Brevier für Menschen

Tapferkeit

Nicht wer sich gezwungen in Gefahr begibt, ist tapfer, noch wer aus Übermut der Gefahr entgegenläuft, sondern nur, wer um seiner Erkenntnis willen auf sich nimmt, was die Pflicht des Gewissens fordert. Darum schweige das Lob gefahrvoller Taten, und es erhebe sich der Ruhm der aufrechten Gesinnung.

Die Tapferkeit des unbedingten Bekennens bedarf keiner Gefahren, so wenig sie sich von ihnen schrecken läßt. Wer aber Gefahren sucht der Ehren der Welt halber, ist tapfer aus Eitelkeit – das heißt, er ist scheintapfer; er spielt den Furchtlosen, weil er das Urteil der Mitwelt fürchtet. Der wahrhaft Tapfere fürchtet kein Urteil, es sei denn das des eigenen Gewissens.

Tapferkeit ist rücksichtsloses Rechttun, ist bedenkenlose Unterwerfung unter den Befehl der selbst erkannten Moral. Wer fremder Moral gehorcht, wer Befehlen folgt, die das eigene Bewußtsein von Gut und Böse verwirft, der ist nicht tapfer, mögen seine Werke immer denen gleichen, die die Welt als heldische Taten preist. Ohne den Antrieb des eigenen Herzens kämpfen, um nur Vorwürfe zu vermeiden und Strafen zu entgehen, heißt aus Feigheit tapfer sein, heißt Mutlosigkeit mit Mut umpanzern.

Der Todesmut, der alles wagt für die kleine Aussicht, das Leben zu retten, hat mit Tapferkeit nichts zu schaffen. [175] Nicht um Lebens oder Sterbens willen ziemt es sich tapfer zu sein, sondern um des Geistes und der Menschheit willen.

Wenn einmal die Zeit gekommen sein wird – und sie muß kommen, sie steigt schon herauf, und die Welt ist schwanger mit ihr –, die Zeit, da der Kampf der Menschen um geistige Werte gehen und der Geist ihm die Waffen geben wird, dann erst kann die Tapferkeit zu ihrer wahren Geltung gelangen. Denn dann wird offenbar werden, daß der kämpfende Mensch nur tapfer ist, wenn die Sache, für die er kämpft, zugleich seine eigene Sache ist und die der Menschheit.

Selbstverantwortung

Zeitliche Ereignisse von umwälzender Kraft verlangen vom Einzelnen die strengste Reinigung des innern Wesens. Denn sie bewirken das Sichtbarwerden zahlreicher persönlicher Eigenschaften, die den Mitmenschen und oft einem selbst bisher verborgen waren. Solche Erschütterungen zwingen jeden, seinen Platz aufzusuchen, wo er allein stehen mag oder mit wenigen oder angelehnt an die dichte Masse. Zu finden ist jeder unausweichlich, sorge er, daß er bei der großen Seelenschau der Menschheit in Ehren bestehe.

Die Verführung, Halt zu suchen bei den Zufriedenen, die sich leiten lassen, auf eigenes Urteil verzichten und Verantwortung scheuen, ist groß, weil der Wille, der die Ereignisse treibt, stark ist, weil seine Stimme die des Zweifels und der Abwehr übertönt, weil der Rhythmus des Geschehens werbende Kraft hat und schwache Gemüter zwingt, mitzugehen mit den führenden Mächten.

Aber es ist schwer, den Schritt zu hemmen, der einmal in Marsch ist, jeden Augenblick das klare Bewußtsein zu behalten, daß alles Geschehen flüssig ist und erst, wenn es vorüber ist, als unabänderlicher Vorgang der Weltgeschichte [176] der Prüfung der Nachfahren unterliegt. Vor dieser Prüfung mit seinem Verhalten zu bestehen, darauf kommt es für jeden Einzelnen an.

Es ist nicht wahr, daß der Mensch nur ein Rädchen sei in der Maschine, die einmal im Gange ist, nicht fähig und nicht berufen, ihren Lauf zu beeinflussen. Die Geschichte ist das Produkt menschlicher Willenskräfte. Niemand hat seinen Willen auszuschalten, jeder hat ihn anzustrengen nach der Richtung, die sein Gewissen anweist. Wer nur dies Bewußtsein hat, ist – sei es als Helfer, sei es als Eigenkraft – wirkender Faktor der Geschichte. Das gilt zu allen Zeiten, es gilt in erhöhtem Maße in Epochen katastrophaler Ereignisse. Diese Epochen scheiden die Geister. Einmal werden sie erkannt werden, diejenigen, die sich klein machten und zu verkriechen suchten im Gewirr der Massen, um ja nicht aufzufallen, ja sich nicht mißliebig zu machen; diejenigen, die alle überschrien, nur sie seien die wahren Begreifer der Zeit, was sie früher gesagt und getan hätten, gelte nicht mehr, jetzt erst sähen sie den rechten Weg und wollten ihn vorangehen – und diejenigen, die das furchtbare Gewicht der Verantwortung empfanden, das die Zeit auf alle Schultern legte, und die Tun und Lassen abwogen unter dem einzigen Trachten, lauter befunden zu werden vor dem Gericht der Nachwelt.

Die Pflichten des Einzelnen bei umwälzenden Geschehnissen sind nicht auf Paragraphenschienen gezogen. Vorschriften zum Denken und Handeln liegen in keinen Schubfächern aufgesammelt. Nichts, was noch im Flusse ist, läßt sich mit einem Schema, einem Prinzip ins Gleiche stellen. Aber jede Tat, jeder Entschluß, jede neue Wendung im großen Geschehen stellt an die Selbstverantwortung der Persönlichkeit den Ungeheuern Anspruch, ohne Nützlichkeiten zu besinnen und ohne auf ausgegebene Parolen zu horchen, das eigene Gewissen prüfend zu befragen, ob es vor Mit- und Nachwelt an all diesem teilhaben, ob es all dieses hinnehmen und rechtfertigen will.

[177] Seine Antwort aber sei Ja! Ja! oder Nein! Nein! Und was darüber ist, das ist vom Übel.

Wissen, Gewissen, Wissenschaft

In allem Streit von Meinungen und Auffassungen gibt es nur ein Mittel, zuverlässige Wahrheit zu finden: das ist die gefühlte Erkenntnis, die Weisheit, die wir Gewissen nennen.

Unsre Einsicht in die Erlebnisse der Welt und unsre Wertung der Geschehnisse des Lebens sind morsch und brüchig, wenn sie statt vom Herzen zum Hirn vom Verstand zum Gefühl geleitet werden. Unverbildetes Denken, unbestochenes Urteilen nimmt vom Empfinden seinen Ausgang. Der umgekehrte Weg führt zur Doktrin, zum Dogma, zum Standpunkt.

Wehe dem Menschen, der verstockt auf einem Standpunkt steht! Er wächst darauf fest, und seinem Geiste knicken die Schwingen ab. Wehe dem Geiste, dessen Flügelschlag gelähmt ist von den Buchstaben eines Lehrsystems! Er erkaltet zum toten Mechanismus, und was seine Leidenschaft war, wird sein Starrsinn. Wer sich je dem ewigen Werden nahe fühlte, der weiß, daß alle Wärme und alles Licht des Geistes von einem inneren Feuer kommen. Die kluge Begründung einer Erkenntnis formt sich nachträglich im nüchternen Vorgang logischen Zurückdenkens. Logik ist Rechenprobe, und die Logik war falsch, wenn die Rechnung nicht aufgeht in der untrüglichen Wahrheit des seelischen Erkennens.

Das Gefühl weiß: dies ist recht und jenes unrecht, dies ist wahr und jenes falsch, dies ist gut und jenes schlimm. Das begeisterte Gefühl findet Worte und Gründe für sein sicheres Wissen. Aber Worte und Gründe stellen sich ihm entgegen, die nie vom Pulsschlag lebendigen Erkennens bewegt wurden, und oft ist ihre Macht stark genug, um erfühltes Bewußtsein hinsterben zu lassen vor Theorie, Wissenschaft und Glaubenssatz.

[178] Was geschieht den Sehern, die, erleuchtet vom Feuer der Begeisterung, ihr Schauen ins Volk tragen, um es das Gewissen begreifen zu lehren als einziges Mittel innerer Befreiung? – Advokaten stehen auf und widerlegen ihre Ergriffenheit mit den Thesen der praktischen Vernunft. Entwicklungsgesetze verbieten der Gemeinde Sehnsucht und Beseligung. Die Verkünder der Wahrheit, die ohne Beweis Wissen ist, müssen in sich zurückflüchten mit der Erfahrung, daß Augen und Ohren, Verstand und Gemüt der Menschen umfangen sind von Artikeln fragwürdiger Wissenschaft und daß nur ein Mittel noch taugt, die Menschen aus der Kälte lehrhafter Formeln hinaufzuführen zur Flamme erlebnisvollen Rausches: Leid – Leid bis zu dem Übermaß, das Leidfähigkeit und Leidenschaft erzeugt.

Das größte Übel, von dem die Menschheit erlöst werden muß, ist die Willfährigkeit, Formeln zu glauben, denn sie ist das Mißtrauen gegen das eigene Gewissen. Mit der Erlösung vom Formelglauben wird das Wissen der Menschen frei. Das befreite Wissen aber erkämpft sich den Weg von erlernter Wissenschaft zu lebendiger Weisheit.

Vom Tode

Was wir Ehrfurcht vor dem Tode nennen, die Mischung von Schauder, Beklemmung, Wehmut und Jenseitsgefühl, die wir beim Hinsterben eines Mitmenschen empfinden, sollte uns deutlich bewußt sein als Ehrfurcht vor dem Leben.

Die Trauer um einen Toten ist die Bejahung seines Lebens, ist das Bekenntnis zum Diesseits als allein Erlebniswertem. Die Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode ruht immer nur auf Glauben oder Spekulation. Keinem, der in der Überzeugung von Seelenwanderung, Wiedergeburt, Fortwirkung irgendwelcher Art Trost und Sicherheit findet, soll Skepsis oder gar Spott begegnen. [179] Aber alle, die zu innerer Klarheit über ihren Verbleib nach dem Abscheiden gelangt sind – das gilt auch für die Gläubigen mit dem Kindertraum von Himmel und Paradies –, sollten sich erinnern, daß diese Klarheit ihr Glaube und daher ihr Eigentum ist, nur für sie gültig und als sichere Wahrheit nur von ihnen beansprucht und also nur auf sie selbst anwendbar.

Kriegszeiten, Epochen, in denen der Tod über alle Vorstellung Opfer empfängt, verführen viele zu leichtfertiger Einschätzung des Lebens. Sie beruhigen ihre Bedenken und ihr Grauen mit der Erinnerung an die eigene Zuversicht auf ein Weiterleben nach dem Tode. Sie begehn schweres Unrecht an denen, die ihrer Weisheit nicht glauben, die für sich zu keiner Lösung des düstern Rätsels kommen konnten, die des natürlichen Ablaufs ihres Lebens bedurft hätten, um überlegen und ausgesöhnt die überstandene Welt mit einer neu beginnenden vertauschen zu mögen. Ja, der Trost der eigenen Seele wird Grausamkeit gegen die fremde, weil er das Mitgefühl am fremden Leid verdrängt und den Sterbenden eines Teils der Trauer beraubt, auf die er um seines Todes willen Anspruch hat.

Natürlich ist von keinem Menschen zu verlangen, er müsse dem Tode jedes andern Menschen nachtrauern. Das Sterben einer Person beschäftigt niemanden in höherem Maße, als es ihr Leben getan hat. So ist uns der Tod der meisten Menschen völlig gleichgültig. Aber wir sollten uns hüten vor einem summarischen Bedauern, wenn das Los eines gewaltsamen Endes viele zugleich trifft. Es ist eine Frivolität, zu klagen: Schrecklich! In der oder jener Schlacht sind wieder zehntausend Mann gefallen ... und dabei die Zahl der Leichen statt die Summe der zerstörten Schicksale zu meinen. Einmal zehntausend ist leicht zu denken; der Phantasie wird dabei keine Aufgabe gestellt. Zehntausend mal eins aber ist ein Gedanke von furchtbarem Gewicht, denn er enthält die Vorstellung von zehntausend Einzelerlebnissen mit aller Qual jedes [180] Betroffenen, mit allen Tränen und Klagen, die jedem der zehntausend nachweinen – nicht der zehntausend Mann, sondern der zehntausend Männer. Hat uns das Leben dieser Menschen bekümmert und bewegt, so haben sie ein Anrecht darauf, mit allen Empfindungen, die das Ereignis des Todes erweckt, betrauert zu werden. Der Tod kann nicht korporativ erfaßt werden. Daher kann keine Trauer aufrichtig sein, die ihren Schmerz an der Zahl weidet.

Je größer unsre Achtung vor dem Leben ist, je stärker unser eigener Lebenswille uns zwingt, den fremden Lebenswillen anzuerkennen, um so ehrfürchtiger werden wir das Phänomen des Todes begreifen: als Mahnung des irdischen Lebens, bis zu seiner Grenze lebendigen Geistes zu sein und die Aufgaben des Lebens zu erfüllen. Welche Aufgaben jenseits der Grenze gestellt sind, ist das Geheimnis, das der Tod dem Leben verborgen hält. Wer da glaubt, das Geheimnis des Jenseits enträtselt zu haben, der stört mit seinem Glauben vom Tode nicht das Diesseits, dessen Recht das Leben ist.

Künstlerpflicht

Der Entwicklung der Kunst zur Offenbarung zukünftiger Menschheit muß die Entwicklung der Künstler zu Menschen vorangehen.

Das Verhängnis des Künstlers ist seine Vereinsamung, seine selbstgewählte Abschließung von den Dingen des Volkes. Hier ist der schmerzlichste Grund der Kulturarmut dieser Zeit, hier die Mitschuld der Künstler an dem Entsetzen, das wir durchleben. Denn der Künstler, der sich in sein Atelier oder in sein Büro einsperrt, stellt sich damit nicht über die Mitwelt, sondern außerhalb der Menschheit. Er entzieht das geistig-seelische Gut seiner Künstlerschaft der Wirkung auf das Weltgeschehen.

Bisher waren die Künstler Besondere ohne Zusammenhang mit allen – und waren noch stolz darauf. Es kommt [181] ihnen aber zu, ihr Besonderes zu benutzen zur Bereicherung aller. Wer in Wahrheit Künstler ist, wird seine Weisheit und sein Pathos fruchtbar zu verwenden wissen, sofern er nur auch Mensch ist.

Sache des Künstlers ist zuallererst Gemeinschaft. Sein Mittel, Gemeinschaft herzustellen und auszuüben, ist die Kunst. Schafft eine Kunst geistige Verbrüderung unter den Menschen, so schafft sie das Beste, was unter Menschen sein kann: Volk.

Volk muß noch geschaffen werden. Was heute besteht, ist sein Surrogat, ist Staat. Staat ist Krieg, Haß, Verfolgung, Zwang, Gesetz. Volk ist Friede, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Ausgleich, Kultur. Der Künstler stelle sich, sein Werk, seine Idee, sein Leben in den Dienst des Volkes, so wird der Inhalt des Volkes Kultur und Schönheit sein.

Dies ist die Aufgabe der Künstler in den kommenden Tagen: durch die Mittel ihres Geistes, also durch ihre Kunst, Völker aufzurichten und die Grenzen zwischen ihnen zu zertrümmern. Um es zu können, müssen die Künstler leidenschaftlich teilnehmen am Erleben der Welt, mit Leidenschaft selbst Menschen sein. Die Künstler müssen sich verantwortlich wissen für alles, was die Erde erschüttert. Ihr Werk muß teilhaben am Ursprung aller Ereignisse. Ihr Werk sei ihr Gewissen, ihr Gewissen aber sei geleitet vom Willen zum Wesentlichen.

Wenn einmal die Künstler ihren Platz gefunden haben werden unter den Menschen, wenn ihr Schicksal eins geworden sein wird mit dem Schicksal aller, dann werden die ewigen Wahrheiten, die vergiftet und geschändet sind, ohne bei den Geistigen und den Künstlern Schutz zu finden, wieder aufstehen und wahr bleiben, die ewigen Wahrheiten, deren Namen Friede und Gemeinschaft sind.

[182] Die Seele des Kindes

Die Seele des Kindes ist das Allerheiligste im Tempel der Menschheit. In ihr lagert das Glück und die Freiheit der Welt.

In der Seele des Kindes vereint sich das tiefste Wissen um die Schönheit und Güte der Welt mit dem stärksten Mut zum Bekennen der Wahrheit.

Die Seele des Kindes ist der Spiegel unserer Tugenden und die Geißel unserer Fehler.

Wer gegen die Seele des Kindes sündigt, der ist ein Verbrecher an allem Wahren, Guten und Reinen. Seine Sünde wird nie vergeben. Denn sie ist Frevel am Heiligen Geist.

Ein Kind, das an Leib oder Seele darbt, ist größerer Vorwurf gegen die Menschheit als alle Feindschaft und alle Niedertracht der Welt.

Das Kind sei dem Erwachsenen Lehrer und Erzieher. Die Seele des Kindes laßt uns befragen, wenn wir der Zukunft und dem Heil der Menschen dienen wollen. Denn in der Seele des Kindes ist die Vernunft der Wahrheit und das unschuldige Wissen von Gut und Böse.

Was wir dem Kinde zuliebe tun, das laßt uns mit der Seele des Kindes tun. Das heißt: ohne Eigennutz und Falsch, den Blick und die Sehnsucht aber auf Frieden und Zukunft gerichtet.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Lyrik und Prosa. Sammlung 1898-1928. Zweiter Teil: Prosa. Brevier für Menschen. Brevier für Menschen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-454C-E