice blickend, die mit ihrer gewöhnlichen Freundlichkeit Madame St. Albans entgegen gegangen war und sie neben sich auf dem Ruhebette, einst Asta's Schlafstelle, niedersetzen ließ.

»Bitte, bitte, bemühen Sie sich nicht,« sagte sie zu Elmerice; – »ich glaube, es ist Ihnen hier nicht mehr erlaubt, sich um Andere zu bemühen! Wie ich höre, werden Sie hier bedient – und wie mir scheint, wie eine Gräfin oder Fürstin!« –

»Sie wissen bereits, liebe Madame St. Albans, daß Ihre Frau Mutter sehr gütig gegen mich ist!« –

»Ja, sehr gütig, so scheint mir selbst!« entgegnete die sich erzürnende Frau. »Man sollte, wenn man das, was man von dem Aufwande, der hier getrieben wird, hört, und es mit dem zusammenhält, was man sieht, nicht glauben, daß man zu der Mutter einer so armen Frau kömmt, der man es wegen Mangel einer kleinen Summe Geldes abschlägt, einen kleinen Ländererwerb zu machen!« Nach diesen Worten hatte sie sich hinreichend erweicht, um mit gerötheten Augen ein baldiges Schluchzen anheben zu können.

»Ellen,« rief Emmy jetzt rauh – »betrage Dich vernünftig und halte vor Allem Deine Thränen an! Ist Dir Deine Mutter bereits zu glücklich, daß Du sie oder den Gegenstand ihres Glückes mit Neid betrachtest? Du bist eine kleine Seele – und ich wußte immer, was ich von Deinem guten Herzen und Deiner Weichmüthigkeit denken sollte; die hält mit Heulen und Weinen und lästiger Bedienstlichkeit so lange vor, wie Einer so elend bleibt, daß Nichts an ihm ist; – aber wird es besser, und zeigen sich einige Lebensgüter, so möchten Deine neidischen Augen gleich Alles verschlingen. – Nun laß' das! Ich werde Dich nicht mehr ändern; – so leb' denn wohl. – Gott weiß, wie es Dein rechtschaffener Mann mit Dir aushält – ich beneide[165] ihn nicht; – leb' wohl, Ellen – reise glücklich! Ich glaube, Du hast eine gute Eigenschaft von mir – Du bist verschwiegen! Denk daran, daß ich darauf rechne.«

Wie hoch auch die ungestümen Gemüthswellen in Madame St. Albans Karakter gehen mochten, ihre Mutter fuhr mit einigen Worten nie umsonst darüber hin – sogleich legten sie sich.

»Nun – nun seht nur, wie Ihr wieder böse seid!« sagte sie, mit dem Versuche freundlich zu sein; – »denkt doch, daß es ein Abschied heute sein soll! Da müßt Ihr mich doch gut entlassen.«

»Schon gut! schon gut! Ich habe Nichts dagegen,« sagte Emmy kalt; – »ich habe stets gute Wünsche für Dich, aber lasse mich aus dem Spiele.«

Madame St. Albans zuckte die Achseln und beendigte dieses kurze Wiedersehen, so schnell sie konnte; da sie die leicht wachsende Ungeduld ihrer Mutter zu fürchten hatte, welche sie ruhig Stirn und Hand küssen ließ und sie dann, von Elmerice begleitet, laut schluchzend davon gehen sah.

»Es muß wohl wehe thun,« sagte sie, sogleich ihre Thränen von ihrem Unwillen besiegen lassend – »wenn man sich von einer Fremden bei der leiblichen Mutter verdrängt sieht! Ja, ja, mein Schatz, Sie haben so einschmeichelnde Manieren und können so hübsch um den Berg herum gehen; da kann unser eins nicht mit, der immer gewohnt ist, offen und gerade aus zu gehen.«

»O,« sagte Elmerice – »versündigen Sie sich doch nicht aufs Neue durch so arges Mißtrauen gegen mich! Sie wissen ja durch den alten Arzt, für wen mich Ihre arme, alte Mutter hält, und daß ich ihren Wünschen nachgebe, um sie nicht zu kränken.«

»Nun, mein Schatz, ich muß Ihnen sagen, daß ich das Alles sehr thöricht und unüberlegt von der alten Frau finde. Sie werden sich da hochmüthige Gedanken von Gräfinnen und [166] großen Gütern in den Kopf setzen; und wie Ihr vornehmer Umgang Sie schon ein Bischen oben hinaus macht, so wird das noch zunehmen mit solchen Einbildungen. Ich rathe Ihnen, Kind, schlagen Sie sich das aus dem Kopfe und suchen Sie bei Zeiten Ihr überspanntes Wesen los zu werden; da werden Sie gesund bleiben und ein Mal einen rechtschaffenen Mann so glücklich machen, wie ich Herrn St. Albans, der auch nicht die überspannten Frauenzimmer liebt, wenn solche auch am Ersten thun, als könnten sie Bücher lesen und haushalten in einem Athem.«

Elmerice schwieg. Sie blickte mitleidig auf ein Verfahren, dem sie Nichts entgegen zu setzen wußte.

Da die gehoffte Entgegnung ausblieb, sah Madame St. Albans kopfnickend zu ihr auf und setzte noch hinzu: »Und dann sich bei einer Mutter verdrängt sehen zu müssen!«

Elmerice erröthete jetzt vor Unwillen. »Ich dächte Madame St. Albans,« sagte sie – »in dem Verhältnisse zu Ihrer Mutter hätte sich unmöglich etwas ändern können; da es niemals besser war, als es jetzt ist.«

»Wirklich? wirklich?« sagte sie überrascht und verlegen; – »ich dächte doch! Indessen, wir wollen uns trennen, meine schöne junge Dame, und ich will denn von Herzen wünschen, daß Sie die große Herrschaft wirklich werden, von der Sie träumen. Doch denken Sie an mich; – es hängt starker Makel an dem vornehmen Namen!«

So ward auch der Abschied der beiden ungleichen Frauen sehr steif und kalt, und Elmerice athmete auf, als sie den Bann aufgehoben fühlte, den diese Frau stets über sie verhängte.

Dagegen hatte die erfahrene Aufregung in Emmy Gray die Kraft geweckt, ihre schwere, inhaltreiche Erzählung zu beginnen. Nur von der kurzein Sommernacht unterbrochen, führte sie mit großer Energie und mit Lebendigkeit des Geistes ihre [167] Erzählung bis zu ihrem Ende fort, und legte damit in die junge Brust ihrer Zuhörerin einen Schatz von Lebensansichten und Erfahrungen, die, nur auf traurige Thatsachen gestützt, uns in diesem zarten Alter den Werth das Daseins zu rauben scheinen.

Elmerice hatte Mühe, sich aus ihrer schmerzlichen Aufregung heraus zu reißen. Ach, wie war mit dem gesunkenen Wunsche, diese mit Verbrechen bezeichneten Ansprüche geltend zu machen, auch der Muth, ihren Besitz zu erlangen, verschwunden, wenn ihr auch eine ahnende Stimme sagte, ihr Vater sei dieser edle und verfolgte Jüngling Reginald. Zugleich fühlte sie eine tiefe kindliche Scheu, nach seinem Tode, vielleicht gegen seinen Wunsch, in diese verhängnißvollen Geheimnisse seiner Jugend eingedrungen zu sein; und sie gestand Emmy auch diese angeregten Empfindungen und das innige Verlangen, so traurige, verfolgte und mit Verbrechen bedeckte Ansprüche nicht aus ihrem Dunkel hervor zu ziehen, da sie nicht zweifeln dürfe, ihr Vater würde dies gemißbilligt haben; es würde ihn beleidigen, seine Tochter Rechten nachjagen zu sehen, von denen er verwiesen ward.

Emmy hörte ihr still und sinnend zu. Sie überlegte in ihrem Geiste, ob Fennimor, die in Blick und Ton zu ihr redete, auch so gedacht haben würde; und als Fennimors andächtiges Pflichtgefühl gegen ihren Vater vor ihr auftauchte, seufzte sie und schwieg, und ein breiter Schatten von Schwermuth deckte ihr erregtes Antlitz.

Da erfaßte Elmerice den Augenblick, der armen, aufs Neue gekränkten Freundin Fennimors ihre eigene Geschichte mitzutheilen; und von dem tiefen und verstehenden Gefühle der Alten hingerissen, von der wunderbaren Situation, die sie fast der Welt entrückt zu haben schien, sicher gemacht, ward ihre Hingebung bei dieser Mittheilung vollständiger, als sie es für möglich gehalten. Wir können uns dies jugendliche, von Weisheit [168] und Liebe geschützte Leben aus den Mittheilungen an die Gräfin d'Aubaine hinreichend vergegenwärtigen und finden uns erst als Zuhörer ein, wo die Erzählung Gegenstände berührt, denen die Gräfin d'Aubaine nicht nachzufragen wagte.

»Nur ich, Emmy,« sagte Elmerice, ihre Erzählung fortsetzend – »nur ich habe das ruhige, ungekränkte Leben, das dieser herrliche Vater führte, ein Mal durch meine Schuld unterbrochen; und doch war ich ahnungslos, daß ich ihn kränken würde, und vielleicht jetzt erst begreife ich die ungewöhnliche Strenge, mit der er mir entgegen trat. Denn, wenn Reginald mein Vater war, wie viel Grund hatte er dann, jede Verbindung mit einer stolzen französischen Familie zu hassen und von mir abzuhalten! – Auf dem Schlosse Leithmorin« – fuhr sie mit bewegter Stimme fort – »beständig von Gästen des In- und Auslandes belebt, befand sich einige Monate lang ein junger französischer Edelmann, der erst nur dem Lord Duncan, mit dem seine Familie befreundet war, einen Besuch machen wollte; später – glaube ich – ward ich Veranlassung, daß seine Abreise sich verzögerte. Meine jungen Freunde, die Kinder des Lord Duncan, sahen mich wie eine Schwester an; ich gehörte zu ihren Beschäftigungen, wie zu ihren Vergnügungen, wir theilten Alles; und ich sah daher den jungen Mann täglich.

Emmy, ich kann mir nicht zürnen, daß ich seine Vorzüge anerkannte! Er besaß so viel ausgezeichnete Tugenden, er wußte so Viel, er war so kindlich und gut, so heiter – so heiter, Emmy – bis er von Lord Duncan die gänzliche Abweisung meines Vaters erfuhr. Ich weiß nicht, aber ich glaube fast, sein tadelloses Wesen – und daß Lord Duncan ihn wie einen Sohn liebte, hatten mich glauben lassen, die Bewerbung des jungen Mannes werde von meinem Vater günstig aufgenommen werden. Wir waren sicher geworden in dieser Hoffnung – und auch ich, Emmy, war damals glücklicher, als jemals [169] später! Dieser Erklärung aber folgte eine schwere, leidenvolle Zeit. Mein Vater war in einem Grade davon erschüttert, daß er mehrere Tage das Zimmer nicht verließ, und meine Mutter Tag und Nacht an seiner Seite wachte. Später bekam Lord Duncan Zutritt. Ach, Emmy, mich wollte er erst gar nicht sehen! Aber der Gedanke seines Zornes hatte so auf mich gewirkt, daß meine arme Mutter meiner Verzweiflung nicht mehr Einhalt thun konnte; und als sie meinen Zustand dem Vater enthüllte, ließ er mich augenblicklich zu sich rufen.

Nie werde ich diese Unterredung vergessen! Als er mich so verändert, so aufgelöst in Schmerz, so trostlos bei dem Gedanken sah, ihn gekränkt zu haben, dachte er zuerst nur daran, mir Muth einzusprechen, mich seiner Liebe zu versichern, mich – und selbst den Jüngling, der um mich warb, schuldlos an dem Schmerze zu erklären, den er empfand. Dann, als ich in seiner Liebe wieder auflebte und zur Besinnung kam, machte er mich mit den Hindernissen bekannt, die unvermeidlich zwischen uns ständen. Emmy, es waren Gründe, die denselben Boden hatten, wie das Elend, das Du in Deiner Erzählung vor mir ausgebreitet hast! Er schilderte mir die Vorurtheile der Stände, wie ich sie bis dahin nicht geahnet, und weckte meinen Stolz und mein Ehrgefühl, indem er mir die nie endende Geringschätzung vorhielt, die ich in einer solchen Familie und in ihrem ganzen Gesellschaftskreise würde erleiden müssen, weil mich Alle durch meine geringere Geburt für unberechtigt halten würden, zu ihnen zu gehören; und wie das entwürdigteste Mitglied jener Kreise, das wir als ausgestoßen ansähen und mit unserer Verachtung bezeichneten, dennoch von Allen geduldeter sein und ihnen berechtigter erscheinen würde, als meine Stellung, wenn ich sie auch durch jeden äußeren und inneren Vorzug rechtfertigte.

Er sagte mir, daß mich mein Gatte nicht dagegen zu schützen vermöchte; daß die mitleidigen Duldungs-Beweise in [170] so schicklichen Grenzen gehalten sein würden, daß mir das Herz daran erstarren, mein Gatte in ohnmächtigem Zorne darüber vergehen könne, ohne daß ihm aus den leisen Beleidigungen das Recht erwachsen werde, Genugthuung zu fordern. Er war überzeugt, daß keine Liebe, auf diese Bedingungen hin, in den höheren Ständen dauern werde, da er von der Macht des schlechten Beispiels eine sehr traurige Vorstellung hatte. Lord Duncan hörte das Ende dieses Gespräches und versuchte, meinem Vater mildere Ansichten einzuflößen. Es gelang ihm nicht! ›O Duncan, Duncan,‹ rief er – ›von Dir diese Worte! Von Dir, der Du mein ganzes Schicksal kennst – der Du weißt, daß ich Wahrheit sage – Du redest einem Jünglinge aus dieser Familie das Wort, die ich fast angelobt habe zu verachten!‹

›Sie werden Deine Elmerice mit Freude unter sich aufnehmen,‹ rief der gute Lord, ›wenn Du nur auch etwas nachgebender sein wolltest!‹

›Ach,‹ rief mein Vater – und nie sah ich ihn heftiger – ›ihnen gilt Nichts höher, als ihre Geburtsrechte; sie haben kein wahres, inneres, sittliches Bedürfniß! So lange die Sittenlosigkeit noch von einem leidlichen Deckmantel usurpirter, gesellschaftlicher Haltung und Vorzüge überkleidet ist, bleibt ihnen das ehrloseste Individuum, trotz dem, daß sie von seinem Gehalte unterrichtet sind, eine eben so höflich gehandhabte Figur, als die Tugend selbst es fordern könnte. DerSchein ist's, was sie wollen, worauf sie halten; er bildet den Korporationsgeist, der sie durch einander sich schützen läßt und sie namentlich gegen das Richtschwert des Urtheils verbindet, das sich aus jenen geringeren Ständen erheben könnte und ihr falsches, leeres Treiben mit dem rechten Namen nennen!‹«

»O Emmy,« rief Elmerice – »diese Worte sind, wie diese ganze Unterredung, in mich eingegraben; denn sie entschieden [171] das Schicksal meines ganzen Lebens! Ich gelobte eine feierliche Verzichtleistung und trennte mich in Gegenwart des Lord Duncan von dem Manne, der mich liebte, und den ich gelobte, als einen Fremden anzusehen!« –

Wenn Emmy achtzehn Jahr gezählt hätte, wäre ihr Antheil, ihr Mitgefühl nicht inniger zu denken gewesen; sie blickte so bang, so liebevoll bang in die bewegten Züge der Erzählerin, daß diese sich ihr laut schluchzend in die Arme warf und Alles, was sie erlitten und so tief in sich verschlossen, auszuweinen wagte.

»O, mein armes, armes Kind!« seufzte Emmy; – »und doch glaube mir, Dein Vater war ein weiser Mann – und ich zweifle nicht, es war mein Reginald – der Sohn meiner Fennimor; – er hat Dich vor einem gleichen Elende bewahrt, wie meine Fennimor traf. O,« sagte sie mit einem rührenden Ausdrucke von Liebe – »könnte ich Dich doch trösten! Wollte Gott, Du wärest nicht mehr unglücklich, weil dies Elend von Dir abgewendet ist! Richte Dich auf – fasse Muth – und sage mir, wie das Buch meiner Fennimor, das ich vollständig wiedererkenne, Dir von Deinem Vater gegeben ward; ob er Dir Nichts sagte, was noch näher seinen Zusammenhang damit bezeichnete? –

Er gab es mir an dem Tage, wo ich von einem katholischen Geistlichen in den Schooß der Kirche aufgenommen ward. Er sagte mir, es sei ihm das heilige Vermächtniß seiner geliebten Mutter, die er nicht gekannt habe; er bat mich, den Inhalt zur Richtschnur meines Lebens zu machen, wie er daraus Trost und Belehrung geschöpft habe zu allen Zeiten. Dann zeigte er mit dem Finger hieher und sagte mit großer Bewegung: dies ist der Name Deiner unglücklichen Großmutter!« –

»O,« rief Emmy hier – »was zweifeln wir noch? Du bist sicher und gewiß die Tochter meines Reginald, und Eton [172] war der Name, den er annahm! Wenn nun Margarith Lester, die Freundin von Ellen, Deine Mutter war, so wird es gewiß, daß er zu dem Bruder seiner Mutter, zu Herrn Lester floh, als ihn dies treulose Land verbannte, und nach einigen Jahren, als er die jüngste Tochter seines Oheims geheirathet hatte, sich nach Schottland zu Lord Duncan begab, der seit langer Zeit die innigste Freundschaft für ihn zeigte.«

Wir werden die Ueberzeugung beider Frauen, die an dem Schlusse dieses Gespräches sich in ihnen befestigte, nicht tadeln können, da sich die Wahrscheinlichkeit dafür bei dem Austausch ihrer Berichte so bedeutend vermehrt hatte. Mit einem stolzen Triumph sah Emmy nun auf Elmerice, die sie träumte, in ihre Rechte eingesetzt zu haben, mit Verachtung der ganzen übrigen Welt. Wie sie dabei das Bedürfniß ihres jugendlichen, dem Leben noch gehörenden Lieblings verkannte, müssen wir ihr billig nachsehen, wenn wir denken, daß sie kaum je ein anderes Leben, als das der tiefsten Einsamkeit, gekannt hatte; und was sie Leben nannte, sich ihr nur als eine Pflanzschule der Verbrechen zeigte, aus der Elmerice errettet zu haben, ihr ein dankenswerthes Verdienst um sie schien. Auch erfuhr sie bei ihrer ausschließenden Besitznahme durch Elmerice keinen Widerspruch. – Wenn unser Herz den eben bezeichneten Kummer erleidet, scheint es uns nicht schwer, von dem übrigen Leben Abschied zu nehmen, mit dessen, uns als werthvoll aufgenöthigten, Gütern wir in einen traurigen Widerspruch gerathen, den die Einsamkeit uns dagegen schonend verhüllt. War doch die von ihren Eltern ihr angewiesene Heimat selbst kein beruhigender Aufenthalt mehr, und dagegen dieser jetzt aufgefundene, wunderbare Ruhepunkt wie geschaffen, sie und ihren Kummer auf immer der Welt zu entziehen. Dies schrieb sie auch ihrer geliebten Marie Duncan und forderte sie auf, ihren Vater zu seiner Einwilligung in diesen Lebensplan zu bewegen.

[173] Von da an faßte sie ihre ganze Lage mit der Liebe gegen einen dauernden Besitz auf, und theilte bald die rührende Schwärmerei Emmy's, die die ganze Vergangenheit zurückzurufen trachtete, und in krankhafter Aufregung sich über Gegenwart und Zukunft immer mehr verwirrte.

Elmerice hatte ihren Bitten nachgegeben und, uneingedenk des Modewechsels, ihre eignen Kleider mit den Prachtkleidern vertauscht, welche aus Fennimor's Garderobe, von Emmy gehegt und gepflegt, als ihr rechtmäßiges Erbtheil ihr von derselben übergeben waren. Als sie zuerst in einem schweren Seidenstoffe von gewässertem Moor, mit Spangen von reichen Steinen auf Schultern und Brust befestigt, vor Emmy dastand, sank diese vor ihr, wie vor einer himmlischen Erscheinung, nieder und dankte Gott in einem lauten, feurigen Gebete für die Gnade, ihr göttliches Kind, ihre Fennimor noch einmal vor Augen zu sehen.

»Ach,« sagte Elmerice – »ist es denn wirklich wahr, daß ich dieser schönen Fennimor so ähnlich sehe? Wüßtest Du, wie ich meine ganze Liebe zu Dir aufrufen mußte, um die Kleider anzulegen, die von dem herrlichsten Wesen der Erde in der kurzen Zeit ihres Glückes getragen wurden, Du würdest meine Beschämung begreifen, die mich fürchten läßt, ihren heiligen Schatten damit beleidigt zu haben.«

»Fürchte das nicht, mein Engel,« sagte Emmy – »sie würde Dich selbst damit schmücken – sie würde Dich mit Ueberzeugung für ihre geliebte Nachkommin erklärt haben! Aber auch Du sollst nicht länger in Zweifel bleiben, daß sie Dein Ebenbild ist; – und da Du zufällig einen Anzug gewählt hast, in dem Lesüeur sie gemalt hat, so sollst Du mein heiligstes Heiligthum, den Eudoxien-Thurm sehen, worin ich ihr Bild aufgestellt habe, an dem Platze, mo sie stets mit ihrem Harfion saß. – Dann wirst Du sehen, daß Du selbst aus dem Bilde [174] hervortrittst – dann wirst Du mir, ohne Dir Vorwürfe zu machen, das Glück gönnen, Dich ganz so zu sehen, wie sie ehemals vor mir stand.«

»O,« rief Elmerice – »vergieb mir meine Zaghaftigkeit und denke von meiner Liebe zu Dir nicht geringer; ich will Dir glauben und von jetzt an Dir folgen.«

»Vielleicht nur noch kurze Zeit,« sagte Emmy ernst, – »und Fennimor gönnt mir dies Glück – und segnet Dich dafür!«


Wir verlassen hier auf einige Zeit diesen Schauplatz des wunderbarsten Phantasielebens und kehren in den gegenüberliegenden Theil des Schlosses ein, das heitere Treiben der jungen Personen verfolgend, die hier dem Leben, so Viel an ihnen lag, allen Reiz abzufordern trachteten.

Indem wir uns jedoch die Eigenthümlichkeit der Hauptpersonen zurückrufen, werden wir eingestehen müssen, daß der frohe, heitere Lebenssinn des Marquis d'Anville und seiner jungen Gemahlin doch gerade deshalb so überströmend hervortrat, weil in ihnen ein sicherer Grund von ernstem Gefühle lag, und eine durch Grundsätze befestigte Karakterbildung. Wir dürfen daher erwarten, daß die Geschichte des Grafen Leonin, mit der wir uns beschäftigt haben, und die der junge Marquis so vorzutragen wußte, daß ihr Hauptinhalt durch die leichtere Form der Erzählung nicht geschwächt ward, einen ernsten Hintergrund in den Herzen seiner Zuhörer zurückließ, und das übersprudelnde Leben jugendlicher Heiterkeit dadurch leise eingedämmt erschien. Leonce hatte nicht nöthig, an sein System des Maaßes zu erinnern; vielleicht war aber das Maaß der Liebenswürdigkeit gerade dadurch in beiden Frauen erfüllt.

[175] An dem letzten Abende, als der Marquis seine Erzählung mit dem spurlosen Verschwinden Reginald's schloß, und die Gesellschaft nach einigen Worten, die ihre Erschütterung ausdrückten, sich früher, als gewöhnlich, getrennt hatte, öffnete sich einige Zeit später die Thür zu dem Zimmer des Marquis d'Anville, und seine junge Gemahlin trat mit der ihr stets bleibenden, anmuthigen Schüchternheit einer Jungfrau ein. Aber ihr liebliches Angesicht war so bleich, wie ihr weißes Nachtkleid; und als ihr der Marquis liebevoll entgegeneilte, fiel sie ihm in die Arme und weinte die ganze erfahrene Gemüthsbewegung, wie ein Kind an dem Busen der Mutter, in den Armen ihres Gemahls aus.

»Armand,« sagte sie, nachdem sie den rührenden Ausdruck ihrer Gefühle in etwas beherrscht hatte – »versprich mir, daß wir nicht Besitzer werden wollen von dieser traurigen Erbschaft; daß wir alle unsere Kräfte, alle unsere Verbindungen, alle unsere Mittel noch ein Mal in Bewegung setzen wollen, jenen armen, gekränkten Reginald oder seine Erben zu entdecken!«

»Du sprichst aus meiner Seele!« rief der Marquis, sie an seine Brust drückend – »die Zeit hatte den Eindruck in mir gemäßiget; die Fruchtlosigkeit meiner Nachforschungen hatte mich endlich damit abschließen lassen; fast hätte ich jetzt das Provisorium über diese Güter aufgehoben und mich zum Erben erklärt; aber indem ich Euch jetzt Alles erzählte, stieg, aufs neue belebt, die ganze Gewalt dieser großen Verschuldung in mir auf, und unmöglich schien es mir seit den letzten Tagen, hier wirklich als rechtmäßiger Besitzer aufzutreten und damit fast in die verwerfliche Bahn einzulenken, die unser armer Oheim verführt ward, zu betreten.«

»Das stand auf Deiner Stirn, Armand,« sagte Lucile, ihre Thränen völlig trocknend. »Auch kam ich nicht in der Meinung, ich könne Dir das Rechte erst durch meine Bitten [176] entdecken helfen. Ich wollte – ich hatte den Austausch unserer Gedanken so nöthig; mein Herz will mir zerspringen, wenn ich an das Schicksal dieser Fennimor denke – dieses unglücklichen Reginald. – Ich habe ein Gefühl, als könne diese wunde Stelle in unserer Brust – dieser Flecken auf unserem Wappenschilde nicht eher verschwinden, als bis wir dies Erbe den rechtmäßigen Besitzern übergeben haben.«

»Sieh' hier, Lucile!« rief der Marquis jetzt, und zog sie gegen den Schreibtisch; – »und möge dieser Brief, den ich noch heute Abend zu beschließen denke, Dir eine ruhigere Nacht bereiten und Deine Träume mit der großmüthigen Hoffnung füllen, daß Du Reginald wieder findest und ihm die reichste Erbschaft des Landes ausliefern kannst.«

Lucile hörte in freudiger Bewegung, als Armand sie in einen Lehnstuhl gesetzt hatte, was er seit ihrer Trennung geschrieben:

»An Lord Duncan-Leithmorin.«

»Euer Herrlichkeit haben wiederholte und dringende Aufforderungen zur Mitwirkung meiner jahrelangen Bemühungen, um die Auffindung Ihres Freundes Reginald de Ste. Roche, stets unbeantwortet gelassen; und ich habe lange geglaubt, daß meine Briefe an Euer Gnaden verloren gingen, oder Ihre möglichen, längeren Abwesenheiten von Leithmorin sie nicht in Ihre Hände lieferten. Obwol meine Nachforschungen dadurch nicht gänzlich gehemmt wurden, und ich sie in allen Richtungen fortsetzen ließ, knüpfte ich doch immer im Geheimen meine größte Hoffnung an Sie, als dessen Freund; – und – erlauben Sie mir, es hinzuzusetzen – ich verdiente von Euer Herrlichkeit eine weniger mißtrauische Aufnahme!«

»Sollten meine Hoffnungen, daß dieser, mein unglücklicher Verwandter sich nach England flüchtete und in Ihrer Nähe lebt, oder Sie Kenntniß seines Aufenthaltes haben, sich [177] erfüllen, so fordere ich Sie im Namen der Menschheit auf, Ihr ungerechtes Mißtrauen gegen mich aufzugeben und mir beizustehen, um eine späte, aber immer gleich heilige Gerechtigkeit gegen meinen unglücklichen, verfolgten Verwandten ausüben zu können. Ich bin in Ste. Roche und werde hier Ihre Antwort abwarten, indem ich mich der Couriere bediene, diesen Brief in Ihre Hände zu liefern.« –

Lucile erhob sich mit einem unaussprechlichen Ausdrucke von Stille und Verehrung in ihren Zügen. Sie beugte sich ein wenig gegen ihren Gemahl vor – sie öffnete die Lippen, als wollte sie reden – dann schwieg sie schüchtern, küßte sanft seine hohe, helle Stirn und sagte endlich ganz leise: »Armand, ich liebe Dich!«

»Lucile!« rief er entzückt, als habe er es zuerst gehört – und vielleicht hatte das erste Mal sein Herz nicht mit höherer, andächtigerer Wonne erfüllt!


»Meine theure Lucile,« rief Leonce am anderen Morgen, als man sich in dem kleinen Burggarten, der an der anderen Seite des Schlosses und an den jetzt bewohnten Gemächern lag, zum Frühstücke versammelt hatte – »ich muß um Gnade bitten; denn ich bin auf Ihre Unkosten liebenswürdig gewesen.«

»Ich glaube, das ist am Ende eine von Ihren seltenen und dann superfeinen Galanterien,« rief Lucile. »In welchem Reichthume von Liebenswürdigkeit müssen wir uns befinden, wenn Sie darauf Gebrauchsanweisungen schreiben; – und nicht allein die Quantität, sondern die Qualität muß es außerdem sein, die sie an Ihren eigenen Schätzen vorübergehen läßt. Ah, Armand, wir sind mit Deinem Bruder zufrieden!«

[178] »Dann gebe nur Gott, daß Sie es auch bleiben,« lachte Leonce; – »denn Ihre Gunst hat mich noch nie länger, als eine Sekunde vor dem Anfange unserer diversen Unterhandlungen beglückt.« –

»Aber Sie, mein theurer Widersacher, unterließen auch stets, Ihre Unterhandlungen, wie heute, mit einer einflußreichen, kleinen Schmeichelei zu beginnen! Selten fühle ich mich daher so sanft, so hingebend, so geneigt, Alles allerliebst zu finden, was Euer Liebden in weiser Herablassung geneigt sein werden, vorzutragen.«

»Nun, mich dispensire nur vom Zuhören!« rief Margot und stand mit zwei luftigen Springen auf dem Rande einer alten, marmornen Treppe, die terrassenartig in den Wald führte, der dem Burggarten gegenüber lag.

»Nein,« rief Leonce und setzte der flüchtigen Gestalt eben so gewandt nach – »Sie dürfen nicht entwischen; denn auch Sie sind bei meiner Verhandlung mit Lucile eben so betheiligt, wie diese; ich habe auch Ihre Gnade in Anspruch zu nehmen.«

»Gott, was ist geschehen?« rief Margot, mit erheucheltem Erschrecken; – »wie tief muß Leonce sich verschuldet haben, wenn er sogar meine Gnade gebraucht! Ha, Armand, kommen Sie zu unserm Schutze herbei; – er hat uns an Räuber verkauft – ihn gereut eine Verschwörung, die er angezettelt – ich fürchte Alles! das Schrecklichste, Entsetzlichste, Abscheulichste, da er meine Gnade anruft!«

»O,« rief Leonce, mit ein wenig dreister Heiterkeit Margot in die Augen blickend; »was gäbe ich darum, wenn ich wüßte, ob Sie mich um das, was ich gethan, abscheulich und entsetzlich finden werden!«

»Hier ist immer Einer unartiger, wie der Andere!« rief Armand, sehr ergötzt durch seine jungen Freunde. »Wen soll ich hier schützen? Meine Ritterpflichten kommen ins Gedränge, [179] wo die Natur ihre Rollen gewechselt zu haben scheint. Die Damen sind offenbar die Stärkeren, und Leonce sieht aus, als wolle er unterliegen.«

»Ja gewiß,« rief Lucile – »hier ist Niemand artig, als ich allein, was Du wahrscheinlich vorher zu bemerken vergaßest. Es ist ein schweres Geschäft, so große, so widerspenstige Kinder in Ordnung zu halten; aber ich muß mich daran geben, denn, kommt Margot so zu ihrer Mutter zurück, wird die gute Gräfin d'Aubaine glauben, ich habe meine ganze Solidität verloren, und man wird bedenken, ob man vorsichtig genug in der Wahl meines Gatten war.«

Armand nahm hier die leichte, weiße Hand gefangen, die während dieser mit Pathos gehaltenen Rede beschäftigt war, die verschiedenen Gegenstände des Frühstückes, welche das reich besetzte Tischchen bedeckten, in Umlauf zu bringen. »Und am Ende,« sagte er, sie küssend – »schickst Du mich fort, damit Deine Erziehung nicht durch schlechtes Beispiel leidet.«

»Und am Ende,« wiederholte sie, im Begriffe zu scherzen; aber gegen ihren mit Ehrfurcht geliebten Gatten leicht in dem Tone der Neckerei aufgehalten, brach sie plötzlich ab und rief: »ich fange mein strenges Regiment mit Ihnen an, Leonce – ich erkläre Ihre Chokolade noch zu heiß, um sie jetzt schon hinunterzustürzen; – sie wird sich warm halten bis Sie uns endlich vertraut haben, was wir Ihnen aufs neue vergeben müssen.«

»Ach,« rief Leonce – »denken Sie weniger an mich – obwol ich dieses herrliche Waldhuhn gern erst zerlegt hätte; aber gönnen Sie unserer armen, kleinen Margot das stille Vergnügen, ohne Gemüthsbewegung den zarten Brei von Erdbeeren, Brod und Milch und einigen zwanzig, kleinen Zuthaten dieser vor ihr aufgepflanzten Büchsen, zu verspeisen – dann fange ich an – sogleich! sogleich!«

[180] Das göttliche Vorrecht der Jugend, über Nichts zu lachen, ergriff Alle, bis auf die Verspottete. Sie war mit ihrer gewöhnlichen Diät junger Mädchen, die vor Fleisch und dessen Erscheinungen, wie vor den Gebräuchen wilder Völker, zurückbeben und ihren kleinen, heißen Magen unter der engen Schnürbrust mit Milch, Obst und Confituren baden, ein immerwährender Gegenstand für Leonce's Spöttereien und führte nicht selten, um ihm zu trotzen, auf ihrem Teller die wunderlichsten Gesellschaften sich widerstreitender Nahrungsmittel zusammen.

Nachdem der angenehme, kleine Lachschauer vorüber war, erklärte Margot, diese neue, grausame Spötterei habe ihr gänzlich ihre schöne Morgenspeise verleidet; Leonce könne daher anfangen, wenn anders seine wilden Gebräuche, die unschuldigen Thiere des Waldes zu verschlingen, ihm dazu Raum gäben.

»Ach ja,« rief Leonce – »es sei so! Denn ehe die Beklommenheit des Herzens nicht aufgehört hat, eher wird der Segen eines guten Frühstücks nicht an mir in Erfüllung gehen. Ich habe einen Freund,« rief er mit Pathos und zog einen Brief hervor. »Wie ich zu diesem Glücke kam, wird vielleicht nicht besonders schmeichelhaft für meine Eitelkeit sein. Jetzt ist vors Erste unsere Verbindung die allerfeurigste der Welt – wo ich nicht bin, ist ihm die Erde eine erkaltete Leiche, ein ausgebrannter Krater – mein Athem belebt den seinigen – mein Auge ist der Stern, der ihm die Nacht des Lebens erhellt – mein Lächeln ist der Sonnenschein, der alle Keime seines Wesens grünend und blühend hervorruft – der Ton meiner Stimme ist die Melodie, die er wiederklingen fühlt durch alle Saiten seiner Brust – meine Gedanken ergänzen die seinigen – meine Neigungen passen zu seinem Karakter – mein Herz, so weich, so kühl dabei, wie Sie es alle kennen, stärkt und erquickt das seinige, was leidenschaftlich von besonderem Feuer belebt wird – ach, ich muß inne halten! Wo gäbe es eine Sprache, um[181] eine Leidenschaft zu bezeichnen, die nach langer, spröder Dürre, plötzlich dem gefundenen Ideal gegenüber, in ihrer vollen Stärke hervorbricht.« –

Ein lautes Gelächter aller seiner Zuhörer unterbrach hier den muthwilligen Spötter, und nur mit Mühe unterdrückte er seine Neigung, darin einzustimmen.

»Ach,« fuhr er fort – »findet denn Nichts hier Anklang, was, aus der Welt der Ideale hernieder gestiegen, Glauben verlangt an ein höheres Bedürfniß? Sind diese Wunder der Seelenverwandtschaft, die keinen höheren Nachweis fordern, als ihr geisterhaftes Erscheinen vor uns – sind sie Ihnen denn alle fremd? – Lucile, gefühlvolle Gattin – und Ehrendame der Königin, hat Ihr Herz nie diesen Takt geschlagen? – Armand, Kämmerer des Reichs – Marquis aus den Zeiten Arthur's und der Tafelrunde – ging die Welt der Seligkeit, die in einem Dir ganz gehörenden Freunde schon Homer's und Pindar's Gesänge verherrlichen, an Dir ungekannt vorüber? – Und Sie, Margot – voll Jugend und Unschuld – eine schöne Knospe, um die alle Blätter, zur Vollkommenheit entwickelt, sich eifersüchtig über dem süßen Dufte gewölbt haben, der darin sein Aroma bereitet – ahnt Ihnen nicht wenigstens der verhängnißvolle Augenblick, wo sie überlistet von ihrem Vetter – oder – um in der Bildersprache dieser schönen Gedankenoperation fortzufahren – wo – sage ich also – ein Sonnenstrahl Sie so lange bescheinen wird, bis Sie aufblühen – und der göttliche Duft so schwärmerischer Liebe oder Freundschaft, als mein Freund für mich fühlt, die Luft durchdringen wird?«

»Nein, nein, Leonce,« rief hier Margot, sich durch das allgemeine Gelächter mit ihrer feinen Stimme Bahn brechend – »auch im Spaße kann und will ich Ihre abscheuliche Empfindsamkeit nicht ertragen! Lucile, er reizt mir das Blut bis in die Fingerspitzen; – alles Gefühl, bis zum kleinsten Atome, möchte [182] ich aus mir herausjagen, um auch Nichts, keinem Sonnenstaube Aehnliches, in mir davon zu haben!«

»O Knospe, Knospe,« rief der unerbittliche Leonce – »dieser Zorn ist Symptom Deines Aufblühens! Sollte der Sonnenstrahl schon über Deinen Blättern stehen?«

Wild und glühend bis zum Scheitel, sprang Margot auf, und jetzt setzte sie so schnell über die marmorne Treppe, daß sie eine Stufe verfehlte; und hätte Leonce sie nicht, eilig zuspringend, in demselben Augenblicke im Arme emporgerissen, so wäre sie die baufällige Treppe hinab gefallen.

Als er sie ansah, erblickte er dicke Thränen in ihren Augen, und sie schlug fast nach ihm; so ungestüm dachte sie daran, sich von ihm zu befreien.

»Nein, nein, Margot, verzeihen Sie mir erst!« rief er mit seiner vollen Gutmüthigkeit; – »ich war zu ausgelassen, ich habe Ihnen wehe gethan und fühle mehr, wie Sie ahnen, den Schmerz, Sie beleidigt zu haben! Nein, nein, ich lasse Sie nicht eher los, bis Sie mir verzeihen!«

»Alles, Alles,« rief Margot – »nur lassen Sie mich los, ich sterbe sonst auf der Stelle!« Und noch einmal versuchte sie, ihre kleinen Hände zu befreien, und entschlüpfte Leonce, der sie los ließ, und verbarg sich hinter Lucile, die vergeblich zur Ordnung gerufen hatte.

»Ich bin ganz Deiner Meinung, Margot,« rief Lucile lachend, daß die Thränen ihr in den Augen standen – »Leonce ist ganz unerträglich – und ich wünschte, wir wüßten seine pendantische Rede über das Maaß noch auswendig, um sie ihm jetzt vor halten zu können; denn ich merke, die Nutzanwendung hört bei seinem eigenen Verfahren auf – wie das bei allen Buß-Predigern der Fall sein soll.«

»Sein Sie jetzt nicht zu streng, Lucile!« erwiederte Leonce »ich habe Etwas in den schönen Augen meiner kleinen Muhme [183] gesehen, was allen Uebermuth in mir ausgelöscht hat. Ich bin für heute bestraft genug und will Ihnen jetzt ganz einfach referiren; ja, ich bin so eingeschüchtert, daß ich, um nicht mehr von meinen Gefühlen verführt werden zu können, die Veranlassung weder nennen, noch bezeichnen will, Ihrem Scharfblicke das Weitere überlassend. – Der junge Graf von Bussy, der so eben seine Vermählung mit Mademoiselle de Guiche in Versailles gefeiert hat, ist auf dem Wege nach seinem schönen Schlosse Rabutin und kommt so nahe an Ste. Roche vorüber, daß er, von unserer Anwesenheit unterrichtet, mir gestern einen Boten sendete, mit der Bitte, seinen Besuch bei meinen liebenswürdigen Verwandten zu vermitteln.«

»O,« rief Lucile, freudig ihre Hände zusammen schlagend – »das ist eine allerliebste Nachricht – nun sollen Ihnen alle Ihre Unarten vergeben werden!«

»Auch, wenn ich bereits zugesagt habe?« fragte Leonce. »Der Bote traf mich auf dem Wege nach dem Kloster Tabor, dessen Bibliothek ich einen Besuch machen wollte; da gedachte ich des Beifalles, den Sie, liebe Lucile, der jungen Gräfin Guiche stets gezollt, und ich hatte entschieden, ehe ich die Schwierigkeiten überlegt, Ihnen diesen Vortrag zu machen.«

»Nun, ich bin versöhnt,« rief Lucile; – »denn ich finde diesen Besuch allerliebst! Und ich argwöhne, Leonce – mein Armand war mit Ihnen im Komplotte bei dieser Uberraschung!«

»Zufällig war Armand mit mir, als uns der Bote erreichte.« lachte Leonce. »Doch er ist so schüchtern, wie ich, seiner holden Tyrannin gegenüber; wenigstens hat er mir die ganze Verantwortlichkeit zugeschoben.«

»Nun,« erwiederte Lucile – »was meinst Du, Margot, sollen wir ihm vergeben?«

»Thue Du, was Du willst,« sagte diese von weit ber; denn sie war leise hinter Lucile fort bis an das niedere Geländer [184] der Terrassen-Brüstung geschlichen und schaute, Allen den Rücken zukehrend, in die Gegend. »Ich werde mich darauf noch ein Weilchen besinnen und namentlich auf seine fernere Aufführung Acht haben, ehe ich Frieden schließe.«

»Dann habe ich Ihre Versöhnung sicher,« antwortete Leonce, – »besonders, wenn Sie mir erlauben, Sie jetzt anzusehen.«

»Nein, nein! Armand, leiden Sie es nicht!« rief Margot; – »ich springe hier hinunter, wenn er mir nahe kömmt!«

»Sein Sie ruhig,« antwortete Armand – »jetzt nehme ich Sie in meinen Schutz. Doch sagen Sie, darf ich Ihnen nahe kommen? Und wollen Sie uns beistehen, im Schlosse die Zimmer auszuwählen, die wir für unsere zahlreichen Gäste bereit halten müssen?«

»Sogleich komme ich,« sagte Margot; – »doch hier in der Ferne entdecke ich etwas – ich muß es erst heraus haben, was es ist.«

»Ich will Ihnen helfen, Margot« – rief Leonce aufstehend; – »ich weiß vollkommen in der Gegend Bescheid.«

»Nein, nein,« sagte sie, rasch herunterspringend – »ich weiß jetzt, was es ist;« – und mit einem Satze war sie zwischen Armand und Lucile und mußte nun ihr glühendes Gesicht den lachenden Augen ihrer jungen Freunde preisgeben.

»Kommen Sie, Margot,« rief Armand und gab ihr mitleidig den Arm – »wir verständigen, alten Leute gehen voran – diese jungen Spötter mögen uns folgen.«

So durchzog man erst den anmuthigen, kleinen Burggarten, der unter den Fenstern der von ihnen bewohnten Zimmer lag und von einer hohen Brüstung untermauert war, an deren Fuße sich die schönen, grünen Waldwege anschlossen, die wenig von der Kultur erfahren hatten und mit kurzem, saftigem Waldmoose bedeckt waren. Dieser Platz, den sie heute zuerst [185] besucht hatten, ward für würdig erkannt, auch den Gästen zur Frühstücksstunde zu dienen, da er Schatten und Kühlung versprach. Dann wandelte man durch die bewohnten Gemächer, um die Haupttreppe zu erreichen, die in die oberen Zimmer führte, welche über denselben lagen.

Hier, auf dem alten, mit Marmor-Statuen geschmückten Treppenflure blieben Alle, überrascht von ihren Erinnerungen an d'Anvilles Erzählung, stehen; und die Nacht, in der die beiden unglücklichen Brüder zu einer so fürchterlichen Katastrophe ihres Lebens diese Treppen erstiegen, stand Allen so lebhaft vor Augen, daß sie ihren frohen Lebenshauch aufhielt.

»Nein,« rief d'Anville – »mein Herz wird nicht eher ruhig schlagen, bis diesem armen, edeln Reginald Recht geschehen ist!«

»Und,« setzte Lucile mit dem lieblichen Ernste ihrer plötzlich erblaßten Wangen hinzu – »meiner heiligen, herrlichen Tante Fennimor! O, Armand, ich buhle mit ihrem Schatten, der diese Räume heiligt, um die Gunst ihrer Liebe; – ich will, sie soll mich gern als ihre Verwandte anerkennen!«

»Vielleicht segnet sie unsere Absichten,« sagte Armand; und unwillkürlich hing Lucile's Arm in dem ihres Gemahls; – und Margot war so erschüttert, daß sie sich ohne Weigerung von Leonce auf der Treppe unterstützen ließ, weil sie ihren ganzen Streit mit ihm vergessen hatte.

»Die Zimmer über den unsrigen sollen von den verschiedenen Besitzern stets im wohnlichen Stande gehalten sein,« erzählte Armand – »in ihnen müssen wir unsere Einrichtungen treffen.«

»Und berühren wir damit den Bankettsaal?« fragte Lucile. –

»Nein, dieser Theil des Schlosses bleibt uns links, wir wenden uns auf dem oberen Treppensaale rechts.«

[186] Sie fanden hier eine alterthümliche, aber reiche Ausstellung von vielen, wohl an einander hängenden Gemächern, und Leonce, der beständig die Chronik und den alten Plan des Schlosses studirte, sagte ihnen, dies seien die Gesandten-Zimmer. Katharina von Medicis habe sie noch mit ihren kostbaren, vergoldeten Ledertapeten, zum Empfange der polnischen Magnaten einrichten lassen, die sie dort in der Stille für ihre Sache zu gewinnen suchte.

»Wir werden doch wohl mit diesen Zimmern ausreichen?« fragte Armand Leonce.

»Nun, wie viel Gäste erwartest Du denn?« sagte Lucile. –

»Ich höre, es werden sich einige Freunde des jungen Ehepaares in seinem Gefolge befinden, und ich habe Alle hierher eingeladen; denn ich hoffe, wir fesseln sie so eine Zeit lang an unser altes Geisterschloß.«

»Und wie ich hoffe, Leonce,« sagte Lucile – »befindet sich unter ihnen auch Ihr junger, feuriger Freund, der Sie so überaus empfindsam stimmt, und den Sie uns jetzt doch nennen werden?«

»Nein, nein, liebe Lucile, das soll Ihrem Scharfsinne überlassen bleiben; ich verrathe ihn nicht und will Acht geben, wer von Ihnen beiden, ob Sie – oder meine kleine Muhme Margot ihn zuerst errathen wird.« –

»Sein Sie sicher, daß ich Ihre Freunde nicht zum Gegenstande meines Nachdenkens machen werde – am wenigsten aber begierig bin, diesen empfindsamen Jüngling kennen zu lernen!« Mit diesen lebhaften Worten rannte Margot schnell aus der Nähe ihrer Freunde, welche sie erst vor einer Portrait-Statue auf dem Treppensaale wiederfanden. Sie schauderte zusammen, als man sie anredete, und wies mit unverholener Bangigkeit auf die kühne, drohende Gestalt, vor der sie stand. »Es ist Spinola,« sagte sie, kaum hörbar.

[187] Alle theilten ihre Ansicht; und hingerissen von den Erinnerungen, die hier überall ihren Schauplatz fanden, trat bei Jedem der Wunsch hervor, dennoch die verhängnißvollen Gemächer zu betreten, wo ihrer so viel Grauen Erregendes wartete, und Lucile bestätigte ihren früheren Ausspruch: Sie habe nichts dagegen, sich ein wenig zu grauen, wenn sie dabei recht gesichert wäre – und so schien Margot auch zu denken. Doch nahm sie abermals und, wie es dies Mal schien, ohne alle Zerstreuung den Arm ihres bösen Vetters Leonce an.

Es war gewiß ein erschütternder Eindruck, diesen alten verfallenen Saal zu betreten, der seit der letzten gerichtlichen Untersuchung verschlossen gewesen war. Keine Hand hatte Willen oder Berechtigung gefühlt, hier die Spuren des Vorgefallenen, die früher sogar erhalten werden mußten, zu vertilgen; – und der Marquis und Leonce bereueten fast, von eigener Neugier verführt, den Damen so viel zugemuthet zu haben. Da standen gegen den Kamin die beiden Lehnstühle, der eine mit Kissen bedeckt, deren heller Atlas jetzt mit dunkeln Flecken fast verdeckt ward – und daneben das schrillende Tischchen von getriebenem Kupfer, mit der wunderlich eingelegten Platte. – Beide Damen standen mit unterbrochenem Athem davor; selbst die Männer blickten mit Ernst und Grauen auf diese verhängnißvollen Plätze; doch Leonce, der zugleich wünschte, die erblaßten Damen wegzuführen, eilte nach dem Ende des düsteren Saales, und leicht gelang es ihm, die Thüre nach der Gallerie zu öffnen, die er hier, gut vertraut mit dem Plane des Schlosses, vorzufinden sicher war.

Er fand die Thüre nur angelehnt, und als er sie aufstieß, glaubte er eine weibliche Gestalt am Ende der Gallerie verschwinden zu sehen; doch war diese so mit kleinen, selbst gesäeten Gebüschen bewachsen, daß ihm kein freier Durchblick gestattet war, und er fast beschämt seine forschenden Augen [188] zurückzog, überzeugt, es sei ein Spiel seiner eben so lebhaft erregten Phantasie. – Es drang indessen ein Strom von Luft und Sonnenlicht durch die geöffnete Thüre, daß sich Alle der erfreulichen Richtung zuwendeten. Aber indem sie ihr entgegen eilten, mußten sie an der großen, eichenen und noch immer behangenen Tafel vorüber, auf der Ludwig sein Leben ausgehaucht; und das scharfe Licht, was jetzt durch die Thüre strömte, erhellte sie und den dunkeln Fußboden davor.

»Was ist das?« rief Lucile, überrascht stehen bleibend – »dies ist ein Grab, mit Blumen überdeckt!«

Man nahete sich. Die Vegetation der so schmerzlich gedüngten Stelle war nicht zu läugnen; der feuchte Saal hatte die traurige Aussaat begünstigt; aber ein frischer Kranz von Epheu und Cypressen konnte diesem Stillleben der Natur nicht zugerechnet werden; und Alle blieben schweigend vor dem nicht erklärbaren Ereignisse stehen.

»Nun,« sagte Leonce – »wir wissen ja, daß wir nicht die alleinigen Bewohner dieses Schlosses sind. So muß denn Emmy Gray diesen Kranz hierher gelegt haben, und dieser Theil des Schlosses muß mit ihren Gemächern im Zusammenhange stehen.«

»Das ist wenigstens so prosaisch, als möglich, er klärt!« rief Margot – »ich schwöre aber darauf, die Alte war es nicht. Denn mit achtzig Jahren, wie sie bald sein kann, ist man nicht mehr so sentimental; und da sie schon seit einigen zwanzig Jahren diesen traurigen Ort über sich wußte, so ist es unwahrscheinlich, daß sie erst jetzt ihren Kranz fertig bekommen haben sollte; – denn es ist der einzige hier und ein völlig frischer!«

»Ach,« sagte Lucile – »denkt doch an die Erscheinung, die wir in den ersten Tagen unseres Hierseins hatten, wie wir unter der alten Terrasse hinritten, die vor Emmy's Zimmer liegt, und am Fensterkreuze die reizende Gestalt im weißen [189] Gewande schweben sahen, die sich lange genug zeigte, um von uns Allen gesehen zu werden, und dann plötzlich, wie ein Geist, verschwand! O, ich bitte Euch, laßt mich von hier fort auf die sonnenhelle Gallerie treten – wenn ich Luft habe, will ich beichten. Ihr werdet hier meine Neugier nicht verspotten, und ich kann nicht länger schweigen – selbst, wenn Ihr mich Alle auslachen solltet. Ach, Armand,« sagte sie, sich an ihn lehnend – »man ist nicht umsonst in diesem Geisterschlosse – ich erwarte überall Fennimor zu finden, ich wünsche es so brennend, daß mein Geist sich dabei verwirrt, und ich es für möglich halte. Deshalb,« fuhr sie fort, während der Marquis die holde, überspannt blickende Frau nach der Gallerie führte, »wüßte Emmy Gray, wie ich ihre Fennimor liebe, wie ich mich nach den Ueberresten ihres heiligen Engellebens sehne – sie nähme mich bei sich auf, sie würde mich anerkennen als Fennimors Verwandte!«

»Wir haben ja dazu noch Hoffnung, meine Liebe,« sagte der Marquis beschwichtigend. »Auch ich denke, unser Entschluß, endlich hierher zu kommen, soll uns noch gute Resultate bringen; ich könnte hier nicht eher fort, bis etwas Versöhnendes geschehen ist; obgleich ich gestehen muß, daß ich noch nicht weiß, wie es zu machen sein wird. Fast geht es mir, wie Dir; auch ich sehe umher, als erwartete ich etwas, wenn auch nicht Fennimor, den sanften Engel, dem ich seine höhere, nähere Vereinigung mit jener Welt, ohne einen egoistischen Wunsch für unsere Herzen, gönne.«

»So ist es, meine theure Lucile,« sagte Leonce, freundlich seiner bewegten Schwägerin nahend – »diesen Standpunkt müssen Sie festhalten – denken, wie diese hier schon verklärte Fennimor die höchste Seligkeit genießen muß, dann werden Sie Ihr schönes Gleichgewicht wieder erhalten, und wir werden uns Alle dem Leben um so theilnehmender zuwenden, [190] da es uns so heilige Pflichten auferlegt gegen ihren berechtigten Erben.«

»Ja,« sagte Lucile, ihm ihre schöne Hand reichend – »ich wußte wohl, daß Leonce eben so wenig an diesem Erbe Freude haben könnte, als wir selbst; doch ist es großmüthiger von Ihnen, wie von uns, da wir außerdem so viel reicher sind, wie Sie.« –

»Theure Lucile! Wenn wir die Rollen eben tauschen könnten, würden Ihre Gesinnungen gewiß nicht damit wechseln! Habe ich doch, wie Armand, was mir von diesem Vermögen zufiel, bisher nicht zu meinen Revenüen zugezählt – und ich hoffe,« setzte er lächelnd hinzu – »Sie haben mich stets elegant und vortrefflich eingerichtet gefunden.« –

Sinnend drückte Lucile dem geliebten Verwandten die Hand. »Aber wer war es denn,« fuhr sie plötzlich empor – »wenn es Fennimor nicht sein kann?«

Leonce sah unwillkürlich die Gallerie hinauf – aber Lucile fuhr fort: »Unser Streit an dem Abende, nachdem wir Alle jene Erscheinung in Emmy's, nur als von ihr bewohnt bezeichnetem Zimmer gehabt hatten, trieb mich am anderen Morgen früh aus meinem Bette, und ich wandelte hinaus – ich glaube fast, schon in der Absicht, in Emmy's Wohnung einzudringen. Durch Gebüsche mich durchdrängend, stehe ich vor dem kleinen Eingangsthurme – und diese mir als verschlossen und verrammelt geschilderte Wohnung liegt plötzlich mit geöffneten Thüren vor meinen Augen.«

»Sagt, war es nicht verzeihlich, daß ich eintrat? Ach, ich habe nur einen allgemeinen Eindruck erfahren; Einzelheiten kann ich Euch nicht anführen; mein Herz, meine Sinne waren in der Erwartung gespannt, Emmy jeden Augenblick begegnen zu können. Nur so viel weiß ich, ich durchwandelte fürstlich eingerichtete Räume – alle im frischesten Glanze – das Ganze,[191] wie zum Feste, mit blühenden Blumen geschmückt – ein Paradies – oder vielmehr ein würdiger Raum, sich Fennimor gegenwärtig zu denken. Da sah ich endlich Emmy Gray.« –

»Wie,« riefen Alle, »Du sahst sie?« –

»Ja, aber sie mich nicht! In tiefem Schlafe ruhete sie in einem Lehnstuhle vor einem großen prachtvollen Bette. Diese in Alter und finsterem Gram erstarrten Züge konnten nur Emmy Gray gehören! Aber wen bewachte sie in diesem Bette? Gott,« fuhr sie fort, indem sich ihre Augen füllten – »Armand, Du hast uns Fennimor so genau beschrieben, Du sahest ihr schönes Bild so oft bei Deinem armen Oheim, ich hatte Deine Worte so lebhaft aufgefaßt, daß ich kaum den lauten Schrei bezwang, wie ich in dem grünen Damastzelte des Bettes Fennimors schlafendes Engelsbild erblickte.« –

»Lebend? Einen lebenden Gegenstand?« riefen Alle. –

»Ja, lebend! – Wenn die reinste Farbe, die der gesunde Schlaf auf unsere Wangen malt – wenn das Lächeln des halb geschlossenen Mundes – wenn der leichte Kinderathem, der jugendlich ihren Busen hob; – wenn dies anders Lebenszeichen sind! – Dabei der braune Lockenschmuck – die schmale, weiße Hand, die Du gerühmt; – ach, Armand,« rief Lucile, in seinen Armen sich verbergend – »es war Fennimor! Denn wen – wen würde Emmy Gray sonst bewachen, wie Wärterinnen an der Wiege des geliebten Kindes wachen?«

»Sonderbar – unbegreiflich!« riefen Lucile's Anverwandte. Sie hatte von Niemandem Spott zu fürchten – Alle theilten ihre Bewegung.

»Aber weiter – weiter!« rief Armand, nun die tiefe ungewöhnliche Bewegung, die er in der letzten Zeit an ihr bemerkt, erklärt findend. »Sag', geliebte Lucile, geschah Dir auch nichts?« – Sie an seinem Herzen haltend, konnte er sich kaum überzeugen, daß sie ohne Schaden davon gekommen sei.

[192] »Ich weiß nicht,« fuhr Lucile fort, das bewegte Gesicht erhebend – »wie lange ich, in dem schönen Anblicke verloren, so vor der Schlummernden stand. Da hob Emmy den im Schlafe niedergesunkenen Kopf in die Höhe, und obwol sie nicht erwachte, ergriff ich doch die Flucht und kam unbemerkt zurück. – Vergebt mir, daß ich es Euch verschwiegen,« setzte sie, fast flehend zu Armand emporblickend, hinzu. »Oft habe ich es versucht; aber ich war beschämt über mich selbst, ich wollte Eure gute Meinung nicht verlieren, ich wollte besonders mich nicht Euren Neckereien aussetzen.«

»Da nehmen Sie den Vorwurf hin!« sagte Margot zu Leonce. »Ihre Neckereien sind es, die meine liebe Lucile zu dieser Heimlichkeit verführt haben; ich hoffe, Sie bereuen!«

»Mehr, wie Sie denken!« erwiederte Leonce, ernster, als der Vorwurf es verdiente. »Glauben Sie mir, theure Lucile, ich unterliege, wie Sie, dem Einflusse dieses Schlosses und dem Nachklingen seiner Begebenheiten, die Armand uns so lebhaft vorgetragen. Es ist mit dem Gedanken an Fennimor in meiner Brust ein unaussprechliches Gefühl von Sehnsucht und Schmerz erweckt. In solcher Stimmung übertreibt man leicht, wenn man nicht einzugestehen wagt, daß man ernster ist, als die günstigsten Umstände es rechtfertigen; darum verzeiht mir Alle!«

»Nun,« lachte Margot – »hier ist ein förmliches Beichtesitzen – eine Demuth – ein Abbitten; – nur mein Bekenntniß fehlt noch, daß ich eben so oft weinte, wie lachte und Euch das Erstere auch nicht sehen ließ.«

»Es scheint mir, wir haben Alle Ursache, unsere Gäste willkommen zu heißen;« hob jetzt Armand freundlich an; – »ich habe mit meiner Erzählung Euch Allen den frohen Lebensmuth getrübt! Unter unbefangenen Freunden, denen wir als Wirthe unsere Aufmerksamkeit schenken müssen, werden wir alle unsere eigne Natur wiederfinden.«

[193] »Nun hat Armand auch eine Sünde gegen uns gebeichtet,« rief Margot. – »Wir sind also Alle schuldig, und ich fange hiermit an und vergebe Allen!«

Freundlich blickte Jeder auf das reizende, feurige Mädchen, die, um sich den Blicken zu entziehen, durch die wilde Vegetation hindurch drang, die, über den Rand der Gallerie sich schleichend, nachgerade den ganzen Raum usurpirt hatte.

Mechanisch folgten ihr die Andern, und plötzlich die Lage erkennend, rief Leonce: »Wissen Sie, meine Damen, daß wir vor dem Eudoxien-Thurm stehen?«

»Das habe ich gedacht,« entgegnete Lucile. – »Laßt uns denn näher gehen – sein Anblick wird doch von uns allen heimlich ersehnt!«

Schon rief Margot: »Ich bin an der Thür, und sie ist nur angelehnt!«

Armand hielt Lucile einen Augenblick zurück. Sein Herz trieb ihn, ihr im Geheim ein liebevoll tröstendes Wort zu sagen. Leonce eilte daher an ihnen vorüber, und trat hinter Margot in das Eudoxien-Gemach.

Doch dauerte die herzliche Zwiesprache zwischen Lucile und Armand nicht lange. Ueberrascht blickten sie auf Leonce, der, aus dem Zimmer zurück auf den Marquis zustürzend, diesen mit Heftigkeit am Arme ergriff. »Armand,« rief er, während Todtenblässe und hohe Röthe sein schönes Gesicht abwechselnd überlief – »Armand, was kann das sein? Sie – ihr Bild!« – Er stammelte, er war gänzlich außer Fassung.

»Was ist geschehen?« rief Armand erschrocken – »was kann Dich so überraschen?«

»O kommt doch – kommt doch!« tönte Margots helle Stimme aus dem Gemache. Schon flog Lucile der Richtung entgegen. Als sie die Thür aufstieß, stand Margot ganz vertieft in den Anblick eines lebensgroßen, weiblichen Bildes, und [194] als Lucile davor hintrat, stieß sie mit einem Schreie der Ueberraschung die Worte aus: »Heiliger Gott, das ist sie!«

»Ja, in Wahrheit,« rief Armand, der schon hinter ihr stand; – »das ist das Bild Fennimors! Zwar nicht dasselbe, was mein Oheim bei sich hatte; aber dennoch ihr treues, unverkennbares Abbild!«

»Und das meiner Schlafenden!« rief Lucile. – »Ja, ja, ich täusche mich nicht – es gleicht ihr Zug für Zug; und gewiß sind die Augen mit den langen, schwarzen Wimpern, die ich geschlossen sah, so tief blau, wie diese! Ja,« wendete sie sich zu Leonce, der, athemlos ihr zuhörend, dennoch Zeit gehabt hatte, sich zu fassen – »ich begreife Ihr Erstaunen! Auch ich glaubte, die lebende Fennimor käme mir entgegen, als ich hier eintrat.«

»Nicht wahr,« sagte Leonce zerstreut – »es kann selbst starke Nerven erschüttern? Sehen Sie hier – damit wir außer Zweifel sind – diese Unterschrift: Fennimor Lester, vermählte Gräfin Crecy-Chabanne – gemalt im Jahre der Gnade 1670 von Eustace Lesüeur.«

»Das ist also das zweite Bild, was er malte, welches wahrscheinlich Emmy Gray für sich zurück behielt. Ihr werdet Euch dessen erinnern,« fuhr Armand fort – »Graf Leonin sagte mir immer, es habe die größte Mühe gekostet, nur Eins von den Bildern zu erhalten, die Lesüeur damals machte; und erst, als er seinen Wunsch aussprach, einen Grabstein darnach anfertigen zu lassen, willigte Emmy Gray ein, oder ließ sich vielmehr das eine, ihr minder liebe Bild wegnehmen.«

Während dieser Worte betrachteten Alle das wundervolle Bild des unsterblichen Lesüeur. Jeder entdeckte neue Vorzüge; Jeder fühlte, es sei mit Liebe und Begeisterung bis in die kleinsten Einzelnheiten ausgeführt worden.

[195] Fennimor war in einem weißen, gewässerten Moorkleide gemalt, welches über Schultern und Brust mit Agraffen von bunten Steinen befestigt war. Sie saß auf der von Eichenholz künstlich geschnittenen Bank, die zu dem dazu passenden Lesepulte gehörte, welches, zur linken Seite geschoben, mit Fennimor in Verbindung stand; denn ihre eine schlanke, weiße Hand ruhte darauf und auf dem kleinen Andachtsbuche, worauf man Worte las, die es als das neue Testament bezeichneten. Sie selbst schien sich nur eben davon weggewendet zu haben und sah, en face genommen, ganz aus dem Bilde heraus, mit einer so wunderbar anziehenden Stellung des Kopfes, daß Jeder fühlte, das habe der Maler nicht erfunden – die Natur habe es ihm vorgemacht. Ihre tiefen, blauen Augen blickten mit einem ernsten, begeisterten Feuer; der volle, kindliche Mund, der die schönste Bogenlinie bildete, war so gut und überredend halb geöffnet, daß er erst den Ausdruck der Augen vollständig erklärte; darüber die feine Nase, die wie von Marmor gemeißelt, und ohne dem lieblich runden Gesichte seinen kindlichen Zuschnitt zu benehmen, dennoch ein reines, griechisches Vorbild war. Aber die braunen Locken! Man konnte erkennen, daß sie Lesüeur zur Verzweiflung gebracht hatten. Man hätte glauben können, er habe sie endlich mit Gold übermalt und dann bloß die Schatten hinein gesetzt; sie glänzten wirklich, und die Wellenlinien, die ihre zarte Stirn umgaben, hatten erkennbare, feine goldene Linien. Und dieser Engelskopf ruhte ahnungslos über dem schönsten Körper! Dieser vorgebogene, schlanke Hals, wie fein war er auf den Schultern angesetzt – wie sorglos hielt die Spange die Falten, die über dem Latze die feinen Formen umhüllten! Keine üppige Fülle – eine Psyche, die auf den eben entfalteten Flügeln noch den zarten Blüthenstaub trägt, den selbst Zephir sich zu berühren scheut!

[196] Auf einem kleinen Fußschemel stand ihr linker Fuß ziemlich hoch, so daß die Bewegung des Oberleibes wie darüber hinausgebogen erschien, was ihr einen bezaubernden Ausdruck von kindlicher Naivität gab. – In ihrem Schooße lagen Rosen, als habe sie dieselben im Kleide gesammelt, und die rechte Hand mit dem reizenden Arme, der unter dem Robenärmel vorsah, hielt oder stützte sich auf ein fremdartiges Instrument, das man auf alten Bildern in den Händen der Engel wohl als kleine Harfen sieht. Dieses ruhete in den Falten des lang niederfallenden, reichen, seidenen Gewandes; – und der Hintergrund schien der Purpursammet einer Tapete.

»Ach,« rief Margot – »nie sah ich etwas Aehnliches! Ich wollte, wenn sie lebte, zu ihren Füßen liegen! Sie muß, wenn sie gesprochen hat, die Geheimnisse des Himmels verrathen haben!«

»Aber,« rief Lucile – »sie lebt! Ich sah sie! Ich bitte Dich, Armand – denke Dir, daß die, welche ich in Emmy's Bereiche sah, lebt; daß sie vielleicht eine Verwandte – Gott, daß sie vielleicht Fennimors Verwandte ist! Ich bitte Dich, laß uns daran denken, der Alten näher zu kommen; sie muß uns den Eintritt gestatten – sie darf sich uns nicht länger entziehen!«

»Nein, theure Lucile, laß uns in unserem Eifer nicht zu weit gehen! Ihr könnt mir den Widerstand, den ich, so lange wir hier sind, Eurem Andringen entgegen setzte, nicht als Eigensinn auslegen. Es ist die Heiligkeit des gegebenen Wortes, die mich fest sein läßt! Die unanrührbare Stellung, die mein Oheim dieser armen, gekränkten Seele auch nach seinem Tode zu sichern suchte, war von dem vielen Unglücke, das er verschuldet hatte, das einzige, was in seiner Macht lag, versöhnend zu gestalten. Es war ihm gleich, was aus allen seinen Besitzthümern ward; aber Emmy's Lage zu sichern, mit allen [197] Launen, mit allen Anforderungen und Thorheiten, die sich im Laufe der Zeit bei ihr einfinden konnten, dazu schien ihm keine Instruktion bindend, ausreichend genug; – und wenn er Alles schriftlich und gerichtlich bestätiget hatte, nahm er doch auf eine rührende und mir unvergeßliche Art mich dann noch persönlich in Anspruch, und ich mußte immer wieder aufs Neue ihm das Versprechen geben, sie wie ein Heiligthum zu ehren.«

»Ach, das wollen wir ja eben!« rief Lucile. »Ich will sie ehren, als stände sie wie meine Eltermutter an der Spitze meiner Familie!« –

»Vergiß nicht, meine Theure, daß wir sie nicht nach unserer Weise beglücken oder ehren können! Bedenke, nach dem, was Du weißt, die nothwendige Gestaltung ihres Karakters! – Als ich nach dem Tode des Grafen Leonin ihr zuerst unter meinem Namen ihre Revenüen auszahlen ließ, schrieb ich ihr in englischer Sprache, der einzigen, die sie liest, ich glaube mit dem Ausdruck eines Sohnes an seine Mutter. Ich bat sie, mir zu gestatten, daß ich ihr ausreichendere Pflege senden dürfe; ich bat sie, ihr einen Besuch machen zu dürfen! Alles verfehlte jedoch seinen Zweck. ›Ich will von Euch Allen Nichts, als ungestörte Ruhe, und daß Niemand meine Rechte in diesem Schlosse anrührt!‹ Dies stand kaum leserlich auf einem alten, vergelbten Blatte, das mein Bote mir zurück brachte. Kinder waren dabei die Mittelspersonen gewesen; Niemand hatte Emmy selbst zu sehen bekommen.«

»Beruhige Dich,« fuhr er fort, sich Lucile nahend, die sichtlich durch diese Rede beschämt und verlegen war. »Dein kleines Vergehen, das überdies so spurlos vorüber ging, quält mein Gewissen nicht und belastet Dich weniger, da ich mich vielleicht niemals so ausreichend über meine Verpflichtungen aussprach.«

»Nun,« sagte Margot – »es ist immer gut, daß Ihr es thatet; denn ich gestehe, daß ich noch einen kleinen Groll [198] gegen Euch im Herzen hatte, wegen Eures ungestümen Widerstandes, wie wir am Tage nach der Erscheinung am Fenster, durchaus die Alte besuchen wollten.«

»Gewiß verdiene ich auch Ihre Verzeihung« – erwiederte Armand. »Uebrigens wird es Sie freuen, zu hören, daß mir eine andere Aussicht eröffnet ist.«

»Etwa in dem liebenswürdigen, alten Vikar – oder in Veronika?« rief Lucile. –

»Sie stehen in keiner Verbindung mehr mit Emmy Gray; ich sprach mit Beiden darüber. Die einzige Person, die sie zuweilen sieht, ist ein sehr alter Arzt, dessen tüchtigen Karakter mir die beiden edeln Geschwister sehr loben, und von dem sie glauben, daß er selbst Neigung habe, mich kennen zu lernen. Ich würde ihn schon gesehen haben; aber er hat das Physikat des ganzen Kreises, und ein wichtiges Geschäft rief ihn gerade an dem Tage, wo er sich hatte bei mir anmelden lassen, zu einem fernen Krankenhause dersoeurs grises, in welchem sich bedenkliche Symptome gezeigt haben sollen. Doch enthielt sein Brief eine ziemlich bestimmte Aufforderung, seine Rückkehr abzuwarten.« –

Die ferne Hoffnung auf den alten Arzt tröstete die Damen über ihre kühneren, durch Armand's Festigkeit vereitelten Pläne, und jetzt gewannen sie erst Augen für den Eudoxien-Thurm.

Wir kennen dessen Ausstattung. Fennimor's Sorgfalt hatte zuerst den Zerstörungen der Zeit entgegengewirkt, in derselben Weise fuhr Emmy gewissenhaft in seiner Pflege fort, und so war hier Viel zu betrachten; denn auch der Harfion ruhete in einem Chorstuhle von geschnitztem Holze, und das Betpult der armen Eudoxia, was, von der Zeit gerüttelt, kaum noch wagerecht stand, war dennoch von jeder Spur der Vernachlässigung frei und lange den wehmüthigen Blicken Aller ausgesetzt.

[199] Doch entdeckten sie von hier keinen Ausgang weiter, und man trat den Rückweg an, aufs neue lebhaft von dem Wunsche ergriffen, Emmy in ihrer eigensinnigen und jetzt so geheimnißvollen Einsamkeit nahen zu dürfen.

Zur Zeit der Tafel kam der voraneilende Courier des Grafen von Bussy und meldete die Annäherung der Herrschaften, und die geschickten Diener des Marquis d'Anville meldeten zugleich die vollendete Einrichtung der Gastzimmer. Nach der Tafel bestiegen die Herren ihre Pferde, und die Damen besuchten mit gehörigem Gefolge die Gastzimmer, um eine letzte Uebersicht zu halten und die ihnen nachgetragenen Blumenvasen nach ihrer Anordnung aufstellen zu lassen.

»Begreifst Du den Zustand, in den Leonce gerieth, wie er das Bild von Fennimor erblickte?« fragte Margot ihre Cousine, als sie, auf einen Balkon tretend, sich niederließen, während in den Zimmern ihre Befehle ausgeführt wurden.

Ein rascher, fast neckender Blick aus Lucile's Augen traf Margot, die plötzlich erröthend, ihr Gesicht nach dem geöffneten Zimmer wendete.

»Nun,« sagte Lucile – »was weiter – er ist empfänglich für weibliche Schönheit; und – gestehen wir es nur – diese Fennimor schlägt Alles nieder, was an uns selbst in diesem Fache zu loben sein möchte. Doch trösten wir uns, mein Mühmchen, Bilder sollen uns nicht gefährlich werden!«

»Davon ist auch nicht die Rede,« sagte Margot ziemlich ernst. »Du müßtest ein seltsames Gemüth haben, wenn Armand sogar Deine Eifersucht erregte. Ich denke, Fennimor könnte leben, und Deine Ruhe würde an ihrer Seite doch unangefochten bleiben.«

Lucile lächelte mit inniger Befriedigung. »So ist es, meine holde, kleine Weisheit – und Du hast gut Schlüsse machen, da er selbst Deinen schönen Augen gegenüber den standhaften Prinzen machte.«

[200] »Laß' den Spott, Lucile,« sagte Margot – »wir wollen ein wenig vernünftig reden. Ich gestehe Dir, Leonce gefällt mir nicht – es fehlt ihm Etwas – glaube mir, ich habe ihn schärfer beobachtet, als Ihr Alle!«

»So!« sagte Lucile lachend. »Ein seltsames Geschäft für ein junges Fräulein von achtzehn Jahren! Solche Beobachtungen sind, wenn sie scharf sind, leicht gefährlicher Natur. Was fangen wir an, wenn Du mit so bedenklichen Dingen Dich beschäftigst?«

»Du willst nicht vernünftig sein, Lucile, und ich wäre es so gern einmal. Leonce flößt mir den größten Antheil ein; aber ich fühle, daß ich ihm nicht helfen kann; und da ich sehe, daß Ihr Alle taub und blind seid, so wollte ich Dich darauf aufmerksam machen – vielleicht, daß Armand durch liebevolle Fragen ihm zu Hülfe kommen könnte!«

»Vielleicht,« lächelte Lucile – »daß Du selbst ihm durch einige liebevolle Fragen zu Hülfe kommen könntest, auf die er Dir gewiß die Antwort nicht schuldig bleiben würde. Genug! Du hast Deine Absicht, mein besonderes Interesse für ihn zu wecken, nicht verfehlt; doch so leichtsinnig, wie Du glaubst, waren weder Armand, noch ich. Auch wir sind einig, daß ihm Etwas fehlt, auch wir finden, daß er verändert ist; aber wir finden zugleich, daß wir ihm nicht geben können, was ihm fehlt, und haben längst beschlossen, ihn Dir zu überantworten. Da Du ihn nun so scharf beobachtet hast, so zweifle ich nicht, eine liebevolle Frage Deinerseits wird Dir sein ganzes Vertrauen erwerben.«

»Und Du?« rief Margot, bis unter den Scheitel erglühend, indem sie, ungeduldig mit dem Fuße stampfend, aufsprang – »Du bist heute nicht zu einem vernünftigen Worte tauglich! Ich habe Alles vergeblich an Dich verschwendet und stehe wie ein albernes Kind vor Dir und muß Deine ausgelassene Laune ertragen, als hättest Du Recht!« –

[201] »Wenn Euer Gnaden etwas weiter vortreten, werden Sie den Reisezug der Herrschaften durch das Thal kommen sehen.« sprach der Haushofmeister, sich am Eingange der Thüre zeigend.

Sogleich folgte man der Anweisung, und mehrere Reisewagen, von einigen Herren zu Pferde begleitet, zeigten sich den erfreuten Damen.

Noch ein Mal durchliefen sie die Zimmerreihe, die nun, so viel dies in den Gemächern von Ste. Roche möglich war, ein ansprechendes Ansehen gewonnen hatten, und eilten dann hinab, ihre Gäste zu empfangen.

Heloise von Guiche, die jetzige Gräfin Bussy, war mit Lucile in demselben Kloster erzogen worden, und später hatten sie zu gleicher Zeit ihren Platz als Ehrendamen der Königin erhalten. Oft verschüchtert von den herrschenden Sitten bei Hofe, hatten Beide ihren Trost in einander gefunden und Beide schätzten sich mit der ruhigen Zuneigung, die man allein der Achtung schuldig wird.

Die blonde, jugendliche Heloise hatte die regelmäßige Schönheit, mit der wir nach einigen Augenblicken des Erstaunens fertig werden, wenn wir uns überzeugt haben, daß die Seele, die dahinter lebt, ein eben so regelmäßiger Körper ist, der auf der Außenseite nie eine Veränderung hervorrufen wird, nach der wir doch anfangen uns zu sehnen, wenn wir Zeit behalten, unsere Ansprüche über das Vergnügen der Anschauung hinaus zu richten. Man konnte nichts Vollständigeres sehen, als ihre rein griechische Gesichtslinie, ihr Haar von hochblonder Farbe, ihre bewundernswürdige Hautfarbe und die hohe Gestalt, welche die gewöhnliche weibliche Größe überragte und, von einer antiken Fülle verschönert, immer an die Statuen erinnerte, denen wir die Bekanntschaft mit der alten Götterwelt verdanken. Dazu kam die plastische Ruhe ihrer Bewegungen, die vorzüglich karakteristisch in der Unbeweglichkeit ihrer wunderschönen Arme [202] und Hände hervortrat – genug, sie war eine erstaunenswerthe Erscheinung, der man eher einen Tempel zur Wohnung, ein Piedestal zum Ruhepunkt angewiesen hätte, als das Gesellschaftszimmer und den Fauteuil. Doch war ihr hierzu Alles anerzogen, was nöthig war, und das immer gleiche, verbindliche Lächeln, der Gebrauch, stets leise rieselnd zu sprechen, die große Gefälligkeit, Andere nie durch Fragen oder Gedanken zu belästigen und immer höflich zuzuhören, wenn gesprochen ward, hatten ihr allgemeine Bewunderung erworben. Lucile de Maurepas wußte jedoch, daß außer dieser bequemen, äußeren Erscheinung, ihr ein festes, tugendhaftes Herz inne wohnte, daß sie Gefallsucht und Eitelkeit aus reinem weiblichen Instinkte verabscheute und mit unerschütterlichem Muth alle Verführungen abgewiesen hatte, die an dem Hofe Ludwigs des Fünfzehnten jeder ausgezeichneten Schönheit drohten und leider mit nur zu viel Bereitwilligkeit von den ersten und vornehmsten Familien des Adels entgegen genommen wurden, die eine so hoch herkommende Entehrung aufgehört hatten, unter sich so zu benennen.

Dennoch waren beide Frauen, seitdem Lucile de Maurepas, Marquise d'Anville ward, fast ganz aus einander gekommen, und die bescheidene Heloise, die für Lucile eine beinah schwärmerische Bewunderung fühlte, wagte nicht, sich selbst anzumelden, sondern überließ dies ihrem Bruder, dem jungen Grafen Guiche, der mit Leonce und Armand befreundet war.

»O, Madame,« sagte sie jetzt, von Armand geführt, mit der anmuthigsten Bescheidenheit sich vor Lucile verneigend – »was werden Sie zu meinem Besuche sagen?«

»Daß Sie immer noch dieselbe Treue und Liebenswürdigkeit besitzen, die ich wohl bewundern und lieben konnte, aber nie erreichen!« Hiermit umarmte Lucile die schöne Heloise und stellte ihr Mademoiselle d'Aubaine vor, welche noch nicht präsentirt und der Gräfin Bussy daher fremd war:

[203] »Meine kleine Muhme, die eben so unartig, als schön, eben so gutmüthig, als ausgelassen ist! Wollen Sie sie unter ihren Schutz nehmen?«

»Ach, Madame, wer Ihren Schutz genießt, wird den der ganzen Welt entbehren können, und Ihre schöne Muhme soll mich lehren, wie man Ihren Beifall verdient. – Doch der Graf Bussy wird mir zürnen, ihm so lange den Weg zu Ihnen vertreten zu haben.«

Graf Bussy war eben so schwarz, als seine Gemahlin weiß, und in der Größe überragte er sie bedeutend. Auf seiner breiten Brust ruhte ein Firmament von Sternen; denn er hatte in Spanien mit Auszeichnung gedient, und war Oberster eines Reiter-Regiments. Er hatte den Ernst eines Kriegers auf der breiten Stirn und blickte muthig und freundlich zugleich, wie das eine so schöne Eigenthümlichkeit dieses Standes zu sein scheint; nur seine Lippen waren zu stark emporgedrängt; sie bezeichneten den Stolz der Bussy-Rabutin. Er war der passendste Gemahl für Heloise de Guiche; denn er war sicher, nie seine Heftigkeit durch sie erregt zu sehen, nie Grillen oder Widerspruch begegnen zu müssen, was er Beides nicht gelernt hatte zu ertragen. Dafür schützte er sie, wie eine Mutter ihr Kind. Er hatte eine unablässige Aufmerksamkeit für sie; er umgab sie mit der höchsten Liebe und war glücklich, ihre schüchternen, kaum wahrnehmbaren Wünsche zu errathen und zu erfüllen.

Angenehm ward die Marquise d'Anville durch die Begleitung von der Prinzesse de la Beaume, einer alten Tante der Gräfin Guiche, überrascht, und mit ihr stellten sich Graf Guiche und der Chevalier de Vardes vor, Beide gleich ausgezeichnete Bekannte ihres Gemahls und Schwagers.

Das Audienz-Zimmer der Katharina von Medicis nahm diese angenehm gemischte Gesellschaft auf, und Mademoiselle de la Beaume unterließ nicht, nachdem sie von Leonce Alles [204] erfragt hatte, die Erinnerungen hervorzurufen, die hier so nahe lagen.

»Ueberhaupt, meine liebe Marquise,« fuhr sie fort – »halten Sie sich nicht durch mein weißes Haar gegen meine Neugier gesichert; ich bin mit dem vollständigsten Willen hierher gekommen, sie so viel, als möglich, zu befriedigen! Glauben Sie mir, Versailles vergaß einen ganzen Tag lang, über den neuen Hofstaat der Marquise de Pompadour zu scherzen, als wir unser Glück verkündigten, Ihnen aufwarten zu dürfen; und wer nicht irgend ein Wunder von Ste. Roche zu erzählen wußte, war den Tag nicht de bon ton

»Dem Himmel sei Dank, Madame!« rief Lucile. »Der Marquis d'Anville wird aufs neue Hoffnung fassen für meine noch mögliche Entwicklung, wenn er an Ihnen beobachten kann, daß die höchste Liebenswürdigkeit sich mit etwas Neugier verträgt! Ich war gar zu sehr in Mißkredit gekommen; denn ich hatte denselben Vorsatz, wie Euer Gnaden, und ihn zum Theile schon ausgeführt.«

»O,« rief Mademoiselle de la Beaume – »wie allerliebst, daß ich in Ihnen eine Verbündete finde! Der Marquis ist wahrscheinlich schon mit Allem, was Neugier heißt, durch Sie versöhnt, und wir haben seine Unterstützung sicher. – Sagen Sie mir nur das Eine, ob wir auch ein wenig graulich wohnen werden; denn es wäre doch entsetzlich, wenn wir nicht in der Nacht ein noch nie erlebtes Ereigniß hätten!«

»O, ma princesse,« rief die Gräfin Bussy – »darnach trage ich gar kein Verlangen! Doch, wie kann ich sie annehmen, wo meine theure Marquise herrscht!«

»Theure Gräfin,« lachte Lucile – »bis jetzt beherrschen die Phantasien dieses Schlosses mich mehr, als ich sie! Wir haben uns gestern noch gestanden, daß über uns Alle ein besonderes Wesen gekommen ist, dem Jeder von uns einen kleinen, [205] ungewöhnlichen Tribut zahlen mußte; und wir sahen Ihrer Ankunft mit dem Vertrauen entgegen, in Ihrer Nähe alle unsere Träumereien zu vergessen. Die Zimmer übrigens, die Sie, ma princesse, bewohnen werden, sind leider mit keinem besonderen Attentate bezeichnet. Katharina von Medicis ließ sie für die polnischen Magnaten, die hier vor der Wahl des Herzogs von Anjou ihren heimlichen Besuch machten, einrichten; und außer Liebestränken und goldenen Netzen, wird sich hier nicht Viel nachweisen lassen.«

»Ich hoffe doch!« sagte die heitere alte Dame – »das wird der glorreichen Frau Königin nicht Alles nach Wunsche gegangen sein! Irgend einer von den anwesenden Herren hat sich gegen ihren Willen gesträubt; da ist er denn verunglückt – von dem Altan gefallen – zwischen den Tapeten verschwunden – der Nachttrunk hat ihm einen Schlagfluß zugezogen – geschweige denn die nothwendigen Liebesopfer, die Katharina gerade so, wie Gift und Dolch anzuwenden verstand – genug – ich hoffe, wir erleben etwas!«

»Ich bleibe die ganze Nacht auf,« sagte die Gräfin Bussy – »wenn Sie mich so ängstigen, ma chere tante

»Still, still, mein Engel!« lachte die alte Dame, indem sie sich erhob – »die schönen, polnischen Magnaten werden selbst mit dem Kopf unter dem Arme, Dir den Respekt nicht versagen, den Deine Schönheit befiehlt.«

Alle erhoben sich nun, um im Hofdamen-Zimmer die interessanten Portraits aus jener Zeit zu betrachten. –

Als Margot d'Aubaine am Abende dieses Tages ihre Kammerfrauen entlassen hatte, öffnete sie, wie es ihre Gewohnheit war, das niedere Fenster, das nach dem Burggarten führte, und setzte sich auf den Fensterrand.

So viele Gedanken und Gefühle wogten in ihr! Die großen, feurigen Augen glänzten feucht und blickten so ernst, daß [206] man hier kaum das gaukelnde Kind des Tages wieder erkannt hätte. Da flog plötzlich eine Rose so gut gezielt und so geschickt hinein, daß sie Margot wider Willen in der Hand behielt. »Leonce!« rief sie unwillkürlich; denn – waren ihre Gedanken mit ihm beschäftigt gewesen – war ihr diese Art, sich anzukündigen, bekannt – genug, sie zweifelte nicht, wer es sei.

»Nun Sie mich erkannt, dürfen Sie weder nach Hülfe rufen, noch vor Schreck in Ohnmacht fallen,« sagte er leise – »sondern Sie müssen mir Erlaubniß geben, hinter der Hollunderwand hervorzukommen und mit Ihnen von Herzen zu reden.«

»Das werde ich nicht thun,« rief Margot, ohne sich vom Fenster zu rühren – »ich werde Ihr unschickliches Verfahren nicht aufmuntern.«

»Gut,« sagte Leonce – »so will ich Ihnen die Verantwortung ersparen!« und in demselben Augenblicke saß er vor ihr in der andern Ecke des Fensters, das er von Außen mit einem Satze erreicht hatte.

»Jetzt,« sagte er, lachend die Arme in einander schränkend – »kann unsere Gouvernante die Distancen messen und wird Alles in bester Ordnung erklären müssen.«

Margot senkte den Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen. Sie hatte weder zum Billigen, noch Mißbilligen das Herz.

»Und nun,« fuhr er fort – »theure, liebe Margot, die Masken vom Gesichte! Nein, wenden Sie sich nicht von mir weg! Denken Sie, daß ich diesen tollen Streich, aus meinem Fenster zu steigen, um das Ihrige zu erreichen, gewagt hätte, wenn mir der Gedanke Ruhe gelassen hätte, daß ein Mißverständniß zwischen uns treten könnte? Sagen Sie mir, theure Liebe, erkennen Sie mein Herz? Sind wir uns Beide verständlich geblieben – und vertrauen Sie meiner treuen Liebe?«

Margot schwieg einen Augenblick – dann fuhr sie rasch empor. Beide kleine Hände streckte sie nach ihm aus und rief [207] so innig und zärtlich, wie sie vermochte: »Nein, nein, guter, lieber, edler Leonce, ich verkenne Sie nicht! Mein Herz begreift Ihre Absichten und – lassen Sie es mich gestehen – mit den sichersten Hoffnungen für meine glückliche Zukunft!«

In demselben Augenblicke sprang Leonce auf, und ehe sich Margot besinnen konnte, umschlang er sie und gab ihr einen herzlichen Kuß.

»Ungeheuer!« schrie Margot, außer sich vor Schreck; aber schon saß er ihr in der größten ruhe gegenüber.

»Sie haben Nichts mehr von mir zu fürchten,« sagte er – »aber Ihr allerliebstes Geständniß machte mich zu glücklich!«

»Nun, hören Sie weiter! – – Hören Sie nur,« rief Margot, zitternd vor Schreck – »man hat uns belauscht – wir sind verrathen!«

Auch Leonce hatte auf dem Altan über ihrem Fenster die Thüren öffnen hören und erinnerte sich, daß hier die Zimmer von Mademoiselle de la Beaume waren. »Still!« sagte er leise – »sein Sie ganz still – wir werden durch die Geisterfurcht der alten Dame gerettet werden!«

»Ach, Euer Gnaden,« rief eine zitternde Stimme – »wagen Sie sich nicht so dreist – Sie haben es selbst gehört – es ist nur zu gewiß, nicht hier draußen war das Geräusch – hier innen, hinter dem großen Bilde – ach, mein Gott, lassen Sie mich die anderen Herrschaften wecken, daß sie uns zu Hülfe kommen!«

»Schweig', Thörin,« erwiederte Mademoiselle de la Beaume; – »hier von Außen kam das Geräusch! Ich habe nicht durch tolle Furcht mein Gehör verloren.«

»Ach, so sei Gott Euer Gnaden gnädig! – Nicht einmal den Rosenkranz haben Sie am Arme – nun so soll der meinige Euer Gnaden schützen!« – Jetzt hörte man eine Stimme, wahrscheinlich den Rosenkranz murmeln. Mademoiselle de la [208] Beaume stand indessen auf dem Altan – eine stille, horchende Beobachterin; – und die jungen Leute kauerten unten so eingeschüchtert, daß sie ihren Athem zu fürchten schienen.

»Es ist gewiß, daß von Außen und zwar unter diesem Balkon das Geräusch sich hören ließ,« hob jetzt Mademoiselle de la Beaume mit einer sehr lauten und ernsten Stimme an. »Aber ich sehe ein, daß ich nicht berufen bin, diesem Geheimnisse nachzuspüren; nur das Eine mag man sich nicht einbilden, daß man mich durch Gespensterfurcht von der Wahrheit ablenken kann; – kein überirdisches, sondern ein sehr irdisches Geräusch von Menschen drang an mein Ohr. Komm',« fuhr sie, wahrscheinlich gegen ihre betende Kammerfrau, fort – »ich bin dieser Scene überdrüssig!«

Die Thüren fielen zu. Beide junge Leute athmeten auf; Margot brach jedoch in Thränen aus und rang die Hände. »Ich bin verloren,« rief sie – »es ist klar, daß sie dort oben Alles gesehen und gehört hat – ihre Strafrede war an mich gerichtet! – O, wie unglücklich bin ich durch Ihren unbesonnenen Streich!«

»Fassen Sie sich, Margot!« rief Leonce, besorgt und bekümmert über den Schmerz des guten Kindes. – »Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß Ihr Ruf darunter nicht leiden soll! Ich weiß, daß Mademoiselle de la Beaume ein edles, gütiges Wesen ist; ich eile morgen, ehe wir uns versammeln, zu ihr, und entdecke ihr unser wahres Verhältniß.«

»Nein, nein,« rief Margot weinend – »um Gotteswillen nicht! Ehe mein Vater Alles weiß – ehe er einwilligt und mir vergiebt, darf Niemand darum wissen.« –

»Nun, so müssen wir das ungerechte Mißtrauen eine kurze Zeit tragen! – Jetzt zum Hauptzwecke meiner kühnen That! Ihr Bruder ist von seiner Wunde fast genesen; an ihn, wie an Ihren Vater habe ich geschrieben, und von Ersterem [209] gestern eine völlig genügende Antwort erhalten; er selbst ist auf dem Wege nach Montreal, um Ihrem Vater die Ursache des Duelles selbst zu erzählen und der Wahrheit nach die Schuld des ganzen Vorfalles auf sich zu nehmen; – dann, hoffe ich, werden meine Gründe Eingang finden und dann« – –

»Gehen Sie, Leonce,« rief Margot ängstlich, die Hände vorsteckend; denn sie schien seine schnellen Manieren zu fürchten – »ich höre Ihnen schon viel zu lange zu.«

»Aber,« sagte er neckend – »Sie haben nun doch gerade so lange zugehört, um Alles zu erfahren, was Sie selbst gern wissen wollten. Adio, Mühmchen, jetzt hoffe ich, trocknen Sie Ihre Thränen und träumen von Ihrem Vetter – oder« –

»Fort, fort! Kein Wort mehr!« rief Margot, sprang in ihr Zimmer hinein und schloß, da Leonce im Nu verschwunden war, vorsichtig die Fensterflügel. –

Wer zur Sommerzeit auf dem Lande, in einem Kreise liebenswürdiger Menschen, begünstigt von äußeren Annehmlichkeiten, eine kurze Zeit zubrachte, wird wissen, daß Jahre in der Stadt, mit denselben Menschen verlebt, nicht so zu nähern vermögen, als einige solcher ländlichen Wochen.

Es war, als ob von Allen sich die Hemmungen ablösten, die sich nach und nach in den geselligen Zuständen der Stadt ankünsteln. Der Schlepprock und der Fächer wich dem bequemen Kleide, welches der Promenade, dem Fahren und Reiten und auch dem vorkommenden leichten Sprunge, oder dem geschickten Rennen günstiger war, und der Sonnenhut ersetzte den Fächer, um die Hand frei zu lassen für die kleinen Spiele des Federballes oder der seidenen Reifenschnur. – Die Herren hatten keine Uniformen, keine Orden mehr; der leichte seidene Rock zeigte nur bei Tafel Stickerei und den stählernen Galanteriedegen.

Und wie diese äußeren Pallisaden nach und nach verschwanden, so trat auch Geist und Gefühl ohne Reifrock in [210] natürlicherer Grazie hervor – und die glückliche Mischung der Gesellschaft gab ein ungemein angenehmes Zusammensein.

Dennoch fühlten Margot und Leonce mitunter den scharfen Blick von Mademoiselle de la Beaume; ja, selbst die höfliche und bestimmte Weise, mit der sie das unter der Dienerschaft verbreitete Gerücht einer nächtlichen Störung von sich abwies, enthielt für Beide die demüthigende Gewißheit, daß das Fräulein ihrer Sache sicher zu sein glaubte und sie zu schonen dachte.

Dies trübte zuweilen die Stimmung der kleinen Margot, die – ein Gegenstand von drei gleich eifrigen Bewunderern – sonst ein ganz heiteres Leben führte. Auch waren die beiden jungen Fremden ganz dazu geeignet, Leonce in Athem zu halten, wenn er darauf bedacht war, ihnen den Rang abzulaufen; denn der Chevalier de Vardes war, ungeachtet eines fast häßlichen, von den Pocken verdorbenen Gesichtes, doch in hohem Grade liebenswürdig durch Witz, Heiterkeit und tausend kleine, gesellige Geschicklichkeiten und, wie es schien, von Margot's schönen Augen bezaubert. Gefährlicher aber noch erschien der junge Graf Guiche. Er war seiner Schwester sehr ähnlich, und Beide hätten, ohne Ausstellung der Kritik, für das schöne Geschwisterpaar der alten Götterwelt gelten können. Aber der junge Guiche besaß auch die belebende Schönheit des Geistes und eine würdevolle Ruhe des Karakters, die mit seiner plastischen Schönheit aus einem Gusse schien. Er war nicht, wie Vardes, der haschende, flatternde Schmetterling, der die Blume ewig neckend umspielt – er erinnerte an den Sonnenstrahl, von dem Leonce gescherzt, der ruhig und in gleicher Wärme auf der Knospe ruht, sehnsüchtig ihre geschlossenen Blätter betrachtend.

Es war, als ob Margot vor diesem Blicke, dessen Ursprung sie mädchenhaft zu errathen schien, sich zuweilen zu flüchten suchte, als könne sie ihn nicht mehr ertragen; und als ob sie [211] dann nur bei Leonce Zuflucht fände, so eilte sie zu ihm, der sie immer schon zu erwarten schien. Besonders aber hatte eine unbedeutende Veranlassung die Gefühle des jungen Guiche so sehr verrathen, daß Margot seitdem vor ihm floh, um jede weitere Veranlassung zu vermeiden. Eine Flucht wilder Tauben hatte nämlich die Reiter auf einem Waldwege beinah überfallen, und Margot, die den Zug anführte, war in den ersten Schwarm gekommen und fast von ihnen bedeckt. Ganz außer sich, Alles vor sich niederrennend und stoßend, war Guiche in diesem Augenblicke, wo er sie bedroht hielt, an ihre Seite gestürmt. Er hatte ihren Vornamen mit Accenten einer Leidenschaft genannt, die von Niemandem wieder vergessen wurden; fand aber zu seiner großen Verwirrung ein ganz ruhiges Pferd und eine, nur durch seine Heftigkeit, bestürzte Reiterin, die ihn kalt zurückwies und jede Gefahr abläugnete.

So standen die Verhältnisse, als eines Morgens ein Bote aus Ardoise einen Brief an die Marquise d'Anville brachte, in welchem sich eine Einlage mit der Adresse: »an Miß Elmerice Eton,« befand. Die Tante schrieb der Marquise auf das zärtlichste und liebevollste und bat sie, diesen Brief an ihre junge Freundin Miß Eton abzugeben, von der sie so eben höre, daß sie sich in Ste. Roche bei Mistreß Gray befinde. »Ich sage Dir nicht, was ich wünsche,« fuhr dieser liebenswürdige Brief fort; »denn ich weiß, was meine Lucile nach Empfang dieser Nachricht thun wird; ich wünsche Dir blos Glück zu der Dir und mir gleich unerwarteten Gelegenheit, meine liebenswürdige, junge Freundin kennen zu lernen, und wünsche und hoffe, daß Du ihr die schwermüthige Einsamkeit, mit der sie eine Pietät gegen die alte, ihr wunderbar ergebene Frau zu erfüllen denkt, in Etwas durch Dein Hinzutreten erleichterst.«

Unbeschreiblich war der Jubel, mit dem Lucile, den Brief in der Hand, zu ihrem Gemahle lief. »Jetzt, jetzt, mein [212] Lieber, habe ich den Schlüssel zu Emmy's Heiligthume! Jetzt ist mein Geist erklärt – jetzt kenne ich den schlafenden Engel in Emmy's Gemache – Elmerice Eton ist es, an die ich einen Brief von Tante Franziska in Händen halte!«

Nach einigen Erklärungen theilte der Marquis die Freude über die gute Nachricht und begann mit Lucile Pläne zu entwerfen, wie man sich Elmerice nähern sollte.

Lucile stimmte endlich ein, sich mit Margot nach dem Frühstücke zu Veronika zu begeben und von ihr den Weg zu erforschen, diesen Brief in die Hände der jungen Dame zu bringen; bis dies geschehen und die Antwort erfolgt sei, wollten sie den Uebrigen ihre Entdeckung verschweigen.

Es gab nichts Lieblicheres, als die junge Marquise bei Veronika einkehren zu sehen. Dem Alter gegenüber, entäußerte sie sich all ihrer Vorrechte und war wie ein liebenswürdiges Kind, das, aus der Schule kommend, die Großmutter umschwärmt. Dagegen erschwerte Veronika ihr diese Hingebung auch nicht durch eine frostige oder ironische Zurückhaltung, die so oft, blos aus Hochmuth und Ungeschick zusammengesetzt, geringere Frauen zu den vielen Mißgriffen verleitet, die es den höheren Ständen mit Recht verleiden, ihren Umgang zu suchen; da sie durch solche Manieren, mit anscheinender Uebergehung ihrer menschlichen Verdienste, immer an die Aeußerlichkeiten ihrer Vorrechte erinnert werden, und um so mehr, da einem solchen Benehmen die leicht durchblickende, hochmüthige Versicherung zum Grunde liegt, daß man seine Rechte durch freundliches Entgegenkommen beeinträchtigt fürchte und sich glaube entbehren zu können, wenn nicht von der anderen Seite Alles zuerst geschehe.

Veronika hatte, den höheren Ständen gegenüber, die Naivität eines edeln Naturells, und ihr war in diesem, wie in jedem anderen Stande, Jeder lieb, der etwas Rechtes war; [213] und sie sah keinen Grund, ihr Wohlwollen zurückzuhalten, weil es zufällig einen Adligen traf.

So hatte sie auch mit Lucile und Margot eine Art mütterliches Liebhaben und innige Freude an Beider schönem Naturell. Sie hatte schon gelernt, ihnen eine Freude zu machen; und wenn man durch die Blumenbeete ging, sah man kleine Mützen von weißem Papiere sich auf den schlanken Stengeln schaukeln, und Rose und Nelke, oder sonst eine zarte Blume, mußten ihre Reize schonen, bis die lieben Damen vom Schlosse kamen. Dann führte Veronika sie vor die Beete und nahm den Blumen höflich ihre Mützchen ab; und wenn sie ihr schönes Köpfchen, von der Sonnenglut unversehrt, hervorstreckten, klopften die jungen Frauen vor Freude in die Hände, und Veronika schnitt sie dann vom Stock und machte ihnen zur Tafel Sträuße davon.

Heute saß Jede schon mit ihrem Strauß in der Hand in der kühlen Halle vor Veronika und beeiferte sich, von den lieben Gästen zu erzählen, und Veronika begleitete ihre Erzählung mit Ausrufungen, Fragen und wohlgefälligem Nicken ihres kleinen, weißen Kopfes.

Jetzt erzählte ihr die Marquise von ihrem Besuche bei Emmy Gray. »Auch Ihnen, liebe Mademoiselle Veronika, habe ich meine Sünde verborgen; denn wie mußte ich Ihnen vollends vorkommen, die Sie von allen solchen Thorheiten frei sind.«

»Ach,« lächelte Veronika – »das hat Alles seine Zeit, liebe Marquise! Ich bin alt geworden mit den Dingen dort, und Geheimnisse sind es so eigentlich für mich nicht; – aber irgend wie und wo regt sich in uns Allen einmal die Neugier! Zum Beispiel jetzt, da gäbe ich viel darum, ich könnte einen Blick in die alten Gemächer thun. Denn, sehen Sie, die junge Schönheit, die Sie dort gesehen haben, an der hängt mein Herz, und ihre Lage will mir gar nicht gefallen.« –

[214] »Ist es möglich! Sie kennen Miß Eton – für die wir heut Morgen von Tante Franziska einen Brief empfingen und die Aufforderung, sie aus ihrer Einsamkeit zu ziehen?« –

»Ja, meine lieben Damen, ich kenne sie; – und wer sie kennt, wird sie nie vergessen!« Dann erzählte sie ihnen, was wir bereits wissen, und verschwieg ihnen auch nicht die wunderbare Aehnlichkeit mit Fennimor, welche eben die leidenschaftliche Zuneigung der alten Mistreß Gray erregt habe.

»Aber,« sagte die Marquise – »wie machen wir es nur, um Miß Eton den Brief zuzustellen? Müssen wir warten, bis der alte Arzt zurückgekehrt ist, oder können wir ihn der kleinen Asta anvertrauen?«

»Beides ginge wohl,« erwiederte Veronica; – »aber Anderes habe ich seit lange beschlossen, und diese Veranlassung soll es zur Ausführung bringen. Wollen Sie mir den Brief an Miß Eton anvertrauen, so will ich versuchen, ihn selbst zu übergeben.«

»Wirklich?« riefen Beide überrascht; – »und glauben Sie Eintritt zu erlangen?« –

»Ich werde durch Asta Miß Eton schriftlich darum bitten, sie besuchen zu dürfen; – und fast glaube ich, die Alte wird mich nicht zurückweisen, wenn Miß Eton es für passend hält, meinen Besuch zu wünschen.« –

»Das gebe denn Gott!« rief Margot – »und, liebste Veronika – sehen Sie sich Alles recht genau an; behalten Sie sich Alles, was Sie sehen, und erzählen Sie es uns dann recht genau wieder. Sie glauben nicht, welch Verlangen ich nach diesen Geschichten habe; sie stören oft meine Nachtruhe!«

»Ach,« lachte die alte Veronika schelmisch – »die Nachtruhe wird wohl durch das Getreibe dort nicht in Aufruhr kommen! Ich habe so allerlei gehört, mein kleines, schönes Fräulein, was mir dazu einen anderen Schlüssel giebt. Nun, [215] werden Sie nur nicht so glühend roth, mein Liebchen – es hilft Ihnen doch nichts und es ist zum Freien und Gefreitwerden eine schöne Zeit. Sehen Sie nur, wie prächtig meine Orangen blühen! Weiß Gott, ich schneide Ihnen die schönsten Zweige heraus, wenn Sie mit dem lieben jungen Marquis herunter kommen und sagen: ›wo hast Du nun Deinen Kranz?‹«

Lucile lachte ausgelassen; doch Margot winkte der Alten ungeduldig, zu schweigen, und rief dann Gott und Menschen zu Zeugen ihrer Unschuld. – Da war jedoch Niemand, der ihr glaubte, und sie schalt nun liebkosend die alte Veronika, die mit Lucile fortfuhr, sie auszulachen.


Elmerice führte indessen ihr Schwermuth nährendes Leben mit der ergebenen Schwärmerei fort, die fast von ihrer Gefährtin verlangt und auch durch die wunderliche Situation unterstützt ward. Seit dem Tage, wo wir sie mit Emmy auf dem Wege zu dem Eudoxienthurme verließen, hatte sich ihre schwermüthige Ansicht des Lebens und ihre Abneigung, in die Welt zurück zu kehren, noch erhöht. Nachdem sie Fennimors Bild gesehen, überraschte ihr eignes Spiegelbild sie mit der Aehnlichkeit, und sie weigerte sich von da an nicht mehr, sich für die Enkelin der gekränkten Gräfin Crecy zu halten; aber zugleich hörte sie, daß die unrechtmäßigen Erben gekommen seien, das Eigenthum ihres Vaters in Besitz zu nehmen. – Und als sie die verhängnißvollen Namen erfuhr, flehte sie Emmy aufs Neue an, sie nicht in diese Ansprüche hinein zu ziehen, sondern sie zu schützen und zu verbergen, damit auch jede Berührung mit jenen Bewohnern unmöglich werde.

Doch hatte sich ihr Spielraum im Schlosse erweitert. Der Eudoxienthurm ward ihr Lieblingsaufenthalt. Zur Nacht, [216] wenn gegenüber in dem anderen Flügel des Schlosses die Lichter angezündet wurden, schlich sie an Emmy's Seite auf den kleinen Altan, der von hier in den Hof sah, und blickte in die erleuchteten Räume, in denen sie nach gerade die Verwandten der Gräfin d'Aubaine aus ihrem Betragen zu einander, kennen und unterscheiden lernte. Ach, welche Schmerzen sog sie ein; – wie verfolgte sie besonders das junge, schöne und glückliche Mädchen, das Margot d'Aubaine sein mußte; – und wie hielt sie die, ihr durch den Brief der Gräfin Franziska verrathenen Wünsche der Familie bereits erfüllt, wenn sie die zärtliche Aufmerksamkeit sah, die ihr von ihrem jungen Vetter Leonce zu Theil ward! Sie dachte an Leithmorin, an den Kreis ihrer jungen Freunde, und wie sie damals, wie Margot jetzt, der Gegenstand der Liebe Aller war. Dann kam sie sich alt und von der ganzen Welt verlassen vor und gelobte sich, für das theure Wesen zu leben, das sie mit so uneigennütziger Liebe umfing. Wenn dann die Lichter erloschen, und die geselligen Räume wieder in Dunkel gehüllt waren, blieben Elmerice's Augen noch lange darauf ruhen und schienen immer noch zu sehen, was sich dort eben bewegt hatte!

Mit unermüdlicher Geduld saß ihr Emmy Gray die langen, schweigsamen Stunden gegenüber. Für sie war das Anblicken ihres Lieblings die süßeste Unterhaltung; – und Jahre lang von jeder Mittheilung entwöhnt, hatte sie das Wort nicht mehr nöthig. Aber Elmerice ließ ihren Empfindungen nie so eigennützig Raum, daß sie die Zustände Anderer darüber aus den Augen verloren hätte, liebreich zur Alten gewendet, wußte sie mit ihnen wieder abzuschließen, umihren Ideenkreis zu erfüllen. Dagegen unterrichtete Emmy sie nach gerade von allen Geheimnissen des Schloßbaues; und so hatte Elmerice durch die ganz verfallenen Hofdamen-Zimmer die geheimen Eingänge kennen gelernt, die nach dem Eudoxienthurme und nach den [217] Geheimzimmern der Katharina von Medicis führten. Mit der romantischen Liebhaberei der Jugend suchte sie diese Räume auf und wußte mit Emmy's Hülfe wenigstens, den Jahrhunderte alten Staub und Moder in Etwas zu vertreiben, wenn sie auch ihr Zerstörungswerk, in Gesellschaft der Holzwürmer, nicht mehr aufhalten konnte.

Dennoch waren diese Zimmer eine Ausbeute für den nachdenkenden Geist einer jungen, gebildeten Person. Die unsterblichen Sänger ihres Vaterlandes begleiteten die stolze, italienische Fürstin überall; ihre Werke standen in prachtvollen Einbänden, die, wie Kästchen von kostbarer Arbeit, die Pergamentblätter bewahrten, in Büchergestellen, die, von unverwüstlichem Zederholze kunstreich geschnitzt, ihre Schätze fest zu halten gewußt hatten. Hier fand Elmerice die zu jener Zeit modernen, damals schon vergessenen, französischen Dichter, die alten Minnesänger, die Provençalen mit ihren reichen, poetischen Schätzen; daneben seltene und wichtige Geschichtsbücher, Schriften staatsrechtlichen Inhalts, eine kleine Anzahl geistlicher Bücher: die Lehren der Jesuiten an Könige und Staatsmänner, päbstliche Breven – Auszüge aus Schriften über ihre hierarchische Wirksamkeit; – und endlich eine im Verhältnisse sehr kleine Anzahl Gebetbücher, alle im Geiste der damaligen Zeit, mit herrlichen Miniaturen verziert.

Tagelang fand Elmerice hier Beschäftigung, und ihre Kenntniß der italienischen Sprache ward unwillkürlich wieder erweckt. Dazu kam, daß sie sich hier – wenn sie, von der geheimen Unruhe ihres Herzens getrieben, Fennimors Zimmer verlassen wollte – gesicherter fand; denn den Eudoxienthurm wagte sie nicht wieder zu betreten, da ein Besuch, der sie bis zum Banketsaale geführt hatte, fast mit ihrer Entdeckung geendigt hätte; indem sie es war, deren davon eilende Gestalt Leonce damals an seinen Sinnen zweifeln ließ. – Emmy war [218] fast immer ihre Begleiterin; sie gewöhnte sich, ihre Spindel mitzunehmen und saß Stunden lang neben ihrem lesenden Liebling und genoß vielleicht noch alles Glück, von dem sie je geträumt hatte. Dadurch ward auch im Ganzen ihre Seele milder, sie verlor ihren starren Willen; ja, sie schien oft zu wünschen, ihre stille, engelgleiche Gefährtin möchte ihr irgend einen Befehl geben, eine Anordnung treffen, der sie sich fügen könne. Aber sie ahnte nicht, wie klein die Wünsche eines Herzens sich zusammen falten, das, in seiner stärksten, jugendlichen Empfindung zurückgedrängt, sich überdies gekränkt und verrathen glaubt.

So umsonst schien ihr jeder Besitz – so gleichgültig vor Allem, was ihr davon zu Theil ward, daß, was sie empfing, immer ausreichend war und ihre Wünsche und Ansprüche überbot!

Als sie Veronika's Briefchen erhielt, fragte sie Emmy, ob sie wolle, daß sie die gute Alte empfinge; Emmy glaubte einen Wunsch zu errathen und willigte augenblicklich ein.

Wie wenig Veronika auch die Empfindungen der Madame St. Albans theilte, konnte sie doch kaum ihr Erstaunen unterdrücken, als sie die Veränderung wahrnahm, die hier vorgegangen; denn obwol Veronika seit Fennimors Todtenfeier nie mehr das Schloß betreten hatte, so kannte sie doch durch ihren alten ärztlichen Freund die bisher hier herrschende Einrichtung hinreichend.

»Ja, ja, Veronika, die Zeit hat Euch nicht verschont,« sagte Emmy, von ihrer Spindel aufblickend; – »ich kann es bezeugen, Ihr blühtet wie Eine! Mein Engel sagte oft, Ihr wäret ein wahres Röschen; – und sie hatte doch an sich den Maaßstab, was dazu gehörte, denke ich!«

»Nun, Emmy, was thut es?« rief Veronika heiter – »mir ist mein Alter bequemer, wie meine Jugend! Ich hatte ein Hasenherz in der Brust und fürchtete mich vor jedem dreisten [219] Blicke, daß ich in die Wälder hätte rennen mögen! Jetzt, Emmy, läßt mir mein weißes Haar schon Ruhe. ›Da kömmt die alte Veronika,‹ höre ich sagen; man grüßt und dankt und nimmt von mir, ohne mich dabei zu beäugeln. Da bin ich meinerseits viel freundlicher und redseliger, und mir ist damit eine Bürde von den Schultern.«

»Soll wohl sein!« erwiederte Emmy; – »und lang ist es auch, daß wir uns nicht sahen! Ihr habt damals Viel für meinen Engel gethan – und zuletzt die kleinen weißen Glieder in den Sarg gelegt – ich danke Euch dafür, Veronika!«

Selbst mochte sie fühlen, wie verspätet dieser Dank nachkam; denn prüfend blickte sie zu Veronika auf und suchte, weiter sprechend, ihre Gedanken zu errathen. »Ein später Dank, nicht?« fuhr sie fast freundlich fort. »Nun, Jeder hat seine Art – und Emmy's Art wird nicht Vieler Art sein!« –

»Doch jetzt lebt Ihr auf, Emmy, und unser liebes Fräulein giebt Euch dazu Veranlassung. Nun, das ist schön! Euch ist eine Herzenserquickung wohl zu gönnen!«

Mit diesen Worten verließ sie Emmy, welche ihr wohlgefällig nachsah, und setzte sich zu Elmerice, die sie noch ein Mal herzlich begrüßte.

»Eine rechte Herzenssehnsucht hatte ich nach Ihnen, mein liebes Kind,« sagte Veronika; – »aber ich weiß wohl, wie es hier steht; man darf nicht viele Versuche machen; – doch, hoffe ich, geht es Ihnen gut.«

»Ja, gut! Gewiß, sehr gut! sagte Elmerice bewegt; – so viel Liebe, wie mir hier entgegentritt – wie sollte sie mich nicht beglücken!«

Emmy erhob sich bei diesen Worten und verließ das Zimmer; Veronika übergab Elmerice den Brief der Gräfin d'Aubaine und legte ihr den Wunsch der Schloßbewohner vor, sie bei sich in ihren Kreis aufzunehmen. Elmerice erröthete und [220] erblaßte abwechselnd so oft bei diesen Worten, daß Veronika besorgt nach ihrer Gesundheit fragte.

»Sie ist vollkommen gut,« antwortete Elmerice, mit gesenkten Augen und kaum Athem findend. »Der Brief meiner theuren Gräfin bewegt mich nur!« –

»Ei, ei, mein Kind, Sie sind doch sehr reizbar, wie mir scheint! Es kann ja nur Liebes und Gutes darin stehen. Aber ich sehe wohl, die weise Dame hat Recht! Sie ist sehr besorgt um Ihr einsames Leben; und wünscht lebhaft, Sie in den Kreis ihrer Familie aufgenommen zu sehen.« –

»O, niemals, niemals!« rief Elmerice heftiger, als sie selbst wollte. »Nein, theure Veronika,« setzte sie dann gefaßter hinzu – »hier werde ich bleiben – hier ist mein Platz! Wenn ich diesen verließe, müßte ich augenblicklich zur Gräfin d'Aubaine zurück. Diese heiteren, geselligen Kreise sind nicht für mich; – ich fühle die entschiedenste Abneigung dagegen! Nein, ich bitte Sie, Veronika, vermitteln – entschuldigen Sie meinen unwiderruflichen Entschluß, hier in der Einsamkeit bei Emmy Gray zu leben und jeden Umgang abzulehnen, der meine alte Freundin beunruhigen könnte und ihren kaum gemäßigten Gemüthszustand aufs neue aufregen.«

»Das ist sehr edel, mein Kind – sehr aufopfernd,« sagte Veronika; – »doch thut es mir herzlich leid, daß Sie sich selbst dabei so ganz vergessen. Emmy Gray hat eine wunderliche Art und Weise – wird es auch die rechte sein für ein junges, reizbares Wesen, wie Sie?«

»Zweifeln Sie nicht,« sagte Elmerice – »es ist kein Opfer – ich bleibe gern, aus eigner Neigung; – ich würde jetzt sogar weniger gern zur Gräfin d'Aubaine zurückkehren.«

»Und doch,« sagte Veronika – »wenn Sie die lieblichen Frauen dort nur kennten, würden Sie es vielleicht nicht so bestimmt ablehnen, mit ihnen umzugehen. Ach, die Marquise, [221] wie müßte sie zu Ihnen passen! Ich habe eine rechte Liebe zu ihr; – und von der kleinen, holden Margot könnte ich mir ordentlich Aufheiterung für Sie versprechen; denn das liebe Kind ist ein Bild des Glückes und der Heiterkeit.«

»Ach, dann paßt sie nicht zu mir,« rief Elmerice, in Thränen ausbrechend – »und ich muß ihre Nähe fliehen, um ihr Gemüth durch meine Schwermuth nicht zu verletzen.«

»Liebes Kind,« rief Veronika – »wie sind Sie so unglaublich hypochondrisch – wie beunruhigt mich Ihre Stimmung, und wie ganz anders würde sie sein, wenn Sie ein wenig Theilnahme hätten für meine jungen Freunde! Sie, die Alles so mitfühlen – wie würde Sie eine glückliche Ehe, wie dort an Zweien zu sehen ist, erfreuen; – und dann das Andere, was im Werke mit der kleinen Margot! Man sagt, sie ist die Braut des Marquis Leonce; und das sieht sich doch hübsch mit an, wenn so gut geartete, junge Leute sich lieb haben und endlich suchen und finden!«

»Genug, theure Veronika!« sagte Elmerice plötzlich kalt und ernst. »Ich bitte Sie um die Erlaubniß, während Ihrer Anwesenheit einige entschuldigende Worte an die Frau Marquise schreiben zu dürfen, die Sie ihr dann in meinem Namen geben wollen.«

»Also keine andere Entscheidung?« sagte Veronika, schmerzlich getäuscht. »Das paßt doch kaum zu der Güte und Sanftmuth, die ich an Ihnen kenne! Was ist das, mein liebes Kind? Sein Sie offen; – hat Emmy schon in Ihrer schönen Seele Unheil angerichtet?«

»Vielleicht,« sagte Elmerice, mit einem unverkennbaren Anfluge von Stolz – »vielleicht würden Sie mir selbst rathen, so zu handeln, wenn es mir erlaubt wäre, Ihnen die Gründe auszusprechen, die mich dazu bestimmen. Emmy Gray hat keinen Einfluß auf meine Abneigung, mich dieser Familie [222] anzuschließen; und der Werth derselben, von dem ich selbst überzeugt bin, vermag eben so wenig meinen Entschluß zu ändern. – Meine Achtung für Sie und Ihre Theilnahme kann es allein entschuldigen, daß ich so Viel sage; nehmen Sie es jedoch wie ein Geheimniß zwischen uns!«

Veronika blickte wehmüthig in die wunderschönen Züge des tief bewegten Mädchens. Sie hatte sie noch nie so gesehen; aber es lag eine solche Wahrheit der Empfindung, ein so fester Entschluß, ein so edles Selbstgefühl in ihrem Wesen, daß Veronika sich überzeugt fühlte, sie müsse so handeln; – und großmüthig gab sie ihre Absicht auf, den Vorsatz des jungen, verlassenen Mädchens zu erschüttern.

»So gebe Gott, daß es das Rechte ist!« sagte sie liebevoll; – »ich will mir nicht anmaßen, ferner darüber urtheilen zu wollen. Gehen Sie, mein Kind – schreiben Sie Ihren Brief an Madame d'Anville, ich werde Sie hier erwarten.« –

Als sich Elmerice vor Fennimor's kleinem Schreibtische niedersetzte, forderten die zurückgedrängten Empfindungen des jungen Mädchens ihren Tribut. In Thränen ausbrechend, fühlte sie noch ein Mal die namenlose Größe ihres Entschlusses; und die heißesten Schmerzen der Jugend – die eines gekränkten und verrathenen Herzens – waren hier in der Einsamkeit nicht in demselben Maaße, wie eben vor Veronika, von ihrem edeln weiblichen Stolze behütet; – sie verlangten noch ein Mal ihre ganze Herrschaft über dies junge Herz! –

Wir wollen die Minuten nicht zählen, die ihr so vergingen, und denken, daß sie sich schnell genug zu retten wußte, da sie, gegen sich selbst treu und wahr, immer von dem edeln Stolze beseelt ward, dessen Element die Selbstachtung ist.

»Fennimor,« sagte sie, sich aufrichtend – »Dich konnte in Deiner hohen, menschlichen Stellung Keiner erreichen, der mit dem Scheine der weltlichen Vorrechte Dich blenden und [223] verschüchtern wollte. Du bliebest, was Du warst – ein erhabenes Vorbild Deiner standhaft behaupteten Rechte! Ich bin Deine Enkelin, und so wahr mir Gott helfe, ich will vor Deinem Andenken nicht erröthen müssen!«

Sogleich schrieb sie:

»Euer Gnaden haben, veranlaßt durch die Aufforderung der Gräfin d'Aubaine, mich mit der Erlaubniß beehrt, Ihnen aufwarten zu dürfen. Indem ich dem Ausdrucke meiner größten Verehrung für Euer Gnaden, die Versicherung meiner Dankbarkeit hinzufüge, bin ich zu gleicher Zeit genöthigt, diese Auszeichnung ablehnen zu müßen, da meine augenblicklichen Verhältnisse mir jede Veränderung meiner Lebensweise verbieten.«

»Voll Hochachtung mich empfehlend

Elmerice Eton.«


Ein stolzes, mitleidiges Lächeln überflog Elmerice's schönes Gesicht, als sie ihren Namen unterschrieb; und sie ging mit diesem Briefe in der Hand, festen Schrittes zu Veronika zurück, die sie an Emmy's Seite und vertraulicher mit ihr redend fand, als die alte, harte Frau es wohl wenige Wochen früher für möglich gehalten hätte. Auch war ihr eine gewisse Verlegenheit anzumerken, als Elmerice vor ihnen stand. Sie war selbst überrascht, in die gewöhnliche Menschenweise übergegangen zu sein; – ja, es schien ihr vor Elmerice, als habe kein Anderer ein Recht an sie – als sei sie ihr damit zu nahe getreten.

»Nun, nun,« sagte sie – »meinem Engel gehört meine Zeit und Alles, was so eine alte Frau von Liebe noch in ihrem Herzen hat. – Ihr seid eine Schwätzerin geworden, Veronika; – und mit Zuhören und Antworten kömmt denn so Etwas heraus!«

Gutmüthig lächelte diese, wohl verstehend, was in Emmy vorging, und war daher auch zugleich bereit, ihren Besuch zu beendigen, um nicht einen Eindruck hervorzurufen, der ihrem [224] Wiederkommen hinderlich würde, was sie Elmerice's wegen, die ihr bedenklich gestimmt erschien, herzlich wünschte.

Aufs neue aber betrübte sie die abschlägliche Antwort ihrer jungen Freundin, als sie die liebenswürdige Ungeduld der Marquise d'Anville sah, die sich bei Lesung des kleinen Billets bald in gutmüthige Besorgniß auflöste.

»Meine liebe Veronika,« rief sie – »was werden wir nun machen? Das thut nicht gut. Die Antwort ist eben so höflich, als kalt abweisend – sie verdeckt etwas! Meine Tante Franziska wird sehr beunruhigt werden, und wir dürfen, fürchte ich, unsere Bemühungen noch nicht aufgeben.«

»Lassen Sie uns warten, bis der alte Arzt kömmt,« sagte Veronika sinnend. – »Er ist nicht umsonst in so hohem Alter; vielleicht fällt ihm das Rechte ein. Auch hat er den Ungestüm, der oft recht wohlthuend Bahn bricht da, wo feinfühlende Menschen lange vergeblich umher gehen.«

Die Damen saßen in dem Salon, in welchem man sich zur Mittagstafel versammelte. In diesem Augenblicke trat Leonce ein, und erfreut, Veronika zu sehen, eilte er, an ihrer Seite Platz zu nehmen.

»Wenn Sie Anderes im Sinne hätten, als Margot zu necken und mich damit zu kränken,« rief Lucile – »würde ich Ihnen mein Vertrauen schenken; – aber so« – –

»Versuchen Sie es,« erwiederte Leonce freundlich – »ich bin nicht so ganz in einer Richtung verloren, daß ich nicht durch Sie in eine andere übergeführt werden könnte.«

»Nun,« sagte Lucile – »so will ich es versuchen!« Mit einigen Worten unterrichtete sie ihn von dem Briefe der Gräfin d'Aubaine und von den Schritten, die sie durch Veronika gethan hatte. »Doch sehen Sie – das ist das ganze Ergebniß unserer Bemühungen« – fuhr sie fort und reichte ihm das Billet, was ihr Veronika gebracht.

[225] Sie hatte nicht Ursache, ihrem jungen Verwandten über Mangel an Theilnahme zu zürnen. In sprachlosem Erstaunen, schien es, hörte er ihr zu, und lange hielt ihm Lucile das Billet hin, ehe er es nahm. »Weiß Gott,« rief die Marquise – »er hat von unserer ganzen Mittheilung Nichts gehört und erwacht jetzt aus irgend einem Traume!«

»Nein, nein!« rief Leonce, schnell aufstehend – »Sie thun mir Unrecht – ganz Unrecht! Ich bin aufs tiefste von Ihren Mittheilungen bewegt; – ein so junges, schönes, von unserer Tante geliebtes Wesen in unserer Nähe zu wissen und ihr nicht all' die Aufmerksamkeit beweisen zu dürfen, die sie verdient – in zweifelhaften Verhältnissen sie zu denken – unter der Aufsicht einer vielleicht Geisteskranken – es ist unerträglich! ganz unerträglich! Lucile, Sie können nicht wollen, daß ich dabei gleichgültig bleibe. Theure Veronika, helfen Sie uns; – ich könnte den Verstand verlieren, wenn ich an die Lage des jungen Mädchens denke!«

Außer sich, drückte er dabei das Billet in seinen Händen und stürzte an das fernste Fenster, um es zu lesen.

Lucile sah ihm einen Augenblick ziemlich erstaunt nach; als sie ihren Blick abwendete, sah sie auf Veronika's Gesicht dasselbe Erstaunen ausgedrückt. »So sind die Männer, meine Liebe,« sagte sie lächelnd – »immer über das Maaß hinaus! Aber das macht die Verehrung für Tante Franziska!«

In demselben Augenblicke erschien der Vikar und die übrigen Gäste, und man begab sich zur Tafel. Doch war Leonce nicht, wie sonst, die Seele der Unterhaltung. In der größten Unruhe schien er die Dauer der Tafel zu ertragen und bald, nachdem sie aufgehoben war, verließ er die Gesellschaft. – –

Ein Gewitter, welches mit erquickendem Regen den Nachmittag anhielt, verhinderte einen beabsichtigten Besuch in der schönen Abtei Tabor; und nach einer Zerstreuung suchend, [226] machte die alte, unternehmende Prinzessin de la Beaume Allen den Vorschlag, die verschobene Besichtigung des Schlosses zu unternehmen.

Als man, mit Sorgfalt vorschreitend, den Banketsaal erreicht hatte und hier von dem ziemlich bekannten unglücklichen Ereignisse an Ort und Stelle sich theilnehmend unterhalten hatte, zeigte der Marquis d'Anville den Damen an, daß er die mit eisernen Schlössern und Querbalken verwahrte Thür zu den ehemaligen Gemächern der Katharina von Medicis habe wegnehmen lassen, und daß es in ihrer Macht stehe, sie zu betreten.

Alle hielten einen Augenblick inne. Was in ihre Willkür gestellt war, ward nun erst ein Gegenstand ihrer zweifelhaften Ueberlegung, und Lucile, die es veranlaßt, durfte als Frau vom Hause nicht, wie sie wünschte, entscheiden; da besonders das schöne Gesicht der Gräfin Bussy zu Marmor erblaßt war.

Endlich erklärten die Herren, sich theilen zu wollen. Einige wollten die Zimmer betrachten, die ihre Neugier reizten und so leicht erreichbar nun vor ihnen lagen. Andere wollten bei den Damen in dem düsteren Banketsaale bleiben. Lucile bat, sich den Herren anschließen zu dürfen, die die weitere Forschung wagten, und trat, von ihrem Gemahle, von dem Grafen Bussy und dem Chevalier de Vardes begleitet, vor die verhängnißvolle Thür.

»Nun, Lucile?« fragte der Marquis d'Anville; – denn so leise sie Alle zur Thüre geschlichen waren, stand doch Lucile mit dem Drücker der Thür in der Hand und wagte nicht einzutreten. »Willst Du Deine kleine Hand als Riegel da vorgeschoben lassen und uns den Muth benehmen, diesen wegzuschieben, wie wir mit jenen eisernen thaten, die, von Rost zerfressen, wenig Widerstand leisteten?«

»Gleich,« sagte Lucile mit leiser Stimme und wendete ihr holdes Gesicht, zwar lächelnd, aber seiner frischen Farbe [227] beraubt, zu ihrem Gemahle – »mir war eben, als hörte ich sprechen!« –

»Dann tritt zurück, mein theures Kind, es greift Dich dennoch an. Die Phantasie rächt sich für Deine kühne Herausforderung!« –

»Nein,« sagte Lucile – »sie soll nicht stärker sein, als ich!« – Die Thür öffnete sich, Alle traten in ihren weiten Bogen ein – und Allen widerfuhr dasselbe: ein an Schrecken grenzendes Erstaunen.

Wir wurden schon ein Mal, an Fennimor's Seite, in dies Geheimzimmer der Königin Katharina geführt, und werden uns an die eigenthümliche, finstere Pracht desselben erinnern können. Es war wohl geeignet, wenn das Andenken der grauenvollen Bewohnerin den Geist ergriff, eine Bewegung des Schreckens zu rechtfertigen, da, wo die Spuren ihrer Missethaten noch so vollständig erhalten waren! Aber wie sehr mußte sich für Alle der Eindruck steigern, als hinter dem großen Schreibtische der Königin, der auf weißem Marmor ruhend, vollständig erhalten war, eine wunderschöne, weibliche Gestalt aufgerichtet stand, die, todtenbleich und mit starren Augen auf die Eintretenden blickend, ganz einem schönen Geiste glich, der in diese unzugänglichen Räume gebannt war. Dazu kam die fremdartige Kleidung, die niederhängenden, glänzenden, braunen Locken, ohne die Entstellung der damaligen Frisur, das schöne Mieder von weißer Seide, mit den kostbaren Juwelen-Spangen, das sich anschmiegende, in reiche Falten niederfallende Kleid, das die Form des Körpers nicht entstellte, der Aermel, der aufgeschnitten hinten über hing und den schönen Arm, die schlanke, weiße Hand enthüllte, die auf der Lehne des Stuhles ruhete, während die andere fast krampfhaft in die schwarzen Marmor-Schnörkel der Tischeinfassung griff. Dahinter saß, in schweren grauen Damast gekleidet, ein Wesen im höchsten Alter, spukhaft [228] von Ausdruck, das weiße Haar von einer fremdartigen, kleinen Haube kaum bedeckt. Die Spindel und der Faden in der dürren Hand schien versteinert; sie selbst, wie die jugendliche Gestalt, ohne Athem und Leben!

Wir werden begreifen, daß hier ein lautloser Augenblick eintrat, in welchem Niemand etwas Anderes, als anblicken konnte. Doch mit der größeren Leichtigkeit des Geistes, die den Frauen eigen ist, sich in den Zuständen zurecht findend, war auch Lucile die Erste, die sich dem schönen Wunder nahete. Mit dieser Annäherung schien das Leben in dem reizenden Geiste wiederzukehren! Die Brust hob sich, ängstlich flog der Athem über die Lippen, und die erste Bewegung war, daß der schöne Kopf mit seiner Lockenfülle sich auf den Busen senkte.

Lucile blieb bei diesen Zeichen einer großen Gemüthsbewegung einen Schritt noch von ihr, besorgt stehen; da erhob sich die Alte und vorschreitend und die Marquise mit den Augen bewachend, rief sie rauh und streng: »Fürchte Dich nicht, mein Engel! Sie dürfen Dir Nichts thun, sie haben kein Recht an Dir.«

Noch immer schwieg die junge Person, obwol sie die Hand von dem Stuhle zog und sie leise, wie abwehrend, gegen die Alte aufhob, die sogleich verstummend zurücktrat.

»In welcher Weise dürfte auch Miß Eton ihre Freunde fürchten?« fragte nun Lucile mit dem gewinnenden Laut ihrer Stimme; – »denn so stolz sie sich uns auch entzogen hat, darf ich dennoch nicht zweifeln, daß mir der Zufall günstig ist, und ich die Freundin meiner Tante d'Aubaine vor mir sehe. Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Gemahl, den Marquis d'Anville, vorzustellen.«

»Madame,« sagte Elmerice, noch immer mit bebender Stimme – »entschuldigen Sie meine Ueberraschung! Ich ahnte nicht, Ihnen in diesen verödeten Gemächern hinderlich werden zu können!«

[229] »Das möchte auch in Wahrheit unmöglich sein,« rief der Marquis d'Anville. »Was könnten wir uns für einen glücklicheren Zufall wünschen, da er unser lebhaftes Verlangen erfüllt, uns Ihnen vorstellen zu dürfen.«

Elmerice verneigte sich mit einer so edeln Würde, daß der Marquis das Wort, welches ausblieb, nicht entbehrte.

»Aber jetzt,« sagte Lucile, während sie Elmerice ganz nahe trat und die schöne, kalte Hand von den Marmorblumen, die sie noch immer festhielt, wegzog; – »jetzt haben wir Sie, und Sie werden sich uns nicht mehr entziehen können – oder wenigstens abwarten müssen, ob wir uns nicht Ihre Gesellschaft verdienen!«

»Madame,« sagte Elmerice, die ihre Besinnung wieder zu erhalten schien; – »ich war so frei, Euer Gnaden meine nothwendige Bestimmung darüber mitzutheilen. Wenn ich jetzt den Muth habe, sie zu wiederholen, muß ich es mir selbst zum Verdienst anrechnen, da ich das Glück Ihrer persönlichen Bekanntschaft genieße.«

»Wie, Sie wollten nicht mit uns leben?« sagte d'Anville, gutmüthig näher tretend; – »o, versuchen Sie es! Wir sind alle jung, heiter, ich darf sagen, gut geartet. Warum wollten Sie nicht in den Kreis eintreten, zu dem Sie in jeder Beziehung gehören?«

»Ich habe eine heilige Pflicht gegen eine theure, alte Freundin übernommen;« erwiederte Elmerice; – »ich darf mich davon nicht ablenken lassen, wie ehrenvoll es auch sein müßte, Ihre Güte anzunehmen.«

Da zuckte sie zusammen; denn auf ihre weiße Schulter legte Emmy Gray die verknöcherte Hand, und sagte in ihrer gebrochenen Redeweise: »Kind, Kind, stoße diese dort nicht zurück, sondern tritt ein in ihre Kreise und siehe zu, was sie beschließen werden. Wohl gehörst Du zu ihnen, und ich muß Dich dort wissen, ehe mein letzter Tag kömmt.«

[230] Elmerice wendete sich und sprach, wie es schien in englischer Sprache, leise bittend zu ihr, während der Marquis sich der Alten nahte.

»Mistreß Gray,« sagte er freundlich; – »erlaubt, daß ich Euch in Ste. Roche willkommen heiße. Immer habt Ihr meinen Besuch abgelehnt; und doch hätte ich gern selbst nachgeforscht, ob es mir nicht möglich wäre, Euch irgend eine Erleichterung Eurer Lage zu verschaffen.«

»Laßt das, Herr,« sagte Emmy trocken; – »Ihr habt keine Macht, mir Etwas zu gewähren; mit Eurer Familie habe ich abgeschlossen! Ich wohne in dem rechtmäßigen Erbe meiner ehemaligen Gebieterin und weiß vollständig, was mir darin zustehet, zu meiner Erleichterung zu verfügen. – Fragt, ob Emmy Gray Euch hier willkommen heißen mag!«

Diese Rede schien Niemanden, als Elmerice zu verletzen. Alle waren auf Emmy's abenteuerliche Weise so vorbereitet, daß ihnen auch Stärkeres erwartet gekommen wäre.

»Thut es immer, Mistreß Gray,« antwortete der Marquis, ohne das ironische Lächeln, mit dem verletzte Eitelkeit sich herablassend zu rächen weiß, wenn sie sich anscheinend zu bezwingen sucht – »Ihr werdet mir dadurch mehr Eigenthums-Gefühl geben, als ich bis jetzt empfinden konnte.«

Emmy blickte trübe zu ihm auf; und dieser Blick, der aus den tief gesunkenen Augen drang, war scharf und klug.

»Wir werden sehen, – ich werde ja hören, wie Ihr seid,« sagte sie dabei; – »Louise, Eure Mutter, war so übel nicht – Lesüeur rühmte sie oft; – nun, wir wollen sehen!« –

»Und Sie?« – fragte nun Lucile, mit Armand herzlich zu Elmerice tretend. »Selbst Ihre alte Freundin, der Sie sich so großmüthig widmen, redet unserem Vorschlage das Wort – und Ihre jugendlichen Wangen, die blässer sind, als sie sollten, fordern Sie gleichfalls auf, unter Menschen zu [231] leben, die mit ihrer Heiterkeit versuchen würden, ihnen wieder Farbenglanz zu geben.«

»Ach Madame,« erwiederte Elmerice, fast überwältigt von der Qual dieser dringenden Anforderungen; – »wie wenig passe ich in Ihre harmlos glücklichen Kreise! Glauben Sie nicht, daß ich Ihre Güte weniger empfinde, wenn ich sie ablehne; aber ich muß mir diese Zurückgezogenheit als eine Güte von Ihnen ausbitten. Vielleicht haben Sie Recht; – und mein krankes Ansehen verräth nur zu sehr, daß ich leidend bin und also der Ruhe bedarf.«

Lucile und Armand betrachteten mit dem größten Antheile das schöne Wesen, das so berechtigt erschien, durch die Vereinigung von Geist, Bildung und äußerm Reize! Ihre Weigerung war keine eigensinnige, ungeschickte Laune; sie kam tief aus ihrem Herzen, sie schien dabei zu leiden – das fühlten Beide. Sie konnten ihre Bemühungen nicht aufgeben!

»Wir wollen nicht unbescheiden werden,« rief Lucile – »Sie sollen in Ihre Einsamkeit zurückkehren können, wenn Sie wollen; nur müssen Sie uns nicht ganz verwerfen, Sie müssen uns alle erst kennen lernen, genug, ich muß eine kleine Brücke zu Ihnen hinüber haben; denn schon jetzt fesseln Sie mein ganzes Herz, und ich könnte Sie nie wieder vergessen!«

Diese letzten Worte erschreckten Elmerice fast, denn sie sprachen aus, was sie gegen die Marquise anfing zu fühlen. Beide blickten sich daher mit zärtlicher Ueberraschung an, und ohne es selbst zu wissen, folgte sie der liebenswürdigen Frau, die sie sanft mit sich zog. »Sie finden in den Nebenzimmern alle meine Freunde, die wahres Verlangen tragen, Sie zu sehen, und entzückt sein werden, Sie kennen zu lernen.«

Jetzt erst, wie sie sich mit diesen Worten der Thüre näherten, an der Bussy und Vardes in sprachlosem Erstaunen stehen geblieben waren, erinnerte sich Elmerice ihrer auffallenden [232] Kleidung. Sie zögerte abermals und rief ängstlich: »Madame, betrachten Sie mich! Ich kann in dieser Kleidung nicht vor Ihren Freunden erscheinen; – ich legte sie an,« fuhr sie beschämt und verwirrt fort, »um dem Herzen meiner alten Freundin wohl zu thun, die damit ihr heiliges Erinnerungsfest feiert; – aber dies, wie mein ganzes Verhältniß, war auf die tiefste Einsamkeit berechnet – setzen Sie mich nicht dem Tadel oder dem Spotte Anderer aus!« –

»Nein, nein, Alle werden entzückt sein, das herrliche Kostüm zu sehen – Allen werde ich erklären, wie es zusammenhängt – Niemand wird diese fromme Nachgiebigkeit verkennen.« –

Vardes hatte schon die Thüre geöffnet; – sie standen in derselben der aus den entfernteren Gemächern zurückkehrenden Gesellschaft beinahe gegenüber.

Da fühlte Elmerice, daß jedes Zurücktreten unmöglich sei, und ihr edler Stolz erwachte. Sie wollte ihre vollkommene Herrschaft über sich wieder haben – und die Anstrengung gelang.

Doch wer könnte das Erstaunen der Gesellschaft beschreiben, als aus den Zimmern der Katharina von Medicis, an der Hand der Marquise d'Anville, eine wunderbare Schönheit hervortrat, deren Kostüm, jener Zeit gehörend, vereinigt mit ihrem marmorblassen Gesichte, sie als eine aufgefundenen Bewohnerin aus diesen Räumen eines vergangenen Jahrhundertes erscheinen ließ! Niemand regte sich von seinem Platze; Elmerice hatte Zeit, Alle zu erkennen. Margot war nicht dabei; sie lehnte seitwärts an einem der merkwürdigen Schränke des Saales, und vor ihr, den Rücken gegen die Eintretenden gewendet, stand der Marquis Leonce, zu eifrig redend, um zu gewahren, was hinter ihm vorging.

»Wir sind so glücklich gewesen, mehr und Besseres zu finden, als wir suchten,« sagte der Marquis. »Miß Eton – [233] die Freundin meiner Tante Franziska, die sich uns so spröde entzogen hat.«

Jetzt mußten die Damen sich eingestehen, daß das schöne Bild lebe; Elmerice zeigte die vollkommenste Haltung und eine so anmuthig verbindliche Miene, als sie die Begrüßungen erwiederte, daß die günstigste Meinung von ihrer Erziehung den Eindruck ihrer Schönheit erhöhte.

»Sie sind in Allem glücklich, liebe Marquise,« sagte die alte Prinzesse de la Beaume; – »während wir hier verlegen und beschämt umher wanderten, verschafft Ihnen Ihr Muth eine so reizende Bekanntschaft.«

»Ja, meine Damen,« erwiederte die Marquise – »ich bin stolz darauf, und noch mehr wie stolz, ich bin sehr glücklich! Bald werden Sie mir für Nichts so dankbar sein wollen, als für diese Probe meines Muthes!«

Alle fühlten, die Marquise wolle ihrer jungen Begleiterin eine möglichst gehobene Stellung geben, und Alle beeiferten sich, einen Kreis um sie zu schließen.

Indessen nahte sich Armand seiner Muhme Margot. »Kind,« rief er – »lassen Sie Ihr tête à tête und kommen Sie zu uns, wir haben Miß Eton entdeckt, die in jenem Zimmer weilte; und es ist unseren Bitten gelungen, sie hierher zu führen.«

Als ob ein Pistol an Leonce's Kopfe abgeschossen würde, so fuhr er bei den Worten seines Bruders in die Höhe. Er wendete sich schnell und sah Elmerice in dem Kreise der Damen stehen, mit Ruhe und Unbefangenheit redend, aber mit einer Blässe bedeckt, die sie wie einen Geist erscheinen ließ.

»O Leonce,« rief Margot, sich auf seinen Arm stützend, »haben Sie je eine wunderbarere Erscheinung gehabt? Und das ist unser lebendig gewordenes Bild aus dem Eudoxien-Thurme!«

[234] »Nun so begrüßen Sie, wie wir Alle, das herrliche Wesen mit Achtung und Güte,« rief Armand, und führte sie Beide der Gruppe zu.

»Ach, da kommt meine Muhme Margot!« rief Lucile. »O komm', mein Liebchen – sieh', unser Wunsch ist erfüllt! Miß Eton, das ist wieder eine Nichte Ihrer Freundin d'Aubaine, die Tochter des einzigen Bruders unserer lieben Franziska!«

Elmerice hatte sie mit ihren Begleitern sich nahen sehen, sie begrüßte sie mit besonderer Freundlichkeit, und verzögerte die Vorstellung des Marquis Leonce, indem sie lebhaft ausrief: »Wissen Sie auch, daß Ihre Cousine mich recht eigentlich auf Ihre liebenswürdige Heiterkeit angewiesen hat? Daß ich also mit ganz besonderem Antheil um Ihr Wohlwollen bitten muß?«

»O Miß Eton,« lächelte Margot – »da hat man Ihnen verschwiegen, daß ich den ganzen Tag – von der ganzen Gesellschaft gescholten werde, und daß nicht Viel an mir bleibt, als an einem unartigen Kinde, mit dem man sich einrichten muß, wie es gehen will.«

»Erlauben Sie mir den Versuch,« erwiederte Elmerice verbindlich – »die ganze Gesellschaft scheint sich mit Ihnen sehr wohl zu befinden!« –

»Sie wollen mich durch Güte erziehen, da alle Anderen darauf bedacht sind, es mit Strenge zu thun; und gewiß, Sie sollen in mir eine willige Schülerin finden; denn die Bewunderung, die ich schon seit lange für Sie hege, kann Ihre persönliche Bekanntschaft nur erhöhen.« –

»Aber, Margot, wollen Sie Ihren armen Vetter ganz verdrängen?« rief d'Anville; – »seine Verbeugung dauert schon so lange, als Sie vor ihm stehen! Nun, Miß Eton,« rief er freundlich, als Margot lächelnd zurücktrat – »nehmen Sie meinen Bruder gütig als Ihren Bewunderer auf!«

[235] Leonce erhob sich hier aus seiner gebeugten Stellung, und mit raschem Entschlusse vor Elmerice hintretend, sagte er fast stolz: »Miß Eton wird geneigt sein, die Bewunderung einer so unbedeutenden Person zurück zu weisen, und Jeder wird vor ihr die Schranken fühlen, hinter denen er sich zurückziehen muß. Das zufällige Glück, Miß Eton hier zu sehen, wird gewiß auf das lebhafteste von mir empfunden!«

Elmerice verneigte sich ernst, ohne zu sprechen; als sie ihr gesenktes Auge vom Boden erhob, streifte es eine leichte, schwarzseidene Schlinge, in welcher Leonce noch immer den früher gebrochenen Arm trug. Ihr Auge blieb daran haften, und ihre Züge verriethen den lebhaften Wechsel ihrer Empfindungen. Sie öffnete zwei Mal die Lippen – endlich sagte sie kaum hörbar: »Sie waren verwundet, Herr Marquis? Gräfin d'Aubaine schrieb mir, daß Sie einen Unfall hatten.«

Leonce hatte jedes Wort von ihren Lippen verschlungen. »Es war ein sehr unbedeutender Unfall!« rief er; und als sie schwieg, fuhr er mit Lebhaftigkeit fort: »ich segne die Veranlassung – und habe zu viel wirklichen Schmerz erlitten, um dies Ereigniß dazu rechnen zu können!«

Der Zufall wollte, daß sie sich bei diesen Worten fast allein gegenüber standen, da die Uebrigen sich besprachen, jetzt die Zimmer der Königin, die alle Schrecken verloren hatten, zu besuchen. Leonce schien nach seiner Erwiederung eine Antwort zu erwarten; – Elmerice stand noch in derselben Stellung. – Plötzlich richtete sie sich auf, blickte ihn ernst und flüchtig an und wendete sich, ihn grüßend, dann zu den Uebrigen.

Als man die Zimmer betrat, hatte sich Emmy Gray daraus zurück gezogen, welches für Elmerice eine Erleichterung, für die Anderen eine unangenehme Täuschung war. Leonce trat an den Schreibtisch, vor dem Elmerice gesessen – und [236] betrachtete bewegt das aufgeschlagene Prachtwerk, in welchem sie gelesen.

Wenn Blicke sich ahnen, so finden sie sich durch alle örtlichen Hindernisse hindurch; – Elmerice und Leonce blickten sich an, durch viele Personen von einander getrennt!

Wir übergehen den Eindruck, den die weitere Besichtigung der Zimmer bei der Gesellschaft hervorrief. Als man sich anschickte, sie zu verlassen, entstand ein neuer Kampf mit Elmerice, welche zu ihrer alten Freundin zurückkehren wollte und dennoch, von Allen liebevoll gedrängt, sich der Gesellschaft anschließen mußte.

Mit unbeschreiblicher Schwermuth sah sie sich plötzlich in dem Zirkel, den zu fliehen, sie so viel Grund zu haben glaubte – sah sich unter heitere, sorglose Menschen versetzt, deren Leben glücklich und sicher begründet schien, während sie mehr, wie je, sich heimathlos, ohne ausreichenden Schutz, ohne Anspruch an eine feste Lebensstellung fühlte! Dabei hatte sie, trotz aller Schonung ihrer Umgebungen, dennoch eine vornehme Neugier zu ertragen, die mit tausend Höflichkeiten doch zu ergründen trachtete, ob eine Miß Eton, die auch nicht zur englischen Aristokratie gehörte, wirklich den Anforderungen einer höheren Geselligkeit Stich halten werde; und die überraschte Bewunderung, mit der man günstige Wahrnehmungen aufnahm, hatte für wahres Zartgefühl etwas Beleidigendes. – »O, wie Recht hatte mein Vater,« seufzte sie – »mit ihrer Höflichkeit erstarren sie mein Herz!«

Freilich machten hiervon Lucile und Armand, ebenso wie die kleine Margot eine ehrenvolle Ausnahme. Diese hatten die Höflichkeit des Herzens, die immer den rechten Ton zu finden weiß, und Elmerice zeigte bei jenen aus Stolz und hier aus wirklich dankbarem Gefühle, eine schickliche Theilnahme an der lebhaft angeregten Unterhaltung.

[237] Dazwischen war ihre Kleidung ein Gegenstand des Entzückens für alle Damen, dem sich mit einiger Zurückhaltung die Herren anschlossen, die alle heimlich einander beschuldigten, an Miß Eton ihr Herz verloren zu haben; denn selbst Armand, der treueste Paladin seiner Dame, sollte sich zu hingerissen gezeigt haben.

Bald hatten die Damen heraus gefunden, daß diese Kleidung auf dem Lande und in diesem alten Schlosse viel passender sei, als die, welche jetzt herrschende Mode war; und Elmerice zeigte sich willig, sich in einem Nebenzimmer den Blicken aller herbei gerufenen Kammerfrauen darzustellen, die sich verpflichten mußten, auf das schnellste mit den vorhandenen Kleidern der Damen diese Metamorphose vorzunehmen.

»Miß Eton, wie allerliebst wird uns morgen die Mittagstafel kleiden!« rief Margot. »Wenn wir geschmückt sind, kommen wir alle in Prozession und holen Sie ab!«

»Ja, und Jeder nimmt einen Namen an aus den Zeiten der Königin, deren Kleider wir nachahmen!« rief Mademoiselle de la Beaume.

»Dann müßten Sie Katharina selbst sein,« sagte Armand. – »Gut,« lachte die alte Dame – »Katharina bekam so gut weißes Haar, wie ich. Doch kann ich bloß eine stolze Königin darstellen; denn ihre übrigen Nüancen kann ich nicht ergründen!«

»Vergessen Sie nicht,« sagte Armand – »daß sie gesellschaftlich, geistreich und liebenswürdig war, worin ihr keine Frau ihrer Zeit gleich kam, und daß dies gerade meinen Vorschlag bestimmte. – Aber Sie müssen sich jetzt eine Tochter, eine Margarethe von Valois wählen!«

»Sehen wir sie nicht vor uns?« rief Mademoiselle de la Beaume – »Gräfin Bussy muß meine Tochter sein!«

»Nun,« rief Lucile – »so will ich Johanna von Navarra wählen, die stolze Bearnerin, die ich so liebe, und Leonce soll mein Sohn sein! Und Sie, Miß Eton, müssen Eudoxia [238] Nemours vorstellen, die eigentliche, wenn auch geheime Beherrscherin dieses Schlosses zu jener Zeit!«

Miß Eton schauderte bei dieser Wahl unwillkürlich zusammen. »Fürchten Sie Nichts,« lachte die alte Prinzessin – »mir lebt kein Gemahl zur Seite; und ich verspreche, weder selbst, noch durch Andere Gift und Dolch zu führen.«

»Ach, Madame,« sagte Elmerice, zu ernst für den Maskenscherz – »der Tod ist nicht das Schimmste! Aber haben Sie die Thränenspur auf dem Betpulte des unglücklichen Fräuleins vergessen? Soll ich dieselbe Stelle einnehmen?«

»Wir müssen uns Alle das Wort geben,« rief Mademoiselle de la Beaume, Elmerice lachend in die Augen schauend – »daß wir unseren jungen, schönen Gast von seiner viel zu ernsten Stimmung heilen. Sie sollen nicht umsonst die Hofdame der lebenslustigen Katharina geworden sein.«

Elmerice erröthete lebhaft und trat fast erschrocken hinter den Stuhl ihrer neuen Gebieterin; und dennoch sah sie, als sie Leonce seitwärts erblickte, wie sein Auge mit so vielem Ausdrucke auf ihr ruhte. Mitwelchem Ausdrucke – das wußte sie nicht zu deuten; doch fühlte sie eine Schüchternheit dadurch erweckt, die ihre Haltung bedrohte. – Indeß fuhr die unermüdliche Mademoiselle de la Beaume fort, ihren Hofstaat zu ordnen. »Und Sie? – Margarethe von Valois, meine königliche Tochter, ich präsentire Ihnen hier die berühmte Claudia von Guise als Ihre Hofdame! Doch vergessen Sie nicht, daß Ihr Gemahl, Ihrer schönen Augen wegen, fast der ganzen Hugenotten-Partei abfiel. Ich mache Ihnen ein gefährliches Geschenk,« fuhr sie fort und zog Margot vor sich hin; – »und mein einziger Trost ist, daß Ihr Gemahl auch für die Schönheiten meines Hofes Augen zu haben scheint, die kleine Claudia aber verdecktes Spiel sehr gut versteht und dem verliebten Bearner nicht nachstehen wird.«

[239] Nun ward eben so viel gelacht, als erröthet. – Die übrigen Herren wurden ebenfalls vertheilt. Armand war Heinrich von Guise – Vardes wollte Benserade sein – Graf Bussy Coligny – und Guiche der Busenfreund von Heinrich von Navarra, der schöne jugendliche Condé!

»Ach,« sagte die Prinzessin lachend – »die letzte Wahl gefällt mir. Condé und Navarra hatten immer ihre kleinen Intriguen! Das paßt sich. Aber hütet Euch jetzt vor Eurer Königin; – sie hatte beständig ein Auge auf diesen Prinzen und entdeckte alle seine Geheimnisse!« –

Diese Scherze belebten den Kreis und sicherten eine freie Bewegung; Jeder konnte so viel Geist und Phantasie zeigen, als er besaß, und Alle fühlten sich aufs Höchste erheitert und entzückt.

Und dennoch schien es derjenigen, die dazu Veranlassung gegeben, als sei sie auf das schmerzlichste dadurch verletzt. Als sie endlich bei dem Aufbruche der ganzen Gesellschaft in Fennimors Gemächer trat, in denen sie ihre alte Freundin, trotz des vollen Kerzenscheins, den sie stets darin verbreitete, neben Fennimors Sterbeplatze fest eingeschlafen fand, sog sie dies Bild der Ruhe und des Friedens mit vollen Zügen ein, und eine schwere, unerträgliche Last schien von ihr genommen. »Nein,« sagte sie leise, über der Schlafenden die Hände ringend – »ich kann nicht bei Euch bleiben, ich gehöre zu Dir – Du bist die Einzige, die ich noch beglücken kann – dort hat Jeder erreicht, was er wünscht, und was ihn erfreut – beneiden will ich es ihnen nicht; – aber weshalb soll ich mit lachendem Munde die tiefe Wunde meiner Brust so harter Berührung preisgeben? Warum das Kostüm, was Du, meine heilige Fennimor, trugest, was Dich schmückte – zum Fastnachtsscherze verbraucht sehen, da es den Schein der Aehnlichkeit mit der Tracht jener verufenen Zeit der Medicäerin hat? [240] Nein, hier will ich bleiben und Dir dienen, Emmy, mit dem Schein-Glücke, nach dem Dein armes Herz so begierig griff!«

Gekräftigt, beruhigt durch diesen Entschluß, trat sie hinaus an Fennimors Grab. Sie kniete nieder, und drückte ihr glühendes Angesicht gegen den kalten Marmor. Sie konnte nicht weinen, trotz der tiefen Wehmuth ihres Herzens – ihr Nachdenken war von allen Rückerinnerungen ihrer früheren Tage in Leithmorin erfüllt, es streifte vergleichend das eben Erlebte und erhöhte das bange Klopfen ihres Herzens. »Ach, Fennimor,« sagte sie, sich erhebend – »Deine Enkelin wird nicht glücklicher werden, als Du! Möchte ich erst sein, wo auch Du nur Ruhe fandest!«

Sie kehrte zu der Alten zurück, die, auf einem niederen Sitze ruhend, ihren Kopf auf die Armlehne von Fennimors Stuhl hatte sinken lassen, und betrachtete das alte, düstere Gesicht, worin der Schlaf Nichts aufheiterte, sondern nur tiefere Linien zog, mit einem kindlichen Antheile, der sie auch bald gewahren ließ, daß Emmy nicht den Athem der Gesundheit hatte. Sie kniete nieder und berührte ihre Stirn – kalter Schweiß stand darauf. Jetzt rief sie besorgt ihren Namen. Die Alte fuhr erschrocken in die Höhe und starrte ihren Liebling mit gläsernen Augen an. »Fennimor,« sagte sie – »Reginald ruft seine Tochter! Jene sollen kein Recht haben an ihr, Du sollst sie zu mir hierher bringen!« – Sie raffte sich empor; ihre Bewegungen waren immer heftig, gigantisch. Trotz des hohen Alters zeigte sich der starre Sinn, der jede Hülfe entbehren wollte.

»Emmy,« sagte Elmerice sanft – »Du sprichst es aus, was ich gedacht! Ich will bei Dir bleiben – Jene sollen kein Recht an mir haben – Fennimors guter Geist hat schon Dein Begehren erfüllt – er trieb mich zu Dir zurück – ich will Dir allein gehören!« –

[241] »So, so!« sagte die Alte, sich besinnend – »Du bist ja mein Engel!« Doch fühlte Elmerice überrascht, daß sie ihren Arm faßte; – plötzlich brachen ihre Knie, und sie sank ohnmächtig in Fennimors Stuhl. Außer sich, stürzte Elmerice über sie hin; – sie glaubte, ein plötzlicher Tod habe ihre alte Beschützerin dahin genommen. Doch bald sah sie, daß sie sich noch bewege, und sogleich bemühte sie sich, ihr Hülfe zu verschaffen. Sie löste ihre Kleider, sie rieb ihr Schläfe und Pulse und näßte ihre Stirn mit kaltem Wasser. Bald erwachte die Alte; aber sie war zu schwach, um sich erheben zu können, und hielt doch Elmerice's Hand fest in der ihrigen, als wolle sie sie verhindern, Hülfe herbei zu rufen. Als sie nach einiger Zeit die Sprache wieder erhielt, sagte sie: »Kind, laß uns allein, ich will bei Dir sterben! Laß mich kein Gesicht mehr sehen aus der Welt, die sie getödtet hat – und halte Du sie Dir auch ab. Morgen bin ich wieder wohl,« fuhr sie fort, als sie die Thränen ihres Lieblings sah; – »sei nur getrost, mein Engel, es ist so schön, wenn wir allein sind, da werde ich bald zu Kräften kommen!«

So blieb sie bis gegen Morgen, von Elmerice bewacht, im Lehnstuhle sitzen; ihr Zustand erregte dieser große Besorgniß, da ein banges Keuchen eintrat, das den Ausbruch einer neuen Krankheit fürchten ließ. Gegen Morgen machte sie den Versuch, von Elmerice geführt, ihr Bett zu erreichen, aber es trat eine neue Ohnmacht ein, die den Rest ihrer Kräfte mitzunehmen schien; denn von da an lag sie in bewußtloser Ruhe.

Elmerice sendete nun Asta zu Veronika, und als diese sogleich mit ihr zurückkehrte, sprach sie gegen diese den Wunsch aus, daß sie den Marquis d'Anville um ein Pferd und einen Boten an den alten Arzt bitten möge und der Marquise ihre Entschuldigungen überbringen, da sie Emmy nicht verlassen könne, und deren Ruhe durch Nichts gestört werden dürfe. [242] Zu Allem bereit, beeilte sich Veronika, den Herrschaften aufzuwarten, die sie sämmtlich in der heitersten Laune beim Frühstücke antraf. Die Nachricht, die sie brachte, wurde mit der größten Theilnahme angehört, und der Marquis gab augenblicklich Befehl, daß ein reitender Bote sich nach dem Kloster aufmache. Dort konnte man den alten Arzt vermuthen, und, wenn er schon fort war, über seine weiteren Streifereien Auskunft erhalten.

»Und muß man sich wirklich damit begnügen?« rief die Marquise wehmüthig – »kann man dies liebe, uns so nah angehörende Wesen durch Nichts in dieser traurigen Lage unterstützen?«

»Sie wenigstens, theure Marquise,« erwiederte Veronika – »Sie wenigstens nicht! Denn die alte Emmy ist in diesem Punkte hartnäckiger, wie irgend ein anderer Mensch. Doch habe ich Hoffnung, daß sie mich ertragen wird, und dann kann ich nicht allein unser liebes Fräulein unterstützen, sondern, wenn sie noch ausreichendere Hülfe bedarf, auch Sie davon in Kenntniß setzen.«

Dies tröstete Lucile in Etwas, da sie schon anfing das lebhafteste Interesse für Elmerice zu empfinden und an dies Zusammenleben eine Hoffnung knüpfte, die seit der Bekanntschaft mit Elmerice sich beiden Ehegatten aufgenöthigt hatte.

Die auffallende Aehnlichkeit derselben mit Fennimors Bilde, und die eben so auffallende Liebe der alten, menschenfeindlichen Frau zu Elmerice, hatte die Betrachtung geweckt, wie wenig sie eigentlich von Miß Eton wüßten; wie sie in den Gesprächen der Tante eigentlich nie erfahren, welcher Abkunft sie sei, und stillschweigend angenommen, sie gehöre zu den vielen auswärtigen Freunden der Gräfin, mit denen diese durch Briefwechsel eine stete Verbindung zu erhalten wußte.

[243] Diese unzureichende Auskunft, mußten sie sich gestehen, war nicht absichtlich so gegeben; sie war von Seiten der Tante gewiß nur eine Folge der Voraussetzung, daß sie mehr wüßten; von ihrer Seite jugendlicher Leichtsinn oder Zerstreutheit, welche sie an der Ungekannten nur das Interesse nehmen ließ, daß ihr Umgang die geliebte Tante beglückt hatte. Jetzt, wo der neu erweckte Wunsch, Nachkommen des unglücklichen Reginald zu entdecken mit Elmerice's auffallender Erscheinung zusammenfiel, beschlossen sie, bei der Tante den näheren Verhältnissen derselben nachzufragen. Armand wollte sich mit Leonce darüber berathen, und dieser oder er selbst sollte nach Ardoise zurückkehren und Nachrichten von der Gräfin Franziska einholen, sobald ihre Gäste sie verlassen hätten. –

»Außerdem wird es Zeit,« – sagte Armand – »daß wir Leonce zur Erklärung und zu einem berechtigten und öffentlichen Verhältnisse mit Margot bringen; denn sichtlich ist die Gemüthsbewegung, in der er sich seit gestern befindet, durch Margot unschuldiger Weise veranlaßt, deren unbefangenes Herz aber sicher nicht interessirt war.«

»Nun,« rief Lucile – »auch ich sah ihn gestern Abend, als ich am Fenster des Vorsaals Luft einathmete, ganz außer sich, wie es mir schien, auf dem alten Hofe des Theophim auf und nieder stürzen; und als ich ihn diesen Morgen damit necken wollte und ihm sagte, ich hätte geglaubt, er habe Emmy Gray entführen wollen, bekam ich eine ganze Ladung zorniger Blicke aus seinen düsteren Augen, und die Röthe bestieg seine Stirn, wie ein Feuerzeichen, was Kampf bedeutet! Ich hielt mir die Augen zu, als ob ich mich fürchte, und doch war mir innerlich bei dem Scherze nicht wohl zu Muthe; denn ich ahnte, daß Etwas Ernstes ihn quäle.«

»Er ist, fürchte ich, eifersüchtig auf Guiche,« sagte Armand; – »und was mir auffallend ist und ich fast unzart [244] nennen möchte, ist, daß Guiche seine Neigung für Margot kaum verbirgt. Als wir gestern die alten Zimmer verließen, blieben sie weit zurück; – Margot hatte es mit der Statue des Spinola auf dem Treppensaale zu thun, und Guiche wollte ihr ein Pendant dazu zeigen in dem Zimmer der Gräfin Bussy. Erst folgte ihnen Leonce, und wie mir schien, schon mit sehr übellaunigem, wenigstens auffallend blassem Gesichte; plötzlich aber stürzt er außer sich zurück – die Treppe hinab – ohne mich zu sehen, obwol ich eben erst aus dem Banket-Saale trat, wo ich mit dem Hausverwalter einige Verabredungen getroffen und ihn in dieser Zeit durch die offene Thüre beobachtet hatte.«

»Ja,« rief Lucile – »jetzt erinnere ich mich! Die Anderen hielten es für eine gewöhnliche Galanterie, wie wir sie an Leonce kennen: wir waren nämlich voran gestiegen und schon im unteren Flure, da rief Mademoiselle de la Beaume laut nach Miß Eton, die wir eben vermißten; und in demselben Augenblicke schrie ich laut auf, weil irgend ein Bewohner dieses feuchten Raumes über meinen Fuß schlüpfte. Das hatte Leonce gehört. ›Was ist geschehen?‹ rief er, die Treppe hinauf stürzend; – ›wo ist Miß Eton?‹ Sie stand fast erschrocken neben ihm, und er rief nun: ›Lucile, ich erkannte Ihre Stimme!‹ Aber er war so außer sich, daß wir ihn alle auslachten und ich gleich dachte: weder diese fremde Miß Eton, noch Dein Schrei bringt ihn so außer Fassung!«

»Ich zögerte an der Treppe, mit den Domestiken sprechend,« fuhr Armand fort – »um Margot abzuwarten. Da sie aber so wenig, wie Guiche erschien, trat ich in das Zimmer, in welches sie verschwunden waren; da standen Beide in lebhaftem Gespräche, und eben riß Margot ihre Hand los, die, wie es mir schien, Guiche zwischen den seinigen hielt. Die kleine Unvorsichtige war bei meinem Anblicke ganz außer Fassung; [245] ich gab ihr den Arm und führte sie hinab. Wir schwiegen aber Beide; es schien mir, sie war sehr beschämt; Guiche folgte uns gar nicht und traf erst später bei der Gesellschaft ein. – Von da an ist Leonce aber nicht wieder zu erkennen, und ich muß ihn auffordern, offen mit mir zu reden. Er ist von den Verhältnissen des Grafen Guiche zu gut unterrichtet, als daß er nicht im Stande sein sollte, ihn von seinem unvorsichtigen Werben um Margot abzuhalten. Graf Guiche steht nämlich in diesem Augenblicke sehr unangenehm zur Familie d'Aubaine. Margots Bruder ist mit Guiche bei demselben Regimente, das Bussy kommandirt; eine Abtheilung dieser garde du corps hat den Dienst in Versailles; eine der tausendfältigen Kleinigkeiten, von denen man angenommen hat, daß sie die Ehre eines Offiziers verletzen, glaubt d'Aubaine von Guiche erfahren zu haben. Diese Dinge dürfen sich nie entkräften, selbst nicht an der innigsten, treuesten Freundschaft; denn in diesem Verhältnisse waren Beide und eben aus Montreal von einem Besuche bei Margots Eltern zurück gekehrt. Es mußte also Blut fließen; und obwol Leonce sich bemühte, sie zu versöhnen, forderte doch d'Aubaine das Duell. Da Vardes sein Sekundant war, ward Leonce der Sekundant von Guiche, und leider ward d'Aubaine gefährlich verwundet. Du kannst Dir den Zorn Deines Onkels denken, wie er die Nachricht von der Gefahr seines einzigen Sohnes bekam, und wie aufgebracht er auf Guiche war, dem er in der Partheilichkeit des Schmerzes allein die Schuld zuschob! Jetzt erholt sich der junge Mann und Leonce sucht Guiche mit dem alten Grafen zu versöhnen; da er den Ersteren sehr liebt und alle Schuld d'Aubaine giebt. Doch hat er selbst, als Sekundant des Gegners, den Zorn Deines Onkels zu erfahren gehabt; obwol ich nicht denken kann, daß dies bei dem alten Herrn einen nachtheiligen Einfluß auf unsere Wünsche ausüben wird.«

[246] »Nun, dann kann ich auch nicht glauben, daß sich Guiche um Margot bemüht!« rief Lucile; – »denn dann kennt er Leonce's Wünsche und wird bloß Margot's Verzeihung in Bezug auf den Bruder gewinnen wollen.«

»Wir können das abwarten!« rief Armand; – »doch muß ich mich gegen Leonce erklären – es erregt zu sehr meine Ungeduld.« –

Diese Erklärung fand sich jedoch nicht. Die Geselligkeit und Leonce's sichtlicher Wunsch, Armand zu vermeiden, hielt die Brüder entfernt.

Es war überhaupt eine Störung wahrzunehmen. Zwar waren die Kostüms fertig und bereits angelegt; aber Elmerice's Verschwinden, die traurige Veranlassung desselben hatte die Lustigkeit gelähmt, die man erst von diesem Maskenscherze erwartete. Es war, als ob mit ihrem Ausscheiden sich die Berechtigung dazu vermindert habe, und Mademoiselle de la Beaume erschien am zweiten Morgen in ihrer gewöhnlichen Kleidung und versicherte, sie habe die ganze Nacht von ihrer Toilette Fieber gehabt; denn Katharina von Medicis habe ihr in Person Unterricht geben wollen, sich ihrem Kostüme gemäß zu betragen, und da habe sie zusehen müssen, wie sie nach und nach in ihrer Seele eine wahre Hölle eingerichtet habe. – So erschienen nur noch die jungen Damen zuweilen bei Tafel in ihren Miedern und niederhängenden Locken, die ihnen allen auffallend schön kleideten. Die Herren hatten dagegen ihre Rollen nicht weiter verfolgt, und die Damen wurden auch nur gelegentlich durch Anrufung ihres Namens daran erinnert.

Indessen traf am anderen Mittage die Nachricht ein, der alte Arzt sei angekommen und bereits in den Zimmern der Mistreß Gray. D'Anville stellte an der äußeren Thüre des Thurmes sogleich einen Diener auf, der den alten Herrn zu ihm führen sollte, wenn er von der Kranken zurückkomme; und wir [247] überlassen Alle dieser Erwartung, um zu erfahren, was sich indessen an einer anderen Stelle für diese besonderen Verhältnisse vorbereitete.


Die Gräfin d'Aubaine war, nach der Abreise ihrer jungen Freunde von Ardoise, mit der uneigennützigen Ruhe, die der Hauptzug ihres geläuterten Karakters war, zu ihrem einsamen Leben zurückgekehrt. Lebhaft angeregt durch die Erscheinungen der geistigen Welt, die sie aus ihrer gesicherten Ruhe mit antheilvollen Blicken verfolgte, nahmen die Zusendungen aller in Paris entstehenden, neueren Schriften ihre Zeit ausreichend in Anspruch – wenn wir noch hinzufügen, daß sie das geistvolle Resumé der ihr daraus erwachsenden Betrachtungen mit absichtslosem Fleiße, sich selbst zur Prüfung, in schriftlichen Aufsätzen sammelte. Doch behielt sie nach Außen den vollständigsten Antheil für alle ihr näher gerückten Verhältnisse, und unter ihnen standen ihr die ihrer jungen Freundin jetzt am nächsten, gegen welche sie sich heilig verpflichtet hielt durch das Vertrauen, mit dem die Aeltern sie ihr als Vermächtniß übergeben hatten. Die zärtliche Freundschaft, die das junge, anziehende Wesen ihr eingeflößt, gab ihr eine genaue Kenntniß ihres feinen, leicht verletzlichen Sinnes, und ließ sie über die zweifelhaften Verhältnisse, in denen sie sich jetzt befand, eine berechtigte Unruhe empfinden. Doch hoffte sie noch immer, durch die Anwesenheit der Marquise d'Anville in Ste. Roche, einen ausreichenden Schutz für ihren Liebling annehmen zu dürfen, und fühlte sich schmerzlich getäuscht, als sie die Nachricht zurück erhielt, wie bestimmt Elmerice sich jeder Gemeinschaft mit ihr entzogen habe, wie fest diese neuen Verhältnisse sie zu fesseln schienen.

[248] Sie hatte darüber ein langes Nachdenken und fragte die Erinnerungen ihrer Jugend um Auskunft über Emmy Gray. Aber es war ein undeutliches Bild, was sie vorfand, und weniger hatte die Zeit dies bewirkt, als die damalige Zerstörung ihres Geistes, und daß nach ihrer Genesung die ganze traurige Begebenheit wie mit heiligen Siegeln in dem Munde Aller verschlossen war, die sie umgaben. – Was sie darüber später erfuhr, war ihr durch Madame St. Albans mitgetheilt, die durch ihren Besuch, wie durch die Erwähnung der Nähe des Klosters Tabor, sie wieder zu einigem Antheile erweckt und manche Erinnerungen in ihr aufgefrischt hatte, die sie mit ihren übrigen Schmerzen fest hielt und aus denen sie jetzt einen Begriff von der Lage ihrer Elmerice schöpfte.

Die finstere, feindselige Stimmung, die Emmy Gray zu der ganzen Welt trug, war für die Gräfin eine Ursache mehr, ihre junge Freundin als ein Opfer ihres Mitleidens anzusehen; und wie sie diese weit getriebene Theilnahme mindern solle, das war der Gegenstand ihrer Ueberlegungen. Sie entwarf hierzu in einem Tage mehr Pläne, als ihr ganzes übriges Leben aufzuweisen hatte, nur immer wieder verworfen oder verändert durch ihr großes Zartgefühl. Die Furcht, mit einer Autorität aufzutreten, die sie zu edel und uneigennützig war geltend zu machen, wenn sie nicht durch wirkliche Nothwendigkeit erzeugt ward, machte, daß sie bis zu dem Gedanken gelangte, selbst nach Ste. Roche zu gehen, um durch ihre Nähe Elmerice, die sich ihr sicher nicht entziehen konnte, zu zerstreuen, ohne sie ganz der Theilnahme für ihre alte Freundin zu berauben.

Aber dieß war freilich ein großer Entschluß, den die edle Franziska trotz der Aufopferungen, deren sie fähig war, doch nicht ohne eine große, innere Bewegung fassen konnte, und von dem sie eben so lebhaft wünschte, er möchte ihr erspart werden. Denn Ste. Roche war der Markstein ihres irdischen [249] Glückes! Ste. Roche hatte das unschuldige und tugendhafte Dasein des einzigen Mannes, den sie je geliebt, auf immer zerstört! Wenn sie dorthin dachte, schien es ihr ein riesiges Grabmal, das Alles bedeckte, was ihr je an irdischem Besitze gehörte, – und dennoch kam der Gedanke immer wieder; denn nur ihrem Pflichtgefühle räumte sie eine ausschließliche Herrschaft über sich ein und schon erließ sie einzelne Fragen an Lorint über den Bestand der Reiseequipagen, welche die ganze Dienerschaft in Erstaunen setzten, da die Gräfin seit zehn Jahren das Schloß nicht verlassen hatte. –

In einem jener zierlichen Blätterklosets, welche die Gartenkunst des damaligen Jahrhunderts bestrebt war, mit möglichster Täuschung der Natur abzuringen, ruhte die Gräfin d'Aubaine und sah durch den hohen Bogen des grünen Eingangthores eine große, schnurgrade gepflanzte Allee riesenhoher Platanen entlang, die mit einem malerischen Prospekte auf das Schloß endete, als sie Monsieur Lorint gewahrte, der mit den weiß seidenen Strümpfen, dem gestickten Scharlachrocke und der kleinen weißen Stutzperücke, eine kleidende Staffage dieser einsamen Blätterarchitektur ward. Als er näher trat, bemerkte sie den Glanz des silbernen Tellers in seiner Hand und war nun gewiß, er brächte ihr Briefe. Sie hoffte aus Ste. Roche – und stand auf, um, ihm entgegengehend, sie früher in Empfang nehmen zu können.

Der alte, etwas korpulente Herr beeiferte sich bei dieser Bewegung seiner angebeteten Gebieterin, sie so schnell, als möglich, zu erreichen, und bald stand er, ganz außer Athem, mit dem reich belegten Teller vor der Gräfin.

»Zwei Briefe von meiner Nichte?« rief die Gräfin. –

»Ja, Euer Gnaden, durch zwei sich schnell folgende Boten; außerdem befindet sich noch ein Courier anwesend, der Euer Gnaden eine fremde Herrschaft anzumelden kömmt.« –

[250] »Nun, und wenn?« sagte die Gräfin zerstreut und, schon in den ersten Brief ihrer Nichte vertieft, kaum Lorint's Worte beachtend. Lorint schwieg daher, sich vor das Kloset zurückziehend.

Mit welcher Freude nun auch die erste, begeisterte Erzählung der Marquise von der Bekanntschaft mit Elmerice und den wunderbaren Verhältnissen derselben, das zärtliche Herz der Gräfin erfüllte, da Lucile, von Empfindungen der Bewunderung überströmend, ihrer schnell erweckten Zuneigung mit Ausdrücken er wähnte, die in ihrem eigenen Herzen einen nur zu lebhaften Anklang fanden – so wurde diese Freude doch eben so rasch niedergeschlagen und in Besorgniß verwandelt, als sie den zweiten Brief erbrach und die Krankheit der alten Mistreß Gray und Elmerice's schnelles Zurückziehen erfuhr.

»Mein Gott,« sagte sie lebhaft – »das geht nicht mehr so! Ich muß dennoch zu ihr; – mein armes, theures Kind, ich kann Dich nicht länger verlassen! Vielleicht that ich es schon zu lange und habe das heilige Vertrauen verletzt, das Deine Eltern in mich setzten. – Sorgt, Lorint,« sagte sie, sich zu ihm wendend – »daß wir morgen abreisen können; ich werde nach Ste. Roche zu meiner Nichte gehen!«

Lorint verbarg sein Erstaunen, welches ihm das Blut in das Gesicht trieb, durch eine tiefe Verbeugung. »Ich komme nach dem Schlosse zurück,« fuhr die Gräfin fort, da Monsieur Lorint noch immer stehen blieb – »richtet vorläufig das Nöthigste zu meiner Abreise ein.«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!« erwiederte Lorint; – »ich wollte nur unterthänigst an den Courier erinnern, der auf Antwort harret!«

»Ein Courier?« sagte die Gräfin überrascht, da sie jetzt erst die Nachricht hörte – »ein Courier aus Ste. Roche?«

»Nein, Euer Gnaden, ein Courier, der eine fremde Herrschaft anmeldet, welche sich aber nur der Frau Gräfin selbst [251] nennen will, und über die der Bursche keine Auskunft zu geben weiß, da er von dem nächsten Posthause kömmt, wo die Herrschaft erst vor wenigen Stunden eintraf und ihn absendete, um die Anwesenheit Euer Gnaden zu erfragen und diese allgemeine Meldung zu machen.«

»Das ist sonderbar,« sagte die Gräfin; – »ich muß aber dennoch Bekannte annehmen, obwol ich kaum weiß, wer sich dieser eigenen Form bedienen könnte. Doch darf dieser Besuch keinen Einfluß auf meinen Entschluß haben. Besorgt zu morgen meine Equipagen und sagt dem Courier, ich wäre im Begriffe abzureisen, doch bis morgen bereit, Jeden willkommen zu heißen.«

»Auch, glaube ich, können dies Euer Gnaden ohne Bedenken,« fuhr Lorint mit der Vertraulichkeit alter Domestiken fort; – »denn die Herrschaft ist, dem Aufwande nach, mit dem sie reist, von hohem Range.«

»Wir werden dies erwarten,« sagte die gütige Gräfin lächelnd; – »gebt die nöthigen Befehle zu ihrer Aufnahme!«

Doch lange noch blieb sie allein in der schönen Einsamkeit, die sie umgab; sie vertiefte sich in die Mittheilungen ihrer Nichte und suchte sich dadurch in ihrem Vorhaben zu stärken, das sie, bei aller pflichtgetreuen Festigkeit ihres Sinnes, dennoch mit einem geheimen Bangen erfüllte, über das sie nicht Herr zu werden vermochte. Wie Viel sich an diese Empfindungen anreihen mochte, was von der Zeit und ihrem starken Willen verdeckt lag, wäre auf dem schönen, früh gealterten Gesichte zu verfolgen gewesen, obwol es die feine Hand, welche das denkende Haupt stützte, halb verbarg.

So mochte die Zeit schnell an ihr hin gestrichen sein, und vielleicht hatte sie selbst die Abreise und mehr noch den angekündigten Besuch bereits vergessen, als sie die Stimme von Monsieur Lorint vernahm, der, dicht vor dem Eingange des grünen Gemaches stehend, einige unterthänige Worte murmelte. [252] Sie zog die Hand von ihrem Angesichte und sah hinter Lorint eine hohe, männliche Gestalt stehen, und an ihrer Seite eine jüngere, weibliche, die Beide der Gräfin völlig fremd erschienen und sie an ihre erwarteten Gäste erinnerten.

Sogleich erhob sie sich, und mit ihrem edeln und gewinnenden Anstande nahete sie sich den Fremden, die Monsieur Lorint versucht hatte, ihr vorzustellen. Wer hätte sich nicht in dem Augenblicke, als sich die hohe, leichte Gestalt, so würdig von den reichen Falten des schwarzen Kleides umhüllt, ihnen nahete, sagen müssen: sie habe die unverwüstliche Schönheit der Seele, deren Dasein wir beim ersten Blicke empfinden, und die an dem Körper, der wie ein durchsichtiger, aber farbloser Schleier den Geist umgiebt, keinen größeren Verfall zuläßt, als die Verflüchtigung der Jugendreize!

Der Fremde schien, von ähnlichen Betrachtungen bewegt, ihren vollen Anblick genießen zu wollen; denn er blieb in derselben Entfernung vor ihr stehen und ließ sie in ihrer ganzen edeln Erscheinung auf sich zu kommen; aber sein großes Auge, das unter starken, schwarzen Augenbraunen feurig hervorleuchtete, sagte ohne Worte: ich bewundere Dich! Der Fremde zeigte eine sichere, würdevolle Haltung; die Schönheit eines alten Mannes, der sich seiner Jugend ohne Erröthen erinnern darf. Sein weißes Haar hob sich noch voll um die freie Stirn, und die Feinheit der schönen, griechischen Nase verstärkte den edeln Ausdruck seines Kopfes. Er war über der gewöhnlichen Größe, ohne Korpulenz, in reicher, einfacher Tracht, die aber nicht die der französischen Mode war; seine ganze Erscheinung flößte Achtung und Vertrauen ein.

An seiner Seite stand eine junge, weibliche Gestalt, die fast andächtig ihre sanften Augen auf die Gräfin d'Aubaine gerichtet hielt und eins der zarten, blonden Mädchen war, an deren materielle Existenz wir kaum Glauben fassen können.

[253] Die Gräfin gewann die von uns dargelegte Ansicht mit einem Blicke ihrer klugen, erfahrenen Augen; und in der angenehmen Erwartung, einen Namen zu hören, der dieser interessanten Erscheinung entspräche, nahete sie sich mit jener verbindlichen Miene, welche die Frage ausdrückt, die der Mund noch zurückhält.

»Madame,« sagte der Fremde, jetzt ehrerbietig ihr entgegentretend – »ich erkannte Euer Gnaden augenblicklich wieder, obwol so viel Zeit zwischen diesem und unserm letzten Beisammensein liegt, daß mein einst schwarzes Haar Zeit hatte, mich zum Greise zu stempeln; – auch damals genoß Lord Duncan-Leithmorin Gastfreundschaft in Ardoise, und Gräfin Franziska d'Aubaine war die Heilige, die er anbetete.«

»O, Lord Duncan,« rief Gräfin d'Aubaine – »Sie führt in Wahrheit Gottes besondere Güte zu mir! Stets konnten Sie der Freude gewiß sein, die Ihre Ankunft hier erregen mußte; und doch ist sie niemals erwünschter gewesen, als gerade jetzt, wo sie fast zur Nothwendigkeit geworden ist; und in dem Augenblicke, wo ich Sie sehe, fühle ich erst recht die Wohlthat, die mir Ihr Rath gewähren wird.«

»Das habe ich fast erwartet, Frau Gräfin,« erwiederte Lord Duncan; – »und dennoch thut mir Ihre offene, gütige Erklärung darüber unendlich wohl; denn sie hebt den letzten Zweifel, der mich noch beunruhigen konnte. An Sie bin ich nun in jeder Hinsicht verwiesen, da Sie selbst meine Sendung anzuerkennen scheinen.«

»Lassen Sie mich erst diesen Engel begrüßen!« rief jetzt die Gräfin, deren Augen schon längst auf das holde Wesen an seiner Seite geblickt hatten.

»Marie Duncan sehnte sich, Ihre Hand zu küssen,« sagte der Lord und führte das erröthende Mädchen zur Gräfin, die ihr die Arme entgegenstreckte und sie zärtlich an ihre Brust [254] drückte. »Freundin meiner Elmerice, weißt Du, daß sie mir mütterliche Rechte einräumte? Willst Du mir einen ähnlichen Antheil gönnen?«

»Ach, Madame',« rief Marie, seelenvoll zu ihr aufblickend – »möchte ich ein so großes Glück verdienen lernen!«

»Aber Du findest Deine Elmerice nicht!« fuhr die Gräfin fort. – »O, Lord Duncan, werden Sie nicht Rechenschaft von mir fordern und mich für einen schlechten Haushalter erklären, da ich den mir anvertrauten, köstlichen Schatz von mir ließ, schutzlos in fremde, unheimliche Verhältnisse übergehend?«

»Nein, meine theure Gräfin!« erwiederte Lord Duncan; – »ja, eben diese augenblicklichen Verhältnisse des von mir väterlich geliebten, theuern Mädchens sind die Veranlassung, daß ich nach Frankreich kam; – und wie ich ohne Ihren Rath, Ihren Beistand keinen Schritt vorwärts thun kann oder will, so muß ich einräumen, daß Sie mich eben so nöthig haben werden; und da ich Ihre Reisepläne schon kenne, denke ich, wir reisen, wenn Sie mich gehört haben, später zusammen.«

»O, gern, gern!« rief die Gräfin, nachdenkend und bewegt; denn jetzt fühlte sie, Lord Duncan müsse wichtige Mittheilungen zu machen haben, und in dem augenblicklichen Verhältnisse seines Mündels mehr sehen, als sie, die ihre Sorge nur auf die Gemüthsstimmung ihrer jungen Freundin gerichtet hatte. Hoch athmete sie bei diesem Nachdenken auf. Wie viele Jahre waren schonend an ihr hingezogen, und heute ward ihre Erinnerung für die Vergangenheit geweckt – und wie lebhaft durch Lord Duncan ihr Gefühl angeregt, den sie als Freund Reginald's kannte, und dessen Bekanntschaft die glücklichste Zeit ihres kurzen Jugendlebens umschloß!

Lord Duncan errieth die Bewegung seiner edeln Freundin und suchte sie von ihren Empfindungen abzulenken. Die Gräfin verstand schnell seine wohlmeinende Absicht; man trat den Rückweg [255] nach dem Schlosse an, und hier Alles geschickt und schnell vorbereitet findend, führte die verbindliche Wirthin ihre Gäste selbst in die schönen, wohnlichen Gemächer, ihnen nach einer eiligen Reise die erwünschte Ruhe gönnend.

Erst zur Tafel fanden sich die Gäste wieder bei der Gräfin d'Aubaine ein, und Lord Duncan füllte diese Zeit der Unterhaltung mit Erzählungen über sein Familienleben, das, der Gräfin fremd, ihre ganze Theil nahme in Anspruch nahm Doch hörte sie fast mit Schreck, daß Lord Astolf, der jüngste Sohn des Lord Duncan, bereits verlobt sei, und wie sich die junge Marie darauf freute, Elmerice mit dieser Nachricht zu überraschen. Denn noch immer glaubte sie, ihr Liebling trage eine unglückliche Neigung zu jenem Jünglinge, und seit lange hatte sie sich gewöhnt, die Schwermuth derselben dieser Ursache Schuld zu geben.

Lord Duncan hatte die Gräfin um eine ungestörte Unterredung gebeten; man hob die Tafel deshalb zeitig auf, und da Marie Duncan alle Plätze kennen lernen wollte, von denen das Tagebuch ihrer Elmerice so lebhafte Schilderungen enthielt, hatte die Gräfin dafür gesorgt, daß das sanfte Reitpferd, welches Miß Eton zuweilen gebrauchte, der jungen Lady zugeführt wurde. Der alte Förster von Ardoise und ein völlig zuverlässiger Reitknecht bekamen den Auftrag, Miß Duncan zu allen Punkten hinzuführen, welche die junge Dame nennen würde.

Nachdem man das junge, heiter lächelnde Mädchen mit ihrem Gefolge hatte abreiten sehen, führte die Gräfin d'Aubaine ihren Gast nach dem abgelegenen, grünen Kabinet, welches wir bereits kennen; und als sie in den offenen Balkonthüren, die einen begrenzten Blick in die einsamsten Baumpartien des Gartens darboten, Platz genommen hatten, trat eine Pause ein, in der Beide sich zu beherrschen suchten. Die Gräfin fühlte, sie würde mit Lord Duncan nicht zusammen sein können, [256] ohne durch gemeinschaftliche Erinnerungen den wunden Punkt in ihrer Brust zu berühren, und Lord Duncan sah sich ähnlich bewegt; wir werden aus seinen Mittheilungen erfahren, wie viel Recht er dazu hatte.

»Lassen Sie uns offen gegen einander sein, theure Gräfin,« sprach er endlich; – »wir fühlen Beide, daß, was ich Ihnen zu sagen habe, schmerzliche und ewig theure Erinnerungen wecken wird. Aber wenn ich dennoch den Entschluß gefaßt habe, Sie auf diese Weise zu erschüttern, so geschieht es in dem festen Vertrauen, daß Ihnen, wie mir, eine Pflichterfüllung zu wichtig ist, um nicht das Opfer zu bringen, das ich jetzt fordere, indem ich Sie bitte, mich anzuhören.«

Die Gräfin reichte ihm schweigend die Hand, die er fast knieend an seinen Mund drückte. Ihre blassen Lippen bebten in einer Empfindung, der sie keine Worte gestatten wollte; aber Lord Duncan zweifelte nicht an ihrer Einwilligung und hob mit ruhiger Fassung seine Mittheilungen an:

»Als Reginald – aus seinem Vaterlande verjagt ward, suchte er das Vaterland seiner Mutter auf. Er erreichte England mit gebrochener Jugendkraft, und als er das Haus seines Onkels, des Herrn Lester in Yorkshire, betrat, zeigten sich schon Symptome der Krankheit, die ihn bald darauf daniederwarf. – Sie haben oft von dem Vater Ihrer Jugendfreundin gehört; er war in Wahrheit einer der Ausgezeichnetsten seines Standes. Er besaß eine reiche Probstei, und seine vornehme Familie, die den Vater aufgegeben hatte, suchte durch diese ansehnliche Pfründe den Sohn zu heben. Mehr, als sie ihm geben konnte, gab er sich selbst durch seinen würdigen Karakter! Seine tiefe Gelehrsamkeit machte ihn zu einem gesuchten und geachteten Gegenstande; er hatte auf der Universität den Doktorgrad erhalten, war Mitglied der ausgezeichnetsten, gelehrten Gesellschaften, und stand dadurch in den weitverzweigtesten [257] Verbindungen. Eben so bedeutend war seine Gemahlin, eine Miß Eton, deren Vater Bischof in Kalkutta gewesen, und die ihrem Gemahle in jeder Beziehung gewachsen war. Nach dem Tode ihres Vaters hatte sie sich, als die Letzte ihres Namens, mit Herrn Lester vermählt, und nachdem sie mehrere Kinder verloren, blieb ihr nur Margarith, die jüngste Tochter, die Ihre Freundin ward, theure Gräfin!«

»Nur ein Mal habe ich mit Herrn Lester über Fennimor, seine unglückliche Schwester, gesprochen. Er war bis zu Reginald's Ankunft über ihr eigentliches Schicksal in Zweifel geblieben. Wie wir alle, mußte er sie rechtmäßig vermählt halten; auch bekam er bis zu der Geburt ihres Sohnes nur glückliche Nachrichten von ihr und empfing daher die Anzeige ihres Todes, die ihm Graf Leonin selbst machte, mit der schmerzlichen Trauer um ein zu früh aufgelöstes Glück. – Ob ihr Sohn, von dem jene Todesnachricht Nichts erwähnte, lebe oder der Mutter gefolgt sei, konnte Herr Lester nicht erfahren; da alle seine Briefe von da an unbeantwortet blieben. So machte die Zeit, daß er jene Verhältnisse, als für ihn nicht mehr bestehend, nach und nach zu vergessen begann. Emmy Gray's Weigerung, nach England zurückzukehren, und die flüchtige Erwähnung seiner Tochter, bei ihrer Rückkehr aus Ardoise, über ihr wunderliches Leben, überraschte Herrn Lester nicht, da er Emmy von Jugend auf als finster und halsstarrig gekannt hatte, und John Gray, der auf der Jagd verunglückte und einen frühen Tod fand, kein Band mehr für sie war. Dieseine Mal, daß ich nach der Entdeckung, die ihm Reginald gemacht, den unglücklichen Bruder dieses geopferten Engels sprach, wird mir unvergeßlich sein! Er hatte damals schon jeden Gedanken an Genugthuung aufgegeben und rang mit seinem Schmerze um christliche Fassung und Ergebung; aber es war ein Kampf, dem er so oft unterlag, als er davon zu [258] sprechen wagte, und ich habe ihn niemals wieder dazu aufgefordert.«

»Reginald wußte durch Emmy Gray's verhängnißvolle Mittheilung von dem Dasein seines Onkels und von dessen Aufenthalt. Er suchte ihn zu erreichen; aber sein Diener brachte den todtkranken Jüngling bewußtlos in das verwandte Haus. Noch ahnte die edle Familie nicht, wen sie aufnahm, obwol Margarith augenblicklich in ihm den Jüngling wieder erkannte, den sie unter dem Namen Chevalier de Ste. Roche in Ardoise gesehen hatte; dessen ungeachtet genoß er jede Pflege und die zarteste Theilnahme, die endlich den leidenden Zustand brach und ihn dem Leben zurückgab, das er nur noch mit Ergebung ertrug, von jedem frohen Gefühle des Glückes und der Jugend auf immer geschieden.«

»Als er sich seinem Oheim entdeckt hatte, und die ereignißreiche Erzählung seines grausamen Schicksales das Herz dieses edlen Verwandten mit dem Unglücke seiner Schwester vertraut gemacht hatte, erfüllte Beide eine tiefe und gerechte Verachtung gegen die Familie Crecy-Chabanne, deren rechtmäßiges Oberhaupt durch so grausame und hartnäckige Verfolgungen, um jedes Vorrecht der bürgerlichen Gesellschaft betrogen, aus seinem Vaterlande vertrieben ward. – In Folge dieser Empfindungen, und von dem lebhaften Verlangen gedrängt, dieser Familie spurlos entzogen zu bleiben, willigte Reginald ein, den erlöschenden Namen seiner Tante anzunehmen; – und er nannte sich von da an – Eton!«

Lord Duncan brach hier ab; er sah das hinsterbende Lächeln auf dem Gesichte seiner edeln Freundin. Beide schwiegen. Langsam floß endlich Thräne auf Thräne aus ihren gesenkten Augen. Lord Duncan erhob sich, er wollte sich entfernen; – aber ihre reine und erhabene Seele hatte schon gesiegt; sanft streckte sie die Hand nach ihm aus. – »Bleiben Sie, theurer Freund!« [259] rief sie, unter stärker rinnenden Thränen – »o, ich weine mehr aus Freude, wie aus Schmerz! So war sein Schicksal weniger traurig, als ich es erwarten mußte – so genoß er Liebe, treue Hingebung an der Seite der edelsten Menschen! Ach, und er vergaß mich nie; denn – sprechen Sie es aus – sein Vermächtniß war Elmerice!«

Gerührt unterbrach Lord Duncan den beruhigenden Erguß ihrer Gefühle nicht. Still und voll Ehrfurcht blickte er auf diese schöne, würdige, weibliche Erscheinung, die mit allen Zuständen Frieden schließt und ihnen ihren Stachel zu nehmen weiß.

»Lord Duncan,« sagte sie nach einer kleinen Weile – »welches Licht giebt mir dieser Augenblick über mich! Wie unwahr sind wir noch immer gegen uns – und neben welchen absichtslosen Täuschungen gehen wir her, als ob wir sie nicht sähen! Was Sie mir jetzt aussprechen, ist die Ahnung der langen Vergangenheit, seit Margarith Lester mir in schüchternen Andeutungen ihre Liebe, ihre Vermählung mittheilte. Seit ich Elmerice sah, und aus ihren Erzählungen über ihren Vater Manches mir erschien, als ob eine liebe Hand den Schleier von einem unverwischlichen Bilde wegzöge – seitdem belebte sich diese Ahnung aufs neue! O, Lord Ducan, nehmen Sie mein Bekenntniß an: selbst das schöne Antlitz meiner Elmerice rief theure Züge in mir zurück; – und dennoch, dennoch hüllte ich mich schüchtern gegen die Wahrheit ein! Aber ich liebe dies theure Kind so zärtlich, so hingebend, wie ich nur vermocht hätte, wenn mir die Wahrheit aufgedeckt gewesen wäre; und all meine Einrichtungen für ihre Zukunft nach meinem Tode, gestalteten sich so, wie es der Witwe Reginald's – mein schönster Titel blieb dies immer – zukam! O Mylord, wie froh bin ich, sagen zu können: ich war vor Ihrer Ankunft entschlossen, nach Ste. Roche zu gehen; und nicht alle meine Pflichten habe [260] ich aus kränklicher Schonung meines verwöhnten Gefühles vernachläßiget.«

»Reginald« – hob hier Lord Duncan an – »kannte Sie so genau, theure Freundin, daß er gerade so, wie es geschehen ist, den Gang Ihrer Empfindungen voraussetzte. Nicht ich sollte Elmerice begleiten; und da seine Gemahlin ihn überlebte, sollte auch diese erst der Tochter nach Frankreich folgen! Elmerice sollte alle Nachrichten über sein Leben ahnend in Ihnen vorbereiten, und wir nur hinzutreten, um das zu geben, was Ihnen dann noch fehlen würde.«

»So fahren Sie fort,« sagte Franziska d'Aubaine mit Fassung. Aber sie stützte ihr Haupt mit der Hand und entzog ihr Gesicht, damit dem Lord die Zeichen ihres tief erregten Gefühles beschämt verhüllend. Mit einer edlen Schonung erzählte Lord Duncan weiter:

»Nachdem Herr Lester zu einiger Fassung zurückgekehrt war, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen unglücklichen Neffen und bemühte sich, ihm eine Stütze zu werden. Sie begreifen, mit welcher Liebe und Bewunderung er den reich angebauten Geist, das edle Herz desselben erkennen lernte; wie stolz er im Laufe der Zeit auf ihn ward und wie er ihm seine achtungsvollste Freundschaft schenkte.«

»Doch sein und Reginald's dringendstes Verlangen, einen Wirkungskreis, eine Thätigkeit zu finden, scheiterte wiederholt an Reginald's zerstörter Lebenskraft. Sein Aufenthalt in der Bastille, die er unter den heftigsten Seelenleiden, nach einer kaum überwundenen Krankheit, ohne die nöthige Pflege bewohnen mußte, hatte eine hartnäckiges Siechthum veranlaßt, das ihn viele Jahre nach einander zu derselben Zeit aufs Krankenlager warf und endlich die Aerzte zu dem Ausspruche nöthigte, daß die Luft in England diesem Zustande nachtheilig werde. Doch konnte Reginald in jener Zeit nicht an seine Abreise denken; [261] denn sein geliebter Oheim verlor nach kurzem Krankenlager die würdige Gefährtin seines Lebens.«

»Auf ihrem Sterbebette vertraute sie Reginald die Liebe ihrer Tochter und sagte ihm, sie wünschte, daß er sie heirathe; denn Margarith mache keinen Anspruch an seine Liebe, die er ja doch niemals für ein anderes weibliches Wesen werde empfinden können – Margarith werde wie seine Schwester ihm zur Seite bleiben, seine schwankende Gesundheit stützen und das Leben ihm liebevoll erleichtern. Doch verbat sie sich jede Zusicherung des erschrockenen Reginald und verließ bald darauf die Welt.«

»Von da an lernte unser Freund erst Margarith kennen; denn bei ihrer ersten Bekanntschaft in Ardoise hatte Reginald keinen Raum gehabt für die Wahrnehmung einer anderen weiblichen Erscheinung; aber er näherte sich ihr mit dem Wunsche, durch sein Vertrauen sie von den Gefühlen abzulenken, die erregt zu haben, ihm Kummer machte. Aber seine Annäherung hatte andere Folgen! Jetzt erst trat hervor, was Margarith bisher bescheiden ihm entzogen, daß sie noch immer die Freundin, ja, die Vertraute der Gräfin Franziska war – daß ihre Liebe mit der seinigen um den Rang stritt, und sie das Band werden würde, das ihn mit dem einzigen Glücke seines Lebens in Verbindung erhalten könnte. Sie waren von da an unzertrennlich; – und wie er fühlte, daß er die Neigung des edeln Mädchens, statt sie zu verringern, gesteigert habe, bot er ihr seine Hand an und wiederholte ihr, was sie wußte, daß er ihr kein Herz zu geben habe.«

»Schon damals kannte ich seine Anwesenheit in England; Herr Lester hatte mir ausführlich sein Schicksal mitgetheilt. Zu derselben Zeit wiederholten sich die Versuche des Grafen Leonin, Reginald auszuforschen; da, nach dem im Kloster erfolgten Tode der alten Marschallin, wahrscheinlich sein Verlangen erwachte, sich den Sohn wiederzugewinnen. Auch ich bekam [262] Aufforderungen und ich gestehe, daß ich es versuchte, meinen Einfluß auf Reginald zu benutzen, um ihn für die Vortheile dieser Stellung empfänglich zu machen. Aber ich fand ihn unerschütterlich. Das Andenken an seine gekränkte Mutter vertrat jeden Weg der Versöhnung mit seinem Vater, an den er zwar ohne Haß dachte; aber sich doch völlig unfähig fühlte, in ein kindliches Verhältniß zu ihm zu treten.«

»Ueberdies war er verheirathet – er durfte Nichts mehr hoffen, und er verachtete Rang und Stand, der zu so vielen Verbrechen Anlaß gegeben, mit einer fast an Haß grenzenden Bitterkeit.«

»Gleich nach der geräuschlosen Hochzeit folgten sie mir nach Schottland, welches Herr Lester lebhaft wünschte, da die geforderte Luftveränderung noch immer verschoben worden war; und bei mir, in Leithmorins Bergen, in den grünen Thälern mit ihren zahllosen Quellen erfrischte sich die Lebenskraft unseres theuren Freundes. Dessen ungeachtet führte ihn sein Pflichtgefühl zu Herrn Lester zurück; denn er errieth die immer verhehlten Wünsche seines liebevollen Weibes, die nur mit Sorge den alternden Vater allein wußte; auch brachte Reginald in Wahrheit bessere Lebenskräfte mit und überhob seine Familie für einige Jahre der Sorge für sein Leben. Er bereitete sich in dieser Zeit vor, einen Ankauf in England zu machen, der ihm eine würdige Thätigkeit sicherte, als der plötzliche Tod seines Schwiegervaters und die erneueten Nachforschungen des Grafen Leonin ihn diesen Plan aufgeben ließen, und seine Freundschaft für mich ihn bestimmte, sich nach Schottland zurückzuziehen.«

»Hier lebte er bis zu seinem Ende in der innigsten Gemeinschaft mit meiner Familie und theilte seine Zeit in die Kultur seines kleinen Gutes und die Erziehung seiner einzigen Tochter – unserer Elmerice!«

[263] »Doch erwachte nach der ersten Vernarbung seiner schweren Seelenwunden eine tiefe Sehnsucht nach dem schönen Frankreich, seinem berühmten Vaterlande, in ihm; und es gehörte sein festes Abschließen mit dem Leben dazu, um ihn davon entfernt zu halten. Als er aber seine Kräfte sinken sah und sich selbst nur zu richtig ein frühes Ende prophezeihte, erwachte ein Gedanke in ihm, der seine letzten Jahre erheiterte –Ihnen nach seinem Tode seine Tochter und Gemahlin als ein Vermächtniß zu übersenden, und Elmerice auf dem Boden einheimisch werden zu sehen, den er dennoch am liebsten sein Vaterland nannte – und durch Sie das theuerste Andenken seines Lebens!«

»Was hätte Margarith nicht in ihrem edeln, von ihr angebeteten Gatten verstanden? Wo wäre ihr Antheil je ausgeblieben, wenn er ihn zu erwecken suchte? Die Erziehung Elmerice's nahm von da an diese vorbereitende Wendung, und sie ward in Schottland schon eine Bürgerin Frankreichs.«

»Doch eben so fest suchte er zu der damaligen Zeit alle Bestimmungen so zu ordnen, daß Elmerice über das eigentliche Schicksal ihres Vaters stets in Ungewißheit bliebe und ihrer Familie auf immer entzogen. Wir Alle waren durch die heiligsten Eide gebunden, dies von ihr abzuhalten. Ein Brief an Sie, theure Gräfin, flehte Sie um dieselbe Zusage an; denn er fühlte eine Art eifersüchtigen Zürnens, wenn er sich das herrliche Kind, auf das er mit Stolz und Entzücken blickte, in den Händen einer Familie dachte, die vielleicht mit zweifelnder Miene auf ihre Vorzüge sehen und ihnen die volle Berechtigung weigern könnte.«

»Ein späteres Ereigniß jedoch, das ich Ihnen zu einer anderen Zeit mittheilen werde, veränderte in etwas diese hartnäckigen Bestimmungen; – sie sollten nur so lange Geltung behalten, als das Lebensglück dieses geliebten Kindes nicht [264] wesentlich darunter litte. Ich bekam Erlaubniß, seiner Tochter in Jahresfrist nach Frankreich zu folgen, selbst die Verhältnis se zu prüfen, in die sie alsdann getreten sein würde und den Umständen gemäß nachgiebig zu sein, oder das Geheimniß über ihre Geburt fortbestehen zu lassen, wenn die Lage der Sache sich seinen Anforderungen nicht entsprechend zeigte.«

»So war die Reise hierher ein alter Beschluß, ein Versprechen sogar; aber sie ward durch die Nachrichten, die Marie Duncan von Elmerice erhielt, beschleunigt. Um mit dem geliebten Kinde im sicheren Zusammenhange zu bleiben, hatte ich in beiden Mädchen die Idee erregt, für einander eine Art Tagebuch zu schreiben, und bei der Liebe, die Elmerice zu mir hatte, ward es mir nicht schwer, die Erlaubniß der Theilnahme an demselben zu erhalten. Ich schrieb selbst in dem Tagebuche meiner Tochter – und Elmerice beantwortete dies; ungesucht erfuhr, ich so, was ihr begegnete, und behielt eine Uebersicht, die mich leiten mußte, wenn ich früher, als das Jahr abgelaufen war, es nöthig finden sollte, meine Reise anzutreten. Dies schien mir jetzt der Fall, seitdem sie durch eine jener wunderbaren Fügungen, die wir uns vielleicht sehr mit Unrecht gewöhnt haben, Zufälligkeiten zu nennen, zu dem eigentlichen Brütheerde ihres Schicksals gelangt ist! Emmy Gray, die, wie eine Nemesis über ihrer Rache wachend, das gekränkte Leben zu erhalten wußte, hat sogleich den verwandten Zug mit Fennimor Lester erkannt, ihr deshalb Liebe und Vertrauen geschenkt, ihre Ahnungen in ihr niedergelegt und sie mit dem harten Schicksale ihrer Großmutter und ihres Vaters bekannt gemacht. Von da an zeigen die Briefe des armen Kindes eine tiefe Schwermuth, die sie dem Leben absterben läßt; denn sie will die Vorzüge der Geburt, die ihr bei der Aufdeckung ihrer Rechte zustehen würden, niemals gelten lassen, da sich so viele Verbrechen an deren Raub knüpfen. Ja, sie fürchtet vor Allem, [265] das Andenken ihres Vaters zu beleidigen, wenn sie das zu besitzen trachtete, was er nicht zu besitzen vermochte.« –

»O meine Elmerice,« unterbrach hier Franziska d'Aubaine ihren Freund – »wie würdig bist Du, seine Tochter zu sein!« –

»Die Anwesenheit des Marquis d'Anville, den sie als Ihren Verwandten kennt, theure Gräfin, hat diesen Vorsatz nur befestigt. Wie sollte sie ein Eigenthum besitzen wollen, das in diese Hände übergegangen ist? Dagegen hält sie es für eine heilige Pflicht, bei Emmy Gray auszuhalten, die von der Aehnlichkeit lebt, die Elmerice mit Fennimor hat, und nach so langer, trostloser Vereinsamung durch den Gedanken befriedigt ist, daß sie die rechtmäßige Erbin Fennimors in Ste. Roche eingesetzt hat, und ihr diese die Augen zudrücken wird. Elmerice fügt sich allen ihren Phantasien; sie trägt Fennimors Kleidung sogar, um der armen Alten die höchste Illusion zu gewähren.«

»So, liebe Gräfin, denke ich, kann es nicht länger bleiben! Wir müssen dem edeln Kinde, das es so wohl verdient, jetzt völliges Vertrauen schenken. Sie theilt Emmy's Ueberzeugung; denn, wenn sie auch aus ihrem Leben keine Gewißheit hinzufügen kann, widerspricht doch auch Nichts ihren Annahmen; und daß Miß Lester ihre Mutter, ward bestätigt durch ihre Vermuthungen, die auch Emmy sehr natürlich erklärt hat.«

»So ist denn jetzt noch mehr, wie früher, meine Ueberzeugung bestätigt, daß auch ich nach Ste. Roche muß,« sagte die Gräfin d'Aubaine; – »denn ich werde am besten all die kleinen Schranken durchbrechen können, die zu großes, gegenseitiges Zartgefühl dieser Angelegenheit nachtheilig werden ließ. Ich habe natürlich wenig von den Gesinnungen des Marquis d'Anville über diesen Gegenstand gehört; da meine lieben, nur [266] zu gütigen Verwandten Alles in Schweigen hüllten, was auf diese schmerzliche Epoche meines Lebens hinzuweisen vermochte. Doch erfuhr ich, daß er nach Reginald selbst oder nach dessen Verwandten eifrig forschte – und daß er darin nicht glücklich war, ist mir durch Ihre Mittheilungen erklärt.« –

»Ja!« sagte Lord Duncan – »hier ist sein letzter Brief; er ist aus Ste. Roche datirt und läßt keinen Zweifel über seine uneigennützigen Gesinnungen. Ich habe ihm geantwortet, wie er es verdient – und ihn auf meine baldige Ankunft verwiesen. Doch müssen wir wohl überlegen, was wir mit Elmerice wollen; wird es ein Glück sein, sie in ihre Rechte einzusetzen?«

»Das steht in Gottes Hand, Lord Duncan,« – sagte die Gräfin warm; – »wir haben ein Unrecht gut zu machen – wir dürfen nicht weiter fragen, da das Nächste klar vor uns liegt! Die spätere Frage ist nicht so sehr, wie es erscheinen will, an Aeußerlichkeiten gebunden. Nehmen wir Elmerice den Druck ab, der durch ihre halbe, gekränkte Stellung entstanden ist, und erwarten wir voll Vertrauen und Achtung, wie sie selbst mit ihrem schönen Willen dann eine würdige Haltung behaupten wird.« –

»Der Marquis d'Anville,« hob nach einer Pause Lord Duncan an – »hat einen Bruder« –

»Fürchten Sie Nichts von diesem!« unterbrach ihn die Gräfin schnell. »Leonce ist allerdings nicht reich – und ich weiß, daß d'Anville beschlossen hatte, durch die Art, wie er den Nachlaß des Grafen Leonin jetzt zu theilen dachte, diesen Mangel auszugleichen. Doch tritt der Fall ein, daß Leonce mit der Tochter meines Bruders fast so gut wie verlobt ist und diese ihm Reichthum bringen wird, da Graf d'Aubaine nur zwei Kinder hat.«

Schnell stand hier Lord Duncan auf und trat mit einer sonderbaren Heftigkeit auf den Balkon hinaus. Die Gräfin [267] war jedoch zu sehr in den angeregten Empfindungen vertieft, um es zu bemerken; Lord Duncan ward freundlich und mit dankbaren Worten von ihr entlassen, da er ihr bis zur Abendtafel Ruhe zu gönnen wünschte, und diese Zeit den erinnerungsreichen Plätzen um Ardoise widmen wollte. Doch müssen wir gestehen, daß er die Gräfin d'Aubaine mit viel geringeren Hoffnungen für das Glück der von ihm so väterlich geliebten Elmerice verließ, und oft hören wir ihn wiederholen: »Reginald, Reginald, Deine Nachgiebigkeit kömmt zu spät!«


In dieser Zeit hatte Elmerice an dem Krankenlager ihrer alten Freundin trübe Stunden! Sie konnte sich nicht verhehlen, daß ihr Leiden ernster Art war und vielleicht das letzte ihres Lebens sein werde. Aber der Gedanke, Emmy zu verlieren, war ihr in einem Augenblicke, wo sie dieselbe als ihre einzige Stütze ansah, fast unerträglich. Mit leidenschaftlicher Angst erwartete sie daher den alten Arzt, und als er endlich ankam, eilte sie ihm mit einem so gesteigerten Grade von Schmerz entgegen, daß er sie erstaunt anblickte und, während er ihre Hand wie blos freundschaftlich drückte, doch heimlich und schnell den Zeigefinger an ihren Puls legte, um ihren Gesundheitszustand zu ergründen. Mußte er nun auch ihre Bewegung auf ihre Theilnahme allein schieben, überzeugte ihn doch der Zustand der Alten, daß die größte Besorgniß für dieselbe vorhanden sei. Er hatte kaum den Wunsch, ihr ein Medikament zu geben; da ein ruhiges Einschlafen der gänzlich abgelaufenen Lebenskräfte zu erwarten stand. Um sie jedoch der armen Elmerice, die sie fortwährend für ihr letztes Lebensglück erklärte, so lange wie möglich zu erhalten, verordnete er ein Mittel, welches die Fieberbewegungen aufheben sollte.

[268] Es war Elmerice nicht gelungen, sich den übrigen Schloßbewohnern ganz zu entziehen; die Pforte, die einst Emmy Gray mit so eifersüchtiger Strenge bewachte, schien Schloß und Riegel verloren zu haben, und es blieb Elmerice keine Schutzwehr in ihren Verhältnissen, da von Pflege der Alten fast nicht die Rede sein konnte; indem ihr stiller, träumerischer Zustand kein Symptom zeigte, das einen thätigen Beistand erfordert hätte. Die Damen wurden durch diese Beobachtung ermuthigt, der liebenswürdigen Miß Eton ihre Besuche zu machen, und besonders schien der Marquis d'Anville es seit einiger Zeit von seiner Gemahlin zu fordern; er selbst zeigte sich jeden Morgen vor Elmerice's Thür, um von Asta zu erfahren, wie ihre Gebieterin geschlafen habe.

Er hatte lange Unterredungen mit dem alten Arzte – sendete Boten nach Paris, die ihm Papiere brachten, die er mit dem alten Herrn bei verschlossenen Thüren zu prüfen schien, und dennoch erfuhr Niemand etwas Bestimmtes von ihm; und Alles, was er seiner jungen Gemahlin mittheilte, war der achtungsvolle Brief des Lord Duncan, der seine Ankunft verhieß.

Man hatte an einem der nächsten Tage so eben die Tafel aufgehoben und schweifte durch den schönen Audienzsaal der Königin Katharina, um in dem Burggarten die freie Luft zu genießen, als die gegenüberliegenden Flügelthüren sich plötzlich öffneten, und, ohne vorhergehende Meldung einige Fremde eintraten, unter denen sich eine Dame auszeichnete, deren hohe, schlanke Gestalt von langen, schwarzen Gewändern umflossen war, und deren Gesicht ein Schleier den Anwesenden entzog. Sie ging schnell den Anderen voraus und blieb dann stehen – ihre Hände ausstreckend, als verlange sie, daß man sie ergriffe. Der Marquis und Lucile traten ihr auch schnell entgegen, und in demselben Augenblicke schlug sie den Schleier zurück. Mit einem Schrei des Entzückens stürzte Lucile in ihre Arme, während Alle jetzt die Tante [269] Franziska d'Aubaine erkannten, und Margot, der Marquis, Leonce – ganz außer sich vor Freude und Entzücken – Sich mit dem Ungestüme kindlicher Berechtigung um sie drängten.

Wie war das Herz der Gräfin dazu geschaffen, einen solchen Moment der Liebe zu fühlen und die rührenden Beweise derselben durch die holdesten Worte und Liebkosungen zu erwiedern!

»Doch schon zu lange,« rief sie, sich heiter lächelnd losmachend – »genieße ich eigenmächtig das Glück, Euch wiederzusehen. Ich komme nicht allein – ich bringe einen alten Freund mit mir – Lord Duncan-Leithmorin und Lady Marie, seine Tochter!«

Der Marquis erfüllte nun mit der liebenswürdigen Courtoisie, die ihm eigen und so wohlkleidend war, die Pflichten des gastfreundlichsten Willkommens, und Lucile unterstützte ihn mit ihrer bezaubernden Anmuth, während die Gräfin d'Aubaine von dem übrigen Kreise begrüßt ward, der eben so entzückt war, wie ihre Verwandten, der seltenen Erscheinung der hochgefeierten Gräfin Franziska theilhaftig werden zu können. Mademoiselle de la Beaume war eine alte Jugendbekannte von ihr – die Eltern der Gräfin Guiche waren ihr befreundet – Graf Bussy hatte sie als Knaben oft gesehen – den schönen Grafen Guiche aber, zu Aller Ueberraschung, aus der Taufe gehoben! Genug, es entstand ein Freudentaumel um die hohe, edle Frau, die eine so kindliche, naive Heiterkeit zeigte, daß Jeder Muth gewann, ihr sein Herz zu Füßen zu legen.

»Und dennoch begreife ich mein Glück nicht, theure Tante!« rief Lucile. – »Sie reisend? Sie wo anders, als in Ardoise? Es scheint mir ein Traum, und ich fürchte zu erwachen!«

»Dies Mal nicht, meine theure Lucile!« sagte die Gräfin. »Ich habe in vollem Ernste meine schwerfällige Ruhe aufgegeben, um bei Euch zu sein; doch gestehe ich ein, ich suche außer Euch [270] noch meinen lieben Flüchtling – meine theure Elmerice auf, und zähle auf Euren Beistand, sie uns für immer wiederzugewinnen!«

»O gelänge Dir doch, theure Tante, was wir nicht zu erreichen wußten, ohne eine Art von Zwang gegen ihr tiefes, rührendes Pflichtgefühl auszuüben! Doch Dir wird sie nicht widerstehen – und dann wird unserem Glücke Nichts fehlen!«

»So laßt mich sogleich zu ihr,« sagte die Gräfin und erhob sich. – »Doch will ich nicht gemeldet sein – ich will ihr Herz überraschen.«

Wem hätte nicht Alles, was die Tante Franziska beschloß, das Beste geschienen! Ihre Liebesfülle, von so viel Einsicht und tiefem Menschenblicke unterstützt, brachte einen sich immer wiederholenden Segen über Alles, was sie ergriff. Jeder war im voraus überzeugt, ihr könne Nichts mißlingen; und nur die Ehrfurcht für ihre Ruhe machte, daß man ihre Einmischung so selten begehrte, da sie dieselbe nie versagte, und ihr doch die schüchterne Zurückhaltung anzufühlen war, die sie immer erst mit ihrer Menschenliebe überwinden mußte; da sie die Meinung Anderer über sich nicht theilte, sondern geneigt war, sich unpassend und unzureichend für die an sie gerichteten Wünsche zu halten. –

Elmerice saß an dem Bette der schlummernden Alten. In ihrem Herzen war eine solche Fülle von Schwermuth, daß sie ihr Beschäftigung schien und sie über die trostlose Unthätigkeit täuschte, in welche diese Stimmung sie stürzte, den Trübsinn nährend, der nichts wollte, als ein stetes Nachdenken über die Schmerzen ihrer jungen Brust.

Wie seufzte sie, daß ihr Leben noch lang sein sollte; – da es doch, wenn das schwache Wesen vor ihr versunken sei, für Keinen mehr Werth haben werde! Sie schauderte bei dem Gedanken, diese stille Welt, in der sie so viel Anklang für ihr [271] leidendes Herz gefunden hatte, vielleicht bald verlassen zu müssen, unberechtigt – wie sie Allen erscheinen mußte – hier um eine Stelle für ihr Grab zu bitten. Genug, sie gestaltete in sich das ganze Martyrium der Jugend, die, in den Wünschen des Herzens gekränkt und getäuscht, immer ein vollständiges Unglück in sich zu schaffen sucht, um vom Leben Abschied nehmen zu können und sich berechtigt halten zu dürfen, alle Güter der Erde farblos, ohne Reiz, ohne Werth zu finden. – Wer das schöne, blasse Gesicht der jugendlichen Elmerice beobachten konnte, wie es so ermattet gegen die Lehne des Stuhles gesunken war, der mußte, mit nur einiger Welterfahrung – erkennen, daß sie das Opfer des bezeichneten Zustandes zu werden drohte; und wir können das Gefühl der edeln Gräfin d'Aubaine begreifen, mit dem sie, leise hereingetreten und seitwärts stehen bleibend, ihren Liebling betrachtete.

Sie kannte und hatte es erfahren, was sie in Elmerice's Zügen las! Wie hoffnungslos ihr Schicksal in dieser Beziehung sein werde, hatten ihr Lord Duncan's Mittheilungen über Lord Astolf bestätigt, und sie fühlte das tiefe, mütterliche Mitleiden, was nach Hülfe aussieht und mit dem Geiste der Erfahrung die Mittel ergreift, die der Zeit in die Hände arbeiten, welche keine Wunde unvernarbt läßt und die allerheißesten Schmerzen, von der ersten Stunde an, schon ihrem Ausgleichungsgeschäfte verfallen erklärt und sie mit ihren leisen Pendelschwingungen endlich in ewige Ruhe wiegt. – »Nein, nein,« sagte sie zu sich selbst; – »Du bist zu etwas Besserem bestimmt; – nicht daran darfst Du zu Grunde gehen! Du mußt Dir selbst die Würdigkeit zu einem neuen Leben zuerkennen lernen; diesen edeln Stolz bist Du berechtigt, in Dir zu entwickeln.« – Mit diesem tugendhaften Muth trat sie näher, und Elmerice fühlte eine leichte, sanfte Hand auf ihrer Schulter. Ach, mit welcher Erschütterung blickte sie in die edeln Züge der theuern Frau, die [272] von einer hingebenden Zärtlichkeit belebt waren, die Alles verhieß, was ein leidendes Herz bedarf!

»O, Gräfin d'Aubaine,« sprach Elmerice – und lag, hingerissen von ihrem Anblicke, in demselben Augen blicke zu ihren Füßen; – »Sie finden ein armes, trostloses, undankbares Wesen wieder, das Ihre Liebe vergaß und sie deshalb nie verdiente!«

»Das glaube ich nicht, mein süßes Herzenskind,« sagte die Gräfin sanft und zog sie an ihre Brust. – »Dein Gefühl lag nur verdeckt von den wunderlichen Eindrücken, denen Du hier unterworfen warst. Du hast, ohne liebevolle Warnung und ganz selbst überlassen, Dir ein kleines Martyrium von Pflichtgefühlen geschaffen; das entfernt uns immer von dem natürlichen Leben und macht uns einseitig und verringert die wahre Liebe des Herzens, die wir ausreichend in uns entwickeln müssen.«

Mit der schnellen Umwandlung, welche unverdorbene Jugend, einer höheren und besseren Erkenntniß gegenüber, so leicht und wohlthuend erfährt, fühlte Elmerice beschämt die egoistische Härte, die sich neben ihrer anscheinend berechtigten Handlungsweise in ihr Herz geschlichen hatte.

»Theure, mütterliche Freundin, ich habe gewiß Ihren Tadel verdient,« sagte sie belebter, inniger, als sie es noch wenige Augenblicke früher für möglich gehalten haben würde; »wie schwer ist es, auf der rechten Bahn zu bleiben, wenn man jung ist! Aber jetzt werde ich wieder Ihren Rath genießen; und selbst, daß ich fehlte, wird nur ein Grund mehr sein, daß Sie mich nicht verlassen!«

»Ja, Elmerice, Du verstehst das Wesen der Liebe, und ich bin stolz darauf, zu fühlen, daß Du mir nicht zu viel thätest, selbst in dem Falle, den Du annimmst, und den ich hier noch nicht erkenne. Doch jedenfalls laß' uns nicht so im Allgemeinen unsere Gefühle aufregen. Es ist Nichts so leicht, als [273] das Maaß zu überschreiten, und doch ist das Geheimniß alles Schönen und Guten, Maaß zu halten! – Sag' mir von Deiner alten Freundin, und glaube nur, ich erkenne in hohem Grade Deine Pflichten gegen sie an. Nur das Maaß – das Maaß!« lächelte sie und küßte dem andächtig zu ihr aufblickenden Mädchen zärtlich die Stirn.

Beide traten näher an das Bett der Kranken, die in einem Halbschlummer lag, der jeden Augenblick ihr Aussehen veränderte, was dem alten Arzt als ein sicheres Zeichen ihrer nahen Auflösung galt.

»Ich glaube, mein theures Kind,« sagte die Gräfin d'Aubaine, nachdem sie die Züge der Alten geprüft – »die Natur wird hier bald für immer ausruhen; – und wahrhaft herrlich scheint es mir, daß Gott Dich hierher führte, um heilige Rechte der Dankbarkeit an dieser Frau zu erfüllen, gegen die Deine ganze Familie unerlöschliche Verpflichtungen hat!«

Elmerice wechselte bei diesen Worten schnell die Farbe. Wie schienen sie bei der Gräfin eine früher nicht angedeutete Kenntniß ihres Schicksals zu verrathen! »Diese Verpflichtung besteht wenigstens für meine Ueberzeugung,« sagte sie daher leise – »und es macht mich recht glücklich, wenn Sie mir beistimmen, theure Gräfin! Doch wird auch dieser Trost mir oft dadurch verkümmert, daß ich fühle, wie Emmy's Wahrnehmung sich nachgerade vermindert, und sie in mir nicht mehr die theure Erinnerung sieht, der ich eigentlich diene.«

»So laß' diese Ueberzeugung den Uebergang werden zu den Verhältnissen, die Deiner außerdem harren. Meine Elmerice – meine Tochter, Du hast Pflichten auch gegen mich; ich nöthige sie Dir auf, denn Du hast mich mit Deiner Liebe zu sehr verwöhnt, um sie je entbehren zu können.«

Elmerice schmiegte sich in ihre Arme. Wie fühlte sie die großmüthige Absicht der edlen Frau, ihr eine Pflicht, ein [274] Bedürfniß aufnöthigen zu wollen; – und wie wahr, wie gefühlvoll war doch dabei ihr Ausdruck! Ueberredend schien er ein wirkliches Bedürfniß anzudeuten.

Waren diese innigen Töne des Gefühls zu der Schläferin gedrungen, war sie von selbst erwacht – genug, Emmy's Augen öffneten sich und hafteten mit ihrer eigenthümlichen Schärfe auf Beiden.

»Das wird Deine Gräfin d'Aubaine sein,« sagte sie dann mit ihrem rauhen Tone. »Es ist schon gut, daß sie da ist – ihr will ich wohl das Weitere sagen; – sie hat, wie ich, um meinen Liebling getrauert; – oft habe ich an sie gedacht; – sie muß wissen, was leiden heißt.« –

»Und wir sind uns, wenn auch getrennt, dennoch in manchem ähnlichen Gefühle begegnet, gute Emmy,« sagte die Gräfin d'Aubaine, sich auf den Rand des Bettes setzend. – »Auch in unserer Liebe zu Elmerice; – und recht eigentlich bin ich gekommen, um Dir den Trost zu geben, wie innig ich sie liebe.«

»So schafft ihr auch Recht! Denn wer kann besser, als Ihr, erkennen, daß es Reginald's Tochter ist!« –

Niemals hörte Franziska d'Aubaine diesen theuern Namen ohne eine große innere Bewegung. Seltsam aber traf er sie in diesem Augenblicke, wo sie ihn von der alten, treuen Wärterin des geliebten Mannes aussprechen hörte. Feierlich streckte sie die Hand nach ihr aus und sagte: »Lebe nur noch einige Tage, so wird die Sehnsucht Deines Herzens erfüllt werden!« Sie wurde von der eigenthümlichen Lage fortgerissen und fühlte, daß sie mehr gesagt hatte, als sie sicher war, halten zu können. So ward auch sie von Emmy's gebietendem Wesen beherrscht, und es erregte daher ihren ganzen Antheil, als sie Elmerice neben sich niedergleiten sah, aufs tiefste von den entstandenen Erklärungen erschüttert.

[275] »Nein, nein, Emmy,« stammelte das junge Mädchen – »das Recht, von dem Du träumst, ist für Fennimor's unglückliche Enkelin nicht da! O, meine Wohlthäterin, gehen Sie in Emmy's eigensüchtige Pläne nicht ein! Nie – niemals trete ich Ihren Neffen entgegen; – ich will Nichts vom Leben, als ruhige Zurückgezogenheit! Sichern Sie mir diese an Ihrer Seite, und ich habe Alles, was ich noch begehre!«

»Was aber das Leben von Dir begehren wird, geliebtes Kind,« sagte die Gräfin – »das möchte im Widerspruche damit stehen. Denn glaubst Du, daß wir ihm nichts schuldig sind? Glaubst Du, wir dürfen sagen, es solle kein Recht mehr an uns haben? Nicht also. Der Himmel hat uns ausgerüstet – er fordert die Erledigung der Aufgabe, die er uns diesen Kräften gemäß gestellt hat. Es ist vergeblich, wenn wir uns verbergen – er sucht und findet uns; – darum müssen wir ihm muthig entgegen treten und ihm seine Aufgabe abfragen, in freudigem Gehorsam – mit edler Willenskraft, die, wenn auch kein Glück, doch eine würdige, menschliche Entwickelung begehrt.«

»Folge ihr!« sagte Emmy matt – und sank schlafend zurück.

»Thue das, mein geliebtes Kind!« rief die Gräfin aufstehend. »Asta soll den Schlummer Deiner alten Freundin bewachen, und an der Thüre soll ein Bote harren, der Dir sogleich Nachricht bringt, wenn mit ihrem Erwachen auch Bewußtsein zurückkehrt. Du aber folge mir zu meinen Verwandten, die Dich mit Sehnsucht erwarten.«

Wohl fühlte die Gräfin, wie Elmerice bei diesem Vorschlage in ihren Armen zusammen zuckte; aber sie war entschlossen, sich nicht abweisen zu lassen, und die mütterliche Sicherheit, mit der sie verfuhr, übte eine beruhigende Gewalt über Elmerice aus, der sie sich um so weniger entzog, da hiermit auch das rathlose Gefühl der Vereinsamung aufhörte – So[276] kehrte die Gräfin d'Aubaine in den Salon zurück, wo man sie mit der Spannung der Ungewißheit erwartete. Als die edle, majestätische Gestalt erschien, ihren Liebling an der Hand, drängte sich aus Aller Munde ein Laut der Freude. Noch trug Elmerice die schöne, ideale Tracht Fennimor's, jetzt ihr so gewohnt, daß sie derselben nicht mehr gedachte, und so hatte Beider Persönlichkeit etwas so höchst Ausgezeichnetes, daß Alle einen Augenblick zurückgehalten wurden, als müsse das Auge erst sein Recht genießen – als wäre ihre schöne Erscheinung kaum ein Gut, das man sich anzueignen wagen dürfe!

»Hier, hier!« rief die Gräfin jedoch, lächelnd voreilend; – »hoffentlich werdet Ihr alle die alte Tante loben, der es gelungen ist, Euren Flüchtling zu Euch zurück zu bringen.«

»Elmerice!« rief eine zärtliche Stimme – und Maria Duncan flog in die Arme der Ueberraschten.

Das Entzücken, die theure Freundin so unerwartet wiederzusehen, machte auf Elmerice einen unbeschreiblichen Eindruck; und indem es sie von ihrem augenblicklichen Verhältnisse zur Gesellschaft abzog, gab es sie ihrer eigene, wahren Natur zurück. Ihr Engelsantlitz strahlte von Liebe und Heiterkeit – ihre Bewegungen zeigten wieder die elastische Anmuth, die kindliche Schmiegsamkeit, die ihr zärtlich hingebendes Herz verrieth; und man hätte den Pinsel Lesüeur's herbei wünschen mögen, um den schönen Eindruck zu verewigen, als jetzt die hohe Greisengestalt des Lord Duncan zwischen die zarten Mädchen trat, und Beide, wie an ihren Vater, sich in seine Arme drückten.

Wie reich war Elmerice in kurzer Zeit geworden! Als sie an Lord Duncan's Brust die Augen zur Gräfin Franziska aufschlug, kam sie sich gesichert und außer Zweifel gestellt vor; und ein stolzer Muth erhob sich in ihrem kranken Gemüthe, der sie mit einem Hauche von Glück anwehte.

[277] Wie war auch Alles dazu geschaffen, dies neue Leben und diese Ansprüche ihres jungen Herzens zu nähren! Ueberall kam man ihr entgegen, Jeder wollte sie nach seiner Art zu fesseln suchen, ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, von seinen wohlmeinenden Gesinnungen sie überzeugen; und leichter trat dies hervor, in dem Maaße, als der Gegenstand so vieler Bemühungen Alles bemerkte, erwiederte oder mit dem bezaubernden Lächeln der Freude und Dankbarkeit hinnahm.

Sie übte eine Gewalt über die Gesellschaft aus, von der sie keine Ahnung hatte; Mademoiselle de la Beaume bezeichnete sie, indem sie sagte: »Wenn auch meine eigenen Augen nicht immer hinter Miß Eton herreisten, würde ich doch jedes Mal wissen, wo sie sich befindet; denn wenn sie den Platz ändert, wenden sich alle Köpfe wie auf ein Kommando ihr nach; – und ich verdenke es Niemandem und bin nicht einmal eifersüchtig, daß man darüber meine Schönheit und Jugend vergißt!«

Aber Einer blieb übrig in diesem Kreise, der nur gezwungen die heitere Stimmung der Gesellschaft theilte, wenn wir ihn auch nicht als gleichgültig gegen Miß Eton bezeichnen wollen. Es war Leonce! – Die Peinlichkeit seines Zustandes verrieth sich in jedem Zuge, und seine auffallende Blässe hätte ihn vielleicht sogar Miß Eton verrathen, wenn sie nicht, wie ein schüchternes Reh, den Kreis mit ihren Augen geflohen hätte, wo er sich am meisten aufhielt; da er von den anderen jungen Männern umgeben war, deren leuchtende Blicke sie verscheuchten.

Von da an blieb Miß Eton dem heitern Kreise zugesellt, bis auf die Zwischenstunden, die sie mit treuer Ergebung an dem Lager der armen Alten zubrachte. Der Arzt prophezeihte ihr ein sanftes, schmerzloses Ende und benutzte ihr meist bewußtloses Träumen, um Elmerice langsam von ihrem Lager zu entfernen; da in ihrer Gegenwart, wie er behauptete, eine aufregende Gewalt läge, die diesen friedlichen Zustand leicht zu [278] einer Krisis bringen und ihren Tod schneller und unter heftigen Zufällen veranlassen könnte.

Am anderen Morgen jedoch, nach dem heiteren Frühstücke, führte der Marquis d'Anville Lord Duncan, den alten Arzt und den ehrwürdigen Vikar nach seinen Zimmern, wohin ihnen bald die Gräfin Franziska und Leonce folgten.

»Helfen Sie mir jetzt Alle,« rief der liebenswürdige Marquis, mit einem Tone, der aus dem Herzen kam, als man um ihn her Platz genommen hatte; – »helfen Sie mir Recht stiften und geben Sie mir den Trost, daß Sie mir glauben wollen, wie ich auf das lebhafteste wünsche, ein schmachvolles Unrecht, das meine Vorfahren begingen, gut zu machen! – Hierher, mein Leonce! Laß' Deine umwölkte Stirn – die irgend einem Privatinteresse gilt, dessen Widerstand ich bald besiegt zu sehen hoffe – laß' diese trübe Stirn keinen Zweifel über Deine Gesinnungen erregen, deren edle Uneigennützigkeit ich am besten kenne.«

»O,« rief der Marquis Leonce, lebhaft auf Lord Duncan zueilend, während hohe Röthe plötzlich sein Angesicht färbte – »o, wäre es das? Ist es möglich, haben Sie an mir gezweifelt? Waren Sie, theurer Lord, deshalb so kalt gegen den Jüngling, den Sie einst wie einen Sohn liebten? O, womit habe ich das verdient?«

»Mein Gott,« sagte der Lord, überrascht und verlegen – »welche Voraussetzungen! Ich wüßte nicht, daß ich Etwas versah; bitte aber für Alles um Verzeihung, was Sie beleidigt haben könnte, Herr Marquis.« –

»Das ist nicht die Sprache des väterlichen Wohlwollens, die ich einst aus Ihrem Munde gewohnt war. Sie weisen mich mit der Sprache der Welt zurück; – und doch hätte ich gerade Anspruch auf Ihre Theilnahme – Sie, Lord Duncan, müßten den Unglücklichen nicht verlassen!« –

[279] »Meine Theilnahme, Herr Marquis, hat jedenfalls durch Ihre Fürsorge eine andere Richtung bekommen,« erwiederte der Lord. »Ich habe, denke ich, jetzt nur Gelegenheit, an Ihrem neu entstandenen Glücke Theil zu nehmen; das werde ich gewiß mit der Zeit. Doch zürnen Sie dem Alter nicht, daß es nicht so schnell, wie die Jugend seine Zustände wechselt. Ich sehe es ein, es war zu viel verlangt, als ich Sie bat, ein Jahr auf meine Ankunft hierher zu warten!« –

»Und womit habe ich den Verdacht Eurer Herrlichkeit verdient,« – sprach Leonce, jetzt seinerseits etwas stolz zurücktretend; – »daß ich ein gegebenes Wort gebrochen, was mir unter allen Umständen heilig sein mußte? Sie wissen überdies, daß es ein Wort war, an welchem die letzte Lebenshoffnung meines schwer getroffenen Herzens hing – dessen Erfüllung ich mit einer Sehnsucht erwartete, die mir dies Jahr zu einer Ewigkeit ausdehnte.« –

Lord Duncan's Blicke richteten sich bei diesen Worten, die ein tief bewegtes Gefühl verriethen, forschend auf den jungen Mann, und seine vorher so kalten Züge zeigten wenigstens Antheil, wenn auch noch kein Wohlwollen. »Leonce,« sagte er plötzlich – »ich hatte vielleicht Unrecht, Sie ungehört anzuklagen, Sie sollen mich nicht umsonst an mein väterliches Wohlwollen erinnert haben; ich will Sie hören, und Sie sollen den väterlichen Richter finden; doch vergessen Sie nicht, daß er Sie streng richten wird, wenn Sie jetzt oder früher leichtsinnig Hoffnungen erweckt haben, die sich mit dem Glücke der Betheiligten nicht vereinigen lassen.«

»Ich fange an Sie zu verstehen,« sagte Leonce, »und würde Sie bitten, mir eine augenblickliche Erklärung zu erlauben, wüßte ich nicht, daß uns mein Bruder hier zu einem gemeinsamen und wichtigen Beschlusse zusammen berufen hat, und wäre ich nicht jetzt noch durch ein heiliges Wort gebunden, [280] was es nicht zuläßt, mich so genügend zu erklären, als es nöthig sein wird, um Ihr schweres Mißtrauen zu zerstreuen.«

Schnell grüßten sich Beide, und Lord Duncan's Gesicht hatte sich bei den letzten Worten des jungen Mannes aufs neue merklich verfinstert, wogegen Leonce einen heiteren, freieren Ausdruck gewann.

Bei dieser Unterredung, die auf früher sehr innige und jetzt, wie es schien, gestörte Verhältnisse hindeutete, unterdrückten die Zuhörer ihr Erstaunen, um Beiden Zeit zu einer schnellen Sammlung zu lassen.

»Gräfin d'Aubaine und Sie, meine Herren,« hob nun Lord Duncan sogleich an; – »ich muß um Verzeihung bitten, wenn ich Ihnen, ein unfreundlicher, wilder Insulaner, hier so eben erschienen bin. In Ihrem feinen, gesitteten Frankreich hoffe ich, ist man immer darauf gefaßt, den überseeischen Freunden ein Conto auf ihre rauhen Naturäußerungen zu schreiben – und so lassen Sie mich denn zur Sache übergehen. Ich glaube, meine Freunde, wir sind Alle außer Zweifel, daß Elmerice, unter dem Namen Eton, die Tochter Reginald's, des rechtmäßigen Grafen Crecy-Chabanne ist; – und hier bin ich – der Freund ihres Vaters, dieses unglücklichen Reginald's, in dessen Armen er seinen edeln Geist aushauchte – um diese Wahrheit mit Allem zu vertreten, was Ihr schöner Eifer nur wünschen kann, meine Herren!«

»Gottlob,« rief der Marquis d'Anville, – »so haben wir das Letzte, was uns fehlte: die Identitäts-Erklärung eines vollständig glaubhaften Mannes!«

»Sie haben mehr, mein Herr!« sagte heiter der alte Lord; – »Sie haben gerichtliche, völlig beglaubigte Zeugnisse darüber. Da wir, der englische Bischof, Herr Lester, der Oheim des Grafen, und ich, ihn nicht zur Wiederannahme seines Namens und Ranges bewegen konnten, sicherten wir doch, als [281] er sich vermählte, hinter seinem Rücken den Nachkommen durch die Urkunden, die seine Person nachwiesen und versicherten, die Möglichkeit eines gerichtlichen Beweises. Erst kurz vor seinem Tode, da das Glück seiner Tochter durch eine entstandene Frage über ihren Rang und Titel bedroht erschien, entdeckte ich ihm unsere vorbereiteten Schritte; er gab meinen Bitten nach und erklärte sich nun selbst vor den dazu nöthigen Gerichtspersonen für den Grafen Crecy-Chabanne und ließ die Dokumente darüber ausfertigen.«

Mit freudeleuchtenden Augen empfingen die beiden dadurch enterbten Brüder die wichtige Urkunde, und fast mit Andacht sahen sie die schöne Unterschrift Reginald's neben dem alten Crecy'schen Wappen.

»Wie glücklich bin ich, Mylord,« rief endlich d'Anville – »Ihnen jetzt ein eben so wichtiges Dokument einhändigen zu können. Hier: Ludwig der Fünfzehnte, unser allergnädigster König, hat die Bitten seines ehemaligen Pagen, meines Bruders, erhört und ihm diese Vollmacht in seinem hohen Namen ausfertigen lassen! Sie erklärt den in jenen unglücklichen Prozeß verwickelten Grafen Reginald für völlig unschuldig an absichtlichem Todtschlag, und indem sie die Vermählung seiner Aeltern als gerichtlich rechtskräftig bestätiget, befugt es ihn oder seine Nachkommen zur unbestrittenen Erbfolge aller daher oder daraus entstandenen Besitzthümer der Crecy-Chabanne! Hier – lesen Sie die ausreichenden Bestimmungen dieses wahrhaft königlichen Gnadenbriefes!«

Doch dies that Lord Duncan vors Erste nicht; – er eilte auf Leonce zu und schloß ihn mit Wärme in die Arme. »Edler, junger Mann,« rief er mit feuchten Augen; – »möchte ich in allen Beziehungen Ihnen so meine vollste Bewunderung schenken können – es wäre mir der größte Trost! – Reginald,« rief er dann, die gefalteten Hände andächtig auf seine Brust [282] legend, während sein thränenschwerer Blick den Himmel suchte; – »Reginald, mein erhabener Freund, Dein Name steht jetzt so rein vor der Welt, wie Deine Seele vor Gott! O, welche Wohlthat für mein altes, stolzes Herz – das der Himmel mir in Gnaden vergeben wolle!«

»Ja, und warum erlebte die alte Frau Marschallin nicht diesen Moment?« rief hier der alte Arzt, polternd von seinem Stuhl aufspringend; – »wie hätte ich ihr gegönnt, den Sohn Fennimors mit der Crecy'schen Grafenkrone zu sehen!«

Alle konnten hier, trotz ihrer feierlichen Stimmung, ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken, was der alte, muthwillige Herr auch beabsichtigt hatte, da für sei nen Sinn die Erweichung ihm zu sehr überhand genommen hatte.

»Jetzt,« sagte die Gräfin d'Aubaine – »lassen Sie uns keinen Augenblick anstehen, Elmerice ihren Rechten zurückzugeben.«

»Gut, edle Gräfin,« sagte der alte Arzt; – »ich gehe und hole sie.«

»Besser,« sagte Franziska – »wir begeben uns Alle selbst zur Gräfin Crecy und begrüßen sie als unsere theure Verwandte.«

Alle stimmten freudig ein, und man trat sogleich den Weg zu den Gemächern Emmy Gray's an.

Eine Nachtruhe, die wohlthuend auf Emmy's Kräfte gewirkt hatte, gab ihr an demselben Morgen einen jener klaren Geisteszustände zurück, die oft die letzten Tage solcher Kranken so überraschend unterbrechen. – Sie begehrte Luft und Blumen. Asta mußte ihr schweres weißes Haar unter reinen Binden befestigen; sie schmückte sich und ihr Bett mit umsichtiger Anordnung; und als Elmerice endlich hinzukam, staunte diese über das fast festliche Ansehen des Krankenzimmers.

[283] Auf dem Rande des Bettes nahm sie ihren gewohnten Platz ein, und die Alte sagte freudig: »In kurzer Zeit werde ich bei Fennimor sein und ihr sagen können, daß ihre Enkelin mir die Augen zudrückte und meine letzten Tage fast glücklich machte. Dafür wird Dich ihr besonderer Segen erreichen – und Du wirst von da an glücklich und geehrt sein – und Alles wird sich erfüllen nach Gottes Gebot, der die Menschen mit ihrer Bosheit in den Abgrund schlägt.«

»Bin ich dahin – so bist Du meine Erbin. In Fennimors Kleiderzimmer siehst Du eine gemalte Kiste von Zederholz; sie ist mit den Goldstücken der Crecy's gefüllt; denn ich sammelte für Reginald den reichen Tribut, den sie mir zahlen mußten. Jetzt gehört er Dir. Du bist meine Erbin! Ellen, die Kinderlose, mit ihrem kleinen Herzen, hat genug irdisch Gut; – dies soll nicht zum schlechten Gebrauch dienen!«

»Emmy,« sagte Elmerice – »ich will Deine Erbin sein; aber gieb mir uneingeschränkte Vollmacht, mit meinem Erbe nach meiner Einsicht verfahren zu dürfen – und sollte es auch zu Ellens Gunsten sein. Doch soll sie durch meine Hand das empfangen, was ich ihr für gut halte; nicht das rohe Gold, weil es sein könnte, daß es ihr nicht diente.«

»Ja, so bist Du! – ich dachte es wohl!« seufzte Emmy. »Aber wer hat Willen, wenn die Augen sich für immer schließen; – und viel Anderes hätte sie auch nicht gethan! Sie hatte immer ihren Eigensinn gegen mich und konnte schelten, als wenn ich ihr Kind wäre; – und ich sah Dich eben dasselbe Gesicht machen, was sie dann hatte – die Augen, daß kein Blick herausdrang – und den Mund fest geschlossen. Doch laß das und denke nicht, daß ich Dich schelten will – nimm nur zuerst das Geld, damit ich fühle, Du hast es von mir ererbt – dann mache nachher, was Du willst – und laß mir neben Fennimor das Grab graben – und laß keine Menschenhand [284] über unser Heiligthum kommen! Ziehst Du hier fort mit der Gräfin, die, denke ich, ein menschlich Herz hat, so laß Moder und Staub und den Holzwurm ihre Arbeit machen; aber Menschenhand wehre ab. – Du weißt, ich habe mit ihr nichts zu thun, und sie soll auch nachher fern bleiben!« –

»Was ich dann noch hier von Einfluß haben werde, soll zur Erfüllung Deiner Wünsche dienen, Emmy!« –

»Und er wird groß sein!« sagte die Alte, sich gleich einer Sybille aufrichtend und die Arme in die Luft ausstreckend. »Sie werden kommen und Dich einsetzen; – und Fennimors Enkelin – Reginalds Tochter wird im Rechte sein über Alle!«

Ihre Augen erfaßten dabei mit der größten Ruhe, als erlebte sie das Erwartete, die Gräfin d'Aubaine, welche, leise den Männern voran getreten, gerade jetzt sich den Blicken Emmy's zeigte. Eben traten auch die bezeichneten Herren hinter ihr ein; und als Elmerice die wehmüthig gesenkten Augen aufschlug, schien es ihr, als habe die Alte einen Zauber beschworen.

»Kommt näher,« sprach Emmy mit ihrer alten Energie – »hier ist, die Ihr suchet! Und aus den Händen Emmy Gray's empfanget die rechtmäßige Erbin der Crecy-Chabanne!«

Elmerice erhob sich, und ihren Blick fest auf Alle richtend, sagte sie, edel und stolz auftretend: »Ich habe dieser ehrwürdigen Frau in diesen Gemächern den Anspruch zugestanden, den für mich zu nähren, ihr höchstes Glück war. Ich weiß auch, daß die Natur mich zu diesen Ansprüchen berechtigt, und indem ich die Kenntniß ihres Daseins Ihnen Allen gegenüber offen eingestehe, wird mein Wille und meine Ueberzeugung, ihnen zu entsagen, vielleicht meine Gesinnungen außer Zweifel stellen.«

»Lassen Sie mich hoffen,« sagte der Marquis d'Anville, verbindlich vortretend – »daß Sie diesen Willen, der durch [285] Unkenntniß Ihrer wahren Verhältnisse bestimmt ward, ändern werden, wenn Sie uns gehört haben. Wir sind in Wahrheit hier, Sie als unsere theure Verwandte zu begrüßen, und damit als die rechtmäßige Erbin der Crecy-Chabanne!«

Elmerice änderte zwar die Farbe; – aber sie fuhr sogleich entschlossen fort: »Wenn Sie mir den ersteren Rang zugestehen wollen, Herr Marquis, so wird die Waise den süßesten Trost empfangen, lassen Sie mich hinzusetzen: sie wird dies als eine Sühne für die theuren Verstorbenen in Empfang nehmen; – doch damit muß ich zugleich Alles erfüllt erklären, was uns Beiden zu geben und zu nehmen ansteht.«

»Mein Kind,« rief hier Lord Duncan – »willst Dumich, den Freund Deines Vaters, anhören?«

»Ja, Mylord,« rief Elmerice; – »denn Sie sind mein zweiter Vater! Aber Sie werden es auch der Tochter Ihres Freundes ersparen, die Gründe nennen zu müssen, die ihn auf immer von dieser entsetzlichen Erbschaft trennten.«

Ihre Aufregung war bei ihrer Sanftmuth und Bescheidenheit so ungewöhnlich groß, daß Alle mit innigem Antheil auf die schmerzvolle Tiefe des Gefühls schließen konnten, die von ihrem edeln Stolze jetzt nach Außen getrieben ward. Gräfin Franziska blickte mit Entzücken auf die Tochter Reginalds, die ihr so ganz genug that. Sie hätte ihr auch nicht mit einem Blicke zu Hülfe kommen mögen; – sie genoß den schönen Eindruck, so junge, zarte Kräfte so hoch und stark aufgerichtet zu sehen.

Indessen war Lord Duncan näher zu ihr getreten. »Elmerice,« sagte er – »Dein Vater gab mir Vollmacht, über Deinen künftigen Namen und Rang zu entscheiden. Er selbst bekannte sich kurz vor seinem Tode zum rechtmäßigen Sohne Fennimors und zum Grafen Crecy-Chabanne!«

»Mein Vater?« sagte das muthige Mädchen mit sinkender Stimme – »wohl, Mylord; aber«

[286] »Und wir, mein Bruder Leonce und ich,« sprach der Marquis – »sind hier, Ihnen Ihr großes Erbe unverkürzt zu Füßen zu legen.«

»O, nein! o, nein!« rief Elmerice leidenschaftlich – »Sie können von dem Namen, den Sie mir geben wollen, nicht das schreckliche Zeichen des öffentlichen, wenn auch ungerechten Makels löschen. O, wie könnte die Tochter solche Erinnerungen über ihren Vater wecken wollen!«

»Auch dies ist vertilgt,« nahm der Lord noch ein Mal voll Rührung das Wort; – »Dein Vetter Leonce bewirkte diesen königlichen Brief von Ludwig dem Fünfzehnten. Dein Vater, mein Kind, ist von jedem Makel dadurch frei gesprochen; die Vermählung seiner Eltern rechtskräftig anerkannt.«

Das war zu viel! Elmerice nahm mit leuchtenden Augen das heilige Dokument; dann flog sie an Emmy's Bett, welche eine ruhig Zuhörende geblieben war: »Emmy, Emmy, hast Du es gehört? Fennimors Vermählung ist rechtskräftig anerkannt; – Reginalds – meines Vaters Unschuld ist erklärt!« – Außer sich drückte sie die alte, steife, ernst und stolz blickende Gestalt in ihre jugendlichen Arme. Dann riß sie sich empor; ihr Gesicht glühte; die feurigen, blauen Augen strahlten durch heilige Thränen. Sie hob den Arm – die Hand zu den Versammelten in die Höhe und rief mit klingender, freudiger Stimme: »Jetzt bin ich Gräfin Crecy-Chabanne; – doch Louisens Söhne theilen mit mir das Erbe!«

In demselben Augenblicke eilte die Gräfin Franziska auf Elmerice zu und drückte sie mit lebhafter Zärtlichkeit an ihre Brust. »Elmerice, mein geliebtes Kind, würdige Tochter Reginalds! Laß mich Dir zu Nichts Glück wünschen, als zu Deinem edlen Herzen!«

»Ich will Dich segnen, Fennimors Enkelin! Reginalds Tochter!« sprach Emmy Gray mit ihrer ernsten Feierlichkeit, [287] und Franziska d'Aubaine führte Elmerice selbst zu dem Bette zurück, und diese kniete unter den Händen der Alten demüthig nieder. »Jetzt, Herr,« sprach sie, nach ihrem feierlichen Segen – »ist mein Tagewerk beschlossen. Diese Augen haben die Gerechtigkeit des Herrn gesehen! – Rufe jetzt Deinen müden Knecht und laß ihn eingehen in Deine Herrlichkeit! Amen. – Jetzt zeige mir den Jüngling, der Reginald bei seinem Könige vertrat, ich will ihm den Segen einer Sterbenden geben!«

Elmerice erhob sich langsam; aber ihre Augen blieben am Boden. Sie wendete sich zu der theilnehmenden Gruppe hinter ihr und hob schüchtern, ohne zu sprechen, die Hand auf, als wolle sie eine andere damit erfassen. Leonce stürzte vor – er ergriff die zarte, bebende Hand, und ließ sie nicht wieder los, als er vor Emmy niederkniete. So geschah fast unvermeidlich, daß Elmerice noch ein Mal niedergezogen ward, und nun Beide den Segen der Alten vereinigt empfingen. »Scheide Dich jetzt von mir, Tochter, und gehe die Wege des Lebens!« sagte Emmy ermüdet; und dann in Ohnmacht verfallend, sank sie hinten über. Leonce und Elmerice fingen sie in ihren Armen auf – der alte Arzt trat hinzu – einen Augenblick betrachtete er sie, dann sagte er: »sie stirbt noch nicht; aber Ruhe ist ihr nöthig. – Ihr müßt hier fort, liebe, junge Dame,« wendete er sich zu Elmerice. Leonce hielt noch immer ihre Hand, er half ihr sich aufrichten. »Elmerice,« sagte er – »nur einen Blick der Güte!«

Sie ließ ihm die Hand; – aber die Augenlieder waren schwer wie Blei. – Als sie endlich sie bezwang, jagte der holdeste Engelsblick an ihm vorüber – und sich schnell losreißend, eilte sie in Lord Duncans Arme und rief mit einem Strome von Thränen: »Mein Vater, haben Sie ihm gedankt – meinem Vetter Leonce?«

[288] »Und giebt Reginald's Tochter dazu einem Anderen, als sich selbst den Auftrag?« –

»Nein, nein,« sagte Elmerice, sich zu Leonce wendend und ihm abermals die Hand reichend: »Sie – Sie, mein Vetter – mein Bruder von heut' an – Sie haben mir mehr, als das Leben gegeben!« –

»Ich habe seit der letzten, trostlosen Zeit von der Hoffnung gelebt, dies auszuwirken; und wenn Sie Nichts für mich übrig haben, als diese kleine Erinnerung meines Eifers, so wird es doch mehr sein, als das ganze übrige Leben mir bieten kann. Doch, wie ich diese Schmach unserer Familie auszulöschen suchte, ahnte ich noch nicht, wie nahe diese Handlung Sie anging; damals war es nur zwischen mir und Armand beschlossen, an der Vergangenheit gut zu machen, was in unsern Kräften stand.« –

»O, Leonce,« sagte der Lord, während er ihn mit trüber Zärtlichkeit anblickte – »wie gern liebte ich Dich mit der alten Liebe!«

»Wenn Sie mich einmal Ihrer Liebe werth hielten, so habe ich noch heute denselben Anspruch daran,« rief Leonce, den feurigsten Blick seiner schwermüthigen Augen auf Elmerice und den Lord richtend – »ich halte die Prüfung aus!«

»Wir wollen sehen,« sagte der alte Lord, sichtlich erweicht. »Doch unsere edle Gräfin harret auf uns – wir müssen Elmerice ihrer übrigen Familie vorstellen.«

»So bitte ich um den Arm meiner geliebten Muhme,« rief Armand und eilte mit freudigem Lächeln auf Elmerice zu. Als er sie leichten Schrittes hinwegführte, sagte er: »Wie froh, wie leicht bis in den kleinsten Blutstropfen hinein, ist mir jetzt! Nun sind wir alle Ihre Gäste. Nun behalten Sie mich bloß als Ihren Seneschall, als Ihren Haushalter. – O Elmerice, Ihnen fließt ein schöner Segen zu – öffnen Sie ihm Ihr Herz, blicken Sie froh, damit Sie Frohe machen können. Denken [289] Sie nicht gering von der hohen Stellung, die Ihnen Gott anvertraut! Sie ist herrlich, wenn wir ein offenes Herz, einen gesunden Sinn mit uns bringen. Beides haben Sie; deshalb sehe ich so froh Alles in Ihre Hände übergehen, und – deshalb theilen Louisens Söhne das Erbe nicht.«

Die Antwort, welche Elmerice ihm geben wollte, ward durch Leonce unterdrückt, der plötzlich außer sich auf sie zustürzte, indem er ausrief: »Die beiden Grafen d'Aubaine sind angekommen! O, Armand – o Elmerice, jetzt – jetzt!« Mit diesen Worten war ein so leidenschaftlicher Ausdruck verbunden, daß Elmerice schüchtern zurückwich. Doch schon eilte er ohne Entschuldigung davon, – und Armand sagte: »Auch ich danke Gott, daß die Beiden endlich für Leonce die Entscheidung bringen, die Liebe zu Margot wird ihn noch toll machen!« –

»Wie sehr muß ich Ihre Entschuldigung in Anspruch nehmen,« sagte der ältere Graf d'Aubaine, während er dem Marquis d'Anville entgegentrat – »daß ich Sie unvorbereitet um Ihre Gastfreundschaft ersuche.«

»Mein theurer, verehrter Onkel,« sagte der Marquis heiter – »Ich selbst bin seit diesem Morgen hier nur noch Gast! Hier steht die rechtmäßige Besitzerin von Ste. Roche; – doch sage ich gut, daß Sie auch ihr willkommen sind.«

Voll Erstaunen blickte Graf d'Aubaine auf Elmerice, von deren Gesichte so alle Farbe, alle Bewegung verschwunden war, daß sie einem Geiste glich; doch konnte ihre Schönheit durch nichts beeinträchtigt werden und erregte, wie ihr reiches, fremdes Kostüm, die höchste Bewunderung des Grafen.

Der Marquis kürzte die augenblickliche Spannung ab, indem er Elmerice in die Arme seiner jungen Gemahlin führte, die, Alles sogleich errathend, sie mit inniger Liebe empfing. Da er die ganze Gesellschaft in einem Kreise erwartungsvoll um sie gedrängt fand, rief er lebhaft:

[290] »Wünschen Sie mir und meinem Bruder Alle Glück! Es war uns vorbehalten, die alte, schwere Schuld unseres Hauses, die Sie genugsam kennen, zu sühnen. Die rechtmäßige Erbin unseres Oheims, des Grafen Leonin, ist, durch das Hinzutreten des edeln Lord Duncan vollgültig legitimirt, uns wiedergegeben. Miß Eton ist unsere theure Cousine und die Tochter des Grafen Reginald Crecy-Chabanne, dessen rechtmäßige Geburt aus der Ehe des Grafen Leonin und der Miß Fennimor Lester auf das vollständigste von unserm Allergnädigsten König anerkannt worden ist! – So helfen Sie mir denn,« fuhr er fort, in die alte heitere Laune übergehend – »der jungen Erbin zu huldigen, und bedenken Sie Alle wohl, daß Sie jetzt ihre Gäste sind, und ich mich höchstens noch vermittelnd erweisen kann.«

Elmerice bezwang hier alle Gefühle ihres Herzens, um den Anforderungen genügen zu können, die ihr so nahe gerückt wurden. Sie hob ihren Kopf von Lucile's Schulter, und hold im Kreise herum grüßend, sagte sie: »Junge Rechte werden nie respektirt, ich übertrage sie daher meinem Vetter Armand aufs neue. Vielleicht lerne ich unter seiner Anweisung, wie man die Ehre verdient, solche Gäste besitzen zu dürfen.«

Man war mit ihrer Antwort zufrieden. Alle beglückwünschten nun das schöne Mädchen, deren ungewöhnliches Schicksal die allgemeinste Theilnahme erregte; – und in kleinen Partien getheilt, wurde der Rest des Morgens mit Fragen, Antworten und Erzählungen hingebracht, die endlich die wichtige Sache für Alle vollständig erklärten, bis man sich zum Umkleiden zurückzog, welches die Damen im Kostüme der Schloßherrin zu besorgen versprachen.

Als ein Theil der Gesellschaft sich zur Tafel um die zuerst erschienene, junge Wirthin versammelt hatte, fiel Allen die feierliche Art auf, mit der jetzt der Graf d'Aubaine eintrat, an seiner Hand die hochrothe Margot, deren Augen noch von Thränen glänzten. Er führte sie zur Gräfin Franziska, und als sich [291] Margot ihrer Tante in die Arme warf, rief er: »Sie, liebe Schwester, werden durch das Geständniß der kleinen Schelmin dort überrascht sein. Das Kind will heirathen! und ich habe nach alter, schwacher Väter Weise, Ja dazu gesagt.«

»Nun,« sagte die Gräfin Franziska lächelnd – »wir sind Ihnen, lieber Bruder, deshalb nicht abgeneigt und haben selbst heimliche Wünsche dafür genährt.« Bei diesen Worten streckte sie liebevoll ihre Hand nach Leonce aus, der dicht neben dem alten Grafen stand; – doch dieser trat schnell zurück und führte den schönen Grafen Guiche vor, der knieend die Hand der Gräfin zu erbitten schien.

»Wie?« rief Franziska erstaunt – »Graf Guiche?« – »Graf Guiche?« riefen Mehrere laut, und manches Herz im Stillen!

»Bin ich Ihnen denn so ganz unwillkommen? Gönnen Sie mir dies schöne Glück nicht?« sagte der junge Mann, demüthig zur Gräfin aufblickend.

»O nicht doch, nicht doch!« sagte die Gräfin Franziska gütig und doch verlegen – »ich verstehe es nur nicht!«

»Aber,« sagte der Graf d'Aubaine lächeln – »wer sollte denn der Bräutigam sein?«

»Vielleicht ich, mein theurer Graf!« rief Leonce; – »denn so lange meine kleine Muhme gegen ihren Bräutigam stolz that, war der arme Vetter ihre beste Zuflucht!« Der Graf d'Aubaine lachte, und wie man sah, war er glücklich und heiter. Jetzt hatte sich auch Gräfin Franziska gesammelt; und da auf dem Antlitz ihres lieben Leonce keine getäuschte Hoffnung zu lesen war, begrüßte sie den jungen Guiche mit der gewinnendsten Freundlichkeit. Doch wer malt das Erstaunen von Lucile und Armand! Leonce schien es voraus zu setzen und eilte zu ihnen.

»Ich habe Euren Irrthum oft mit Bedauern gesehen,« rief er. »Vergebt mir, geliebten Freunde! Ich war der Vertraute aller Parteien; ich hatte Stillschweigen gelobt. – Die Achtung für Margot's Vater legte es uns auf; denn er hatte [292] die Bewerbung des Grafen Guiche nach jenem Duell ausdrücklich verbeten. Aber ich kannte alle Parteien zu gut, um nicht eine endliche Versöhnung zu hoffen; – und so blieb ich zwischen Allen der Unterhändler und durfte vor dem Gelingen meiner Bemühungen nicht sprechen. Doch Margot's Bruder, selbst von seinem Unrecht überzeugt, ist zu seinem Vater geeilt, und ihm verdanken wir die endliche Ausgleichung dieser Angelegenheit.«

»Nein! nein!« riefen beide Grafen d'Aubaine und der junge Guiche zugleich. »Leonce gebührt die Ehre! Wir hätten es gewiß nicht so klug einzuleiten verstanden, hätte er nicht mit unablässiger Mühe uns endlich Alle zur Vernunft gebracht!«

»Aha,« sagte Mademoiselle de la Beaume – »jetzt erinnere ich mich der kleinen Nachtscene, die ich zu den Spukgeschichten von Ste. Roche zählen sollte! Das waren der Herr Unterhändler, der Rapport machte. Nun, so oder so, es nahm ein gutes Ende – und ich bin im Vortheile; denn mein Neffe hat einen Engel zur Braut bekommen. – Und Sie, mein junger Herr,« fuhr sie zu Leonce fort, »Sie müssen erfahren, daß ich eben meine gute Meinung von Ihnen reparire; denn seitdem ich als Königin Katharina meinen Hofstaat eingerichtet hatte, machte ich Bemerkungen, die mich glauben ließen, es würde mit doppelten Karten gespielt.«

Längst wußte Leonce, daß ihn die alte, kluge Frau errathen habe. Tief erröthend küßte er ihre Hand und entschlüpfte ihren ferneren Worten.

»Und Sie?« rief er, sich leise neben Lord Duncan schleichend – »repariren Sie jetzt auch Ihre Meinung von mir?«

»Aber warum bist Du denn unglücklich, wenn Du ein lieber ehrlicher Junge bist?« rief dieser mit dem alten Tone väterlicher Vertraulichkeit.

»Weil sie mich nicht mehr liebt!« sagte Leonce. Lord Duncan lachte laut auf. »Ach,« sagte er, das alte Lied von zwei eifersüchtigen Verliebten! Sie soll wohl die Schmachtende spielen, wenn Du wie toll einer Anderen nachläufst. –

[293] »Nein – nein, Lord Duncan! Ich sah sie zuerst in Ardoise wieder, wo ich sie von einem armen Wahnsinnigen errettete. Aber mein schöner Traum – wie ich sie damals mit so großer Freude in meiner Familie aufgenommen sah, wurde nur zu bald durch ihre gänzliche Zurückweisung vernichtet, und bei ihrer schnellen Entfernung von Ardoise erwachte sogar mein Stolz! Ich machte thörichte, vergebliche Versuche, sie zu vergessen und« –

»Warest, wie alle Männer – Gott weiß, ich muß es eingestehen, obwol ich selbst zu ihnen gehöre – immer geneigt, die unvernünftigsten Forderungen zu machen, um an die Liebe eines Mädchens Glauben fassen zu können, deren schüchterne Zurückhaltung, die sie doch nur mit dem bittersten Tadel vermissen würden, ihnen das größte Recht zu geben scheint, sich über Hartherzigkeit und Kälte zu beklagen. Ueberall hatte Elmerice Recht« – fuhr er fort – »aber besonders deshalb, weil sie noch nicht wußte, daß ihr Vater Dir durch mich das Ja-Wort aufgehoben hatte, wenn Du Dich bewährtest.«

Er wollte mehr sagen; aber Leonce verlor den Kopf und drückte den alten Lord mit so unmäßiger Gewalt an sein Herz, daß dieser nicht mehr zu Worte kommen konnte. Als er ihn losließ, sah er zuerst den blaßrothen Seidenstoff von Elmerice's Kleide. Er dankte es der starken Hand des Lords, der ihn aufhielt, sonst wäre er augenblicklich ihr zu Füßen gesunken; – aber er sah sie an mit einem Ausdrucke des Entzückens, von dem sie ihre bewegten Augen abwendete.

»Sie sollen mich zu Tische führen, mein theurer Lord,« sagte sie mit einem bebenden und doch klaren Tone der Stimme – »und da man mir das Vorrecht der Hausfrau damit zugesteht, müssen Sie sich mit mir aufstellen, bis unsere Gäste vorüber gezogen sind.«

Wie schön sah sie aus! Ihre Blässe war verschwunden; seit Margot sie bei der Gratulation so lange geküßt, daß es wie [294] Geschwätz erscheinen konnte, hatte sich die feinste Röthe auf ihre Wangen gelagert, und die braunen Locken, die an den Schläfen mit Agraffen von Perlen aufgenommen waren, zeigten den vollen Ausdruck ihrer himmlischen Augen, in denen ein Schein leuchtete, der wie inneres Glück aussah.

Lucile's scharfer Blick merkte Alles, und als sie an Leonce's Arm vorüberging, sagte sie zu ihm: »Nun, meine Hoffnung, Ihre langweilige Natur durch einen fröhlichen Hausstand mit Margot umzuschaffen, wird, denke ich, in anderer Weise bald seine Erledigung finden!«

»O, sprächen Sie wahr!« rief Leonce und drückte ihren zarten Arm so heftig, daß sie um Hülfe schreien wollte. –

Als Elmerice nach der Tafel in dem stillen Zimmer Emmy's an ihrem Bette, dicht vor ihren Augen saß, und Emmy alle ihre Sehkraft sammelte, um noch zuweilen das liebliche Bild ihrer Fennimor aufzufassen, öffnete sich die Thür und Lord Duncan trat an Elmeri ce's Seite.

»Das ist unser Landsmann,« sagte Emmy, als sie ihn sah – »ich kann ihn unter all' den Anderen heraus kennen, die wenig wissen, was einen Mann kleidet.«

»Es ist Lord Duncan, Emmy« – sagte Elmerice – »er war der Freund meines Vaters – jetzt ist er der meinige.«

»Ich kam her, Dich daran zu erinnern,« erwiederte der Lord – »und Emmy's Gegenwart wünsche ich dabei. Sieh',« sagte er – »seit heute Morgen trägst Du den alten, berühmten Namen dieses Hauses, und ich ruhte nicht eher, bis Du ihn annahmst. Wie findest Du mich, daß ich jetzt schon an Nichts angelegentlicher denke, als ihn Dir zu nehmen, oder vielmehr Dir daneben noch einen anderen zu geben.«

Elmerice wurde glühend roth; aber wir gestehen – Dank Margot's Kuß! – sie hörte das Erwartete. Nach einer Pause fuhr Lord Duncan fort: »Aber wird Dir der Name auch recht sein?«

[295] Elmerice lächelte jetzt; denn sie fühlte, wie Lord Duncan schelmisch blickte. »Das kömmt freilich auf den Namen an,« sagte sie endlich.

»Gewiß,« sagte der Lord; – »aber wenn er nun wie – d'Anville klänge?«

Elmerice fuhr zusammen. Sie fühlte, es knieete Jemand neben ihr nieder. – »Ich habe ihn seit lange lieb,« sagte sie endlich schüchtern. – »O, Elmerice,« rief Leonce, der Knieende – »darf ich diesem Himmelslaute vertrauen? Soll meine heiße, innige Liebe diesen Lohn erhalten?«

»Ja, Leonce!« sagte das edle Mädchen. »Er, der uns einst trennte, segnet uns jetzt; – ich war Ihnen treu und ich weiß, daß Sie es mir geblieben sind.«

Sie unterbrach den Sturm seiner Gefühle, indem sie sich zu Emmy wendete: »Emmy, willst Du mir Deine Zustimmung geben zu der Wahl meines Herzens?«

»Ich will es!« sagte Emmy; – »er hat ein uneigennütziges Herz! Das ist das Einzige, warum es sich lohnt, einen Menschen von dem anderen zu unterscheiden. – Herr, rufe jetzt Deinen Knecht – er ist müde!«

Es waren Emmy's letzte Worte. Von da an blieb sie schlafend, bis der Tod seine Hand sanft vollendend nach ihr ausstreckte. Doch für den Augenblick verließ Elmerice sie ohne Ahnung ihres damit beschlossenen Lebens.

Die Verlobten wurden durch Lord Duncan der versammelten Familie vorgestellt; und gewiß ward nie eine fehlgeschlagene Hoffnung in Franziska, Lucile und Armand vollständiger vergütet, als jetzt durch die Vereinigung dieser beiden von Allen so zärtlich geliebten Personen. Der Familienkreis, der sich hier nun bildete, war der reichste, segensvollste Mittelpunkt für das Glück aller Betheiligten; und der rächende Geist, der so lange drohend und züchtigend über dem alten Schlosse Ste. Roche geschwebt, mußte sich versöhnt zurückziehen, und ließ keinen weiteren Nachweis zurück! –

[296] Mit tiefer Rührung ward Emmy's Leiche an Fennimors Seite gebettet; – doch war auch dieser Tod versöhnend und beruhigend.

Vier Wochen später segnete der alte Vikar von Ste. Roche in der schönen, kleinen Kirche, in der Elmerice zuerst mit so schwerem Herzen gebetet, seine junge geliebte Herrin mit Leonce d'Anville und Margot d'Aubaine mit dem jungen Grafen Guiche ein.

Zu dieser Feierlichkeit waren Herr und Madame St. Albans eingeladen und erschienen, da die Letztere bei dem Hinscheiden und Begräbnisse ihrer Mutter nicht gegenwärtig gewesen war. Auch hier gab Madame St. Albans ihre mißlaunige, kritische Weise nicht auf, während die feine Erscheinung ihres Gatten ihm das allgemeine Wohlwollen zuzog.

An dem erwähnten Hochzeitstage fand Elmerice Gelegenheit, Madame St. Albans allein zu sprechen. »Jetzt müssen Sie mir erlauben,« sagte sie – »Sie mit dem letzten Willen Ihrer Frau Mutter bekannt zu machen.«

»O, ich bitte!« unterbrach sie Madame St. Albans; – »dieser letzte Wille, denke ich, ist in der ganzen Gegend bekannt. Euer Gnaden haben nun einmal Glück in Erbschaften; – aus der Tochter meiner Margarith« – hier trat ihr Schluchzen ein – »der einfachen Miß Eton, die unter meinem Dache schlief, an meinem Tische saß, ist nun eine vornehme, großmächtige Gräfin geworden, die, trotz ihrer Millionen, nicht verschmäht hat, die alte Mistreß Gray zu beerben, die ihr eigen Kind deshalb verstieß!«

Elmerice hörte ruhig lächelnd diesen Ausbruch an; sie hatte nicht gezweifelt, daß sie ihn erleben würde und deshalb gewünscht, mit ihr allein zu sein. »Ja, Madame St. Albans,« sagte Elmerice nach einer kleinen Pause – »ich habe es nicht verschmäht, diese Erbschaft anzunehmen; denn meine Weigerung hätte Ihrer Mutter das Herz gebrochen. Aber sie gab mir[297] Vollmacht, Alles nach meinem Gutdünken anzuwenden; – und eben darüber wünschte ich mit Ihnen zu sprechen. Die Erbschaft bestand aus einem baaren Vermögen in Golde, welches, in Beisein des Pfarrers und des Arztes, in der bezeichneten Kiste gefunden ward. Hier ist der Inhalt aufgeschrieben; aber nichtso wünschte ich Ihnen den Nachlaß Ihrer Mutter zu übergeben – nehmen Sie hier den vom Prior vollzogenen Kaufkontrakt von Ihrer bisherigen Pachtung Tabor; sie ist jetzt mit dem dazu gehörenden Walde Ihr und Ihres Mannes unbestrittenes Eigenthum.«

»Heiliger Gott, die ganze Pachtung – und den Wald noch überdies!« rief Madame St. Albans. – »Nun, solch Gut könnte ja einem Baron gehören. Ach, das kann unmöglich sein, dazu langte das Vermögen meiner armen Mutter nicht hin!«

»Machen Sie sich deshalb keinen Kummer,« erwiederte Elmerice, erleichtert durch die Freude der wunderlichen Frau; – »Margarith Eton, ihre Freundin, besaß Vermögen genug, das Fehlende zu decken.«

»Nun, das nenne ich großmüthig!« rief Madame St. Albans. »Tausend, mein Kind – Sie verstehen die Gräfin zu spielen! Doch verzeihen Sie, ich vergaß über der Freude, meinen Dank abzustatten. Nein, wirklich viel – viel zu viel Güte – ich weiß gar nicht, ob ich es annehmen darf!«

»O, nehmen Sie es,« sagte Elmerice herzlich – »und lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen! Gewiß, ich bin Ihnen Dank schuldig für die Freude, die Sie mir jetzt gewähren.« –

»Ei, ei, meine liebe Frau Gräfin – das ist nun ein wenig zu fein ausgedrückt für so eine einfache, natürliche Frau, als ich bin! Doch das ist nun einmal Ihre Art, und schickt sich jetzt auch besser für Ihre hohen Zirkel, worin Jemand nicht paßt, der einfach vom Herzen wegspricht. Also noch ein Mal meinen allerunterthänigsten Dank!«

[298] Elmerice eilte, diese peinliche Unterredung zu endigen, und hatte eine schöne Genugthuung durch die edle, ruhige Weise, wie Herr St. Albans ihr reiches Geschenk aufnahm. Beide genossen noch lange ihre schöne Besitzung, die sich in allen Zweigen der Kultur auf das Musterhafteste verbesserte.

Zuerst folgten Elmerice und Leonce der Gräfin d'Aubaine nach Ardoise; – von da gingen sie nach Ste. Roche zurück und suchten es mit der vollständigsten Pietät für das Andenken, was daran haftete, herzustellen. Emmy's Zimmer wurden von Elmerice selbst behütet, wobei ihr Asta zur Hand ging, die, in der nächsten Stadt zur ersten Dienerin vollständig und sorgfältig ausgebildet, ihre junge Gebieterin nicht mehr verließ.

So blieb Ste. Roche noch lange ein wohl behütetes Denkmal vieler Jahrhunderte; denn neben den wieder hergestellten, einfachen Gemächern der Claudia von Bretagne, ihrer Betkapelle und Begräbnißgruft, stiegen die Prachtsäle und Gemächer der Katharina von Medicis, wie der früheren Grafen Crecy-Chabanne, mit ihrem alten Glanze empor. Nur der verhängnißvolle Banketsaal veränderte seine Gestalt! Schwarze sammetne Vorhänge umzogen seine Wände; herrliche farbige Scheiben zierten die riesigen Fenster mit symbolischen Bildern und den Wappenschildern der Crecy's; und über der schauerlichen Tafel, die einst Ludwigs Leiche trug, erhob sich in glänzend weißem Marmor ein von Engeln gestütztes Ruhebett, worauf Ludwigs und Reginalds Statuen, nach guten Gemälden gebildet, Hand in Hand ruhten. Wo aber sonst der Thron der Katharina von Medicis stand, hing hinter einem großen Vorhange – Fennimors Engelsbild! Eben so war der schauerliche Platz am Kamine verschwunden; vor seinem kunstreich verschlossenen, mit schwarzen Marmorbasreliefs verzierten früheren Heerde, standen zwei Betstühle, und hier wurde bei der Gegenwart der Herrschaften stets ein feierliches Todtenamt gehalten.

[299] Durch zweckmäßigen Ausbau war dieser Saal außer aller Berührung gesetzt, während die luftige Gallerie, die daran stieß und zum Eudoxienthurme führte, wieder schon und alterthümlich hergestellt war. Die sich anschließenden Hofdamen-Zimmer waren zu heiteren, luftigen Gemächern aus dem Glanzpunkte dieser Epoche umgeschaffen.

Der Eudoxienthurm blieb aber Elmerice's Eigenthum – ein mit jugendlich schöner Empfindsamkeit gehegtes kleines Bijou, zu welchem nur Leonce in einzelnen glücklichen Stunden Zutritt hatte – wo sie ihr Glück überlegten und Gott dafür dankten!

Nur selten, und nur auf wenige Monate bezogen sie ihre reichen Palais in Paris und Versailles – und immer nur, wenn Armand und Lucile, Margot und Guiche mit ihnen dort zusammen trafen. Dazwischen unterhielten die gastlichen Züge dieser Familien von einem Schlosse zum anderen, bei welchen selbst die Gräfin Franziska nicht fehlen wollte, das herzlichste und genußreichste Familienleben, das durch nachfolgende Ereignisse nur immer reicher und schöner ward. Waren die Familien aber in Ste. Roche, so erschien nicht selten Lord Duncan mit einigen seiner Kinder, als jubelnd empfangener Gast; und immer gehörten zu den theuersten Freunden die Greisengestalten des Vikars, des Arztes und der edeln Veronika, wenn ihr hohes Lebensziel ihnen auch nur noch kurze Zeit gewährte.

So war ein allseitiger, großer Besitz auf gutem Grunde erbaut – auf dem sittlichen Werthe seiner Besitzer! Und wir verfolgen von hier an ihre Schicksale nicht weiter und getrösten uns des Motto's:

»Nicht, was wir erleben, sondern, wie wir es erleben, dies entscheidet über Glück und Unglück!«

Fußnoten

1 Wir werden uns erinnern, daß Lesüeur im Winter abreiste.

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TextGrid Repository (2012). Paalzow, Henriette von. Romane. Ste. Roche. Ste. Roche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-66BD-8