130. Der Gänsehirte.

Einmal passierte der König Friedrich der Vierte durch Dithmarschen. Ein kleiner Gänsejunge wollte auch gerne den Zug sehen; weil er aber fürchtete, daß während der Zeit seine Gänse sich verlaufen möchten, band er je zwei mit den Köpfen zusammen, und hängte sich selbst die beiden schlimmsten über die Schultern. Damit stellte er sich an den Weg und als nun der Zug vorbeikam und die hohen Herren den wunderlichen Jungen mit seinen Gänsen sahen, fingen sie an zu lachen und einer fragte, was er wolle. Er möchte gerne den König sehen, antwortete der Knabe, und sagte, warum er die Gänse zusammengebunden hätte. Er gefiel den Herren und sie rieten ihm, am andern Tage nach Meldorf zu kommen und da den König aufzusuchen. Er ging richtig hin; als die Lakaien ihn nicht einlassen wollten, drängte er sich durch, man hätte ihn eingeladen und er müsse den König sehen. So kam er in den Saal, wo alle die Herren waren, und fragte gleich, wer von ihnen der König sei. »Das bin ich«, antwortete freundlich der König. »So ist er ja ein Mensch, wie andre Menschen«, sagte der Junge und wollte wieder zur Tür hinaus. Aber auch dem König gefiel er und die andern Herren hatten schon von ihm erzählt; darum mußte er da bleiben und der König hat ihn nachher mit nach Kopenhagen genommen und zu seinem Hofnarren gemacht. Er hat ihm mit seinen Einfällen manche trübe Stunde erheitert. Einmal hatten die Holländer dem König ein Stück Land abgenommen. Als der Narr ihn darüber betrübt sah und fragte, was ihm fehlte, klagte der König sein Unglück. »Haben's die Holländer denn mitgenommen?« fragte der Narr. Der König verneinte es. »Nun, wenn sie es liegen lassen, so behalten wir es ja« meinte jener und der König lächelte.


Mündlich aus Marne.


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TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. 130. Der Gänsehirte. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-46CB-8