Die Affenschande

1.

I

»– – und das, mein Lieber, ist mein letztes Wort«, schloß Dr. Nelly Pritschke, indem sie den Arm von der Schulter des ausgestopften Gorillas löste und weit von sich streckte, den Zeigefinger in der Richtung des Glasschrankes, der die toten Meerkatzen beherbergte, den Blick aber, alle Strahlen des prismatischen Kneiferglases zu einem Wurfgeschoß zusammenballend, mit eiserner [196] Strenge mitten im verängstigten Faltengesicht ihres Bräutigams Felix Klötschipper.

Jetzt wußte Felix, woran er war. Vierzehn Jahre waren sie verlobt, vierzehn Jahre, in denen Nellys zoologische Studien sein Vermögen und den Rest ihrer weiblichen Jugend aufgezehrt hatten – und jetzt, da ihr epochales Werk »Niwrad! Zurück zum Affen!« die Braut in den Stand setzte, eine Familie zu ernähren, ja, ein amerikanischer Krösus, selbst ein begeisterter Affenfreund und hingerissen von der umwälzenden Theorie der Zoologin, ihr unbegrenzte Summen zur praktischen Erprobung ihrer Behauptungen zur Verfügung gestellt hatte; jetzt, da also der Eheschließung keinerlei materielle Bedenken mehr im Wege standen und die Heirat für ihn, der schon seiner Wirtin den Zins nicht mehr zu zahlen wußte, zur gebieterischen Notwendigkeit wurde – jetzt diese Bedingung!

Felix Klötschipper war von jeher ein sittenstrenger Mann gewesen, und die vom Vater ererbten Mittel hatten ihm erlaubt, ohne Ausübung eines Gewerbes dem Beruf zu leben, die eigene Sittenstrenge anfeuernd und beispielgebend unter seine Volks- und Zeitgenossen zu tragen. Es gab keinen Verein für keuschen Wandel oder gegen Schmutz und Schund, in dem Felix nicht Vorstands- oder gar Ehrenmitglied war, und wo irgend sich Gelegenheit bot, Anstoß zu nehmen – er nahm ihn.

Eines Tages aber – er stand im sechsunddreißigsten Lebensjahr – lernte er bei einem Vortrag über »Winke zur Veredlung der sinnlichen Triebe in der Tierwelt« die Kandidatin der Zoologie kennen, die ihm von der Vorsehung selbst gesandt schien, seinen Lebensweg fürderhin zu begleiten. Schon ihr Äußeres kam ihm wie eine stete Mahnung zu Keuschheit und Enthaltsamkeit vor, und als er dann erst ihren Geist bewundern gelernt hatte, der schon damals – sie war neunundzwanzig Jahre alt – mit der diszipliniertesten Energie dem Studium der menschenähnlichen Affen oblag, da wußte er: »Diese Frau [197] oder keine! Nur sie wird meinem Wesen, meiner Natur wahres Verständnis entgegenbringen!«

Nelly verweigerte dem Bewerber um so weniger das Jawort, als ihr die gesicherte Lebenslage Felix Klötschippers die Erlangung des Doktorgrades und die Fortsetzung ihrer Studien gewährleistete, welche sie nunmehr auf die Erforschung der Familienbeziehungen hin spezialisierte, aus denen der Mensch in antediluvianischen Zeiten seine zoologische Unabhängigkeit vom Anthropoiden entwickelt hatte. Nicht nur, daß es ihr nun möglich wurde, bei vielen Menagerien und zoologischen Gärten die verendeten Affen aller Sorten im Abonnement zu beziehen, so daß Messungen, Vergleichungen und Untersuchungen jeder Art und die Anlegung einer vortrefflichen Sammlung toter Gibbons, Schimpansen, Hulmanns, Paviane und Orang-Utans ihre wissenschaftlichen Arbeiten wirksam fördern konnten – nein, außer diesen Vorteilen, die sein Vermögen verschaffte, bot auch die Person des Bräutigams in ihrer biologischen Besonderheit einen starken Anreiz für Nelly, ihn ständig an sich zu fesseln. Felix hatte Arme von erstaunlicher Länge, überdies ungeheure, weit abstehende und fächerartig ausgespreizte Ohrmuscheln, und seine Stirn- und Nackenbildung, die in weitem Abstand unter der breiten Knopfnase tief über den sehr großen Mund hängende Oberlippe, das mächtig vorgebaute Gebiß, der Gang und die Behaarung forderten die Gelehrte unausgesetzt zu vergleichenden Beobachtungen heraus.

Zwar dauerte es zwei volle Jahre ihrer Brautzeit, bis sie Felix bewegen konnte, diejenigen Untersuchungen an seinem Körper vornehmen zu lassen, die zur Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden etwa zwischen seiner Beckenbildung und fossilen Knochenresten erforderlich waren. Erst als er sich zuverlässig überzeugt hatte, daß seine künftige Gattin nicht entfernt von sinnlichen Begierden bewegt wurde, als sie beispielsweise seine Hinterseite nach den vermuteten Rückständen [198] eines beweglichen Schwanzes zu erforschen begehrte, und als er nach einem eingehenden Blick auf die knochige Gestalt Nellys in sich die Gewißheit erhärtet hatte, daß keine fleischliche Anfechtung seine Sittenfestigkeit bei der Prozedur zu erschüttern drohte – erst da ließ er sich herbei, sich jeweils nur so weit, wie die Wissenschaft die Besichtigung unerläßlich machte, vor der Verlobten zu entblößen.

Ihr gelang es auf diese Art, durch Rückschlüsse vom lebenden Menschen aus, somit durch eine der üblichen Forschung entgegengesetzte Methode, die nahe Verwandtschaft mit gewissen Gattungen von Großaffen aufzuhellen, woran bisher Anthropologen und Paläontologen soviel verlorenen Schweiß gewandt hatten, weil sie glaubten, dem Problem durch Ausgraben der Gebeine von Menschenahnen aus der Tertiär- und Pliozänzeit beikommen zu können. Es gelang Nelly, an ihrem Bräutigam Merkmale festzustellen, die ihn anatomisch in überraschende Nähe zu einer Gorilla-Art brachten, von der neuere Tropenreisende, die sie auf den Komoren angetroffen hatten, berichteten.

In dem zweibändigen Werk, in dem die Forscherin die Ergebnisse dieser Untersuchungen niederlegte, gab sie ausführlich Rechenschaft darüber, wie sie Felix methodisch mit allen bekannten Affensorten verglichen hatte, wie sie zuerst, veranlaßt durch gewisse Eigenschaften, die beim Kauen und andern unwillkürlichen Bewegungen zutage traten, Beobachtungen also sozusagen psychologischer Natur, eine Spur verfolgte, die zur Familie der Brüllaffen führte, bis sie dann doch zur Überzeugung kam, daß bei aller Verwandtschaft auch mit Pavianen und niederen Affen der anatomische Stammbaum zweifellos zu den sogenannten Menschenaffen führe, wobei schließlich nur Schimpanse und Gorilla als Urahn zur engeren Wahl blieben. Nelly Pritschke kam zu dem Schluß, daß keine der lebenden Affenarten unverändert die Charaktere der Menschenvorfahren in sich bewahrt [199] habe. Doch glaubte sie – und hier bahnte sie der Wissenschaft einen neuen Weg zu praktischer Empirie –, daß durch geeignete Kreuzungsexperimente eine Rückzüchtung zu den Übergangsformen zwischen Menschen und Affen und damit eine Neuschaffung des diluvianischen Urmenschen sowohl, als auch des eigentlichen Stammaffen der Menschheit bewerkstelligt werden könne. Der Titel »Niwrad« ergab sich aus dieser Umkehrung der Entwicklungsreihe, die Darwin aufzeigte, von selbst.

Es kam jetzt nur noch darauf an, Expeditionen auszurüsten, um die notwendigen Versuche anzustellen. Die Mittel waren dank der Opferfreudigkeit des amerikanischen Enthusiasten bereit. Jedoch hatte Nellys hinreißender »Aufruf an die Menschheit«, in den ihr Werk ausklang, trotz zahlloser Angebote nicht die erhoffte Auswahl brauchbarer Rückzeugungs-Individuen gezeitigt. Sie hatte darin Männer und Frauen aller Rassen aufgefordert, sich unter Beifügung von Nacktfotografien und beglaubigtem Signalement, das alle nach dem Bertillonschen Meßverfahren feststellbaren polizeilichen Steckbriefeigenschaften nebst genauer Angabe der Weltanschauung umfassen müsse, »an die Front der Anatomie« zu stellen. Geeignete Bewerber und Bewerberinnen sollten je nach ihrer animalischen Struktur mit der für sie geeigneten Affenart zur Paarung vereinigt werden, und je nachdem, was auf dem Engagements-Kontrakt als Charakteristikum vermerkt war – »Gibbon«, »Orang-Utan«, »Schimpanse« und so weiter –, sollte der oder die Betreffende in die nach Kompanien eingeteilten Register eingeordnet werden. Der Aufruf schloß mit den markigen Worten: »Zurück zum Affen! Freiwillige vor!«

Obwohl sich unter den Hunderten von Bereiterklärungen aus allen Erdteilen, die in überwältigender Mehrzahl von Frauen und Mädchen höherer Altersgrade ausgingen, Prachtexemplare befanden, deren Affenähnlichkeit aus den Lichtbildern verblüffend in die Augen sprang, so ergaben doch bei genauerer Prüfung die Maße [200] und Formen überall eine schon so weit vorgeschrittene zoologische Entwicklung zum ausgestalteten Menschen, daß sich Nelly eine erfolgreiche Rückbildung der Art von keinem der körungswilligen Pioniere ihrer Forschung versprechen konnte. Einzig Felix Klötschipper, ihr Verlobter, entsprach allen Anforderungen, und der Gedanke, er müsse Vater eines Gorillabastards jener neu entdeckten Komoren-Gattung werden, beschäftigte sie tagaus, tagein und verstärkte sich bei jedem Zusammensein mit dem Erwählten. Doch hatte sie noch nie gewagt, das Opfer von ihm zu verlangen, da sie fürchtete, ein solches Attentat auf seine sittlichen Grundsätze möchte ihn zu einer gänzlichen Lösung des Verhältnisses veranlassen und sie dadurch ihres einzigen produktiven Studienobjektes unwiederbringlich berauben.

Jetzt war er aber gekommen, um angesichts seiner bedrängten Lage auf die höchste Beschleunigung der ehelichen Verbindung zu dringen. Er setzte ihr in brodelnden Kehllauten auseinander, daß er seit Monaten schon jeder Fleischkost entraten müsse, da er alles, auch sein Letztes, für ihre Forschungen hingegeben habe, ja, daß er bereits in Schulden geraten sei und die Gläubiger, die er auf seine bevorstehende Heirat mit der berühmten Zoologin vertröstet habe, ihn wegen betrügerischer Vorspiegelungen gerichtlich zu belangen drohten.

Wie er nun so dasaß, die niedrige Stirn in breite Falten gelegt, zusammengekauert, daß die Knie vor dem Brustkasten standen, die schier unnatürlich langen Arme an den Leib gepreßt und mit den vielgelenkigen Fingern in den wolligen Haaren wühlend, wie er die Zähne fletschte in seiner Angst und die Nüstern sich fast bis an die Backenknochen zur Seite bogen, während die Ohren schaukelten, da fühlte sich Nelly von ihrer Forscherleidenschaft unwiderstehlich ergriffen, da empfand sie, daß hier der Erfüller all ihrer Gelehrtensehnsucht sitze und daß es Frevel wäre, länger zu zögern und die Bedrängnis, die ihn ihr auslieferte, ungenutzt zu lassen.

[201] Felix' Schreck, seine Verzweiflung war unbeschreiblich, als er die Bedingung erfuhr, deren Verweigerung den unwiderruflichen Abschied, deren Erfüllung die Hochzeit binnen vier Wochen mit anschließender gemeinsamer Reise zu den Komoren-Inseln bedeutete. Knapp und scharf hatte Nelly Pritschke gesprochen, und der einzige Zucker, mit dem sie die Pille versüßte, war die Zusicherung, daß er gegen sie keinerlei eheliche Verpflichtungen haben solle als die, die er an dem ihm zugedachten Gorillaweibchen erfüllen müsse. – »– und das, mein Lieber, ist mein letztes Wort.«

»Schande! Schande!« stöhnte Felix Klötschipper, »ja, Affenschande!« – Und seine Fingerknöchel staken aus dem Bartwulst hervor wie hölzerne Gardinennägel ... Dann willigte er ein.

2.

II

Die vegetarische Diät, zu der Felix Klötschipper infolge seiner zerrütteten Vermögensverhältnisse schon lange genötigt war, erleichterte die Vorkehrungen, die Dr. Nelly Pritschke zum guten Gelingen ihres Werkes für ratsam hielt. Es gelang ihr in so kurzer Zeit, ihn aller dem Zweck unzuträglichen Kost zu entwöhnen, daß er schon auf der Hochzeitsreise nur mehr Kokosnüsse zu sich nehmen mochte. Auch sein Äußeres paßte sich der Rolle, zu der er bestimmt war, mit jedem Tage der Seefahrt besser an, was nicht allein den schlingernden Bewegungen des Schiffs zuzuschreiben war, die ihn das Sitzen auf der niedrigen Bordbank mit rücklings ineinander geknoteten Beinen und auf den Boden aufgestützten Händen als natürliche Haltung begreifen lehrten, sondern auch der seelischen Pein, die Stunde immer näher heranrücken zu fühlen, wo er in den vier Armen einer Äffin die bislang streng gehütete Keuschheit seines Wandels preisgeben sollte. Immerhin überredete sich Felix zu dem Trost, daß er ja doch inzwischen ein verheirateter Mann geworden sei und überdies [202] der Vorwurf, er fröhne der Sinneslust, schon durch die Beschaffenheit der für ihn ausersehenen Partnerin Lügen gestraft werde. Dennoch machte ihm der Gedanke Beschwerden, ob den Eingeborenen auf den Komoren dieses Argument einleuchten werde und ob nicht die Art seiner Verwendung im Dienste der Wissenschaft, wenn sie ruchbar werde, seiner Missionstätigkeit für die Hebung der Sittlichkeit bei den Wilden abträglich sein könne.

An Ort und Stelle hatte Nelly mit Hilfe des ihr von dem Dollarmillionär beigegebenen Stabes von Affenjägern, Turnlehrern, Architekten, Dolmetschern, Tierbändigern und Professoren bald genug alle Einrichtungen geschaffen, die dem Fortpflanzungsgeschäft ihres Gatten förderlich schienen. Die gesuchte Affenrasse wurde ermittelt; ein wohlgestaltetes Gorillaweibchen, das den Rufnamen Justine erhielt, bekam in einem geräumigen, mit einer breiten Ottomane möblierten Käfig Quartier, und Felix Klötschippe lernte von einem nahe stehenden Baum aus an die Gitterstäbe anzuspringen und daran mit großer Gelenkigkeit herumzuturnen, so daß sich Justine an seinen Anblick gewöhnte und auch er selbst bald die Scheu verlor, sich in den für eine Äffin verführerischsten Stellungen mit seinen langen Gliedmaßen vor der Mutter seiner erhofften Züchtung zu zeigen.

Die Absicht, den Inselbewohnern in Missionskursen seinen Abscheu gegen Unzucht sowie Schmutz und Schund in Wort und Bild einzuflößen, mußte Felix aufgeben, weil ihn die Dolmetscher darüber aufklärten, daß ähnliche Versuche bereits früher unternommen worden, aber an der leider bloß Heiterkeit erregenden Wirkung, die sie erzielten, erbarmungslos gescheitert seien. Durch diesen Verzicht auf die Ablenkung seiner Gedanken von den possierlichen Versuchen Justinens, vor dem Turner an ihren Käfigstäben graziös zu kokettieren, geschah es, daß Felix Klötschipper allmählich ein nie gekanntes Gefühl in sich aufsteigen spürte, das ihn zu immer vollkommeneren turnerischen Leistungen anspornte und ihn auch in [203] Stunden, in denen er dazu nicht verpflichtet war, in die Nähe des Gorillamädchens drängte. Nelly, seine Gemahlin, die ihn scharf beobachtete, überraschte ihn sogar dabei, wie er sich über den Kopf weg mit der rechten Hand die linke Backe kratzte, und bei ähnlichen unwillkürlichen Gesten, die die aufkeimende Sympathie für Justine verrieten.

Es ist nie ermittelt worden, ob die Initiative schließlich von ihm oder von ihr ausgegangen war. Tatsache ist, daß Felix im Affenkäfig bald ein und aus ging und daß Justine genau neun Monate, nachdem sein Besuch bei ihr zum ersten Male festgestellt werden konnte, eines kräftigen Söhnchens genas.

Die Freude war allgemein und am größten bei Frau Dr. Klötschipper-Pritschke, die den Kleinen mit Lupen und Pinzetten von allen Seiten genau untersuchte, aber zu keiner Lösung der Frage kommen konnte, ob Körper und Gliedmaßen mehr Eigentümliches von Vater Felix oder von Mutter Justine erhalten hätten. Man mußte abwarten, wie sich die Anlagen beim Wachstum entwickeln würden. Das Gorilla-Menschchen erhielt den Namen Cyrill.

Nellys Studien erschöpften sich aber keineswegs in der Beobachtung der Beziehungen zwischen Felix und Justine und des Gedeihens ihres Kindes. Vielmehr betrieb sie die Wissenschaft, zu der sie daheim Fossilien und ausgestopfte Tiere benutzen mußte, hier mit Eifer an lebenden Geschöpfen. Häufig mußte Felix zu neuen Messungen erscheinen, die zugleich auch an einem männlichen Gorilla vorgenommen wurden, den zu einem friedfertigen und munteren Hausgenossen zu erziehen ihr in erstaunlich kurzer Zeit gelungen war.

Eines Tages unterbrach die Forscherin ihre Arbeiten. Sie legte sich ins Bett, und als sie wieder aufstand, sah sie schlanker aus als je zuvor und drückte ein nur undeutlich erkennbares kleines Wesen an die merkwürdig prall gewordene Brust. Felix, in dem die Erinnerung an seine Sittenstrenge lebendig aufwallte und der sich nicht vorwerfen [204] konnte, den Dispens von seinen Ehemannsrechten je durchbrochen zu haben, murmelte »Affenschande!«, begab sich aber alsbald wieder zu seiner Justine. Nellys Töchterchen wurde Effie benannt.

Das Leben auf den Komoren verlief nun ziemlich regelmäßig. Die Zoologin setzte ihre Studien an ihrem Gatten und seiner Äffin, an ihrem Affen und den beiden bisherigen Erzeugnissen ihrer Forschungsmethode fort, ohne indessen der Gelehrtenwelt epochemachende Berichte zu geben. Dazu sollte erst erkannt werden können, welche Wege besonders die geistige Entfaltung Cyrills und Effies nehmen werde. Auch scheute sie sich, öffentlich zu bekennen, in welch nahe Familienbeziehungen ihr Gemahl und dann sie selbst zu den Objekten ihrer Theorie getreten war.

Der behagliche Friede, an den sich die vier zur Ehe gehörenden Individuen gewöhnt hatten, wurde jäh zerrissen. Eines Nachts erwachte Felix und fand das Lager neben sich leer, und in der gleichen Nacht erlebte Nelly dasselbe. Am Morgen standen die beiden verlassenen Gatten einander gegenüber, er mit der mutterlosen, sie mit der vaterlosen Waise an der Hand. Effies Vater war – kein Zweifel konnte bestehen – mit Justine auf und davon gegangen. Jetzt mochten sie wohl im Geäst eines Kokosnußbaumes drüben im Urwald schäkernde Kurzweil treiben, von der kein Züchtungsprodukt im Sinne von »Niwrad« zu erwarten stand.

Felix und Nelly Klötschipper hatten ihren Entschluß bald gefaßt. Der Gönner in Amerika erhielt Nachricht, daß die Forschungen an Ort und Stelle abgeschlossen seien und die Gelehrte zurückreise, um die Ergebnisse daheim zu verarbeiten. Die Affenjäger, Turnlehrer, Architekten, Dolmetscher, Tierbändiger und Professoren wurden ausbezahlt und entlassen, und die beiden Kreuzungsfahrer bestiegen mit Cyrill und Effie ein Schiff und verließen die Komoren.

Die Rückkehr von der ausgedehnten Hochzeitsreise [205] nach fast drei Jahren wurde von allen Freunden und Bekannten freudig gefeiert. Man bewunderte allgemein die reizenden Kinderchen, und lange wurde gestritten, wem der Junge und wem das Mädel am ähnlichsten sehe. Endlich entschied Tante Hildegard: »Aber Cyrillchen ist doch unsrer Nelly wie aus dem Gesicht geschnitten!«, und »Ganz die Mama!« riefen alle Verwandten und Freunde. »Und Effiechen«, sagte Tante Hildegard jubelnd, »ist doch der Felix, wie er leibt und lebt!« – »Ganz der Papa!« rief jetzt alles wie aus einem Munde.

Die Familie Klötschipper-Pritschke gewöhnte sich rasch in die heimischen Verhältnisse ein. Aber eine bemerkenswerte Folge der komorischen Erlebnisse machte sich bei dem alternden Ehepaar geltend. Felix erlitt plötzlich beim Anblick seiner Gattin Anfechtungen, wie er sie früher nie empfunden hatte, und auch Nelly sah den Gemahl mit andern Augen als denen der forschenden Zoologin. Nicht lange währte es, daß sie die Wandlung voreinander verborgen halten konnten; als es Frühling wurde, erwachten sie, eins in den Armen des andern, und der Mann schaute der Frau ins Auge und fand sie lieblich wie einst seine Justine, und die Frau lächelte dem Manne zu und fühlte das gleiche wie einst bei dem Vater ihrer Effie.

Die Kinder aber wuchsen heran, und alle bewunderten ihre Anmut und fanden sie den Eltern immer ähnlicher. Es zeigte sich, daß ihre geistige Entwicklung die Bahnen einschlug, die auf die menschliche Herkunft zurückführten, während die Gorilla-Gestaltung der Körper den Freunden und Nachbarn ohnehin nicht auffiel. Leider mußten aber grade darum Nellys Untersuchungen ihren Abschluß finden, ehe die Rückzüchtung zum Affen in die zweite Generation fortgesetzt werden konnte.

In Cyrill prägte sich, als er zum Jüngling heranwuchs, der sittenstrenge Charakter des Vaters in einem Maße aus, daß jede Hoffnung, er werde je sinnlichen Begierden verfallen und, sei es mit den Basen väterlicher- oder [206] mütterlicherseits, Nachkommen erzeugen, gänzlich verloren war. Effie hingegen erbte Mutter Nellys Hang zu wissenschaftlichen Artstudien. Sie warf sich auf die Erforschung der menschlichen Reinrassigkeit. So blieb auch sie die letzte ihres Stammes. Denn, so intensiv sie auch nach einem ebenbürtigen Vater für ihre Kinder suchen mochte, sie fand keinen, der ihren Ansprüchen an Reinrassigkeit genügt hatte. Für die Vermischung ungleichen Blutes aber pflegte sie sich desselben Ausdrucks zu bedienen, den ihr Bruder stets gebrauchte, wenn ihm ein auch nur andeutender Hinweis auf geschlechtliche Verirrungen vor Augen oder Ohren kam. »Das ist ja eine wahre Affenschande!« sagten sie beide in solchen Fällen.

Cyrill und Effie Klötschipper-Pritschke erreichten, geliebt und geachtet von ihren Mitbürgern, in ihrem jungfräulichen Stande ein hohes Lebensalter: er als künstlerischer Beirat der staatlichen Sammlungen und als Theaterzensor, sie als Abgeordnete der völkischen Partei.

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TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Lyrik und Prosa. Sammlung 1898-1928. Zweiter Teil: Prosa. Die Affenschande. Die Affenschande. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-452B-7