Altonaische Romanzen
I

Sonntagabend wars. Mit Dröhnen
scholl der Glocken schwer Gebrumm.
Eine Schar von höheren Söhnen
stand, bestrickt vom Reiz der Schönen,
rund um eine Jungfrau rum.
Der galantste dieser Leute
war ein junger Refrendar.
Auch war da ein Pharmazeute,
während einer Knaben bleute
und der vierte Fähnrich war.
»Komm, o holdestes der Wunder,
komm mit mir«, rief der Jurist.
»Ich hab prächtigen Burgunder,
der für jeden Elendsplunder
alleweil das Beste ist.«
Rief der Apotheker: »Lenzen-
blümlein wonnigstes, o hör!
Folge mir, ich will kredenzen
aus den duftigsten Essenzen
dir den köstlichsten Likör.«
Leise (denn die andern schrien)
sprach der Lehramtskandidat:
»Komm zu mir! Mit Poesien
will ich dein Gemüt umziehen.
Komm, o folge meinem Rat!«
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Der Soldat in der Kaserne
wohnt so sturmfrei nicht wie die –
und er schnarrt: »Bei Mondschein gerne
seh ich solche Augensterne.
Machen wir 'ne Kahnpartie!«
Doch die Maid mit heißen Wangen
stand verlegen, schamhaft da.
Nein, sie ließ sich nicht mehr fangen –
davor hatt sie schweres Bangen:
Einmal war sie schon Mama.
Nun, das Kind war früh gestorben.
Da der Vater nichts besaß,
wär es auch wohl sonst verdorben.
Jetzt von vieren gar umworben,
stand sie da und wußt nicht, was.
Doch mit immer engern Klammern
hat das Kleeblatt sie umhegt,
und sie fühlt ein menschlich Jammern,
bis sie aus den Herzenskammern
jenes Spinnweb fortgefegt.
Endlich lispelt sie: »Ja freilich,
eine Bootfahrt macht ich gern –
doch mit allen! Unverzeihlich
wäre sonst mein Handeln, weil ich
niemals geh mit einem Herrn.«
Darauf ist man eingegangen,
nahm ein Boot und stieß vom Land,
ruderte mit langen Stangen,
bis die Glocken leiser klangen
und des Ufers Rand verschwand.
Silbern schien der Mond und helle,
wie er's nur am Sonntag tut,
und beleuchtete die Stelle,
wo der Kahn, von mancher Welle
sanft gewiegt, im Wasser ruht.
In dem Boot war unterdessen
trotz der Jungfrau Widerspruch
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alle Züchtigkeit vergessen;
ja, man riß ihr ab vermessen
von dem Kleid das Übertuch.
Keiner fragt, ob sie nicht friere,
und es blieb nicht bei dem Schal.
Sie benahmen sich wie Tiere,
die Kumpane, alle viere –
ohne Anstand und Moral.
Keiner von den vieren scherte
sich um seiner Holden Not.
Keinen quält's, daß sie sich wehrte
und verzweifelt aufbegehrte; –
ach, sie schämte sich halbtot.
Was geschah, das übermittl ich
schamhaft nur durch diesen Strich: –
Alle waren unerbittlich,
keiner wußte mehr, was sittlich,
taktvoll sei und tugendlich.
Das war eine böse Bootfahrt
für die Jungfrau. Ob sie schrie,
half ihr nichts, und ob sie rot ward.
Ärger als die ärgste Todfahrt
deucht ihr diese Kahnpartie.
Aber gleich am andern Tage
lief zum Staatsanwalt die Maid,
daß sie dem ihr Unglück klage
und der Richter Sorge trage,
daß gerochen werd ihr Leid.
Und so wurden denn die frommen
Jüngelinge vorgeführt,
wurden allesamt vernommen,
daß sie zu der Strafe kommen,
welche solcher Tat gebührt.
Doch es zeigt in langer Rede
der galante Refrendar,
daß kein Grund zu dieser Fehde,
daß sie eine sei wie jede,
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die schon mal ein Kind gebar.
Diese Rede hat gebrochen
jeden Groll vor dem Gericht.
Alle wurden freigesprochen:
Eine Maid, die schon in Wochen
war, verdient was Besseres nicht!
Als neun Monate vergangen
und vorbei das neue Wehn,
trug die Jungfrau ein Verlangen,
von dem Kind, das sie empfangen,
sich den Vater anzusehn.
Und sie trat mit ihrem Kinde
bittend bei den vieren ein.
Doch man hieß sie gehn geschwinde,
trieb sie fort in alle Winde –
keiner wollt's gewesen sein.
Denn die Alimente hassen
alle voller Reu und Scham,
und in allen Bildungsklassen
sieht man jedermann erblassen,
der in solche Lage kam.
Wieder also ging die Schöne
flehend vor das Amtsgericht
und verklagt die höheren Söhne.
Wieder sparte sie die Töne
echtester Verzweiflung nicht.
Ein Gesetzessammelsurium
lenkt jedoch des Rechts Gewalt,
und in diesem Corpus jurium
bietet die Exceptio plurium
selbst dem strengsten Richter halt.
Und so saß sie abgewiesen
mit dem Säugling ganz allein.
Ihre Tränen netzten diesen,
flossen strömend auf die Fliesen,
bohrten tief sich ins Gestein. –
Sonntagabend war es wieder.
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Seht, da ging sie mit dem Kind,
vorgesteckt ein Sträußchen Flieder,
leise lullend Wiegenlieder,
dahin, wo die Böte sind.
Und sie fuhr mit ihrem Kleinen
an denselben Fleck hinaus,
nahm das Kind an Kopf und Beinen,
und beschwert mit harten Steinen,
sprang sie aus dem Kahn heraus.
Freundlich nahm sie eine Welle,
tauchte tief sie in die Flut
und bedeckte schnell die Stelle.
Silbern schien der Mond und helle,
wie er's nur am Sonntag tut.

II

In Altona, wo jüngst vier junge Leute
man notzuchtshalber freisprach vor Gericht;
in dieser Stadt der Freiheit spielt auch heute
mein tiefbewegtes trauriges Gedicht.
Ein junges Mädchen ging mit einem Jüngling –
das war die Sünde, welche sie beging.
Und eines Tags ging er mit ihr ins Tingling-,
ins Tingeltangel-Tingelingeling.
Doch hinter ihnen schlich mit leisen Schritten
ein Auge des Gesetzes in Zivil;
denn hierzulande setzt man schlechten Sitten
und ungetrauter Liebe bald ein Ziel.
So ungehört im Kautschuk der Galoschen
folgt ihnen ins Lokal der Kriminal,
und für den Schandpreis von acht Silbergroschen
empört er sich ob ihrer Unmoral.
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Der Jungfrau Namen kriegt er bald zu wissen,
auch ihren Stand – denn sie war Näherin –,
und diese Botschaft bracht er amtsbeflissen
dem Präsidenten von der Sitte hin.
Der nahm von diesem Umstand gleichfalls Kenntnis
und auch das vorgeschriebene Ärgernis
und engagiert für unsrer Maid Verblendnis
die altbewährte Göttin Nemesis.
Und sieh – der Paragraph der Rache fand sich
alsbald im Sittenkodex Altonas.
Der war zu brauchen, denn er roch so ranzig
wie alter, schimmelgrüner Harzer Kas.
Gestützt auf solcherlei Moralgesetze,
verfügt man übers Mägdlein die Kontroll,
ernannte sie per Strafmandat zur Metze,
als welche sie hinfüro gelten soll.
Doch daß die Kinder nicht zu frühe lernen,
wie Liebe manchmal talerweis entbrennt,
bringt man die Huren unter in Kasernen,
als welche man gemeinhin Puffs benennt.
Und unserm Mägdlein, dem die Absicht fern lag,
dem treuen Liebsten treulos zu entfliehn,
und das noch nie bei einem andern Herrn lag,
befahl man, in so 'n Ding hineinzuziehn.
Soll ich die Seelenqual der Ärmsten schildern? – –
Erlaßt es mir, da sonst das Herz mir bricht.
Denn eine solche Flut von Leidensbildern
fand selbst ein Henkersknecht erfreulich nicht.
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Das Mägdlein fleht den Herrgott an um Gnade
und um Pardon für ihrer Lieb Gewalt;
alsdann in einem salzigen Tränenbade
schwamm eilends sie zum nächsten Rechtsanwalt.
Der nahm sich ihrer mit beredten Worten
und vielem Mut an vor dem Amtsgericht,
auf daß nicht hinter des Bordelles Pforten
dem armen Mägdelein ein Leid geschieht.
Jedoch was Recht ist, das muß Rechtens bleiben,
so lautete der Wahrspruch des Gerichts.
Wer Unzucht treibt, mag im Bordell sie treiben,
da helfen Jammern ihr und Tränen nichts.
Die Sache zog sich noch durch drei Instanzen – –
doch überall war der Beschluß egal.
Sie ward verdammt, fortan im Puff zu tanzen,
aus Gründen der gefährdeten Moral.
Und ihr, die doch bis dahin stets die Treuste,
die nie sich andern als dem Liebsten gab,
gewöhnen dieses jetzt Matrosenfäuste
und syphilitische Steuerleute ab. – –
So ward die gute Sitte doch gerettet
und auch gewarnt vor unzuchtsvoller Lieb,
und mit der Jungfrau Herzblut eingefettet,
rollt ruhig seines Wegs der Staatsbetrieb.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Lyrik und Prosa. Sammlung 1898-1928. Erster Teil: Verse. Balladen. Altonaische Romanzen. Altonaische Romanzen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-44A3-1