Eduard Mörike
Maler Nolten
Novelle in zwei Teilen

[7] Erster Teil

Ein heiterer Juniusnachmittag besonnte die Straßen der Residenzstadt. Der ältliche Baron Jaßfeld machte nach längerer Zeit wieder einen Besuch bei dem Maler Tillsen, und nach seinen eilfertigen Schritten zu urteilen, führte ihn diesmal ein ganz besonderes Anliegen zu ihm. Er traf den Maler, wie gewöhnlich nach Tische, mit seiner jungen Frau in dem kleinen, ebenso geschmackvollen als einfachen Saale, dessen antike Dekoration sich gar harmonisch mit den gewöhnlichen Gegenständen des Gebrauchs und der Mode ausnahm. Man sprach zuerst in heiterm Tone über verschiedene Dinge, bis die Frau sich in Angelegenheiten der Haushaltung entfernte und die beiden Herren allein ließ.

Der Baron saß bequemlich mit übereinandergeschlagenen Beinen im weichen Fauteuil, und indes die Wange in der rechten Hand ruhte, schien er während der eingetretenen Pause den Maler in freundlichem Nachsinnen mit der neuen Ansicht zu vergleichen, die sich ihm seit gestern über dessen Werke aufgedrungen. »Mein Lieber!« fing er jetzt an, »daß ich Ihnen nur sage, warum ich vornehmlich hieher komme. Ich bin kürzlich bei dem Grafen von Zarlin gewesen und habe dort ein Gemälde gesehen, wieder und wieder gesehen und des Sehens kaum genug gekriegt. Ich fragte nach dem Meister, der Graf ließ mich raten, ich riet und sagte: Tillsen! – schüttelte aber unwillkürlich den Kopf dabei, weil mir zugleich war, es könne doch nicht wohl sein; ich sagte abermals: Tillsen, und sagte zum zweitenmal: Nein!«

Bei diesen Worten zeigte sich eine Spur von Verdruß und Verlegenheit auf des Malers Gesicht; er wußte sie jedoch schnell zu verbergen und fragte mit guter Laune: »Nun! das schöne Wunderwerk, das meinen armen Pinsel bereits zweimal verleugnet hat – was ist es denn eigentlich?«

»Stellen Sie sich nicht, Bester«, erwiderte der Alte aufstehend, mit herzlicher Fröhlichkeit und glänzenden Augen, »Ihnen ist wohl bekannt, wovon ich rede. Der von Zarlin hat Ihnen [7] das Bild abgekauft und Sie sind nach seiner Versicherung der Mann, der es gemacht. Hören Sie, Tillsen«, hier ergriff er seine Hand, »hören Sie! ich bin nun einmal eben ein aufrichtiger Bursche, und mag, wo ich meine Leute zu kennen glaube, nicht übertrieben viel Vorsicht brauchen, also platzte ich Ihnen gleich damit heraus, wie mir's mit Ihrem Bilde ergangen; es enthält unverkennbar so manches Ihrer Kunst, besonders was Farbe was Schönheit im einzelnen, was namentlich auch die Landschaft betrifft aber es enthält – nein, es ist sogar durchaus wieder etwas anderes, als was Sie bisher waren, und indem ich zugebe, daß die überraschende Entdeckung gewisser Ihnen in minderem Grade eigenen Vorzüge mich irregemacht, so liegt hierin ein Vorwurf gegen Ihre früheren Arbeiten, den Sie immer von mir gehört haben, ohne darum zu zweifeln, daß ich Sie für einen in seiner Art trefflichen Künstler halte. Ich fand jetzt aber eine Keckheit und Größe der Komposition von Figuren, eine Freiheit überall, wie Sie meines Wissens der Welt niemals gezeigt hatten; und was mir schlechterdings als ein Rätsel erschien, ist die auffallende Abweichung in der poetischen Denkungsart, in der Wahl der Gegenstände. Dies gilt insbesondere von zwei Skizzen, deren ich noch gar nicht erwähnte und die Sie dem Grafen in Öl auszuführen versprochen haben.

Hier ist eine durchaus seltene Richtung der Phantasie, wunderbar, phantastisch, zum Teil verwegen und in einem angenehmen Sinne bizarr. Ich denke dabei an die Gespenstermusik im Walde und Mondschein, an den Traum des verliebten Riesen. Tillsen! um Gottes willen, sagen Sie, wann ist diese ungeheure Veränderung vorgegangen? wie erklären Sie mir sie? Man weiß und hat es bedauert, daß Tillsen in anderthalb Jahren keine Farbe angerührt; warum sagten Sie mir während der letzten zwei Monate nicht eine Silbe vom Wiederanfange Ihrer Arbeiten? Sie haben heimlich gemalt, Sie wollten uns überraschen, und wahrlich, teuerster, unbegreiflicher Freund, das ist Ihnen gelungen.« Hier schüttelte der feurige Redner den stummen Hörer kräftig bei den Schultern, schmunzelte und sah ihm nahezu unter die Augen.

»Ich bin wahrhaftig«, begann der andere ganz ruhig, aber lächelnd, »um den Ausdruck verlegen, Ihnen meine Verwunderung über Ihre Worte zu bezeugen, wovon ich das mindeste nicht verstehe. Weder kann ich mich zu jenem Gemälde, zu jenen Zeichnungen bekennen, noch überhaupt faß ich Ihre[8] Worte. Das Ganze scheint ein Streich von Zarlin zu sein, den er uns wohl hätte ersparen mögen. Wie stehen wir einander nun seltsam beschämt gegenüber! Sie sind gezwungen, ein mir nicht gebührendes Lob zurückzunehmen, und der Tadel, den Sie vergnügt schon auf die alte Rechnung setzten, bleibt wo er hingehört. Das muß uns aber ja nicht genieren, Baron, wir bleiben hoff ich, die besten Freunde. Geben Sie mir aber doch, ich bitte Sie, einen deutlichen Begriff von den bewußten Stücken. Setzen Sie sich!«

Jaßfeld hatte diese Rede bis zur Hälfte mit offenstehendem Munde, beinahe ohne Atemzug angehört, während der andern Hälfte trippelte er im Zickzack durch den Saal, stand nun plötzlich still und sagte: »Der Teufelskerl von Zarlin! Wenn ja der – aber es ist impossibel, ich behaupte trotz allen himmlischen Heerscharen, Sie sind der Maler, kein anderer; auch läßt sich nicht annehmen, daß es etwa nur zum Teil Ihre Produktion wäre; Sie haben sich in Ihrem Leben nie auf Fremdes verlegt.« Der Maler bat wiederholt um die Schilderung der befragten Stücke.

»Ich beschreibe Ihnen also, weil Sie es verlangen, Ihr eigen Werk«, hub der alte Herr, sich niedersetzend, an, »aber kurz, und korrigieren Sie mich gleich, wenn ich wo fehle. – Das ausgeführte Ölgemälde zeigt uns, wie einer Wassernymphe ein schöner Knabe auf dem Kahn von einem Satyr zugeführt wird. Jene bildet neben einigen Meerfelsen linker Hand die vorderste Figur. Sie drückt sich, vorgeneigt und bis an die Hüften im Wasser, fest an den Rand des Nachens, indem sie mit erhobenen Armen den reizenden Gegenstand ihrer Wünsche zu empfangen sucht. Der schlanke Knabe beugt sich angstvoll zurück und streckt, doch unwillkürlich, einen Arm entgegen; hauptsächlich mag es der Zauber ihrer Stimme sein, was ihn unwiderstehlich anzieht, denn ihr freundlicher Mund ist halb geöffnet und stimmt rührend zu dem Verlangen des warmen Blicks. Hier erkannte ich Ihren Pinsel, Ihr Kolorit, Ihren unnachahmlichen Hauch, o Tillsen, hier rief ich Ihren Namen aus. Das Gesicht der Nymphe ist fast nur Profil, der schiefe Rücken und eine Brust ist sichtbar; unvergleichlich das nasse, blonde Haar. Bei der Senkung einer Welle zeigt sich wenig der Ansatz des geschuppten Fischkörpers, in der Nähe schlägt der tierische Schwanz aus dem grünen Wasser, aber man vergißt das Ungeheuer über der Schönheit des menschlichen Teils und der Knabe vergeht [9] in dem Liebreiz dieses Angesichts; er versäumt das leichte, nur noch über die Schulter geschlungene Tuch, das der Wind als schmalen Streif in die Höhe flattern läßt. Eine Figur von großer Bedeutung ist der Satyr als Zuschauer. Die muskulose Figur steht, auf das Ruder gelehnt, etwas seitwärts im Schiffe, und überragt, obgleich nicht ganz aufrecht, die übrigen. Eine stumme Leidenschaft spricht aus seinen Zügen, denn obgleich er der Nymphe durch den Raub und die Herbeischaffung des herrlichen Lieblings einen Dienst erweisen wollte, so straft ihn jetzt seine heftige Liebe zu ihr mit unverhoffter Eifersucht. Er möchte sich lieber mit Wut von dieser Szene abkehren, allein er zwingt sich zu ruhiger Betrachtung, er sucht einen bittern Genuß darin. Das Ganze rundet sich vortrefflich ab und mit Klugheit wußte der Maler das eine leere Ende des Nachens rechter Hand hinter hohe Seegewächse zu verstecken. Übrigens ist vollkommene Meeraussicht und man befindet sich mit den Personen einsam und ziemlich unheimlich auf dem hülflosen Bereiche. Ich sage Ihnen nichts weiter, mein Freund. Ihre gelassene Miene verrät mir eine hinlängliche Bekanntschaft mit der Sache, Sie dürften übrigens, wenn keine Verwunderung, doch wahrlich ein wenig gerechten Stolz auf ihr Werk blicken lassen, wofern nicht eben in diesem Anscheine von Gleichgültigkeit schon der höchste Stolz liegt.«

»Die Skizzen, wenn ich bitten darf!« erwiderte der andere; »wie verhält es sich damit? Sie haben mich sehr neugierig gemacht.«

Der Baron holte frisch Atem, lächelte und begann doch bald ernsthaft: »Federzeichnung, mit Wasserfarbe ziemlich ausgeführt, nach Ihrer gewöhnlichen Weise. Das Blatt, wovon jetzt die Rede ist, hat einen tiefen, und besonders als ich es zum zweitenmal bei Lichte sah, einen fast schauderhaften Eindruck auf mich gemacht. Es ist nichts weiter als eine nächtliche Versammlung musikliebender Gespenster. Man sieht einen grasigen, etwas hüglichten Waldplatz, ringsum, bis auf eine Seite, eingeschlossen Jene offene Seite rechts läßt einen Teil der tiefliegenden, in Nebel glänzenden Ebene übersehen; dagegen erhebt sich zur Linken im Vordergrunde eine nasse Felswand, unter der sich ein lebhafter Quell bildet und in deren Vertiefung eine gotisch verzierte Orgel von mäßiger Größe gestellt ist; vor ihr auf einem bemoosten Blocke sitzt im Spiele begriffen gleich eine Hauptfigur, während die übrigen teils ruhig mit [10] ihren Instrumenten beschäftigt, teils im Ringel tanzend oder sonst in Gruppen umher zerstreut sind. Die wunderlichen Wesen sind meist in schleppende, zur Not aufgeschürzte Gewande von grauer oder sonst einer bescheidenen Farbe gehüllt, blasse mitunter sehr angenehme Totengesichter, selten etwas Grasses, noch seltener das geschälte häßliche Totenbein. Sie haben sich, um nach ihrer Weise sich gütlich zu tun, ohne Zweifel aus einem unfernen Kirchhof hieher gemacht. Dies ist schon durch die Kapelle rechts angedeutet, welche man unten in einiger Nähe, jedoch nur halb, erblickt, denn sie wird durch den vordersten Grabhügel abgeschnitten, an dessen eingesunkenem Kreuze von Stein ein Flötenspieler mit bemerkenswerter Haltung und trefflich drapiertem Gewande sich hingelagert hat. Ich wende mich aber jetzt wieder auf die entgegengesetzte Seite zu der anziehenden Organistin. Sie ist eine edle Jungfrau mit gesenktem Haupte; sie scheint mehr auf den Gesang der zu ihren Füßen strömenden Quelle, als auf das eigene Spiel zu horchen. Das schwarze, seelenvolle Auge taucht nur träumerisch aus der Tiefe des inneren Geisterlebens, ergreift keinen Gegenstand mit Aufmerksamkeit, ruht nicht auf den Tasten, nicht auf der schönen runden Hand, ein wehmütig Lächeln schwimmt kaum sichtbar um den Mundwinkel und es ist, als sinne dieser Geist im jetzigen Augenblicke auf die Möglichkeit einer Scheidung von seinem zweiten leiblichen Leben. An der Orgel lehnt ein schlummertrunkener Jüngling mit geschlossenen Augen und leidenden Zügen, eine brennende Fackel haltend; ein großer goldenbrauner Nachtfalter sitzt ihm in den Seitenlocken. Zwischen der Wand und dem Kasten scheint sich der Tod als Kalkant zu befinden, denn eine knöcherne Hand und ein vorstehender Fuß des Gerippes wird bemerkt. Unter den Gestalten im Mittelgrunde zeichnet sich namentlich eine Gruppe von Tanzenden aus, zwei kräftige Männer und ebensoviel Frauen in anmutigen und kunstvollen Bewegungen, mit hochgehaltener Handreichung, wobei zuweilen nackte Körperteile edel und schön zum Vorschein kommen. Indessen, der Tanz scheint langsam und den ernsten, ja traurigen Mienen derjenigen zu entsprechen, welche ihn aufführen. Diesen zu beiden Seiten und dann mehr gegen den Hintergrund entfaltet sich ein vergnügteres Leben; man gewahrt muntere Stellungen, endlich possenhafte und neckische Spiele. Etwas fiel mir besonders auf. Ein Knabengerippe im leichten Scharlachmäntelchen sitzt da und wollte sich gern [11] von einem andern den Schuh ausziehen lassen, aber das Bein bis zum Knie ging mit und der ungeschickte Bursche will sich zu Tode lachen. Hingegen ein anderer Zug ist folgender: Vorn bei dem Flötenspieler befindet sich ein Gesträuche, woraus eine magere Hand ein Nestchen bietet, während ein hingekauerter Greis sein Söhnchen bei der hingehaltenen Kerze bereits einem Vogel in die verwundert unschuldigen Äuglein blicken läßt; der Bursche hat übrigens schon eine zappelnde Fledermaus am Fittich. Es gibt mehrere Züge der Art; es gäbe überhaupt noch gar vieles anzuführen. Die Beleuchtung, der wundervolle Wechsel zwischen Mond- und Kerzenlicht, wie dies einst beim Ölgemälde, besonders in der Wirkung aufs Grün, sich zauberisch darstellen wird, ist überall bereits effektvoll angedeutet und mit großer Kenntnis behandelt. Doch genug! der Henker mag so was beschreiben.«

Tillsen hatte schon seit einer Weile zerstreut und brütend gesessen. Jetzt da das Schweigen des Barons ihn zu sich selbst gebracht, erhob er sich rasch mit glühender Stirn vom Sessel und sprach entschlossen: »Ja, mein Herr, ich darf es sagen, von meiner Hand ist, was Sie gesehen haben, doch« – hier brach er in ein gezwungenes Gelächter aus. »Gott sei Dank!« unterbrach ihn der Baron, entzückt aufspringend, »nun hab ich genug; lassen Sie sich küssen, umarmen, Charmantester! die anderthalb Jahre Fastenzeit, worin Sie die Palette vertrocknen ließen, haben Wunder an Ihnen gereift, eine Periode entwickelt, über deren Früchte die Welt staunen wird. Nun geht es Schlag auf Schlag, geben Sie acht, seitdem der neue, starke Frühling für Ihre Kunst durchbrochen hat, und in dieser Stunde prophezei ich Ihnen die Fülle eines Ruhmes, der vielleicht Hunderte begeistern wird, das ganze Mark der Kräfte an die edelste Kunst zu wen den, aber auch Tausende zwingen muß, in mutlosem Neide sie abzuschwören. Ach lieber, bescheidener Mann, Sie sind bewegt, ich bin es nicht weniger von herzlicher Freude. Lassen Sie uns in diesem glücklichen Moment mit einem warmen Händedruck auseinandergehen, und kein Wort weiter. Ich gehe zum Grafen. Leben Sie wohl! auf Wiedersehen.« Damit war er zur Türe hinaus.

Der Maler, unbeweglich, sah ihm nach. Es wollte ihn jetzt fortreißen, dem Baron zu folgen, ihm eine plötzliche Aufklärung zu geben, aber ein unwillkürlicher trockener Entschluß hielt ihn wie an den Boden gefesselt. Erst nach einer langen [12] Stille brach er, beinahe schmerzlich lächelnd, in die Worte aus: »O betrogener redlicher Mann! wie hast du dich unnötig über mich verjubelt, mir arglos meine ganze Blöße gezeigt! Ich mußte ein Lob anhören, das nicht mir, sondern einem andern gehört und das just alles das heraushob, was mir zum rechten Maler abgeht, ewig abgehen wird!« Es ist wahr, fuhr er in Gedanken fort, die Ausführung jener Kompositionen ist mein und ist nicht das Schlechteste am Ganzen; sie dient, jenen Erfindungen die rechte Bedeutung zu geben; ohne mein Zutun wären vielleicht die Skizzen des armen Zeichners gleichgültig übersehen worden. Aber nur auf der Spur seines Geistes stärkte, belebte sich der meinige, und nur von jenem ermutigt konnte ich sogar auf eine Höhe des Ausdrucks kommen, bis zu welcher ich mich nie erhoben hatte. Wie arm, wie nichts erschein ich mir diesem unbekannten Zeichner gegenüber! Wie würf ich mit Freuden alles hin, was sonst an mir gerühmt wird, für die Gabe, solche Umrisse, solche Linien, solche Anordnungen zu schaffen! Ein Crayon, ein dürftig Papier ist ihm genug, damit er mich über den Haufen stürze. Wüßten nur erst die Herren, daß es die Werke eines Wahnsinnigen sind, welche sie bewundern, eines unscheinbaren verdorbenen Menschen, ihr Staunen würde noch größer sein, als da sie in mir den Meister gefunden zu haben glauben. Noch kennt außer mir niemand den wahren Erfinder, aber gesetzt, ich wollte auf die Gefahr, daß dieser sein eigensinniges Inkognito brechen kann, mir dennoch den Ruhm seiner Schöpfung erhalten, ich fände einen weit stärkeren Grund dagegen in dem eigenen innern Bewußtsein. Darum muß es an den Tag, lieber heute als morgen, ich sei keineswegs der Rechte.

Das waren ungefähr die Gedanken des lebhaft aufgeregten Mannes. Indessen war er, was den letzten Punkt betrifft, noch nicht so ganz entschieden. Hatte er bisher die Meinung der Freunde so hinhängen lassen, ohne sie eben zu bestärken, ohne zu widerlegen, indem er sich mit zweideutigem Scherz in der Mitte hielt, so dachte er jetzt, er könne unbeschadet seines Gewissens noch eine Zeitlang zuwarten mit der Enthüllung, und er wolle sein Benehmen nachher, wenn es nötig sei, schon auf ehrenvolle Art rechtfertigen.

Soeben trat die junge Frau wieder ins Zimmer: sie bemerkte die auffallende Bewegung an ihrem Manne, sie fragte erschrocken, er leugnete und herzte sie mit einer ungewohnten Inbrunst. Dann ging er auf sein Zimmer.

[13] Es verstrichen mehrere Wochen, ohne daß unser Maler gegen irgend jemanden sich über den wahren Zusammenhang der Sache erklärte, seinen Schwager, den Major v. R., ausgenommen, dem er folgende auffallende Eröffnung machte. »Es mag nun bald ein Jahr sein, als mich eines Abends ein verwahrloster Mensch von schwächlicher Gestalt und kränklichem Aussehen, eine spindeldünne Schneiderfigur, in meiner Werkstätte besuchte. Er gab sich für einen eifrigen Dilettanten in der Malerei aus. Aber die windige Art seines Benehmens, das Verworrene seines Gesprächs über Kunstgegenstände war ebenso verdächtig, als mir überhaupt der ganze Besuch fatal und rätselhaft sein mußte. Ich hielt ihn zum wenigsten für einen aufdringlichen Schwätzer, wo nicht gar für einen Schelmen, wie sie gewöhnlich in fremden Häusern umherschleichen, die Leute zu bestehlen und zu betrügen. Hingegen wie groß war meine Verwunderung, als er einige Blätter hervorzog, die er mit vieler Bescheidenheit für leichte Proben von seiner Hand ausgab. Es waren reinliche Entwürfe mit Bleistift und Kreide voll Geist und Leben, wenn auch manche Mängel an der Zeichnung sogleich ins Auge fielen. Ich verbarg meinen Beifall absichtlich, um meinen Mann erst auszuforschen, mich zu überzeugen, ob das alles nicht etwa fremdes Gut wäre. Er schien mein Mißtrauen zu bemerken und lächelte beleidigt, während er die Papiere wieder zusammenrollte. Sein Blick fiel inzwischen auf eine von mir angefangene Tafel, die an der Wand lehnte, und wenn kurz vorher einige seiner Urteile so abgeschmackt und lächerlich als möglich klangen, so ward ich jetzt durch einige bedeutungsvolle Worte aus seinem Munde überrascht, welche mir ewig unvergeßlich bleiben werden, denn sie bezeichneten auf die treffendste Weise das Charakteristische meiner Manier und lösten mir das Geheimnis eines Fehlers, den ich bisher nur dunkel empfunden hatte. Der wunderliche Mensch wollte mein Erstaunen nicht bemerken, er griff eben nach dem Hute, als ich ihn lebhaft zu mir auf einen Sitz niederzog und zu einer weiteren Erörterung aufforderte. Es übersteigt jedoch alle Beschreibung, in welch sonderbarem Gemische des fadesten und unsinnigsten Galimathias mit einzelnen äußerst pikanten Streiflichtern von Scharfsinn sich der Mensch in einer süßlich wispernden Sprache nun gegen mich vernehmen ließ. Dies alles zusammengenommen und das unpassende Kichern, womit er sich selber und mich gleichsam zu verhöhnen schien, ließ keinen Zweifel übrig, daß ich hier das seltenste [14] Beispiel von Verrücktheit vor mir habe, welches mir je begegnet war. Ich brach ab, lenkte das Gespräch auf gewöhnliche Dinge und er schien sich in seinem stutzerhaft affektierten Betragen nur immer mehr zu gefallen. Dies elegante Vornehmtun machte mit seinem notdürftigen Äußern, einem abgetragenen, hellgrünen Fräckchen und schlechten Nankingbeinkleidern einen höchst komischen, affreusen Kontrast. Bald zupfte er mit zierlichem Finger an seinem ziemlich ungewaschenen Hemdstrich, bald ließ er sein Bambusröhrchen auf dem schmalen Rücken tänzeln, indem er zugleich bemüht war, durch Einziehung der Arme mir die schmähliche Kürze des grünen Fräckchens zu verbergen. Mit alle diesem erregte er meine aufrichtige Teilnahme. Mußt ich mir nicht einen Menschen denken, der mit seinem außerordentlichen Talente, vielleicht durch gekränkte Eitelkeit, vielleicht durch Liederlichkeit, dergestalt in Zerfall geraten war, daß zuletzt nur dieser jämmerliche Schatten übrigblieb? Auch waren jene Zeichnungen, wie er selbst bekannte, aus einer längst vergangenen, bessern Zeit seines Lebens. Auf die Frage, womit er sich denn gegenwärtig beschäftige, antwortete er hastig und kurz: er privatisiere; und als ich von weitem die Absicht blicken ließ, jene Blätter von ihm zu erstehen, schien er trotz eines preziösen Lächelns nicht wenig erleichtert und vergnügt. Ich bot ihm drei Dukaten, die er mit dem Versprechen zu sich steckte, mich bald wiederzusehen. Nach vier Wochen erschien er abermals und zwar schon in merklich besserem Aufzuge. Er brachte mehrere Skizzen mit: sie waren womöglich noch interessanter, noch geistreicher. Indessen hatt ich beschlossen, ihm vorderhand nichts weiter abzunehmen, bis ich über die Rechtmäßigkeit eines solchen Erwerbs völlig ins reine gekommen wäre, etwa dadurch, daß er veranlaßt würde, gleichsam unter meinen Augen eine Aufgabe zu lösen, die ich ihm unter einem unverfänglichen Vorwande zuschieben wollte. Ich hatte meine Gedanken hiezu schriftlich angedeutet, erklärte mich ihm auch mündlich darüber, und er eilte sogleich mit der Hoffnung weg, mir seinen Versuch in einigen Tagen zu zeigen. Aber wer schildert meine Freude, als schon am Abende des folgenden Tages die edelsten Umrisse zu der angegebenen Gruppe aus dem Statius vor mir lagen, in der ganzen Auffassung des Gedankens weit kühner und sinnreicher als der Umfang meiner Imagination jemals reichte. Manche flüchtige Bemerkung des närrischen Menschen bewies überdies unwidersprechlich, [15] daß er mit Leib und Seele bei der Zeichnung gewesen. Auch dieser Entwurf und in der Folge noch der eine und andere ward mein Eigentum; allein plötzlich blieb der Fremde aus und eigensinnigerweise hatte er mir weder Namen noch sonstige Adresse zurückgelassen. Nach und nach fühlte ich unwiderstehliche Lust, drei bis vier der vorhandenen Blätter vergrößert in Wasserfarbe aufs neue zu skizzieren und sofort in Öl darzustellen, wobei denn bald die liebevollste wechselseitige Durchdringung meiner Manier und jenes fremden Genius stattfand, so daß die Entscheidung so leicht nicht sein möchte, wenn nunmehr bei den völlig ausgemalten Tableaus ein zwiefaches und getrenntes Verdienst gegeneinander abgewogen werden sollte. Vor einem Freunde und Schwager darf ich dieses selbstgefällige Bekenntnis gar wohl tun, und vielleicht wird das Publikum mir nicht mindere Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn ich ihm demnächst bei der öffentlichen Ausstellung jene Bilder vorführen werde, ohne ihren doppelten Ursprung im mindesten zu verleugnen; denn dies war längst mein fester Entschluß.«

»Das sieht dir ähnlich«, erwiderte hierauf der Major, welcher bisher mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte; »es bedarf, dünkt mich, bei einem Künstler von deinem Rufe nicht einmal großer Resignation zu einer solchen Aufrichtigkeit, ja man wird in dem ganzen Unternehmen eine Art Herablassung finden, wodurch du jenes unbekannte Talent zu würdigen und zu ehren dachtest. Aber, um wieder auf den armen Tropfen zu kommen, hast du ihn denn auf keine Weise ausfindig machen können?«

»Auf keine Weise. Einmal glaubte mein Bedienter seine Spur zu haben, allein sie verschwand ihm wieder.«

»Es wäre doch des Teufels«, rief der Major aus, »wenn meine Spürhunde mich hier im Stiche ließen! Schwager, laß mich nur machen. Die Sache ist zu merkwürdig, um sie ganz hängen zu lassen. Du magst mich vor aller Welt nur selbst für den geheimnisvollen Narren ausgeben, wenn ich dir ihn nicht binnen vierundzwanzig Tagen aus irgendeiner Spelunke, Dachstube oder dem Narrenhause selbst hervorziehe!«


Diese vierundzwanzig Tage waren noch nicht um, so geschah es, daß Tillsen über die wahre Bewandtnis der Sache auf einem ganz anderen Wege aufgeklärt wurde, als er je vermuten konnte.

[16] In seiner Abwesenheit meldete sich eines Morgens ein wohlgekleideter junger Mann im Tillsenschen Hause an, und die Frau führte ihn indes in ein Seitenzimmer, wo er ihren Gemahl erwarten möchte. Sie selbst, obgleich durch seine sehr vielversprechende und auffallend angenehme Gesichtsbildung nicht wenig interessiert, entfernte sich sogleich wieder, weil die zerstreute Unruhe seiner Miene ihr hinlänglich sagte, daß eine weitere Ansprache hier nicht am Platze sein würde. Nach einer Viertelstunde erst trat der Maler in das bezeichnete Kabinett. Er fand den jungen Mann nachdenkend, den Kopf in beide Hände gestützt, auf einem Stuhle sitzen, den Rücken ihm zugewandt und dem großen Gemälde gegenüber, das, bis auf die breit goldene Rahme, verhüllt an der Wand dahing. Der Maler, einigermaßen verwundert, trat stillschweigend näher, worauf dann der andere erschrocken auffuhr, indem er zugleich hinter einer angenehmen, verlegenen Freundlichkeit die Tränen zu verstecken suchte, worin er sichtbar überrascht worden war. »Ich komme«, fing er jetzt mit heiterem Freimute an, »ich komme in der wunderlichsten und zugleich in der erfreulichsten Angelegenheit vor Ihr Angesicht, verehrter Mann! Meine Person ist Ihnen unbekannt, dennoch haben Sie, wie ich weiß, mein eigentliches Selbst bereits dergestalt kennengelernt und bis auf einen gewissen Grad sogar liebgewonnen, daß ich mich nun mit unabweislichem Vertrauen unter Ihre Stirne dränge. Doch, lassen Sie mich deutlich reden. Ich heiße Theobald Nolten und studiere in hiesiger Stadt ziemlich unbekannt die Malerei. Nun fand ich gestern in der aufgestellten Galerie unter andern ein Gemälde, das Opfer der Polyxena vorstellend, das mir auf den ersten Blick als eine innig vertraute Erscheinung entgegentrat. Es war, als stünde durch Zauberwerk hier ein früher Traum lebendig verkörpert vor meinem schwindelnden Auge. Diese schmerzvolle Königstochter schien mich so schwesterlich bekannt zu grüßen, ihre ganze Umgebung deuchte mir so gar nicht fremd, und doch, über das Ganze war ein Licht, ein Reiz gegossen, der nicht aus meinem Innern, der von einer höhern Macht, von den Olympischen selbst herabgestrahlt schien; ich zitterte, bei Gott! ich –«

»Was?« unterbrach ihn Tillsen, »Sie wären – ja Sie sind der wunderbare Künstler, dem ich so vieles abzubitten –«

»Nicht doch«, entgegnete jener feurig, »nein! derIhnen Unendliches zu danken hat. O edelster Mann! Sie haben mich mir [17] selbst enthüllt, indem Sie mich hoch über mich hinausgerückt und getragen. Sie weckten mich mit Freundeshand aus einem Zustande der dunkeln Ohnmacht, rissen mich auf die Sonnenhöhe der Kunst, da ich im Begriffe war, an meinen Kräften zu verzweifeln. Ein Elender mußte mich bestehlen, damit Sie Gelegenheit hätten, mir in Ihrem klaren Spiegel meine wahre, meine künftige Gestalt zu zeigen. So empfangen Sie denn Ihren Schüler an das väterliche Herz! Lassen Sie mich sie küssen, die gelassene Hand, welche auf ewig die verworrenen Fäden meines Wesens ordnete – mein Meister! mein Erretter!«

So lagen sich beide Männer einige Sekunden lang fest in den Armen und von diesem Augenblicke an war eine lebhafte Freundschaft geschlossen, wie sie wohl in so kurzer Zeit zwischen zwei Menschen, die sich eigentlich zum ersten Male im Leben begegnen, selten möglich sein wird.

»Erlauben Sie, mein Lieber«, sagte Tillsen, »daß ich erst zur Besinnung komme. Noch weiß ich nicht, bin ich mehr beschämt oder mehr erfreut durch Ihre herzlichen Worte. Ich werde Sie in der Folge noch besser verstehen. So sagen Sie fürs erste nur, wie verhält sich's denn mit dem diebischen Schufte, dem wenigstens das Verdienst bleiben muß, uns zusammengeführt zu haben?«

»Wohl! Hören Sie! Nach meiner Rückkehr aus Italien, es ist nun über ein Jahr, traf ich auf der Reise hieher, wo ich völlig fremd war, einen Hasenfuß, Barbier seiner Profession – er nannte sich Wispel –, der mir seine Dienste als Bedienter antrug, und ich nahm ihn aus einem humoristischen Interesse an seiner Seltsamkeit um so lieber auf, da er neben einem, daß ich so sage, universal-enthusiastischen Hieb, neben einem badermäßigen Hochmut, immer eine gewisse Gutmütigkeit zeigte, die in der Folge nur der borniertesten Eitelkeit weichen konnte; denn so wollt ich darauf schwören, er hatte mit jenen entwendeten Konzepten anfangs keine andere Absicht, als vor Ihnen den Mann zu machen.«

»Allein er nahm doch Geld dagegen an?«

»Und wenn auch; diese Spekulation ward sicherlich erst durch Ihr Anerbieten bei ihm erweckt.«

»Aber er stellte sich völlig närrisch!«

»Ich zweifle sehr, daß er es darauf anlegte, oder gesetzt, er legte es darauf an, so geschah es nur, nachdem er Ihnen bereits den interessanten Verdacht abgelauscht. Seiner Dummheit kam [18] übrigens die List beinahe gleich; so wußte er mich unter einem ausgesuchten Vorwande zu einer Zeichnung aus dem Stegreife zu bewegen, die ohne Zweifel auch für Sie bestimmt war, und wozu ich mich selbst durch den angenehm proponierten Gegenstand angereizt fühlte. Wenn er Sie ferner durch den Schein eigener Bildung irregeführt hat, so begreif ich nur um so besser, warum er sich bei den Unterhaltungen, welche gelegentlich zwischen mir und einem Freunde vorkamen, immer viel im Zimmer zu schaffen machte. Er mag Ihnen auf diese Art manchen schlecht verdauten Brocken hingeworfen haben.«

»Ach«, sagte Tillsen nicht ohne einige Beschämung, »freilich, dergleichen Äußerungen sahen mir dann immer verdächtig genug aus, wie Hieroglyphen auf einem Marktbrunnenstein, ich wußte nicht, woher sie kamen. Aber ein abgefeimter Bursche ist es doch! Und wo steckt denn der Schurke jetzt?«

»Das weiß Gott. Seit einem halben Jahre hat er sich ohne Abschied von mir beurlaubt; etliche Wochen später entdeckt ich die große Lücke in meinem Portefeuille.«

»Ich will sie wieder ausfüllen!« erwiderte Tillsen mit Heiterkeit, indem er den Freund vor das verhängte Bild führte. »Ich wollte es diesen Morgen noch zur öffentlichen Ausstellung wegtragen lassen; doch, es ist nun Ihr Eigentum. Lassen Sie sehen, ob Sie auch hinter diesem Tuche Ihre Bekannten erkennen.«

Nolten hielt die Hand des Malers an, während er das Geständnis ablegte, daß er vorhin der Versuchung nicht widerstanden, den Vorhang um einige Spannen zurückzustreifen, daß er ihn aber, wie von dem Gespenste eines Doppelgängers erschreckt, sogleich wieder habe fallen lassen, ohne die Überblickung des Ganzen zu wagen.

Jetzt schlug Tillsen mit einem Male die Hülle zurück und trat seitwärts, um den Eindruck des Stückes auf den Maler zu beobachten. Wir sagen nichts von der unbeschreiblichen Empfindung des letztern und erinnern den Leser an das wunderliche Geisterkonzert, wovon ihm der alte Baron früher einen Begriff gegeben. Bewegt und feierlich gingen die Freunde auseinander.


Die umständlichere Erzählung dieser Begebenheit mußte vorangeschickt werden, um die rasche und erfreuliche Entwicklung desto begreiflicher zu machen, welche es von nun an mit der ganzen Existenz des jungen Künstlers nahm. War es ein [19] gewisser Kleinmut oder Eigensinn, grillenhafter Grundsatz, was ihn bisher bewegen mochte, mit seinem Talente unbeschrieen hinter dem Berge zu halten, bis er dereinst mit einem höhern Grade von Vollendung hervortreten könnte: soviel ist gewiß, daß die Behandlung der Ölfarbe ihm bisher große Schwierigkeiten entgegensetzte, jedoch, wie Tillsen fand, nicht so große, als unser bescheidener Freund sich gleichsam selbst gemacht hatte. Vielmehr entdeckte jener auch diesfalls an den Versuchen des letztern die überraschendsten Fortschritte, und gerne faßte er den Entschluß zur förderlichen Mitteilung einzelner Vorteile. In kurzem stand Nolten, was Geschicklichkeit betrifft jedem braven Künstler gleich, und in Absicht auf großartigen Geist hoch über allen. Seine Werke, sowie seine Empfehlung durch Tillsen, verschafften ihm sehr schätzbare Verbindungen, und namentlich erwies der Herzog Adolph, Bruder des Königs, sich gar bald als einen freundschaftlichen Gönner gegen ihn.

War Theobald auf diese Weise durch die rasche und glänzende Veränderung seines bisherigen Zustandes gewissermaßen selbst überrascht und anfänglich sogar verlegen, so verwunderte er sich in der Folge beinahe noch mehr über die Leichtigkeit, womit er sich in seine jetzige Stellung gewöhnte und darin behauptete. Allerdings brauchte er die Achtung, durch die er sich vor andern ausgezeichnet sah, nur als etwas Verdientes hinzunehmen, so kam sie ihm auch ganz natürlich zu.

Durch die Vermittlung des Herzogs erhielt er Zutritt im Hause des Grafen von Zarlin, der sich ohne eigene Einsichten, und wie mehrere behaupteten, aus bloßer Eitelkeit als einen leidenschaftlichen Freund jeder Gattung von Kunst hervortat, und dem es wirklich gelang, einen Zirkel edler Männer und Frauen um sich zu versammeln, worin geistige Unterhaltung aller Art, namentlich Lektüre guter Dichterwerke vorkam. Die lebendig machende Seele des Ganzen jedoch war, ohne es zu wollen, die schöne Schwester des Grafen, Constanze von Armond, die junge Witwe eines vor wenigen Jahren gestorbenen Generals. Ihre Liebenswürdigkeit wäre mächtig genug gewesen, den Kreis der Männer zu beherrschen und Gesetze vorzuschreiben, aber die angenehme Frau blieb mit der sanften Wirkung zufrieden, welche von ihrer Person auf alle übrigen Gemüter ausging, und sich allgemein in der erwärmteren Teilnahme an den Unterhaltungsgegenständen offenbarte; ja, Constanze schien ihrer natürlichen Lebendigkeit öfters einige Gewalt anzutun, [20] um die Huldigung von sich abzuleiten, womit die Herren sie nicht undeutlich für die Königin der Gesellschaft erklärten. Auch Theobald fühlte sich insgeheim zu ihr hingezogen, und während der anderthalb Monate, worin er jede Woche drei Abende in ihrer Nähe zubringen durfte, entwickelte sich dies heitere Wohlgefallen zu einem stärkeren Grade von Zuneigung, als er sich selbst eingestehen durfte. Die Reize ihrer Person, die Feinheit ihres gebildeten Geistes, verbunden mit einem lebhaften, selbst ausübenden Interesse für seine Kunst, hatten ihn zu ihrem leidenschaftlichen Bewunderer gemacht, und wenn sein Verstand, wenn die oberflächlichste Betrachtung der äußern Verhältnisse ihm jeden entfernten Wunsch niederschlugen, so wiederholte er sich auf der andern Seite doch so manche leise Spur ihrer besondern Gunst mit unermüdeter Selbstüberredung, wobei er freilich nicht vergessen durfte, daß er in dem Herzog einen sehr geistreichen Nebenbuhler zu fürchten habe, der ihm überdies, was Gewandtheit und schmeichelhaften Ton des Umgangs betrifft, bei weitem überlegen war. Die Leidenschaft des Herzogs war Theobalden desto drückender, je inniger sonst ihr beiderseitiges Verhältnis hätte sein können, dagegen nun der letztere seinem arglosen fürstlichen Freunde gegenüber eine heimliche Spannung nur mit Mühe verleugnete.

Übrigens hatte er wohl Grund, sich über seine wachsende Neigung so gut wie möglich zu mystifizieren, denn eine früher geknüpfte Verbindung machte noch immer ihre stillen Rechte an sein Herz geltend, obwohl er dieselben mit einiger Überredung des Gewissens bereits entschieden zu verwerfen angefangen hatte Das reine Glück, welches der unverdorbene Jüngling erstmals in der Liebe zu einem höchst unschuldigen Geschöpfe gefunden, war ihm seit kurzem durch einen unglückseligen Umstand gestört worden, der für das reizbare Gemüt alsbald die Ursache zu ebenso verzeihlichem als hartnäckigem Mißtrauen ward. Die Sache hatte wirklich so vielen Schein, daß er das entfernt wohnende Mädchen keines Wortes, keines Zeichens mehr würdigte, ihr selbst nicht im geringsten den Grund dieser Veränderung zu erkennen gab. Mit unversöhnlichem Schmerz verhärtete er sich schnell in dem Wahne, daß der edle Boden dieses schönen Verhältnisses für immerdar erschüttert sei, und daß er sich noch glücklich schätzen müsse, wenn es ihm gelänge, mit der Bitterkeit seines gekränkten Bewußtseins jeden Rest von Sehnsucht in sich zu ertöten und [21] zu vergiften. In der Tat blieb aber dieser traurige Verlust nicht ohne gute Folgen für sein ganzes Wesen denn offenbar half diese Erfahrung nicht wenig seinen Eifer für die Kunst beleben, welche ihm nunmehr ein und alles, das höchste Ziel seiner Wünsche sein sollte. Vermochte er nun aber nach und nach über eine schmerzliche Empfindung, die ihn zu verzehren drohte, Herr zu werden, so war auf der andern Seite das Mädchen indessen nicht schlimmer daran. Agnes glaubte sich noch immer geliebt, und dieser glückliche Glaube ward, wie wir später erfahren werden, auf eine wunderliche Art, ganz ohne Zutun Theobalds, unterhalten, während er schon eine freiwillige Auflösung des Bündnisses von ihrer Seite zu hoffen begann, denn das Ausbleiben ihrer Briefe nahm er ohne weiteres für ein Zeichen ihres eigenen Schuldbewußtseins. In dieser halbfreien, noch immer etwas wunden Stimmung fand er die Bekanntschaft mit der Gräfin Constanze, und nun läßt sich die Innigkeit um so leichter begreifen, womit die gereizten Organe seiner Seele sich nach diesem neuen Lichte hinzuwenden strebten.


Im Spanischen Hofe, so hieß das bedeutendste Hotel der Stadt, war es am Abende des letzten Dezembers, wo die vornehme Welt sich bereits eifrig zur Maskerade zu rüsten hatte, ungewöhnlich stille. In dem hintersten grünen Eckzimmer leuchteten die beiden hellbrennenden Hängelampen nur zweien Gästen, wovon der eine, wie es schien, ein regelmäßiger, mit Welt und feinerer Gasthofsitte wohlvertrauter Besuch, ein pensionierter Staatsdiener von Range, der andere ein junger Bildhauer war, der erst vor wenig Stunden in der Stadt anlangte. Sie unterhielten sich, in ziemlicher Entfernung auseinander sitzend, über alltägliche Dinge, wobei sich Leopold, so nennen wir den Reisenden, bald über die zerstreute Einsilbigkeit des Alten heimlich ärgerte, bald mit einem gewissen Mitleiden auf die krankhaften Verzerrungen seines Gesichts, auf die rastlose Geschäftigkeit seiner Hände blicken mußte, die jetzt ein Fältchen am fein schwarzen Kleide auszuglätten, jetzt eine Partie Whistkarten zu mischen, oder eine Prise Spaniol aus der achatnen Dose zu greifen hatten. Das Gespräch war auf diese Weise ganz ins Stocken geraten, und um ihm wieder einigermaßen aufzuhelfen, fing der Bildhauer an: »Unter den Künstlern dieser Stadt und des Vaterlandes soll, wie ich mit Vergnügen höre, der junge Maler Nolten gegenwärtig große Aufmerksamkeit erregen?«

[22] Diese Worte schienen den alten Herrn gleichsam zu sich selber zu bringen. Seine Augen funkelten lebhaft unter ihrer grauen Bedeckung hervor. Da er jedoch noch wie gespannt stille schwieg und eine Antwort nur erst unter den schlaffen Lippen zurechtkaute, fuhr der andere fort: »Ich habe seit drei Jahren nichts von seiner Hand gesehen und bin nun äußerst begierig, mich zu überzeugen, was an diesem ausschweifenden Lobe, wie an den heftigen Urteilen der Kritiker Wahres sein mag.«

»Befehlen Sie«, sagte der Alte fast höhnisch, »daß ich nun mit einem hübschen Sätzchen antworte, wie etwa vielleicht in der Mitte liegt das fürtreffliche Talent, das seine bestimmte Richtung erst sucht – oder: es ist das Größte von ihm zu hoffen, wie das Schlimmste zu fürchten – und was dergleichen dünnen Windes mehr ist? Nein! ich sage Ihnen vielmehr geradezu, dieser Nolten ist der verdorbenste und gefährlichste Ketzer unter den Malern, einer von den halsbrecherischen Seiltänzern, welche die Kunst auf den Kopf stellen, weil das ordinäre Gehen auf zwei Beinen anfängt langweilig zu werden; der widerwärtigste Phantasie-Renommiste! Was malt er denn? eine trübe Welt voll Gespenstern, Zauberern, Elfen und dergleichen Fratzen, das ist's, was er kultiviert! Er ist recht verliebt in das Abgeschmackte, in Dinge, bei denen keinem Menschen wohl wird. Die gesunde, lautere Milch des Einfach-Schönen verschmäht er und braut einen Schwindeltrank auf Kreuzwegen und unterm Galgen; apropos, mein Herr!« (hier lächelte er ganz geheimnisvoll) »haben Sie schon Gelegenheit gehabt, eine der köstlichen Anstalten zu sehen, worein man die armen Teufel logiert, die so, verstehn mich schon, einen krummen Docht im Lichte brennen – nun? Kam Ihnen da nicht auch schon der Gedanke, wie es wäre, wenn sich etwa der Ideendunst, der von diesen Köpfen aufsteigen muß, oben an der Decke ansetzte, welche Figuren da in Fresko zum Vorschein kommen müßten? Was sagen Sie? Nolten hat sie alle kopiert, hä hä hä, hat sie sämtlich kopiert!«

»Sie scheinen«, erwiderte Leopold gelassen, »wenn ich Sie anders recht fasse, mehr die Gegenstände zu tadeln, unter denen sich dieser Künstler, nur vielleicht etwas zu vorliebig, bewegt, als daß Sie sein Talent angreifen wollten; nun läßt sich aber ohne Zweifel auf dem angedeuteten Felde so gut als auf irgendeinem das Charakteristische und das Rein-Schöne mit großem Glücke zeigen, abgeschmackte und häßliche Formen [23] jedoch, geflissentliches Aufsuchen sinnwidriger Zusammenstellungen kann man von Nolten nicht erwarten, ich kenne sein Wesen von früher und kam in der Absicht hieher, ihn mit einem gemeinschaftlichen Freunde, der auch Maler ist, zu besuchen und uns an seiner bisherigen Ausbildung zu erfreuen.«

Der alte Herr hatte diese Worte wahrscheinlich ganz überhört, denn er ging mit lautem Kichern nur wieder in den Refrain seines vorhin Gesagten über: »Hat sie sämtlich kopiert, ja ja, zum Totlachen! Ei, das muß er täglich von mir selber hören.«

In diesem Augenblicke trat Ferdinand, der Reisegefährte des Bildhauers, ein und rief diesem mit einem glänzenden Blicke voll Freude zu: »Er kommt! er folgt mir auf dem Fuße nach! Er ist der gute Nolten noch, sag ich dir! o gar nicht der achselblickende junge Glückspilz, wie man ihn schildern wollte. Stelle dir vor, er vergaß vorhin im Jubel über unsre Ankunft eine Einladung zum Herzog, mit dem er trefflichste hen muß, und eilte nur von der Straße weg, sich zu entschuldigen.«

Nach einiger Zeit erschien, in Begleitung eines andern, der Erwartete wirklich. Es war ein herzerfreuendes Wiedersehen, ein immer neu erstauntes trunkenes Begrüßen und Frohlocken unter den dreien. Wie ergötzten sich die Freunde an dem stattlichen Ansehen Theobalds, an dem reinen Anstande, den ihm das Leben in höherer Gesellschaft unvermerkt angehaucht hatte nur verbargen sie ihm nicht, daß die kräftige Röte seiner Wangen in Zeit von wenigen Jahren um ein Merkliches verschwunden sei. Er sah jedoch immer noch gesund und frisch genug neben seinem hageren Begleiter, dem Schauspieler Larkens, aus, den er soeben freundschaftlich produzieren wollte, als dieser sofort mit der angenehmsten Art sich selber empfahl und mit den Worten schloß: »Nun setz dich, liebes Kleeblatt! Ich werde mich mit eurer Erlaubnis bald auch zu euch gesellen, aber den ersten Perl- und Brauseschaum des Wiederfindens müßt ihr durchaus miteinander wegschlürfen! Ich sehe dort ein paar Spielerhände konvulsivisch fingern, das ist auf mich abgesehen.«

Damit setzte er sich zu dem alten Herrn in der Ecke, den unser Nolten erst jetzt gewahr wurde und nicht ohne Achtung begrüßte. »Sag mir doch«, fragte Leopold heimlich, »was für eine Art von Kenner das ist? Er hat die wunderlichsten Begriffe von dir.«

»Ach«, lächelte der Freund, »da kann ich dir wenig dienen. Das ist ein sehr kurioser Kauz, voll griesgrämischer Eigenheiten, [24] übrigens von viel Verstand, und mir immer ein lieber Mann. Er besitzt gute Kenntnisse von Gemälden, ist aber auf diesen Punkt von den einseitigsten Theorieen eingenommen. Aus einigen meiner Stücke soll er eine eigene Vorliebe und zugleich den unverhohlensten Widerwillen gegen mich gefaßt haben, den ich mir kaum zu enträtseln weiß. Denn daß ich es bloß als Künstler mit ihm verdorben habe, ist nicht wohl möglich, wenigstens täte er mir sehr Unrecht, indem der Vorwurf des Phantastischen, den er mir zu machen scheint, nur den kleinsten Teil meiner Erfindungen träfe, wenn es je ein Vorwurf heißen soll. Die meisten meiner Arbeiten bezeichnen in der Tat eine ganz andere Gattung. Ich vermute, der Mann hat irgendein geheimes Aber an meiner Person entdeckt, und ich muß ihn, ohne mir das geringste bewußt zu sein, mit irgend etwas beleidigt haben, das er mir nicht vergessen kann, so gern er möchte, denn es ist auffallend, sooft er mich ansieht, sträubt sich's auf seinem Gesicht wie Sauer und Süß.«

Auf diese Weise waren jene leidenschaftlichen Äußerungen einigermaßen erklärt, und es gab nun Veranlassung genug, sich gegenseitig über Geschäfte, Schicksale und mancherlei Erfahrungen auszutauschen. Sie durchliefen die Vergangenheit, erinnerten sich des Aufenthalts in Italien, wo sich vor drei Jahren ihre Bekanntschaft entsponnen hatte. Endlich fing Ferdinand an: »Du errätst wohl kaum, wo wir heute vor sechs Tagen um diese Stunde zu Gaste gesessen sind; in welchem Dörfchen, in welchem Stübchen und wer uns bewirtete?« »Nein!« sagte Nolten; aber ein aufmerksamer Beobachter würde in dieser kleinlauten Verneinung ein sehr schnell erratendes Ja gewittert haben. »Neuburg«, flüsterte Leopold freudig zuvorkommend und von der anderen Seite flog der Name »Agnes« über Ferdinands Mund. »Ich dank euch«, sagte Nolten, wie abbrechend, und verbarg eine unangenehme Empfindung.

»Was danken? du hast ja den Gruß noch nicht einmal in der Hand, den wir dir zu bringen haben!« – und hiemit sah er sich einen Brief entgegengehalten, den er mit erzwungenem Wohlgefallen zu sich steckte, indem er die beiden durch einen Vorsicht gebietenden Blick auf die Spieler für jetzt zum Stillschweigen zu vermögen suchte.

»So laß mich«, fuhr Ferdinand fort, »wenigstens des anmutigen Örtchens, laß mich des Försterhauses gedenken, wo du deine Knabenjahre bei einem zweiten Vater verlebtest, bis der [25] benachbarte Baron auf dem Schlosse, der gute lebendige Mann, für die Förderung deines Talents sorgte. Er lebt noch in frischem Marke, der ehrliche Veteran, er und der fromme Förster erinnerten sich mit Herzlichkeit jenes glücklichen Tages, da du mich, es sind nun drei Jahre her, nach unserer Rückkunft von der italienischen Reise, bei ihnen einführtest. Wahrlich, es hätte wenig gefehlt, so hätten die Alten geweint wie die Kinder bei deinem Namen, ein Paar anderer Augen nicht zu gedenken, die auch dabeistanden, und von denen es schien, als wollten sie sich im voraus recht satt sehen an mir und meinem Gefährten, an unsern Kleidern und Bündeln, weil das alles in fünf Tagen mit dem Geliebten in Berührung kommen sollte. Du pflegtest das Mädchen sonst immer dein blondes Reh zu nennen; wie treffend fand ich diesen Ausdruck wieder! ja, und das ist sie noch im lieblichsten rührendsten Sinne des Worts. Wie hätt ich gewünscht, den Umriß ihrer niedlichen Figur mit dem Bleistift in mein Portefeuille für dich wegzustehlen, wie ich sie so durch die halboffene Tür des Nebenzimmers am Tischchen sitzen und den Brief schreiben sah, den Rücken gegen uns gewendet, von der Seite kaum ein wenig sichtbar, allein der Baron war allzu gesprächig.«

»Du bist es auch«, erwiderte Nolten freundlich-böse, indem er aufstand und sich gegen den soeben herbeitretenden Larkens wandte. Dieser sagte: »Nun, wirst du die Herren nicht bewegen, sich diesen Abend in Dominos zu stecken und ein paar Stunden mit närrischen Leuten närrisch zu sein? oder machen wir's wie dort der Herr Hofrat, der an solchen Abenden hier im Gasthofe zu Nacht speist, und sich dann ein Zimmer vom Kellner anweisen läßt, um fünf Straßen weit vom Lärm des Redoutenhauses zu schlafen, das zum Unglücke seiner Wohnung gegenüberliegt? Ich dächte, ihr Herren, bevor Sie in den nächsten Tagen mit den hübschen Realitäten unserer Stadt Bekanntschaft machen, müßte es unterhaltend für Sie sein, heute im Maskensaale, sozusagen, die Fata morgana der hiesigen Menschheit zu sehen. – Verzeihen Sie mein hinkendes Gleichnis und folgen Sie meinem Vorschlage.« Es kostete Überredung, aber man entschloß sich und wünschte dem seltsamen Hofrate gute Nacht.


Nachdenklich, unbehaglich, ja traurig war Nolten mit den anderen vor den Türen des großen hellerleuchteten Gebäudes [26] angekommen, worin schon das mannigfaltigste Leben wogte und wühlte. Alle möglichen Gestalten, zum Teil in auffallendem Kontraste, drehten sich stumm, feierlich, fremde oder leise summend, kopfnickend und tanzend durcheinander. Unser trübe gestimmter Freund, schneller als er vermutete, von seinen Begleitern verloren, fühlte nach und nach in seiner Vermummung eine Art von dumpfem Troste, und wie mit seiner Umgebung, so spielte er gewissermaßen mit dem eigenen Herzen Versteckens, wobei er sich kaum bekannte, welche besondere Hoffnung ihn zwang, die Reihen der weiblichen Masken sorgfältiger zu mustern, als er sonst wohl getan haben würde. Das bescheidene Bild Agnesens, das ihn aus weiter Ferne sehnsüchtig und bittend anzulocken schien, trat mehr und mehr in den Hintergrund seiner Seele zurück, um einem ganz anderen Platz zu machen, das mit jeder neuen Entfaltung der glänzenden Gruppen leibhaftig aus der Menge hervortreten sollte. Constanze! sprach er für sich, wer entdeckt mir sie? Und doch wie wäre es möglich, daß ich aus tausend Drahtpuppen das einzige Wesen nicht sollte herausfinden können, das in der einfachsten, unwillkürlichsten Bewegung jene angeborene Grazie, jenen stets lächelnden Zauber verrät, den nur die ewig wahrhaftige Natur, den nur die Unschuld selber zu geben und so reizend und leicht mit der anerzogenen Sitte zu verschmelzen vermag! Ist nicht alles, was an ihr sich regt und bewegt, der unbewußte Ausdruck des Engels, der in ihr atmet? ist nicht alles nur Hauch, nur Geist an ihr? Und heute, eben heute, wie wohl täte mir ihr Anblick! wie wollte ich mich drei Sekunden mit allen Sinnen und Gedanken an dieser tröstlichen Erscheinung festklammern und davoneilen und mir zufrieden sagen, daß mein Auge sie sah, daß ihr Fuß einen und denselben Boden mit mir betrat, daß eine gemeinschaftliche Luft meine und ihre Lippen berührte!

Unter diesen und ähnlichen Gedanken hatte er sich endlich ermüdet auf einen Sitz in einem Fenster geworfen, als der Glockenschlag zehn Uhr ihn mahnte, sich mit den drei Freunden in einem zuvor abgeredeten leeren Zimmer des Hauses zusammenzufinden. Sie erschienen fast alle zu gleicher Zeit, und Larkens mit einer guten Ladung warmen Getränkes. Man freute sich aufs neue des Wiedersehens; jeder brachte seine eigenen Bemerkungen aus dem Saale mit, nur Nolten schien wenig oder nichts gesehen zu haben. Es war beinahe komisch, wie er auf die Fragen über eine oder die andere interessante Erscheinung [27] immer mit einem kleinlauten »ich weiß nicht« antwortete und zuletzt, um sich nicht gar auslachen zu lassen, nur so tat, als erinnerte er sich. »Wie gefiel dir der König Richard und der Herzog von Friedland?« »Recht gut«, war die Antwort, »sehr artig, bei meiner Seele! der bucklichte König hätte können besser sein.« – Larkens, indem er den andern mit den Augen winkte, machte den Schalk und sagte:

»Ein Stückchen ist aber doch wohl allen entgangen. Ein Riese in altdeutscher Tracht, ohne Zweifel einen Studenten vorstellend, geht mit langen Sporen und der Tabakspfeife schwerfällig auf und ab; endlich, da er in einer Ecke stehenbleibt, eilt ein winziges Kerlchen herbei, ein kleiner Schornsteinfeger in einer Art von Hanswursttracht, schwarz und weiß gewürfelten Beinkleidern und Wämschen, bindet den Riesen, legt das schwarze Leiterchen an den breiten Rücken des Mannes an, klettert flink mit Scharreisen und Besen hinauf, hebt ihm vorsichtig den Scheitel wie einen Deckel ab, und fängt nach allerlei bedenklichen Grimassen an, den Kopf recht wacker auszufegen, indem er einen ganzen Plunder symbolischer Ingredienzien herauszieht, z.B. einen täuschend nachgemachten Wurm von erstaunlicher Länge, ein seltsam gezeichnetes Kärtchen von Deutschland, eine ganze und dann mehrere zerbrochene Kronen, kleine Dolche, Biergläser, Bänder und dergleichen. Dagegen wurden andere Sächelchen hineingelegt, worunter man ein griechisches ABC-Buch zu erkennen glaubte; der Kopf wurde geschlossen, dann bekam der ganze Mann ein wenig Streiche und nach einer Weile kroch ein ganz vergnügtes, bescheidenes, rundes Pfäfflein aus der prahlerischen Hülle hervor.«

Die Freunde lachten im stillen über die echt Larkenssche Lüge (die eigentlich nur ein versteckter Hieb auf den Übermut burschikoser Studenten überhaupt war, deren einer vorhin im Saale sich durch Streitsucht prostituiert hatte), und man genoß heimlich den Triumph, daß Nolten ganz die Miene annahm, als hätte er die Farce gar wohl gesehen, obgleich nicht von weitem etwas Ähnliches vorgekommen war.

Indessen wurde die Aufmerksamkeit der Freunde durch eine wirkliche Maske angezogen, welche sich unversehens im Zimmer befand. Es war eine hohe Gestalt, einfach in ein grob braunes schweres Gewand gehüllt, eine Laterne und einen Stock in der Hand, den Kopf bedeckte eine Kapuze. Haltung, Anstand und der tief herabfallende weiße Bart, alles gab der[28] Person etwas Ehrwürdiges, Staunenerweckendes. Wie sie so eine Zeitlang gestanden, ohne daß von beiden Seiten ein Wort fiel, begann die Maske mit angenehmer Stimme, worin man jedoch trotz einer gewissen Dumpfheit gar bald das Frauenzimmer unterscheiden konnte, folgendermaßen:

»Ihr kennet mich nicht, meine Herren, aber euer Aussehen sagt mir, ich sei in keiner frivolen Gesellschaft. Schwerlich seid ihr gesonnen, diese ernste Nacht, die Geburtsstunde eines neuen Jahres, in gedankenlosem Rausche hinzubringen. Wollte es euch gefallen, ein Stündchen mit mir in frommer Unterhaltung zusammenzusitzen, so bezeichne ich euch einen traulichen Ort. In meiner Kleidung erkennet ihr den Wächter der Nacht. Es stoße sich niemand an dem sonst verachteten Titel. Ich bin der Geist dieser Zunft, ich nenne mich den König der Wächter dieses Landes. Mancher fromme Angehörige meines nächtlichen Staats wird euch von meinem Dasein, meinem Tun und Treiben erzählt haben. Heute mit dem zwölften Glockenschlage wird es hundert Jahre, seit ich die Dörfer und Städte des Reiches besuche, unter heiterem Sternenhimmel, wie im wilden Wintersturme. Vor Mitternacht werd ich im Wächterstübchen auf dem Turme der Albanikirche sein.«

Hiemit neigte er sich und ging mit kaum vernehmlichem Tritte hinweg.

Einstimmig war man geneigt, der sonderbaren Einladung zu folgen, was ihr auch immer zugrunde liegen möge; an einen bösartigen Scherz oder ein gemeines Abenteuer sei hier auf keinen Fall zu denken, und auf einen vergeblichen Gang könne man sich ja gefaßt halten. Ohne die treuherzige Miene und die große Neugierde, womit auch Larkens die Sache aufnahm, hätte leicht der Verdacht einer Mystifikation auf ihn fallen können, denn sein Humor war bekannt genug, er hatte ihn mit Unrecht in den Ruf eines bösartigen Spötters und Intriganten gebracht, wozu mitunter auch sein Äußeres beitrug, sowenig eben eine gelbe Hautfarbe und ein paar schwarze blitzende Augen häßlich, oder das lauernde Lächeln um den Mund gefährlich war. Es war einer von den Menschen, die man auf den Grund kennen muß, um sie nicht zu fürchten. Als Schauspieler und Sänger schätzte man ihn sehr, er wäre der Liebling des Publikums gewesen, hätte er nicht die rätselhafte und hartnäckige Grille gehabt, das Fach des Komischen, wozu er durchaus geboren war, mit ernsten Rollen zu vertauschen, die er, ohne es selbst [29] zu fühlen, nur mittelmäßig ausfüllte. Zuweilen schien sich die unterdrückte Neigung seiner Natur durch eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dem Lustspiele rächen zu wollen, und es war immer eine Festtagsbeute für die Kasse, wenn der Name Larkens bei einer Holbergschen oder Shakespeareschen Komödie auf dem Zettel stand. Dann hatte es aber auch das Ansehen, als wäre der Gott des Scherzes selbst in den entzückten Mann gefahren. Der Beifall der Verständigen und zuletzt auch des gemeinen Volks war ihm um so gewisser, je bescheidener die strotzende Ader der komischen Kraft innerhalb der feinen Schönheitslinie blieb, die nur der echte Künstler, vom richtigsten Takte geleitet, zwischen Begeisterung und Weisheit hinzuziehen weiß. Statt, wie so mancher an seinem Platze, immer gleichsam auf erhitztem Boden zu gehen, schien Meister Larkens nur von einer sanften Wärme belebt, die ihm die Grazien angehaucht, und die Funken des Genies, welche er auswarf, entzündeten keineswegs ihn selber. Maßhaltung blieb immer die Seele seines Spiels, aber sie verdiente um so mehr Bewunderung, wenn es wahr ist, was genauere Freunde behaupteten, daß seine humoristische Stimmung jederzeit nur die günstige Krise eines schmerzhaft bewegten und gedrückten Gemütes war. Wie dem auch sein mag, die Direktion besoldete ihn eigentlich nur um dieser außergewöhnlichen Darstellungen willen, und ließ ihn im übrigen, weil er nicht gezwungen werden konnte, gewähren.

Die viere waren schon nach eilf Uhr auf dem Albaniturme angekommen. Außer dem Türmer, seiner Frau und Kindern saßen in dem Stübchen um die einzige Lampe her noch einige junge Stadtmusiker, die nach althergebrachter Sitte um Mitternacht ein Lied auf der Galerie abzublasen hatten. Die neuen Gäste wurden gar freundlich aufgenommen, zumal sie für eine Kollation mit Wein gesorgt hatten. Nach einem allgemeinen Gespräche fanden die Freunde durch einige beiläufige Fragen zu ihrer nicht geringen Verwunderung, daß die Sage von einem gespensterhaften Nachtwächter dem Aberglauben dieser Leute längst nichts Fremdes war, wiewohl sie die Versicherung, man habe heute einen Besuch der Art zu erwarten, bloß für einen angelegten Spaß der Herren nehmen wollten. Indessen kam die Unterhaltung auf ähnliche Märchen und Geschichten, wahre Leckerbissen für Larkens, und selbst Nolten konnte sich seine Musterkarte phantastischer Stoffe mit manchem neuen Zuge[30] bereichern, wäre er weniger stumpf gegen alles gewesen, was seiner gegenwärtigen Laune keine Nahrung gab. Desto aufmerksamer waren die übrigen, die in solchen Erzählungen gleichsam einen abenteuerlichen Widerschein jener bunten Gaukelbilder des Maskensaals zu finden glaubten. Ein solches Geschichtchen aus dem Munde eines jungen hübschen Burschen aus der Gesellschaft war auch folgendes:

»In der Lohgasse, wenn sie den Herren bekannt ist, wo noch zwei Reihen der urältesten Gebäude unserer Stadt stehen, sieht man ein kleines Haus, schmal und spitz und neuerdings ganz baufällig; es ist die Werkstatt eines Schlossers. Im obersten Teile desselben soll aber ehmals ein junger Mann, nur allein, gewohnt haben, dessen Lebensweise niemandem näher bekannt gewesen, der sich auch niemals blicken lassen, außer jedesmal vor dem Ausbruche einer Feuersbrunst. Da sah man ihn in einer scharlachroten, netzartigen Mütze, welche ihm gar wundersam zu seinem todbleichen Gesichte stand, unruhig am kleinen Fenster auf und ab schreiten, zum sichersten Vorzeichen, daß das Unglück nahe bevorstehe. Eh noch der erste Feuerlärm entstand, eh ein Mensch wußte, daß es wo brenne, kam er auf seinem mageren Klepper unten aus dem Stalle hervorgesprengt und wie der Satan davongejagt, unfehlbar nach dem Orte des Brandes hin, als hätt er's im Geist gefühlt. Nun geschah's –«

»Ei, so laß dein langweilig Geschwätz!« fiel dem Erzähler ein Kamerade in die Rede, »und sing das Stückchen lieber in dem Liede, das du davon hast, laut't ja viel besser so und hat gar eine schöne schauerliche Weise. Sing, Christoph!«

Der Bursche sah die Gäste verlegen an, und da sie ihm begierig zusprachen, begann er alsbald mit einer klangreichen, kraftvollen Stimme:


»Sehet ihr am Fensterlein
Dort die rote Mütze wieder?
Muß nicht ganz geheuer sein,
Denn er geht schon auf und nieder.
Und was für ein toll Gewühle
Plötzlich, auf den Gassen schwillt –
Horch! das Jammerglöcklein grillt:
Hinterm Berg, hinterm Berg
Brennt's in einer Mühle!
[31]
Schaut, da sprengt er, wütend schier,
Durch das Tor, der Feuerreiter
Auf dem rippendürren Tier,
Als auf einer Feuerleiter;
Durch den Qualm und durch die Schwüle
Rennt er schon wie Windesbraut,
Aus der Stadt da ruft es laut:
Hinterm Berg, hinterm Berg
Brennt's in einer Mühle!
Keine Stunde hielt es an,
Bis die Mühle borst in Trümmer,
Und den wilden Reitersmann
Sah man von der Stunde nimmer;
Darauf stille das Gewühle
Kehret wiederum nach Haus,
Auch das Glöcklein klinget aus:
Hinterm Berg, hinterm Berg
Brennt's! –
Nach der Zeit ein Müller fand
Ein Gerippe samt der Mützen,
Ruhig an der Kellerwand
Auf der beinern' Mähre sitzen.
Feuerreiter, wie so kühle
Reitest du in deinem Grab!
Husch! da fällt's in Asche ab –
Ruhe wohl, ruhe wohl,
Drunten in der Mühle!«

Schon vor dem Schlusse des Gesanges öffnete sich die Tür und leise trat die Gestalt des Nachtwächters herein. Er blieb unbeweglich an der Wand hingepflanzt stehen, während der erschrockene Sänger, im Begriffe abzubrechen, auf einen Wink des Larkens mit der letzten Strophe fortfuhr, deren Eindruck durch die Gegenwart dieses fremden Wesens entweder nur um so mehr erhöht wurde oder ganz verlorenging.

Jetzt begrüßte der sonderbare Gast mit Würde die Anwesenden, und wenn sich auch anfangs einige Verlegenheit von seiten der Freunde bemerken ließ, so war doch bald eine ebenso natürliche als eigentümliche Unterhaltung eingeleitet. Man [32] sprach vom geheimnisvollen Reize des Wohnens auf Türmen, von dem frommen und großen Sinn des Mittelalters, wie er sich in den Formen der Baukunst, der heiligen besonders, offenbarte, und dergleichen mehr. Die Gegenwart des Unbekannten, so sparsam bis jetzt seine Worte waren, übte dennoch den größten Einfluß auf die Bedeutung und die steigende Wärme des Gesprächs. Die hohl aus der Maske tönende Sprache und der ruhige Ernst der durchblickenden, dunkel feurigen Augen konnte sogar ein vorübergehendes Grauen erregen und einen momentanen Glauben an etwas Übermenschliches aufkommen lassen.

Auf einmal erhob sich der Unbekannte, öffnete ein Fenster und sah in die klare Winterluft hinaus, indem er sagte: »Noch eine kurze Weile, so ist der Sand verlaufen, hoch emporgehalten schwebe der Faden der Zeit. Kommt hieher und fühlet, wie es schon frisch herüberduftet aus der nahen Zukunft!«

Jetzt schlug das letzte Viertel vor zwölf Uhr. Die Zinkenisten schlichen mit ihren Instrumenten auf die Galerie, und schon ließen sich von der entfernten Paulskirche herüber einige sanfte, fast klagende Töne vernehmen, die von unserer Seite anfänglich in schwachen, dann in immer stärkeren Akkorden erwidert wurden; jene bezeichneten das scheidende, diese das erwachende Jahr, und beide begegneten sich in einer Art von Wechselgesang, der am lebhaftesten wurde, als endlich die Glocken von verschiedenen Seiten her die Stunde ausschlugen; die diesseitige Partie ging in freudige Melodien über, während es von drüben immer schmerzlicher und wehmütiger klang, bis mit dem fernsten Glöckchen, das wie silbern durch die reine Luft erzitterte, die traurigen Klarinetten den letzten sterbenden Hauch versandten. Nun erfolgte eine Pause, und jetzt erst trat das vorhandene Jahr im siegreichsten Triumphe hervor.

Nachdem alles still geworden und die Gesellschaft wieder traulich um den Tisch versammelt war, ergriff man das freundliche Anerbieten des idealistischen Wächters, etwas aus seinem Tag- oder Nachtbuch vom vorigen Jahre mitzuteilen, mit allgemeinem Beifalle. Er zog ein mit sonderbaren Charakteren geschriebenes Heft hervor, welches unter regelmäßigen Daten, abgerissene Bemerkungen und Gedanken zu enthalten schien, wie sie ihm auf seinen nächtlichen Wanderungen, auf den Straßen der Städte und Dörfer sich dargeboten haben mochten; charakteristische Bilder aus den verschiedensten Verhältnissen [33] und Zuständen der Menschen. Wir übergehen den größten Teil seiner Vorlesung und führen bloß eine Stelle an, die auf Nolten um so tiefern Eindruck machte, je vielsagender der Blick war, womit Larkens ihn darauf aufmerksam zu machen suchte.


*


»Nacht vom 7. auf den 8. Januar im Dorfe *.


– – Ich trete vor ein reinlich gebautes Haus; ich kenne es wohl; es wohnen glückliche Menschen darin. In harmloser Stille blühet hier eine Braut, deren Verlobter ferne lebt. Vergönne mir, du Haus des Friedens, einen Blick in deine Gemächer. Mein Auge ist geheiligt wie das eines Priesters; hundert Jahre schon belauscht es die Nächte der Könige dieses Landes und die Schlummerstätten der Armen im Volk, und meine Gebete erzählen dem Himmel, was ich gesehen. Sieh da! was zeigt mir mein magischer Spiegel? Es ist die Kammer des Mädchens. Wie ruhig atmet die Schlafende dort! Ihr liebliches Haupt ist hinabgesunken nach der Seite des Lagers. Der Mond schaut durch das kleine Fenster; mit einem Strahle berührt er eben das unschuldige Kinn der Schläferin. Eine Hyazinthe neigt ihre blauen Glocken gegen das Kissen her und mischt ihren Duft in die Frühlingsträume der Braut, indes der Winter diese Scheiben mit Eise beblümt. Wo mögen ihre Gedanken jetzo sein? Auf diesem Teppiche sind seltsame Figuren eingewoben, hundert segelnde Schiffe. Vielleicht auf diesen Bildern ruhte ihr sinnendes Auge noch kurz, eh sie die Lampe löschte, nun träumt sie den Geliebten in die wilde See hinaus verschlagen und ihre Stimme kann ihn nicht erreichen. O besser, daß er in die Tiefe des Meeres versänke, als daß du ihn treulos fändest, gutes Kind! Aber du lächelst ja auf einmal so selig, träumst ihn im Arme zu halten, seinen Kuß zu fühlen. Vielleicht in dem Augenblicke, da du mit seinem Schatten spielest, sucht er wachend ein verbotenes Glück und treibt schändlichen Verrat mit deiner Liebe. Aber immer noch seh ich dich freundlich; du arglose Seele, ach wohl, es ist auch unerhört und fast unglaublich; was sucht er denn, das er bei dir nicht fände? Schönheit und Jugendreiz? ich weiß nicht, was die Sterblichen so nennen, aber hier darf selbst der Himmel wohlgefällig über seine Schöpfung lächeln. Verstand und Geist? O schlüge sich dies Auge auf! aus seiner dunkelblauen Tiefe leuchtet mit Kindesblick die Ahnung jedes höchsten Gedankens. Wie, oder Frömmigkeit? die Frage klingt [34] wie Spott auf ihn. Ihr bescheidnen Wände zeuget, wie oft ihr sie habt knieen sehn im brünstigen Gebet, wenn alles rundum schlief! – – Bist ernst geworden, mein Töchterchen; wie seltsam wechselt dein Traum! Ach, nur zu bald wirst du weinen. Gott helfe dir. Gute Nacht.«


*


Dies war die auffallende Stelle, die Nolten mit heimlichem Unmute gegen Larkens anhörte, denn nun zweifelte er nicht mehr, daß dieser das Ganze veranstaltet hatte. Was noch weiter aus dem Hefte vorgetragen wurde, war ohne besondere Beziehung, und der Vorleser hörte eben zur rechten Zeit auf, als die Ungeduld Noltens am höchsten war. Der letztere konnte kaum erwarten, bis man auseinanderging und er Gelegenheit fand, dem Larkens einige Worte zuzuflüstern, die ihm wenigstens andeuten sollten, wie wenig jener Wink am Platze gewesen. »Ich danke dir«, sagte er mit beleidigtem Tone, indem sie die Treppen des Turmes hinabstiegen, »ich danke dir für deine wohlgemeinte Zurechtweisung in einer Sache, worin ich übrigens füglich mein eigener Richter sein könnte. Ich habe mich dir schon früher im allgemeinen darüber erklärt, du scheinst mich aber nicht verstanden zu haben. Verlang es, und ich will mich weitläufiger vor dir rechtfertigen.«

»Fürs erste«, antwortete der Freund halb lächelnd, »berg ich dir meine Freude darüber keineswegs, daß du meinen versteckten Ausfall auf dein Gewissen nicht spaßhaft aufgenommen, so seltsam auch die Komödie war; aber es täte mir auf der andern Seite ebenso leid, wenn du einen Popanz oder selbstgefälligen Sittenrichter in mir erblicken wolltest. Niemand würde sich mit weniger Recht hiezu aufwerfen, als ich, der ich selber erst vor kurzem dem Teufel entlaufen bin und drei Viertel meines Seelenheils an ihn verloren habe, aber ich schwör ihm auch das letzte teure Restchen vollends zu, wenn ich daran lügen sollte, daß ein uneigennützig Mitleid mit jenem liebenswürdigen Geschöpfe, ja mit euch beiden, mich zwinge alles aufzubieten, was deine unselige Entfremdung von dem Mädchen hintertreiben kann.«

»Gut, wir sprechen uns bald mehr darüber«, sagte Nolten, und wollte ihm freundlich die Hand drücken, was jedoch Larkens nach seiner Art schnell abtat, weil ihn der geringste Anschein von Sentiment zwischen Freunden immer verlegen und ärgerlich machte.

[35] Nachdem man die beiden auswärtigen Freunde bis zu ihrem Quartiere begleitet und die nächste Zusammenkunft abgeredet hatte, gingen die andern, welche in einem Hause und auf demselben Boden wohnten, ziemlich einsilbig ihre gemeinschaftliche Straße.


Unser Maler fand zwischen den eigenen Wänden jene Wohltat ungestörter Einsamkeit, nach welcher er sich vor wenigen Minuten so ungeduldig hingedrängt hatte, keineswegs. Die Eindrücke dieser letzten Stunden waren zu mannigfaltig, zu mächtig, zu entgegengesetzt, als daß er hoffen konnte, sie zu ordnen, sich ihrer mit Vernunft zu bemeistern. Er schickte den Bedienten, der ihn auskleiden sollte, zu Bette, und saß eine Weile unschlüssig, den Kopf in die Hand gestützt, den Blick auf die ruhige Flamme der vor ihm brennenden Kerze geheftet. Erst der Anblick jenes unwillkommenen Briefs (er lag noch uneröffnet auf dem Tische) schien seinem Unmut, seinem Grame eine entschiedene Gestalt zu geben. »Oh!« brach er aus, »muß heute sich alles herzudrängen, mich zu peinigen? soll ich nicht zu mir selbst kommen? Was kann sie wollen mit dem Briefe? muß sie nicht fühlen, wir sind getrennt auf immer, muß sie's nicht? Ja, wenn dies wirklich der Inhalt dieses Blattes wäre! Könnt ich's nur ahnen aus den Zügen dieser Aufschrift! Doch, die sind treu und gut, und blicken schmeichelhaft wie in den glücklichen Tagen – Nein, nein, ich wag es nicht, dies Siegel zu erbrechen.«

Er stand plötzlich auf und suchte die Gesellschaft des Freundes. Zu seinem Troste traf er ihn noch wach am Kamine sitzend und nicht minder geneigt, die wenigen Stunden bis zum Tagesanbruch vollends in vertrautem Gespräche zuzubringen. »Recht, daß du kommst!« hieß es, »du triffst mich mit ernsthaften Betrachtungen über dich, beschäftigt. Es wäre gar schön von dir, wolltest du mich jetzt ein wenig tiefer in deine Karten schauen lassen, denn nach dem, was du heute gemunkelt, sollte man ja beinahe glauben, daß deine Erkältung gegen Agnes noch ihre absonderlichen Ursachen habe, wiewohl ich immer bloß die Symptome eines ganz ordinären Liebesfrosts an dir zu bemerken meinte, der sich selten anders erklären läßt, als im allgemeinen aus einem gewissen Defizit von Wärme. In der Folge mag denn auch Gräfin Constanze einigen Einfluß gehabt haben; was? oder hätte sie wirklich schon alles wie mit Besemen gekehrt in deinem Herzschrank angetroffen?«

[36] »Laß uns nicht leichtsinnig von einer ernsthaften Sache reden!« versetzte Nolten, »nein, glaub es, Alter, mein Verhältnis zu Agnes fand den Grund seiner Zerstörung nicht ebenda, wo ihn dein Scharfsinn mit soviel Zuversicht entdecken will. Du hättest mir die Ursache längst abmerken können; eine ausführliche Entwicklung der verhaften Geschichte war mir zu verdrießlich, und zudem mag mich eine dumme Scham abgehalten haben, über die ich nicht gebieten konnte. Mich von einem kindischen Geschöpfe so genarrt, so gekränkt zu wissen! mich selber so zu narren, so zu täuschen! Höre nun; du weißt, was mich an das Mädchen gefesselt hatte, was ich alles in ihr suchte, tausendfach fand; aber dir ist nicht bekannt, wie sehr mich meine Rechnung zuletzt betrog. Siehst du, wenn äußerste Reinheit der Gesinnung, wenn kindliche Bescheidenheit und eine unbegrenzte Ergebung von jeher in meinen Augen für die Summe desjenigen galt, was ich von einem weiblichen Wesen verlangen müsse, das ich immer sollte lieben können, so ist der Eigensinn begreiflich und verzeihlich, womit sich mein Herz verschloß, sobald jene Eigenschaften anfingen, sich im geringsten zu verleugnen; denn je gemäßigter meine Ansprüche in jedem andern Sinne waren, desto beharrlicher durften sie sein in dieser einzigen Rücksicht, mit welcher nach meinem Gefühle der schönste und bleibendste Reiz aller Weiblichkeit wegfällt.«

»Ha ha ha!« lachte der Freund, »deine Forderungen sind bescheiden, und doch auch impertinent groß von Weibern der jetzigen Welt!«

»Oh«, fuhr der andere fort, »o Larkens! ja verlache mich, denn ich verdien's! daß ich der Tor sein konnte, zu glauben an die Unwandelbarkeit jener ursprünglichen Einfalt, die mir unendlichen Ersatz für jeden glänzenden Vorzug der Erziehung gab! Wo blieb doch jener fromm genügsame Sinn, den auch die leise Ahnung nie beschlich, daß es außer dem Geliebten noch etwas Wünschenswertes geben könne? jene ungefärbte Wahrheit, welche auch den kleinsten Rückhalt nicht in sich duldet, jene Demut, die sich selbst Geheimnis ist? Das alles lag einst in dem Mädchen! Wie heimlich und entzückt belauscht ich nicht zu tausend Malen das reine Aderspiel ihres verborgensten Lebens! Durchsichtig wie Kristall schien der ganze Umfang ihres Daseins vor mir aufgeschlossen und auch nicht ein unebener Zug ließ sich entdecken. Sprich! mußte darum nicht der erste Schatten weiblicher Falschheit mich auf ewig von ihr schrecken?[37] Mein Paradies, gesteh ich, Larkens! war vergiftet von diesem Augenblicke. Kann ich es ändern? kann sie es ändern? Sie selbst mag zu entschuldigen sein, auch ich entschuldige sie, aber die Bedeutung des Ganzen ist mir verloren, ist weg, unwiderbringlich. Und wenn ihre Liebe, göttlich neugeboren, mir entgegenweinte, ich müßte die Hände sinken lassen, sie fände ihre alte Wohnung nicht mehr.«

Larkens schwieg einige Zeit nachdenklich. »Aber«, fing er nun an, »was verbrach denn das Mädchen eigentlich? wo streckte denn der Satan, der in sie gefahren sein soll, zuerst sein Horn heraus? wo sind die Indizia?«

»Meinst du«, fuhr Nolten fort, »es sei mir nicht schon fatal gewesen, da es bereits vor einem Jahre bei meinem letzten Besuch in Neuburg sehr deutlich das Ansehen hatte, als ob dem Närrchen bange würde um eine genügende Versorgung durch mich? und wenn mir der Vater mit kritischem Gesichte zu verstehen gab, es wolle nirgends recht fort mit meiner Kunst, mit meinem Erwerbe, er selber könne uns nur wenig unter die Arme greifen, ich möge mich doch wohl bedenken, ob ich mir eine Familie zu nähren getraue, und was des Geschwätzes mehr war, so nahm das Töchterchen mich zwar zärtlich genug in eine Ecke, küßte mir die Runzeln von der Stirn, lächelte und verbarg doch nur mit Müh und Not ihre Sorgen, ihre Tränen. Das ließ ich denn so gehen und hielt's ihnen zugute. Aber bald nachher, verflucht! die garstige Niederträchtigkeit!«

»Nun?«

»Ein zierlicher Laffe kam ins Haus, Geometer, oder was er ist, ein weitläufiger Vetter aus der benachbarten Stadt. Mir ward von freundschaftlicher Hand ein Wink gegeben, daß man sich in dem Burschen, nur auf gewisse Fälle, ein Schwiegersöhnchen reservieren wolle.«

»Ist nicht möglich das!« rief Larkens erschrocken aufspringend.

»Und ist gewiß. Zwar Agnes wußt anfangs nicht um den saubern Plan, man wollt abwarten, ob ihr's Mäulchen nicht selber überliefe, man steckte die Leutchen recht geflissentlich zusammen, daß dem Mädel zuletzt wirklich schwindlig ward denn mein Rival trug ohne Zweifel eine brillante Vorstecknadel, wußte treffliche Dinge von Bällen und dergleichen zu erzählen, wunderte sich recht mitleidig, daß Fräulein Agnes an [38] solchen Herrlichkeiten keinen Teil nehme, worauf denn das gute Schäfchen sich ebenfalls im stillen verwunderte, sich ganz tiefsinnig in die neue prächtige Welt verguckte, von welcher sie auf ihrem stillen Waldhäuschen bisher das mindeste nicht geahnt. Mir entdeckten jedoch ihre sehr liebreichen, wiewohl etwas sparsamen, Briefe nichts von diesen Visionen, die Wischchen waren lieb und simpel und treuherzig, wie sonst auch, rochen weder nach eau de Portugal noch de mille fleurs, sondern es war genau der alte echte Maiblumen- und Erdbeernduft – aber den höllischen Gestank brachten mir die Briefe sehr ehrenwerter Personen unter die Nase; dort ist von musikalischen und andern Notturnis, von Rendezvous im Gärtchen, kurz von allerliebsten Sachen die Rede, die ich zuerst unglaublich und bis zur Desperation abscheulich, dann aber ganz natürlich und zum Totlachen plausibel fand.«

»Die Briefe, von wem denn?«

»Sie sind – gleichviel.«

»Das nun eben nicht, mein Bester!«

»Nun ja, ich bin den Personen eine gewisse Diskretion schuldig.«

»Nur ungefähr; männlich? weiblich? oho! nun rar ich den Pfeffer; die Episteln hat der Neid diktiert.«

»Unwürdiger Verdacht! Und ich hab außerdem Beweise, die – o laß mich schweigen, laß mich vergessen! nur jetzt verschone mich, du siehst ja, wie mich's martert!«

»Aber was sagte Agnes zur Entschuldigung?«

»Nichts, und ich macht ihr keinen Vorhalt.«

»Alle Teufel! bist du verrückt? du stelltest sie nicht zur Rede?«

»Mit keiner Silbe. Der Herr Papa, in Furcht, ich habe Wind erhalten von dem Spaß, kam mir mit Rechtfertigungen zuvor, vielleicht weil ihm der Reukauf angekommen. Da versteigt er sich nun in den rührendsten psychologischen Subtilitäten, als gälte es eine Preisaufgabe, den Leichtsinn einer läppischen Dirne wieder zu Ehren zu bringen. Er ruft sogar die Medizin zu Hülfe; es ist wahr, das Mädchen war kurz vorher krank, aber was, zum Henker! hatten die Nerven meiner Braut mit dem Geometer zu schaffen? Kurzum, ich weiß nun, was ich von allem zu glauben habe. Ich schrieb ihr, wie du weißt, seit sechs Monaten nicht mehr, und hoffte zuletzt, auch sie habe stillschweigend resigniert, allein der Alte mag von Verbesserung [39] meiner Umstände gehört haben: nun erhalt ich gestern unerwartet einen Wisch durch Ferdinand – da!«

Larkens griff hastig nach dem Briefe, und zwar mit einer Bestürzung, die nur in diesem Augenblicke dem Freunde entgehen konnte. Nolten drang ihm die Papiere beinahe bittend auf, indem er wiederholt sagte: »Behalt es, vergrab es bei dir, bester einziger Larkens! und wenn es möglich ist, verschone mich mit seinem Inhalt, antworte statt meiner, nicht wahr, du tust mir die Liebe? O wie mir nun wieder leicht ist, seit ich des Quarks los bin! – Alter, komm, laß Wein bringen! Wollen uns einmal wieder lustig machen. Der Tag schläft noch fest. Laß diese trübe Lampe mit unsern verdüsterten Geistern sich im Karfunkel des Burgunders spiegeln!«

In kurzem stand eine kühle Flasche auf dem Tische. Man suchte einige Lieblingsmaterien der Kunst auf und war bald im Feuer des Gesprächs. Mit der Morgendämmerung trennte man sich, um noch eine kurze Ruhe nachzuholen.

»Noch eins!« rief Theobald unter der Tür, »wer war denn der Vermummte auf dem Albaniturm?«

»Frag mich jetzt nicht; es ist gleichgültig; du sollst's ein andermal erfahren. Schlaf wohl.«

Nolten war auf seinem, vom Frühlichte blaß erhellten Schlafzimmer angekommen. Er will sich soeben aufs Bette werfen als ihm an dem spanischen Hute, welchen er gestern auf dem Balle gebraucht, eine Zierde auffällt, die ihm völlig fremd ist; die rote Blüte einer Granate, der Natur täuschend nachgemacht. Das Blut steigt ihm in die Wange, eine plötzliche Ahnung schießt ihm durch den Kopf – »von ihr! von ihr! o sicherlich von dir, Constanze!« rief er aus. »Die Liebe deutet mir das rätselhafte Wort, das du vor wenig Tagen, halb Scherz, halb Ernst, gegen mich hast fallenlassen. Die Blüte der Granate – war's nicht so? Ja, so war's! Und nun heute nacht – stutzte mein Auge nicht mehr als einmal an der Blumen austeilenden Gärtnerin und ihrem kleinen Diener? So ist sie's doch gewesen! gewiß, der Junge hat mir's angesteckt, wie ich verdrießlich in jenem Fenster saß. Sie muß ihm den Wink gegeben haben. So erkannte sie mich doch. Du Engel! Engel! Und du, mein seliges Herz! ja hoffe nur und hoffe kühn! das ist ein teures, unschätzbares Merkzeichen. Mir beginnt ein neues Leben! Herauf, du schläfriger Morgen! O warum stürzt die Sonne sich nicht prächtig und entzückt mit einemmal über den schattenden Berg, da [40] mich ein Wunder glücklich macht? Du grauer Tag, wie blickst du seltsam in die glühende Blätterkrone dieses geborstenen Kelchs! Lieber, grauer Tag, wahrsage mir nicht Schlimmes mit dieser gelassenen Miene! und willst du neidisch sein, so wiß es nur und ärgre dich – sie liebt mich! Mich! Ja, sie – mich!«


Indessen hatte Larkens das ihm übergebene Briefchen Agnesens geöffnet und gelesen, es war ein einfacher Gruß, wobei sie Theobalden aufs lebhafteste dankt für sein letztes Schreiben, welches jedoch, die Wahrheit zu sagen, von ganz anderer Hand, und, wie so manche frühere Sendung, bloß unterschoben war.

»Du bittest mich«, sagte Larkens nach einer Pause gerührten Nachdenkens vor sich hin, »du bittest mich, armer Freund, ich soll das Blättchen bei mir vergraben, soll den Knoten zerhauen, soll deine ganze verleidete Sache über Hals und Kopf der Vergessenheit überliefern, und so alles mit einem Male gutmachen. Ich will gutmachen, aber auf ganz andere Art als du denkst, und Gott sei Dank, daß mir nicht jetzt erst einfällt, diese Sorge auf mich zu nehmen. Wie preis ich den Genius, der mir gleich anfangs das Mittel eingab, dem guten Kinde deinen Wankelmut zu verbergen, ihm durch eine leichte Täuschung allen Schmerz, alle Angst zu ersparen, und, wenigstens solange sich noch Heilung für den Verblendeten hoffen läßt, das holde Geschöpf im schönen Traum seiner Liebe zu lassen. Aus einem Verhältnisse zu der Gräfin kann offenbar nichts werden, tausend Umstände sind dagegen; Constanze selber, wie ich sie kenne, hat nicht den entfernten Gedanken an so etwas, kann ihn gar nicht haben. Theobald wird müssen seiner Leidenschaft entsagen lernen, ich seh alles voraus, es wird tief bei ihm einschneiden – schad't nichts, das soll mir ihn zu sich selbst bringen, soll mir ihn weich machen für Agnes; er wird dem Himmel danken, wenn ihm das weggeworfene Kleinod erhalten blieb. Für jetzt wär's Unsinn, ihm die Gräfin gewaltsam vom Herzen reißen zu wollen; ich hoffe, es ist nur ein Übergang, und ich müßt ihn schlecht kennen, oder es kann ihm in die Länge selbst nicht schmecken. Auf jeden Fall läßt er mich ja an allem teilnehmen, was etwa mit ihm und Constanzen vorgeht, und Larkens ist bei der Hand, wenn Feuer im Dach auskommen sollte; überdies will ich meinen Leuten so genau aufpassen, daß mir nichts in die Quere laufen soll. Das erste ist nun, ich muß wissen, was an dem Märchen mit Agnes ist;[41] gewiß irgendeine verleumderische Teufelei, und mein vortrefflichster Nolten hat in der blinden Hitze einmal wieder danebengeschossen; ich lasse mich rädern, das ist's. – Hm! freilich, hätt ich nur ein einzig Mal das Mädel mit diesen meinen Augen gesehen! aber so, was bürgt mir für sie? Man hat Beispiele, daß so ein Engelchen auch einmal einen schlechten Streich macht, oder, was bei ihnen geradesoviel ist, einen dummen. Nein, zum Henker, ich kann's wieder nicht denken! Sind mir ihre Briefe nicht Zeugnis genug? So schreibt doch wahrlich keine Galgenfeder! Und gesetzt, sie hätt einmal ein paar Tage einen Wurm im Kopf gehabt und ein bissel nebenaus geschielt, etwas Gift mag so was immer ansetzen beim Liebhaber, doch im ganzen was tut's? Ein verdammter Egoismus, daß wir Männer uns alles lieber verzeihen, als so einem lieben Närrchen; eben als hätten wir allein das Privilegium, uns zuweilen vom Leibhaftigen den Pelz ein wenig streicheln zu lassen, ohne ihn just zu verbrennen. Wetter! diese frommen Hexchen haben so gut Fleisch und Blut wie unsereiner, und der nächste Blick auf die Person des Alleinzigen wirft den Hun dertstels-Gedanken von Untreue und das gewagteste Luftschloß wieder übern Haufen; dann gibt es nichts pikanter Wollüstiges für so eine süße Krabbe, als die Tränchen, womit sie gleich drauf die Verirrung ihrer Phantasie am bärtigen Halse des Liebsten unter tausend Küssen stillschweigend abbüßet. Aber auch nicht einmal dieser leichten Seitensprünge halt ich Agnesen fähig; wenigstens wär mir leid um das goldreine Christengelsbild, das ich mir so nach und nach von dem Mädchen konstruierte. Mord und Tod! daß man doch gar, gar nichts in der Welt soll denken können, wobei einem der alte Verderber nicht wieder ein Eselsohr drehte! Ich möcht mich in Stücke reißen vor Wut! nicht um meinetwillen – für mich ist nichts mehr zu verlieren: nein, nur um Noltens willen, der so ehrlich, gut knabenartig sein Ideal in einer Dorflaube salviert glaubte und nun eben auch in faule Äpfel beißen soll. So geht's – ei, und am Ende haben wir's all nicht besser verdient. Aber laß sehen, es fragt sich ja immer noch – Verflucht! was doch das Mißtrauen ansteckt! Stand nicht bis den Augenblick mein Glaube an das Mädchen fest wie ein Fels? und, sachte beim Licht besehn, steht er noch wie vor. So laß mich denn meine Maschinen getrost fortspielen! meine Maskenkorrespondenz mit dem Liebchen mag dauern solang sich's tut. Bin ich durch diese sechs Monat lange Übung im Stil der Liebe, im [42] Ausdruck und individueller Gedankenweise nicht so ganz und gar zum andern Nolten geworden, daß ich fast fürchten muß, das Mädchen, wenn heut oder morgen der Spuk an Tag käme, könnte sich in mich verlieben? was denn ceteris paribus auch so übel nicht wäre. Doch, soviel ist gewiß, ich glaube für hundert galante Schurkereien, wozu ich ehedem meine gewandte Handschrift mißbrauchte, mir hinlängliche Absolution dadurch erworben zu haben, daß ich die Kunst, ehrlichen Leuten ihre Züge abzustehlen, endlich einmal für einen guten Zweck nütze. Du liebes betrogenes Kind! und hast du denn niemals beim innigen vertieften Anschaun meiner Lügenschrift etwas Unheimliches verspürt, wenn du das Blatt mit dankbarem Entzücken an deine Lippen drücktest? hat nicht der Engel deiner Liebe dir zugeflüstert: halt, eine fremde Hand schiebt der des Geliebten sich unter? Nein doch! dein Schutzengel wird sich ja eher mit mir verschwören, als daß er dich mit der unzeitigen Wahrheit betrüben sollte, die dir zugleich den Geliebten raubt! Immerhin also laß mich gewähren. Und hat es mir zeither an Vorwänden nicht gefehlt, dich über das immer verschobene Wiedersehn deines Theobalds und die langentbehrte Umarmung zu trösten, so wird es mir, denk ich, noch gelingen, dir ihn bald als einen völlig Neuen entgegenzuführen, und du wirst nicht einmal wissen, daß es ein strafwürdiger, aber bekehrter Flüchtling ist, der zu deinen Füßen weint.«

Dies war so ziemlich das bald leise, bald laute Selbstgespräch Larkens'. Indem wir es wiederzugeben suchten, weihten wir den Leser in das Geheimnis ein, das ihm gegenwärtig vor allem am Herzen lag. Es versteht sich von selbst, daß er gleich beim Beginn seines wunderlichen Briefwechsels mit Agnes alle Vorsicht gebrauchte und jene namentlich unter irgendeinem Vorwand aufforderte, ihre Briefe immer unter der Larkensschen Adresse laufen zu lassen. Dies geschah indessen auch pflichtlich, nur das letzte Billett machte eine Ausnahme, weil Agnes die Gelegenheit durch die Freunde ohne Umschweif nützen zu können meinte, und so war das Papier wirklich zu anfangs nicht geringem Schrecken des heimlichen Korrespondenten in die Hände desjenigen gelangt, für den es am wenigsten gehörte, und dem sein Inhalt das ganze hübsche Gewebe hätte verraten müssen. Eine geschärfte Instruktion für die Briefstellerin war die einzige Folge dieser glücklich abgeleiteten Gefahr, aber einen weit wichtigern Grund, ungesäumt an Agnes, [43] sowie auch an den Förster, zu schreiben, fand Larkens in der Ungewißheit über die bewußte Ehrensache. Er setzte sich noch in dieser Stunde nieder, doch mit dem Vorsatze, seine Sorge nur so gelinde als möglich reden zu lassen, und seine Erkundigungen ganz im Allgemeinen zu halten, damit nicht etwa ein Verstoß gegen frühere Verhandlungen, die ihm unbekannt waren, zum Vorschein komme.


Um aber die Stellung Noltens gegen die Braut ganz anschaulich zu machen, müssen wir in der Zeit etwas zurückschreiten und Folgendes erzählen.

Das Verhältnis der Verlobten stand in der wünschenswertesten Blüte, als Agnes durch eine heftige Nervenkrankheit dem Tode nahe gebracht war. Der kritische Zeitpunkt ging indessen gegen Erwartung glücklich vorüber, und mehrere Wochen verstrichen, ohne daß es mit der allmählichen Genesung des Mädchens irgendeinen auffallenden Anstoß gegeben hätte. Jetzt aber konnte es dem Vater, und wer ihn sonst besuchen mochte, nimmer entgehen, daß mit der Tochter eine Veränderung, und zwar eine sehr bedeutende, vorgegangen sei. Offenbar war sie tief am Gemüte angegriffen, auch körperlich bemerkte man die sonderbarste Reizbarkeit an ihr, im ganzen war sie sanft, meist niedergeschlagen, zuweilen ungewöhnlich heiter und gegen ihr sonstiges Wesen zu allerlei Possen geneigt. Oft machte sie ihrem Herzen durch heftige Tränen Luft, brach in Klagen aus um den entfernten Geliebten, den sie mit Sehnsucht zu sich wünschte. Zugleich äußerte sie eine leidenschaftliche Liebe zur Musik, verlangte nichts so sehr als irgendein Instrument spielen zu können, und setzte jedesmal hinzu, sie wünsche dies nur um Noltens willen, damit er künftig doch wenigstens ein Vergnügen von ihr haben möge. »Ich bin ein gar zu bäurisches einfältiges Geschöpf, und solch ein Mann! O werden wir denn auch jemals füreinander taugen?« Und wollte man sie nun beruhigen, setzte der Vater den schlichten treuen Sinn des Bräutigams recht faßlich auseinander, so konnte sie nur um desto heftiger ausrufen: »Das ist eben der Jammer, daß er sich selber so betrügt! ihr alle betrügt euch, und ich mich selbst in mancher törichten Viertelstunde. Meint ihr denn, wie er im vorigen Herbste da war, ich hätte nicht gemerkt, daß er oft Langeweile bei mir hatte, daß ihn etwas beengte, stocken machte? Seht, wenn er bei mir saß, mir seine Hand hinhielt und ich verstummte, nichts in [44] der Welt begehrte, als ihm nur immer in die Augen zu sehn, dann lächelt' er wohl – ach, und wie lieb, wie treulich! nein, das macht ihm kein anderer nach! Und hab ich dann nicht oft mitten in der hellen Freude, bestürzt mich weggewandt und das Gesicht mit beiden Händen zugedeckt, geweint und ihm verhehlt, was eben an mich kam? – ach, denn ich fürchtete, er könnte mir im stillen rechtgeben, ich wollt ihm nicht selber draufhelfen, wie ungleich wir uns seien, wie übel er im Grunde mit mir beraten sei.« So fuhr sie eine Zeitlang fort und endete zuletzt mit bittern Tränen; dann konnte es geschehn, daß sie sich schnell zusammennahm, gleichsam gegen den Strom ihres Gefühls zu schwimmen strebte, und mit dem Ton des liebenswürdigsten Stolzes fing das schöne Kind nun an, sich zu rechtfertigen, sich zu vergleichen; die blasse Wange färbte sich ein wenig, ihr Auge leuchtete, es war der rührendste Streit von leidender Demut und edlem Selbstbewußtsein.

Diese sonderbare Unzufriedenheit, ja dies Verzweifeln an allem eigenen Werte fiel desto stärker auf, da Theobald in der Tat nicht die geringste Ursache zu dergleichen gegeben, man auch früher kaum die Spur von einer solchen Ängstlichkeit an ihr entdeckte. Jetzt ward es freilich aus manchen ihrer Äußerungen klar, daß sie schon in gesunden Tagen diese Sorge heimlich genährt und wieder unterdrückt hatte, daß ein krankes Gefühl, das von jenem Nervenübel bei ihr zurückgeblieben war, sich mit Gewalt auf den verletzbarsten Teil des zarten Gemütes geworfen haben müsse.

Damit wir jedoch sogleich über das Ganze ein hinreichendes Licht verbreiten, sind wir die Erzählung einer Tatsache schuldig, welche jenen Symptomen von Schwermut vorausging, und wodurch das, was vielleicht nur vorübergehende Grille war eine weit schwierigere Gestalt annahm.

Zwei Wochen, nachdem Agnes vom Krankenlager freigesprochen war, hatte sie vom Arzte die Erlaubnis erhalten, zum erstenmal wieder die freie Luft zu kosten. Es war an jenem Tage eben ein weitläuftiger Verwandter, dessen eigentliche Bekanntschaft man jetzt erst machte, im Hause gegenwärtig; der junge Mann war seit kurzem in der benachbarten Stadt bei der Landesvermessung angestellt und bei dem Förster ein um so willkommnerer Gast, als er neben einem angenehmen Äußern manches schöne gesellige Talent bewies. Man speiste fröhlich zu Mittag und Agnes durfte den Vetter Otto nach Tisch beim [45] wärmsten Sonnenschein eine Strecke gegen die Stadt hin begleiten. Das Mädchen, wie neugeboren unterm offenen Himmel, genoß ganz das erhebende Vergnügen neugeschenkter Gesundheit, das sich mit nichts vergleichen läßt, sie sprach wenig, eine stille, gegen Gott gewendete Freude schien ihr den Mund zu verschließen und ihren Fuß im leichten Gang vom Boden aufzuheben; ihr war, als sei ihr Inneres nur Licht und Sonne; ein deutliches Gefühl von körperlicher Kraft schien sich mit einem kleinen Rest von Schwäche angenehm bei ihr zu mischen; sie kehrte früher um und nahm Abschied von Otto, damit sie völlig ungestört sich dem Überflusse des Entzückens und des Dankes hingeben könne.

Ihr Weg führte sie durch ein Birkenwäldchen, bei dessen letzten Büschen sie eine Zigeunerin allein am Rasen sitzen fand eine Person von ansprechendem und trotz ihres gesetzten Alters noch immer von jungfräulichem Aussehen. Man grüßt sich, Agnes geht weiter, und hat kaum fünfzehn Schritte zurückgelegt, als sie bereuet, die Unbekannte nicht angeredet zu haben, deren ganzes Wesen und freundlich bedeutender Blick doch sogleich den größten Eindruck auf sie gemacht hatte. Sie besinnt sich, sie lenkt um und eine Unterredung wird angeknüpft. Nach einer Weile, während der man gleichgültige Dinge gesprochen, pflückt das braune Mädchen gleichsam spielend einige Gräser, knüpft sie in eine regelmäßige Figur zusammen, löst sodann kopfschüttelnd den einen oder andern Knoten wieder auf und sagt: »Setzt Euch zu mir. – Der Herr, dem Ihr da vorhin ausgefolgt, ist Euer Schatz zwar nicht, doch denkt an mich, er wird es werden.«

Agnes, obgleich etwas betreten, scherzt anfangs über eine so unglaubliche Prophezeiung, verwickelt sich aber immer angelegentlicher und hastiger ins Gespräch, und da die Äußerungen und Fragen der Fremden eine ganz unbegreifliche Bekanntschaft mit den eigentlichen Verhältnissen der Braut vorauszusetzen scheinen, so kommt sie den Worten der Zigeunerin unvermerkt entgegen. Das gutmütige Benehmen derselben entfernt zugleich fast jedes Mißtrauen bei Agnesen. Wie schmerzhaft aber und wie unvermutet wird ihr geheimstes Herz mit einem Male aufgedeckt, da sie aus jenem ahnungsvollen Munde unter andern die Worte vernimmt: »Was Euern jetzigen Verlobten anbelangt, so wär es grausam Unrecht, Euch zu verbergen, daß ihr auch allerdings nicht geboren seid füreinander. [46] Seht hier die schiefe Linie! das ist verwünscht; stimmt doch das Ganze sonst gar hübsch zusammen! Aber die Geister necken sich und machen Krieg mit den Herzen, die freilich jetzt noch fest zusammenhalten. Ei närrisch, närrisch! mir kam so was noch wenig vor.«

Agnes fand Sinn in diesen dunkeln Reden, denn sie erklärten ihr nur ihre eigene Furcht. »Wie?« sagte sie leise und starrte lange denkend in den Schoß, »so ist's – so ist's! ja Ihr habt recht.«

»Nicht ich, mein Töchterchen, nur Stern und Gras behalten recht. Vergib, daß ich die Wahrheit sagte, aber Wermut kann auch Arznei sein, und sei versichert, Zeit bringt Rosen.«

Hier stand die Fremde auf. Agnes, im Innern wie gelähmt und an den Gliedern wie gebunden, vermochte kaum sich zu erheben, sie hatte nicht den Mut, die Augen aufzuschlagen, es war ihr leid, daß sie verriet, wie sehr sie sich getroffen fühlte. Und doch, indem sie aufs neue in das Gesicht der Unbekannten sah, glaubte sie etwas unbeschreiblich Hohes, Vertrauenerweckendes, ja Längstbekanntes zu entdecken, in dessen seelenvollem Anblicke der Geist sich von der Last des gegenwärtigen Schmerzens befreie, ja selbst die Angst der Zukunft überwinde.

»Behüt dich Gott, mein Täubchen! und hab immerhin guten Mut. Läßt dich die Liebe mit einer Hand los, so faßt sie dich gleich wieder mit der andern. Und stoße nur dein neues Glück nicht eigensinnig von dir; es ist gefährlich, dem Gestirn Trotz bieten. Nun noch das letzte: bevor ein Jahr um ist, wirst du niemand verraten, was ich dir gesagt; es möchte schlimm ausfallen, hörst du wohl?«

Dies letztere hatte die Zigeunerin mit besonderem Nachdrucke gesprochen. Aufs äußerste ergriffen dankte das Mädchen beim Abschiede und reichte der Fremden ein feines Tuch zum Angedenken hin.

Agnes war allein und vermochte kaum sich selber wiederzuerkennen; sie glaubte einer fremden, entsetzlichen Macht anzugehören, sie hatte etwas erfahren, was sie nicht wissen sollte, sie hatte eine Frucht gekostet, die unreif von dem Baume des Schicksals abgerissen, nur Unheil und Verzweiflung bringen müsse. Ihr Busen stritt mit hundertfältigen Entschlüssen und ihre Phantasie stand im Begriffe, den Rand zu übersteigen. Sie hätte sterben mögen, oder sollte Gott ihrer Neugierde verzeihen und schnell das fürchterliche Bewußtsein jener Worte [47] von ihr nehmen, die sich wie Feuer immer tiefer in ihre Seele gruben, und deren Wahrheit sie nicht umstoßen konnte.

Erschöpft kam sie nach Hause und legte sich so gleich mit einem starken Froste; der Alte befürchtete einen Rückfall in das kürzlich erst besiegte Übel, allein vom wahren Grunde ihres Zustandes kam keine Silbe über ihre Lippen. Sie ließ sich ältere und neuere Briefe Theobalds aufs Bette bringen, aber statt des gehofften Trostes fand sie beinahe das Gegenteil; das liebevollste Wort, die zärtlichsten Versicherungen, schon gleichsam angeweht vom vergiftenden Hauche der Zukunft, betrachtete sie mit Wehmut, wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als Zeichen vergangener schöner Augenblicke aufbewahrten: ihr Wohlgeruch ist weg und bald wird jede Farbenspur daran verbleichen.

Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten sie mit desto ungeduldigerem Schmerz, je mehr sie Theobalden noch in dem vollen Irrtum seiner Liebe befangen denken mußte – in einem Irrtum, den sie nicht länger mit ihm teilen durfte noch wollte, der ihr abscheulich und beneidenswert zugleich vorkam.

Jener Fieberanfall ging indes vorüber und außer einer gewissen Überspannung hielt man das Mädchen für gesund. Die Ungewißheit ihres Schicksals beschäftigte sie Tag und Nacht. Suchte sie auch einen Augenblick jene drohenden Aussprüche mit ruhigem Verstande zu bestreiten, schalt sie sich abergläubisch, töricht, schwach, sie fand doch immer zwanzig Gründe gegen einen, und selbst im Fall die unerhörteste Täuschung des Weibes mit im Spiele war, so schien dieser seltsame Zufall ihr wenigstens eine früher gefühlte Wahrheit aufs wunderbarste zu bestätigen. Denn freilich hatte sie bei dem Gespräch im Walde nicht bemerkt, wieviel ihr die Zigeunerin, nachdem das erste aufs Ungefähr keck hingeworfene Wort einmal gezündet, mit leisem Tasten abzulauschen wußte, noch weniger ließ sie sich träumen, daß ebendiese Person auf sehr natürlichem Wege von der äußeren Lage der Dinge im allgemeinen unterrichtet, mit Theobald nicht unbekannt, und, wie sich späterhin entdecken wird, überhaupt gar sehr bei der Sache interessiert war. Was aber immer die geheime Absicht dabei sein mochte, genug, das arme Kind war schon geneigt, einen höheren Wink in jenem Auftritte zu erblicken.

Indessen, es gehen zuweilen Veränderungen in unserer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine Rechenschaft geben [48] und denen wir nicht widerstehen können, wir machen den Obergang vom Wachen zum Schlaf ohne Bewußtsein und sind nachher ihn zu bezeichnen nicht imstande: so ward in Agnes nach und nach die Überzeugung von der Unvereinbarkeit ihres Schicksals und Noltens befestigt, ohne daß sie genau wußte wann und wodurch dieser Gedanke eine unwiderstehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten und verehrten Manne, hinter dessen Geist sie sich weit zurückstellte, den sie durch ihre Hand nur unglücklich zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch ihm selbst nicht mehr verborgen bleiben könne, wie wenig sie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dies Gefühl, das unstreitig aus dem reinsten Grunde uneigennütziger Liebe hervorging das gute Geschöpf allmählich einer frommen und in sich selber trostvollen Resignation entgegendrängte, so wurde der Entschluß freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder durch eine Idee verkümmert, welche sich sehr natürlich aufdrang: ein künftiges Mißverhältnis war ja nur in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt seine ursprüngliche Gesinnung verleugnete, wenn er dem ersten reinen Zuge seines Herzens untreu würde; und so betrachtete sich nun Agnes schon zum voraus aufs tiefste gekränkt von dem Verlobten, sie war versucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen, wovon er selbst noch keine Ahnung hatte, was aber unvermeidlich kommen müsse. So sonderbar es klingen mag, so ist es doch gewiß, es traten Augenblicke ein, wo ihre Empfindung gegen Theobald nicht fern von Widerwillen, ja von Abscheu war, allein dergleichen feindliche Regungen widerstrebten dergestalt ihrer innersten Natur, sie selbst kam sich dabei als ein so hassenswürdiges, entstelltes Wesen vor, daß sie mit Absicht alles und jedes vorkehrte, was den Bräutigam, auch im äußersten Falle, rechtfertigen könnte. Es kam eine tödliche Angst über sie, wenn ihr zuweilen die Möglichkeit erschien, daß sie von dem, der ihr noch jüngst das Teuerste der Welt gewesen, jemals geringer denken oder daß er ihr gar sollte gleichgültig werden können, es war ihr, wenn es dahin kommen sollte, als zerstöre sie ihr eigen Selbst, als sei die innerste Wurzel ihres Lebens angegriffen, als müßte sie jedem schönen Glauben, allem, was würdig, hoch und heilig sei, für immerdar entsagen. Sie nahm in dieser äußersten Not ihre Zuflucht zum Gebet, und flehte mit Inbrunst, Gott möge die Liebe zu Nolten stets frisch bei ihr erhalten, er möge ihr [49] nur helfen, alles, was leidenschaftlich an dieser Neigung sei, aus ihrem Herzen wegzuscheiden.

Bemerkenswert ist es, daß das treffliche Mädchen, von einem richtigen Takte geleitet, sich mitunter alle Gewalt antat, ganz unabhängig von jener verdächtigen Prophetenstimme zu denken und zu handeln, so wie sie sich auch leicht beredete, die Verzichtleistung auf den Verlobten sei in Betracht der ersten Gründe doch immer aus ihr selbst hervorgegangen. Vielleicht sie unterschied hierin nicht scharf genug, und jene dunkle Stimme behielt auf Agnesens Tun und Lassen den mächtigsten Einfluß; nur verscheuchte sie jede Erinnerung an den verhaßten Fingerzeig des Weibes, der so entschieden auf ein neues Bündnis hindeutete; nicht ohne heimliches Schaudern konnte sie in diesem Sinne an den Vetter denken, ja sie vermied seinen Anblick eine Zeitlang geflissentlich, nur um dieser unerträglichen Vorstellung loszuwerden.

Wie sehr das Mädchen unter solchen Umständen litt, von wieviel Seiten ihr Gemüt im stillen zerrissen und gepeinigt war, läßt sich wohl besser fühlen als beschreiben. Unglaublich erscheint bei diesem allen der Wechsel ihrer Stimmung; denn während sie jede Hoffnung auf Theobald verbannte und in den nüchternsten Stunden sogar die Fähigkeit bei sich entdeckte, ihn seinem bessern Schicksale freizugeben, fehlte es mitunter nicht an Augenblicken, wo alle jene düstern Bilder gleich Gespenstern vor der aufgehenden Sonne zurückflohen, wo ihre Liebe mit einemmal wieder indem heitersten Lichte vor ihr stand und eine Vereinigung mit Nolten ihr, allen Orakeln der Welt zum Trotze, notwendiger, natürlicher, harmloser deuchte, als jemals. Mit Entzücken ergriff sie dann eilig die Feder, dem teuren Freund ein liebevolles Wort zu senden, und sich im Schreiben gleichsam selbst des überglücklichen Bewußtseins zu versichern, daß sie und Nolten ewig unzertrennlich seien.

In solchen Stimmungen mochte sie auch Ottos Gegenwart nicht ungern leiden, sie behandelte ihn noch immer mit einiger Zurückhaltung und hatte auch diese schon halb überwunden; nur als der Vater gelegentlich dem Vetter, der die Mandoline fertig spielte, den Vorschlag machte, das Bäschen in die Lehre zu nehmen, ward sie einigermaßen verlegen und zauderte, wiewohl sie den Wunsch früher selbst geäußert hatte und noch jetzt in gewisser Hinsicht Lust dazu empfand. Auf das freundlichste Zureden Ottos entschloß sie sich wirklich, und sogleich [50] wurde die Probe gemacht, die denn auch ganz munter vonstatten ging; Agnes bewies den größten Eifer, denn es galt, den Geliebten später mit diesem neuen Talent zu überraschen, und das kleine Geheimnis machte sie glückselig.

Aber dergleichen lichte Zwischenräume waren vorübergehend jene schwermütigen Zweifel kehrten nur um desto angstvoller zurück, und ein solcher alle Kraft der Seele anspannender Wechsel diente nur, eine Epoche vorzubereiten, worin die geistige Natur der Armen unter der Last einer schrecklichen Einbildung und eines unseligen Geheimnisses unterlag.

Noch immer beobachtete Agnes das tiefste Stillschweigen über die Begebenheit im Walde, bloß im allgemeinen gab sich ihr Gram in lauten Klagen zu erkennen, wovon wir gleich anfangs ein Beispiel gegeben.

Die musikalischen Lektionen wurden ausgesetzt und fingen wieder an, weil es der Vater verlangte, der in solchen Unterhaltungen eine willkommene Zerstreuung für seine Tochter sah. Diese zeigte nunmehr eine sonderbare stille Gleichgültigkeit, ließ mit sich anfangen, was man wollte, oder ging ihr lebloses träumerisches Wesen sprungweise in jene zweideutige Munterkeit über, wovon wir oben gesprochen. Der Alte sah es gern, wenn sie mit Otto sich lustig machte, nur stutzte er oft über die Ausgelassenheit, ja Keckheit seines Mädchens, wenn es nach beendigter Lektion an ein Spaßen, Lachen und Necken zwischen den jungen Leuten ging, wenn die Schülerin dem Lehrmeister blitzschnell in die Locken fuhr und auch wohl einen lebhaften Kuß auf die Stirne drückte, so daß Freund Otto selbst etwas verlegen ward und mit all seiner sonstigen Gewandtheit sich zum erstenmal ein wenig linkisch der reizenden Kusine gegenüber ausnahm. »Bist doch mein lieber Vetter«, lachte sie dann »was zierst du dich so närrisch? Aber fürwahr, ich wollte, wir wären Brautleute! mit dir könnt ich leben, du bist ganz darnach gemacht, daß man dich nicht zuviel und nicht zuwenig lieben kann!«

Diese und ähnliche Reden, so arglos sie auch hingeworfen waren, klangen dem Alten bedenklich, und vollends finden wir sein Erstaunen gerecht, als er einmal beim Weggehen Ottos, welcher Agnesen wie sonst auf der Schwelle die Hand gab, eine Träne in ihrem klaren Auge bemerkte. »Was soll doch das, mein Kind?« fragte der Vater, nachdem sie allein waren, betroffen. »Nichts«, erwiderte sie mit einigem Erröten und drehte [51] sich zur Seite; »sein Anblick rührt mich oft, er gefällt mir nun einmal.« Dann ging sie sorglos, wie es schien, und singend in der Stube auf und nieder.

Vorübergehende Auftritte der Art brachten den Förster auf mancherlei Gedanken, und es ist zu begreifen, wenn er es endlich mehr als wahrscheinlich fand, daß hinter diesem unnatürlichen Zustande eine aufkeimende Leidenschaft für Otto sich verstecke, die er nur einer krankhafter Reizbarkeit des Mädchens schuld geben konnte. Der Zeit nach, worein die ersten Besuche des Vetters und jene ersten grillenhaften Äußerungen Agnesens fielen, widersprach jener Vermutung nichts. Der Leser aber kann über den wahren Zusammenhang des wunderlichen Gewebes wohl nimmer im Zweifel sein.

Der Verstand des guten Wesens hatte das Gleichgewicht verloren, und der traurige Riß war kaum geschehen, als die Schatten des Aberglaubens mit verstärkter Wut aus ihrem Hinterhalte brachen, um sich der wehrlosen Seele völlig zu bemächtigen. Jene Idee von Otto fixierte sich gleichsam künstlich im Gemüte der Armen, und die eingebildete Notwendigkeit fing an, den Widerwillen gegen ihn zu überbieten.

Die Art jedoch, wie sich Agnes äußerlich betrug, ließ in der Tat nicht auf eine so bedeutende Störung ihres Innern schließen, und der Vater glaubte nicht an eigentlichen Wahnsinn. Der sonderbare Hang zur Lustigkeit verlor sich ganz und machte einer gesetzten Ruhe, einem liebenswürdigen Gleichmute Platz, der dem Gespräche sowie dem ordentlichen Gange der häuslichen Geschäfte gleich günstig war, man bemerkte nichts Verkehrtes in ihrem Tun und Reden, nichts Schwärmerisches in Miene und Gebärde; aber an Theobald wollte sie nicht erinnert sein, selbst Ottos Namen berührte sie kaum, solange er abwesend war, nur wenn er kam, sah man sie ihre ganze Aufmerksamkeit, alle Anmut und Freundlichkeit an ihn verschwenden.

Wenn nun der Alte, durch ein so unerhörtes Benehmen zur Verzweiflung gebracht, sie zur Rede stellte, sie bald mit Sanftmut, bald mit drohenden Vorwürfen an ihre Pflicht, an ihr Gewissen mahnte, so zeigte sie entweder eine stumme Gelassenheit, oder sie lief weinend aus dem Zimmer und schloß sich ein.

Der Vater hatte indessen auf die Entfernung des jungen Menschen gedacht und ihm bereits einige leise Winke gegeben, die aber bis jetzt ganz ohne Wirkung blieben; er war in der [52] peinlichsten Not, zumal er Ursache hatte, zu befürchten, daß die Reize des Mädchens auch nicht ohne Eindruck auf Otto geblieben sein möchten. Und wirklich, wie erstaunte nicht der gute Mann, als er eines Tages dem Vetter unter vier Augen seine Bitte so schonend als möglich vortrug, und dieser mit dem unumwundenen Geständnisse hervortrat: er sei von der Neigung Agnesens für ihn vollkommen überzeugt und nichts halte ihn ab, sie offen zu erwidern, wenn er vom Vater die Zustimmung erhalten würde, die er ohnehin in diesen Tagen zu erbitten entschlossen gewesen sei; es komme nun freilich auf ihn an, ob er dem innigsten Wunsche seiner Tochter Gehör schenken oder auf Kosten ihrer Ruhe und ihrer Gesundheit eine Verbindung erzwingen wolle, welche man, alle Vorzüge Noltens in Ehren gehalten, nun einmal durchaus für den gröbsten Mißgriff halten müsse.

Der Förster, über eine so kühne Sprache wie billig empört unterdrückte dennoch seinen Unmut und wies den vorschnellen Freier mit Mäßigung zurecht, indem er ihn vorderhand zur Geduld ermahnte und wenigstens für die nächste Zeit das Haus zu meiden bat, worauf denn jener willig zusagte und nicht ohne geheime Hoffnung wegging.

Nun überlegte der Alte, was zu tun sei. Bald ward er mit sich einig, daß unter so mißlichen Umständen Veränderung des Orts, eine starke Distraktion, das Rätlichste sein dürfte. Zwar dachte er anfangs daran, ob nicht gerade eine Reise zu dem Bräutigam das kürzeste Mittel zur Ausgleichung des Ganzen wäre, allein die geringste Erwähnung des Planes bei Agnesen versetzte diese in den größten Jammer, sie beschwor den Vater auf den Knien, von dem Vorhaben abzustehen, das ihr gewiß den Tod bringen würde. Da nun überhaupt von einer Reise, gleichviel wohin, die Rede war, schien sie viel mehr erfreut als abgeneigt, und gerne ließ der Förster sich's gefallen bei dieser Gelegenheit einen ziemlich entfernten Freund, den er seit vielen Jahren nicht gesehen, heimzusuchen.

In kurzem befanden Vater und Tochter sich unterwegs in einem wohlgepackten Gefährt. Das Wetter war das schönste, nach wenig Stationen sah man schon völlig neue Gegenden. Das Mädchen war zufrieden, ohne gerade lebhafter zu sein.

Mit dem Aufenthalte in dem kleinen Städtchen Wiedecke, wo der vieljährige Bekannte des Försters, ein jovialer behaglicher Sechziger, als Verwalter eines edelmännischen Guts wohlhabend wie ein kleiner Fürst lebte, begann für Agnes bald eine [53] ganz andere Art den Tag hinzubringen, als sie es bisher gewohnt war. Der lebensfrohe Mann machte sich's zur Pflicht, seine Gäste auf die mannigfaltigste Weise zu vergnügen, und im eigentlichen Sinne des Worts keine Stunde ruhen zu lassen. Sie mußte die Güter der gräflichen Herrschaft, Gärten, Waldungen, Parks und Fischplätze mustern, gelegentlich die Ordnung des Verwalters und seine Einsichten bewundern, man durfte mit keinem seiner Freunde im Städtchen und der Umgegend unbekannt bleiben, eine ländliche Partie verdrängte die andere, kurz der Förster sah seine Wünsche, die im stillen hauptsächlich nur auf Zerstreuung der Tochter gingen, beinahe über alles Maß und mehr als sie ertragen konnte, erfüllt; eigentlich gab sie sich mehr nur aus Gutmütigkeit zu all der geräuschvollen Lustbarkeit her, als daß sie mit ganzem Herzen teilgenommen hätte.

Großen und schönen Eindruck machte bei ihr eines Abends der erstmalige Anblick eines Theaters, wozu eine wandernde Truppe das Wiedecker Publikum lud. Das Stück war von der leichten, heitern Gattung und wurde überdies sehr brav gespielt. Agnes lachte zum erstenmal wieder recht herzlich und ging ganz aufgeräumt zu Bette. Doch in der Nacht kam sie in das Schlafzimmer des Vaters geschlichen, weckte ihn, und wollte anfangs auf die Frage, was ihr zugestoßen sei, lange mit der Sprache nicht heraus. Sie habe, gestand sie endlich, von Theobalden so lebhaft, so deutlich geträumt; er sei trostlos gewesen und habe sie um Gottes willen gebeten, ihn nicht zu verlassen, zuletzt sei sie aufgewacht, erstickt von seinen Küssen. »Nun seht, Vater«, fuhr sie unter heißen Tränen fort, »Euch darf ich wohl bekennen, daß er mich unbeschreiblich dauert, ob ich ihn gleich nicht mehr liebe; er wird sein Glück gewiß bei einer andern finden, aber das sieht er jetzt nicht ein, und es wäre vergeblich, ihn überreden zu wollen; man muß nur abwarten, bis er von selbst zur Oberzeugung kommt. Aber« (hier brach sie in lautes Schluchzen aus) »wenn er während der Zeit verzweifelte! wenn er sich ein Leid antäte – nein! nein! das wird er nicht, das kann er nicht! nicht wahr, Vater, so weit kann es unmöglich kommen? Ach, könnt ich ihn über diese Zwischenzeit nur schnell wegheben, ihn mit irgendwas beruhigen, ihm einen Trost zusenden!«

Der Alte vernahm diese Worte mit heimlicher Zufriedenheit, denn sie waren ihm nichts anders als das Zeichen der wiedererwachten [54] Neigung für den Bräutigam. »Wenn du es über dich vermöchtest«, sagte er, »ihm deine volle Liebe wiederzuschenken, da wäre freilich am besten geholfen. Siehst du, noch ist im Grunde nichts verloren, noch verdorben; ja, prüfe dich, mein Kind! sei mein verständiges Mädchen wieder! nimm aufs neue meinen Segen mit Theobald hin; schreib ihm gleich morgen einen unbefangenen heitern Brief, so wie dein letzter vor drei Wochen war, das wird ihn freuen.«

Nach einigem Nachdenken antwortete Agnes: »Ihr wißt nicht, Vater, wie es um die Zukunft steht, drum mögt Ihr wohl so sprechen. Aber seht, ich denke nun, Theobald muß ja mein Mann nicht eben sein, und ich darf ihn dennoch liebbehalten. Ist's ja doch ohnehin noch nicht an der Zeit, daß wir uns die Brautschaft förmlich aufsagen, und warum soll ich ihn eher als nötig ist, aus seinem guten Glauben reißen, da er die Wahrheit jetzt noch nicht begriffe, warum nicht immerfort so an ihn schreiben, wie er's bisher an mir gewohnt war? Ach, ganz gewiß, ich sündige daran nicht, mein Herz sagt mir's er soll, er darf noch nicht erfahren, was ihm blüht, und, Vater, wenn Ihr ihn liebhabt, wenn Euch an seinem Frieden etwas liegt, sagt Ihr ihm auch nichts! Dagegen aber kann ich Euch versprechen, ich will vorderhand mit Otto nichts mehr gemein haben. Die Zeit wird ja das übrige schon lehren.«

Der Förster wußte nicht so recht, was er aus diesen Reden machen sollte, er schüttelte den Kopf, nahm sich aber vor, das Beste zu hoffen, und entließ Agnesen, die sich ruhig wieder niederlegte.

Wie groß war seine Freude, als er sie des andern Morgens in aller Frühe mit einem Brief an Theobald beschäftigt fand den sie ihm auch nachher zur Durchsicht reichte, wiewohl mit Widerstreben und ohne gegenwärtig zu bleiben, solange der Alte las. Aber welch köstliche, hinreißende, und doch wohlbedachte Worte waren das! So kann bloß ein Mädchen schreiben, das völlig ungeteilt in dem Geliebten lebt und webt. Nur die absichtliche Leichtigkeit, womit jene ernsten und tiefen Bewegungen in Agnesens innerm Leben hier gänzlich übergangen waren, frappierte den Vater an dem sonst so redlichen Kinde. Er selber hatte noch geschwankt, ob die Pflicht von ihm fordere, Theobalden von diesen Dingen in Kenntnis zu setzen, oder ob es nicht vielmehr geraten sei, jenem die Sorge und der Braut die Beschämung über eine Sache zu ersparen, die am Ende [55] doch nur unwillkürliche und vorübergehende Folge eines sonderbaren Krankheitszustandes sei. Und nun, da offenbare Hoffnung war, daß alles sich von selbst ausgleiche, bereute er um so weniger, in seinem letzten Schreiben bloß im allgemeinen von wiederholten Gesundheitsstörungen gesprochen zu haben. Er sah bereits die schöne Zeit voraus, wo er dem Schwiegersohne den ganzen Verlauf der seltsamen Begebenheiten in einer traulichen Abendstunde ruhig und wohlgemut wie ein glücklich überstandenes Abenteuer würde erzählen können.

Die Rückreise nach Neuburg wurde endlich angetreten. Man begrüßte die Heimat nach längerer Abwesenheit mit doppelter Liebe. Agnes ward allgemein blühender, ansprechender, geselliger gefunden, als man sie vor vier Wochen hatte abreisen sehen; was aber der Vater mit besonderem Wohlgefallen bemerkte, war, daß ihr die alte Nähe des Vetters gar nicht einzufallen schien. Dieser wurde indessen durch seine Geschäfte ganz außerhalb der Gegend festgehalten, und der Förster durfte einen Überfall, worauf er sich bereits gefaßt gemacht, so bald noch nicht befürchten.

Übrigens mußte es nach und nach befremden, daß Nolten seit einem vollen Monat und darüber nichts von sich hören ließ. Der Alte fand es unerklärlich, denn eine Irrung, welche etwa durch die fatale Geschichte entstanden sein möchte, war kaum gedenkbar, da weiter niemand darum wissen konnte; möglicher schien es, daß Nolten krank, daß Briefe verlorengegangen seien. Agnes hatte dabei ihre besonderen Gedanken und schwieg nur immer, indem sie auf etwas Entscheidendes zu spannen schien.

Wirklich hatte sich inzwischen nicht wenig Bedeutendes in der Ferne zugetragen.

Es waren, bald nachdem der Vetter die Bekanntschaft des Försterhauses gemacht, von zwei verschiedenen Seiten und von sehr wohlmeinenden Personen Briefe an Nolten gelangt, worin er auf ein sehr zweideutiges Benehmen des Alten und seiner Tochter in betreff des jungen Menschen aufmerksam gemacht wurde. Eine dieser Warnungen kam sogar von dem guten Baron auf dem Schlosse bei Neuburg, welcher sonst mit dem Förster in freundlichem Vernehmen stand, und von dessen Rechtlichkeit und vorsichtigem Urteil sich weder Übereilung noch Parteilichkeit erwarten ließ. Schon diese ersten Laute des Verdachts, obgleich sie unsern Maler noch keineswegs zu überzeugen vermochten, erschütterten und lähmten, ja vernichteten ihn doch [56] dergestalt, daß er sich lange nicht entschließen konnte, auch nur eine Zeile nach Neuburg zu richten, seinen väterlichen Freund, den Baron, ausgenommen, dem er eine nochmalige Nachforschung dringendst empfahl. Allein nach mehreren Wochen erhielt er auf eine höchst unerwartete Weise die vollkommenste Bestätigung seines Argwohns, und zwar durch das ausführliche Schreiben Otto Lienharts – ein Name, den er früher einmal gelegentlich von Agnes gehört zu haben sich sogleich erinnerte. Daß dies eine und dieselbe Person mit dem mehrerwähnten Vetter sei, brauchen wir kaum anzumerken.

Der Eingang des Briefes nimmt auf eine ebenso bescheidene als verständige Art das Vertrauen Theobalds in Anspruch; der Unbekannte bittet um ruhiges und männliches Gehör für dasjenige, was er vorzutragen habe; es sei, versichert er, so sonderbar und so feindselig gar nicht, als es wohl in dem ersten Augenblicke erscheinen könnte. Nun geht er auf das innere Mißverhältnis der Verlobten über, wie die Natur der Charaktere ein solches wesentlich und notwendig begründe, ohne daß einem der beiden Teile das geringste dabei zur Schuld falle. Sodann wird die Neigung des Mädchens zu ihm, dem Vetter, entwickelt, gerechtfertigt und endlich wird ohne Anmaßung erklärt, in welchem Sinne er Agnesen ihren ersten Freund, dessen eigentümlichen Wert sie noch immer verehre, zu ersetzen hoffen dürfe. Wenn nun die angeführten Gründe hinreichen würden, um Nolten zu freiwilliger Abtretung seiner Ansprüche zu bewegen, so hänge am Ende alles nur vom Vater ab. Es scheine, daß dieser im stillen einen solchen Wechsel gutheiße und sich nur vor Nolten scheue, deswegen halte er die Sache mit schwankendem Entschlusse hin und sorge in der Tat für keinen Teil sehr vorteilhaft, wenn er Theobalden noch immer in einer Hoffnung lasse, auf welche er selber insgeheim verzichte; er tue Unrecht, daß er die Tochter stets aufs neue irrezumachen suche und sie nötige, in ihren Briefen unredlich gegen Theobald zu sein. Ihr Herz habe für immer entschieden. Einige Briefe von Agnesens eigener Hand an den Cousin werden ihre Gesinnung hinreichend beweisen. (Die Blätter lagen bei, und man hat sich Briefe zu denken, welche die Unglückliche ohne Vorwissen des Försters an Otto gesandt.) Er habe diese Eröffnungen für Pflicht gehalten, und Nolten möge seine Maßregeln darnach ergreifen. Sollte der Förster, was jedoch wenig Wahrscheinlichkeit habe, zuletzt eigensinnig[57] und grausam die Rechte des Vaters geltend machen, oder Theobald die des Verlobten, so könne nur ein vollendetes Unglück für alle daraus entspringen, während im andern Falle Nolten wenigstens den Trost für sich behalte, den der Mann im Bewußtsein einer ungemein und großherzig erfüllten Pflicht von jeher gefunden.

Ein schallendes, verzweiflungsvolles Gelächter war das erste Lebenszeichen, das unser Maler, nachdem er einige Sekunden wie besinnungslos gestanden, von sich gab. Wir schildern nicht, in welchem Kreislaufe von Zerknirschung, Wut, Verachtung und Wehmut er sich nun wechselnd umgetrieben sah. Was blieb hier zu denken, was zu unternehmen übrig? Haß, Liebe, Eifersucht zerrissen seine Brust, er faßte und verwarf Entschluß auf Entschluß, und hatte er die wirbelnden Gedanken bis ins Unmögliche und Ungeheure matt gehetzt, so ließ er plötzlich mutlos jeden Vorsatz wieder fallen und blickte nur in eine grenzenlose Leere.

Nach Verfluß einiger Tage war er so weit mit sich im reinen, daß er stillschweigend allem und jedem seinen Lauf lassen und etwa zusehen wollte, wie man in Neuburg sich weiter gebärden würde. Seinem Larkens, der indessen von einer kleinen Reise zurückgekommen war, und dem sein Kummer bald auffiel, entdeckte er sich keineswegs; denn einmal wollte er sich in seinem Benehmen in der Sache durch fremdes Urteil nicht geirrt wissen, er fürchtete die Geschäftigkeit, welche sein lebhafter und unternehmender Freund in solchem Falle sicherlich nicht würde verleugnen können, und dann hielt ihn ein sonderbares Gefühl von Scham zurück, wie es denn seinem Charakter eigen war, fremdes Mitleid, und käme es auch vom geliebtesten Freunde soviel möglich zu verschmähen.

Gewisse weggeworfene Äußerungen des Malers, sowie eine Menge kleiner Umstände, ließen jedoch dem Schauspieler keinen Zweifel mehr übrig, wen die Verstimmung betreffe; aber weit entfernt, den Fehler auf seiten Agnesens zu suchen, sah er an seinem Freunde im stillen nur den seichten Überdruß, die undankbare Laune eines Liebhabers, und es mußte ihn die kleinlaute Verlegenheit Theobalds, wenn darauf die Rede kam, in der Meinung bestärken, dieser fühle sein Unrecht. Dem Maler war ein solcher Irrtum gewissermaßen nicht zuwider, er mochte lieber den Schein der Untreue haben, als sein wahres Elend täglich in den Augen des Schauspielers lesen.

[58] Dem letztern konnte es nicht entgehen, daß die gewöhnlichen Briefe nach Neuburg seit einiger Zeit stockten, obwohl von dorther immer welche einliefen, und so entstand denn in dem sonderbaren Manne der Entschluß, Noltens Pflicht in diesem Punkte zu versehen. Allerdings nahm er sogleich das Unsichere und Zufällige mit in Rechnung, doch zu befürchten war ja eigentlich nichts, auch wenn das kecke Spiel früher oder später an den Tag käme.

In der Zwischenzeit aber, d.h. vor der heimlichen Einrichtung, in deren Folge nachher alles vom Försterhause an den Bräutigam Geschriebene in die Hände des unechten Korrespondenten gelangte, waren mehrere Briefe teils von seiten des Alten, teils von Agnesen selbst an Nolten gekommen, und sie waren von der Art, daß Theobalds Urteil, insofern es bis jetzt unbedingt verwerfend gewesen, sich gewissermaßen modifizieren mußte. Der Alte ersucht nämlich seinen Schwiegersohn in einem ebenso herzlichen als wahrhaftigen Ton, er möchte von gewissen Gerüchten, welche sich zu Neuburg durch die Zudringlichkeit eines eingebildeten jungen Menschen verbreitet hätten, und die vielleicht auch – was wohl der Grund seines langen Stillschweigens sei – bis zu ihm gedrungen sein könnten, auf keine Weise Notiz nehmen. Der Alte setzt die Verwirrung des Mädchens nach seinen Begriffen auseinander, macht, ohne das Rechte zu treffen, eine nicht eben unwahrscheinliche Erklärung davon, wobei alles am Ende auf eine seltsame Skrupulosität, melancholische Überspannung und zuletzt auf alberne Kinderei reduziert wird. Nolten möchte der Jugend, der Unerfahrenheit des Mädchens vergeben; er als Vater beteure, daß der Vorgang in keinem Sinne störende Folgen nach sich ziehen werde, Agnes habe sich gefaßt, ihr Herz sei rein und hänge mit doppelter Innigkeit an ihm. Indessen, fährt der Vater von sich fort, sei er so unbillig nicht, es dem Bräutigam zu verdenken, wenn die Sache ihn erschreckt habe, wenn er der Zeit die Probe überlasse, ob die Braut seiner nicht unwert geworden, nur wäre zu wünschen, daß er sich persönlich überzeugte, und er sei deshalb aufs freundlichste nach Neuburg eingeladen. Übrigens möchte er, wenn er Agnesen schreibe, ihr tief gebeugtes Gemüt soviel wie möglich schonen, sie wisse nichts von diesen Mitteilungen und scheine sich vorzubehalten, ihm bald mündlich die treueste Rechenschaft zu geben. Schließlich möge er sich doch wohl bedenken, ehe er ein Geschöpf, dessen ganzes Glück[59] an ihn gebunden sei, um eines immerhin rätselhaften und darum schwer zu richtenden Vergehens willen, ohne weitere Prüfung verstoße.

Diese Nachricht versetzte den Maler in die sonderbarste Unruhe. Er war während des Lesens weich geworden, er mußte wider Willen seinen entschiedenen Haß mit einem tiefen Verdruß und ärgerlichen Mitleid vertauschen, und er fühlte sich dabei fast unglücklicher als zuvor.

Wenn er freilich Agnesens ursprüngliche, so äußerst reine Natur mit ihrem neuesten Betragen verglich, so schien ihm der Absprung so gräßlich widersinnig, daß er sich jetzt wunderte, wie er eine Weile an die Möglichkeit einer Untreue im gewöhnlichen Sinne des Worts hatte glauben können; der Fall stritt dergestalt gegen alle Erfahrung, daß eben das Außerordentliche des Vergehens zugleich dessen Entschuldigung sein mußte. »Aber was auch immer die Ursache sei« – rief Theobald aufs neue verzweifelnd aus –, »wie tief der Grund auch liegen mag, die Tatsache bleibt – um den ersten heiligen Begriff von Reinheit, Demut, ungefärbter Neigung bin ich für immer bestohlen! Was soll mir eine verschraubte, kindische Kreatur? Werd ich nun meine schönsten Hoffnungen zerbrochen als kümmerliche Trümmer, halb knirschend, halb weinend, am Boden aufsammeln und mir einbilden, was ich zusammenstückle, sei mein altes köstliches Kleinod wieder? O hätt ich den bübischen Fratzen zur Stelle, der mir an meine süße Lilie rührte! könnt ich die Augen ausreißen, die mir das treuste Herz verlockt! dürft ich den heillosen Schwätzer zertreten, der in die stille Dämmerung meiner Blume den frechen Sonnenschein des eiteln, breiten Tages fallen ließ! – Unmündig, unerfahren, noch ganz ein Kind, ach wohl, das war sie freilich, das könnte sie entschuldigen bei dem und jenem, vielleicht auch bei mir, aber bin ich darum weniger betrogen, hilft mir das ihr entstelltes Bild herstellen, hilft es meiner verbluteten Liebe das Leben wieder einhauchen? Ich fühl's, hier ist an kein Ausgleichen mehr zu denken. Vergessen, was ich einst besaß, das bleibt das einzige, was ich versuchen kann.«

Dies waren die Empfindungen des Malers und sie blieben noch immer dieselben, während im Försterhause zu Neuburg durch Larkens' Vermittlung längst alles wieder einen friedlichen Gang angenommen hatte. Zwar wunderte es den Alten, daß jene vertrauten Eröffnungen ganz mit Stillschweigen übergangen[60] wurden, doch hielt er zuletzt dafür, es geschehe mit Absicht und der Schwiegersohn wolle den gehässigen Gegenstand für jetzt nicht berührt wissen. Was Agnesens inneres Leben betrifft, so verhüllte sich jener hoffnungslose Wahn, der die Unglückliche noch immer beherrschte, vor dem Vater und gewissermaßen vor ihr selbst unter dem Eifer, womit sie Noltens Liebe durch schriftlichen Verkehr noch eine Zeitlang nähren zu müssen glaubte, und während sie sich einzig nur auf seine Ruhe bedacht schien, wollte sie keineswegs gewahr werden, wie begierig das eigene Herz bei diesem süßen Geschäfte sein Teil für sich wegnahm, wie gerne es, den Willen des Schicksals gleichsam hintergehend, den holden Tönen lauschte, welche Larkens täuschend genug dem wirklichen Geliebten nachzuspielen wußte. Übrigens blieb Vetter Otto immer das gefürchtete Augenmerk ihrer kranken Einbildung; er selbst hatte sich, nachdem ihn der Förster in aller Stille ernstlich abgewiesen, beschämt und ärgerlich zurückgezogen.

Die Zigeunerin war inzwischen auch wieder zum Vorschein gekommen; Agnes offenbarte ihr bei einer heimlichen Zusammenkunft den Plan ihrer Entsagung, womit die Betrügerin sehr zufrieden schien, und sogar einen Brief an Nolten zu besorgen versprach.

Auf diese Weise standen die Personen eine geraume Zeit in der wunderlichsten Situation gegeneinander, indem eines das andere mit mehr oder weniger Falschheit, mit mehr oder weniger Leidenschaft zu hintergehen bemüht war.

Nolten kam um so weniger in Versuchung, dem Schauspieler den wahren Grund seiner Entfremdung von der Braut zu entdecken, da dieser nicht weiter in ihn drang, indem er, vielleicht von eigenen Erfahrungen in der Liebe ausgehend, alles nur einer ekeln Lauheit zuschrieb, wogegen kein anderes Heilmittel sei als die Zeit, von der er denn auch mit größter Zuversicht das Beste hoffte, wenn nur sein Freund, erst anderwärts durch leichten Schaden klug geworden, die Ansicht mit ihm teilen gelernt hätte, daß die verfeinertsten Reize der weiblichen Welt keinen Ersatz für ein so seltenes Gut gewähren, als jenes einfache Mädchen nach der Überzeugung des Schauspielers war.

Wenn also zwischen beiden Freunden die Sache nur sehr wenig berührt wurde, so fehlte es gleichwohl nicht an Auftritten wie der, dessen sich der Leser vielleicht noch von jener Neujahrsnacht erinnert, wo übrigens unser Maler von einer [61] offenen Darlegung der Umstände nur noch durch die Furcht abgehalten ward, der Schauspieler möchte ihm ins Gewissen reden, und das zur höchsten Unzeit, da ihm in Constanzen ein neues herrliches Gestirn aufging.


Länger als gewöhnlich entbehrte Theobald die Gelegenheit das Zarlinsche Haus zu besuchen. Der Graf und Constanze hatten eine längst vorgehabte Reise zu einer Verwandten ausgeführt. Zwölf Tage verstrichen ihm unter leeren Zerstreuungen, unter der peinlichsten Unruhe, denn frühe genug hatten sich verschiedene Zweifel über das hohe Glück bei ihm eingestellt, das er sich vielleicht zu voreilig aus dem sonderbaren Vorfall in jener Ballnacht gedeutet haben konnte. Daß Constanze unlängst in seiner und anderer Freunde Gegenwart, als eben von der Blumensprache die Rede war, aus Gelegenheit eines blühenden Granatbaums das feurige Rot desselben für das Symbol lebhafter Neigung erklärt hatte, indem sie sich dabei schalkhaft geheimnisvoll auf das Urteil Noltens als »besonders passionierten Kenners« vorzugsweise berief, und daß ihm eine Woche später von unbekannter Hand ein solcher Strauß war angeheftet worden, konnte sehr leicht bloße Neckerei des Zufalls sein, oder wohl gar – und dieser Meinung sind wir selbst – der Schelmstreich einer lustigen Person, welche nicht nur jenen Ausdruck der Gräfin mit angehört, sondern auch dem Maler seine schwache Seite längst mochte abgelauscht haben. Er befand sich deshalb in der größten Ungewißheit; nur soviel schien ihm bisher ausgemacht, daß die Gräfin damals auf dem Balle gewesen, und jetzt erst fiel ihm ein, sich näher zu erkundigen. Aber auch wenn er manchmal sich selbst geflissentlich die vielverheißende Bedeutung jenes Zeichens ausredete, wenn er alles verwarf, was er sich sonst zu seinem Vorteil ausgelegt, so konnte er am Ende bei jedem Blick in sein Inneres bemerken, daß ein unerklärlicher Glaube, eine stille Zuversicht in ihm zurückgeblieben war, und er nahm sodann diese wundersame Hoffnung gleichsam wieder als ein neues Orakel, dem er unbedingt zu vertrauen habe. So eigen pflegt der Geist mit sich selber zu spielen, wenn jene träumerische Leidenschaft uns beherrscht.

Endlich kam der Abend, der den auserlesenen Zirkel wieder in das Haus des Grafen lud. Mit bangen Empfindungen schritt Nolten, gegen die kalte Winterluft dicht in den Mantel gehüllt, [62] an der Seite seines Freundes Larkens nach der geliebten Straße zu. Aber sie sahen die Jalousiefenster, deren sanft durchscheinendes Licht den kommenden Gästen sonst schon von weitem ein wohl erwärmtes, fröhlich belebtes Zimmer versprach, diesmal nicht erhellt, und schon besorgten sie eine widrige Täuschung, als der Bediente, der im untern Hausflur die Mäntel, Degen und Stöcke der Herren abzunehmen hatte, sie hinten durch den Garten nach dem Pavillon wies, dessen erleuchtete Glastüren auch wirklich schon von ferne die glänzende Gesellschaft zeigten.

Sie traten in einen angenehmen, geräumigen, halb runden Saal, dessen Wände rings mit Spiegellampen versehen waren. Maler Tillsen und der wunderliche Herr Hofrat sind die ersten, von welchen unser Freund sogleich ins Gespräch gezogen wird. Die schöne Hauswirtin, von einer Menge Damen umringt, schien sein Eintreten anfangs nicht zu bemerken, aber während Theobald zuweilen mit rechter Ungeduld hinüberschielte nach den freundlich beredten Lippen, nach dem stets gefällig mitnickenden Köpfchen, glitt zufällig ihr Blick über die versammelten Gruppen hin und eine gütige Verbeugung gegen Nolten setzte dessen Lebensgeister auf einmal in eine muntere, mit aller Welt ausgesöhnte Bewegung. Der Graf kam indessen mit einer Rolle Papier herbei und flüsterte: »Hier meine Herren – wir könnten später nicht mehr so leicht dazu kommen – eine neue Zeichnung in Tusch von unserer eigensinnigen Künstlerin, die uns gerne alles versteckte und verschöbe – aber diesmal hab ich selbst einigen Anteil an dem Lobe, das Sie ihr gönnen werden; die Idee ist, sozusagen, hälftig mein.« Er wollte eben das Blatt entrollen, als ihm von hinten eine zarte Hand in die Finger griff – »Erlauben meine Herren!« sagte die herbeigeeilte Schwester, merklich errötend, »es ist billig, daß ich die Sache selbst vorzeige: – zu seiner Zeit, heißt das!« setzte sie lachend hinzu und eilte mit dem Blatte nach dem Schrank, wo sie es trotz aller Einsprache der Anwesenden rasch verschloß. Sie verschwand in einem Kabinett, nach dem Tee zu sehen.

Wenn sie so auf Augenblicke abwesend war, so mochte Theobald gerne im ruhigsten Anschauen ihres geistigen Bildes das Auge auf irgendeinen der leblosen Gegenstände heften, mit dem ihre Person noch soeben in Berührung gekommen war. So stand auf einem schmalen Mahagonipfeiler an der Wand eine offene Kalla in buntgemaltem Topfe, der den goldenen Buchstaben C. [63] im blauen Schilde trug. Diese Pflanze, dachte er bei sich, nimmt sie nicht in meiner Einbildung einen Teil von Constanzens eigenem Wesen an? Ja, dieser herrliche Kelch, der aus seiner schneeigen Tiefe die mildesten Geister entläßt, diese dunkeln Blätter, die sich schützend und geschützt unter das stille Heiligtum der Blume breiten, wie schön wird durch das alles die Geliebte bezeichnet und was sie umgibt! wie vertritt die Pflanze mir durch ihre ahnungsvolle Gegenwart die himmlische Gestalt!

Unversehens war Constanze wieder da, die Gesellschaft diesmal allein bedienend. Sie brachte endlich Theobalden die Tasse, und indes Larkens eine neue Anekdote zu allgemeiner Belustigung preisgab, nahm jener Anlaß, sich scherzhaft gegen Constanze wegen der vorenthaltenen Tuscharbeit zu beschweren.

»Ei«, war die Antwort, »Sie haben's nicht um mich verdient, Sie haben mir neulich einen übeln Schrecken zugefügt, der mir wohl das Leben hätte kosten können, zwar bloß im Traume.«

»Wie? meine Gnädige, ich wäre so unglücklich gewesen? und so glücklich doch, daß mein Bild im kleinsten Ihrer Träume –?«

»Das eben nicht – doch ja, Ihr Bild, ein Bild aus Ihrer Phantasie.«

»Wieso, wenn ich fragen darf?«

»So hören Sie und lachen mich aus! Vorige Nacht beliebte es Ihrer gespensterhaften Orgelspielerin, ungebührlicherweise aus dem Rahmen des schauerlichen Gemäldes herauszuschreiten und leibhaftig vor mich hinzutreten.«

Nolten war bestürzt, ohne eigentlich zu wissen, warum.

»Ja, ja, mein Herr! mit recht kuriosen, hämischen Augen starrte sie mir tief ins Gesicht und sagte – nein! das sollen Sie jetzt nicht hören.«

»Ich bitte!«

»Nehmen Sie sich in acht –«

»Sagte sie?«

»Nicht doch, das sag ich; eben gleitet Ihnen ja die Tasse aus der Hand!«

»Wirklich fast – Aber was sprach der Geist?« fragte Nolten dringend aufs neue, und nach einer Pause brachte die schöne Frau mit kaum unterdrückter Verwirrung die Worte hervor: »›Constanze Josephine Armond wird auch bald die Orgel mit uns spielen‹« –

»Aber, mein Gott«, erwiderte Nolten, »doch hat der Traum Sie nicht erschrecken können?«

[64] »Bis zum Erwachen doch; übrigens dank ich ihm, daß er mir Anlaß gibt, meinem etwaigen Berufe zu dieser Gattung von Musik, sowie meiner Aufnahme in so ernste Gesellschaft, auch ein wenig nachzudenken.«

Theobald, wie er nun wieder allein stand, wußte nicht, was er aus den letzten Worten machen sollte; dem Tone nach konnten sie nur für Scherz gelten, aber das Ganze hatte einen störenden Eindruck bei ihm zurückgelassen. Warum denn just diese Figur? Er wußte zu gut, daß er gerade in ihr das getreue Porträt eines Zigeunermädchens, einer Person dargestellt hatte, welche einst verhängnisvoll genug in sein eigenes Leben eingegriffen hatte. Auf der andern Seite ließ sich alles und jedes ganz natürlich aus dem starken Eindruck erklären, welchen das Gemälde auf eine sehr empfängliche Einbildungskraft machen mußte.

Was übrigens den Mut unsers Freundes noch weit mehr niederschlug, das war die aus dem Verfolg des allgemeinen Gesprächs für ihn hervorgegangene Gewißheit, daß Constanze damals wirklich nicht an der Maskerade teilgenommen, sondern bereits auf der Reise begriffen gewesen.

Die nicht mehr erwartete Ankunft des Herzogs verursachte eine plötzliche Bewegung. Nolten aber, statt durch die Gegenwart seines Rivals nur immer trüber und unmächtiger in sich selbst zu versinken, fühlte sich dadurch zu einem gewissen Kraftaufwande genötigt, der, obgleich anfangs nur erkünstelt, doch bald, von Larkens' ehrlicher Munterkeit unterstützt, eine wohltätige Wirkung auf das Ganze ausübte. Vorzüglich willkommen war es Theobalden, als man endlich auf den Wunsch des Herzogs selbst Anstalt machte, ein gewisses Spiel vorzunehmen, das auf eine sinnreiche Art drei verschiedene Künste in Verbindung brachte, den Tanz, die Malerei oder Zeichnung, und untergeordneterweise die Musik. Dies setzt jedoch folgende Bemerkung voraus. Constanze, bekannt als fertige und geistreiche Zeichnerin, war zugleich eine große Freundin des schönen künstlichen Tanzes und entwickelte namentlich bei Solopartien eine hohe Grazie. Nun hatte Nolten einmal gelegentlich den Einfall geäußert, es müßte eine artige Unterhaltung abgeben, wenn einige Personen in Zeit von einer kleinen Stunde zusammen ein Tableau, irgendeine Szene zeichneten, indem sie den Kreidenstift von Hand zu Hand gebend, nach einer langsamen Melodie tanzend, abwechslungsweise vor eine aufgerichtete Tafel [65] träten und den darzustellenden Gegenstand immer nur um einige Striche weiter förderten, bis zuletzt eine harmonische Komposition zum Vorschein käme, über die man sich zuvor im allgemeinen verständigt, deren Einzelheiten aber der augenblicklichen Eingebung eines jeden überlassen war. Der Gedanke fand Beifall, und nach einigem Besprechen zeigte sich die Möglichkeit seiner Ausführung vollkommen, obwohl man anfangs verlegen war, die gehörige Anzahl von Tänzern, die auch zugleich gute Zeichner wären, und umgekehrt, zu finden. Doch hiezu wußte man Rat. Nolten selbst, obgleich ein abgesagter Feind alles des Schlendrians, um den sich unsere Ballbelustigungen gewöhnlich zu drehen pflegen, besaß doch Leichtigkeit der Glieder und reinen Sinn genug für eine edle rhythmische Bewegung. Die dritte Rolle mußte notwendig Herrn Tillsen übergeben werden, denn wenn vielleicht auch der ungeübteste Tänzer immer noch besser gewesen wäre als er, so blieb doch die andere Eigenschaft die wichtigere. »Und«, sagte er verbindlich zu der Gräfin, »neben Ihnen würde ein Vestris übersehen werden, glücklicherweise also auch Tillsen, der ich in diesem Stück zum voraus allem Neid und jedem Ruhm entsage.«

Seitdem hatte man diese Unterhaltung schon etliche Abende mit Glück versucht. So ließ man denn auch jetzt die eigens hiezu bestimmte große Tafel aufstellen, deren angenehm graulackierte Fläche recht eigentlich einladend sich dem schwarzen Stifte darbot. Ein schöner Fußteppich lag unmittelbar davor auf dem Boden gebreitet, für eine stärkere Beleuchtung war ebenfalls gesorgt. Die drei Virtuosen kamen heimlich in der Wahl eines anziehenden Sujets überein Larkens nahm die Violine zur Hand und eröffnete das Spiel mit einer gewissen Feierlichkeit, dadurch die Erwartung nur noch mehr gespannt wurde. Jetzt trat Constanze, im weißen Atlaskleide, mit ernstem Schritt hervor, stellte sich einige Momente sinnend der Tafel gegenüber, allmählich fing ihre Gestalt an mit der Musik sich zu heben, in mäßiger Bewegung bald nach beiden Seiten schwebend, bald der Tafel entgegen. Sie schien dabei noch immer den ersten entscheidenden Strich zu überlegen, jetzt hielt sie vor dem Brette still, indem sie leicht vorgebeugt auf dem rechten Fuße fest stehend, den linken rückwärts auf die Zehe gestützt, die Kreide ansetzte. Das begleitende Adagio der Violine schien die Hand gefällig auf der glatten Fläche hinzuführen. Bald erkannte man die Umrisse eines lieblichen Knabenkopfs, welcher [66] mit dringenden Blicken bittend an etwas hinaufsieht. Dieser Ausdruck des Affekts war von der Art, daß er in der vorgreifenden Phantasie des Zuschauers beinahe jetzt schon ein paar flehend ausgestreckte Arme und Hände hervorrufen mußte. Doch die Zeichnerin hielt inne, und unter einem Allegro zurücktretend, beobachtete sie, während ihr reizender Leib sich hin und her wiegte, das angefangene Werk noch eine kleine Weile. Mit einer Verbeugung empfing Tillsen die Kreide aus ihrer Hand und ohne viel Umstände stellte dieser Meister mit raschen Zügen den oberen kraftvollen Körper eines Mannes in drohender Gebärde dem Mitleid fordernden Gesichtchen gegenüber. Die Begierde der Gesellschaft wuchs mit jeder Linie, es ließen sich schon einige Beifall rufende Stimmen vernehmen, es hieß: der junge Prinz Arthur ist's, wie er vor seinem Mörder steht! Aber der freudigste Applaus entstand als Constanze nachdem Tillsen für Theobald den Platz geräumt, vom Eifer ihres Gedankens hingerissen, dem letztern in den Weg sprang und nun die beiden großen Gestalten mit trefflich mimischer Heftigkeit um das Vorrecht der Kreide rangen, die denn zuletzt in zwei geschickte Teile brach, worauf das Paar bei lebhafter Musik ein verschlungenes Duo tanzte, um dann vereinigt vor die Tafel zu schreiten. Die Hauptsache war in kurzer Zeit getan, die Versammlung drängte sich herbei, inzwischen Tillsen noch mit einigen derben Strichen nachhalf. Man lobte, tadelte, lachte, bewunderte, wie es auch bei einer solchen Stegreifproduktion nicht fehlen konnte, daß neben den glücklichsten Spuren eines umfassenden, gleichartigen Geistes doch immer etwas Inkorrektes oder Halbes hervorsprang. Im ganzen war die Szene so wohlgeraten, daß Tillsen der Aufforderung gerne nachgab, sie gelegentlich für das kleine Gesellschaftsarchiv zu kopieren.

In der Hitze des Hin- und Widerredens war indessen kaum jemandem aufgefallen, wie Constanze mit jedem Augenblicke blaß und blässer wurde. Sie entfernt sich in ein Seitenzimmer man flüstert, die Damen eilen nach, alles wird aufmerksam, der Herzog läßt sich nicht halten, sie selbst zu sehen, er klagt sich an, daß er den anstrengenden Tanz verlangt, am meisten ist Nolten bestürzt. Es konnte ihm nicht entgehen, daß unter der Türe noch Constanzes letzter Blick mit einem matten sonderbaren Lächeln auf ihm ruhte. Endlich geht man auseinander nachdem der Graf, aus dem Kabinette tretend, die Versicherung [67] gegeben, man habe von dem Anfall keine Folgen zu befürchten.

In den folgenden Tagen erging vom Grafen eine Einladung an Theobald, gemeinschaftlich das unfern der Stadt gelegene Lustschloß des Königs, Wetterswyl, zu besuchen, wo man eben im Begriff war, mehrere kürzlich vom Ausland angekommene Statuen aufzustellen. Der italienische Künstler mußte selbst dabei zugegen sein, und sowohl die Persönlichkeit des letztern als jene Werke lockten manchen Gebildeten und manchen Neugierigen heraus Unserem Freunde war die Gelegenheit nicht minder erwünscht, doch zog er es vor, den angenehmen, auch zur Winterszeit immer noch gar mannigfaltigen Weg dahin allein zu Pferde zu machen, während der Graf im Schlitten fuhr. Der heiterste Januarmorgen begünstigte den Ausflug; die Sonne war kaum aufgegangen, als Theobald schon, in lebhaftem Trabe sich erwärmend, von der Straße ab, den schönen einsamen Gründen zustrich, welche, größtenteils von Fichten und Niederwald besetzt, allmählich der Höhe des königlichen Parks zuführten. Rings gewährte die Landschaft, in dichter Schneehülle und nur von dunkeln Waldstrecken durchbrochen, ein vollständiges Wintergemälde, und die Gemütsstimmung Noltens nahm diese stillen Eindrücke heute ganz besonders willig auf. Eine unbestimmte Mischung von Lebenslust und Wehmut lag allen seinen Betrachtungen zugrunde, wobei er anfangs deutlich zu fühlen glaubte, daß die Neigung zu Constanzen keinen oder doch nur einen sehr entfernten Anteil daran habe, bis ihm mitten unter seinen Träumereien ein längst vergessenes Lied von Larkens wieder vor der Seele aufging, welches ihm seinen gegenwärtigen Zustand wunderbar zu erklären schien. Er wiederholte sich die Verse seines Freundes, und konnte zuletzt nicht umhin, sie laut für sich zu singen.


In dieser Winterfrühe,
Wie ist mir doch zumut?
O Morgenrot! ich glühe
Von deinem Jugendblut.
Es glüht der alte Felsen,
Die Wälder Funken sprühn;
Berauschte Nebel wälzen
Sich in dem Tale hin.
[68]
Wie von der Höhe nieder
Der reinste Himmel flimmt,
Der nun um Rosenglieder
Entzückter Engel schwimmt!
Und Wunderkräfte spielen
Mir fröhlich durch die Brust,
In taumelnden Gefühlen
Kaum bin ich mir bewußt.
Mit tatenlustger Eile
Erhebt sich Geist und Sinn,
Und flügelt goldne Pfeile
Durch alle Ferne hin.
Wo denk ich hinzuschweifen?
Faßt mich ein Zauberschwarm?
Will ich die Welt ergreifen
Mit diesem jungen Arm?
Auf Zinnen möcht ich springen,
In alter Fürsten Schloß,
Möcht hohe Lieder singen,
Mich schwingen auf das Roß;
Und stolzen Siegeswagen
Stürzt ich mich brausend nach,
Die Harfe wird zerschlagen,
Die nur von Liebe sprach.
– Wie? schwärmst du so vermessen,
Herz! hast du nicht bedacht,
Hast, Närrchen, ganz vergessen,
Was dich so trunken macht?
Ach wohl, was aus mir singet
Ist nur der Liebe Glück;
Die wirren Töne schlinget
Sie sanft in sich zurück.
[69]
Was hilft, was hilft mein Sehnen!
Geliebte, wärst du hier!
In tausend Freudetränen
Verging' die Erde mir.

Bei seiner Ankunft im Schlosse fand er den Italiener, einen lebhaften Mann von mittleren Jahren, in komisch leidenschaftlichem Kommando mit den Leuten begriffen, welche die marmornen Kunstwerke in dem Hauptsaale aufzustellen hatten. Zwischen Zorn und Spaß schrie und lachte der Strudelkopf auf das grellste und brauchte zuweilen auch wohl den Stock gegen einen der Arbeiter, wovon keiner seine Sprache verstand. Theobald, nach einer sorgfältigen Beachtung der in ihrer Art einzigen Skulpturen, redete den Fremden italienisch an, und würde sich bei seiner Unterhaltung hinlänglich interessiert gefunden haben, wäre das Bestreben des Fremden, immer nur recht paradox zu sein und das Ernsthafte ins Lächerliche zu ziehen, nicht allzu widrig aufgefallen. Ja, am Ende, als der künstlerische Charakter Theobalds zur Sprache kam, konnte der Mann eine gewisse tückische Neckerei nicht lassen. Halb gekränkt und unwillig entzog sich unser Freund, um auf die spätere Ankunft des Grafen ein frugales Mittagsmahl in der Meierei zu bestellen. Müßig wie er war, besah er sich sodann die Umgebungen und die innere Einrichtung des fürstlichen Aufenthalts. Mehrere Zimmer gewährten eine reiche und belehrende Unterhaltung an ausgesuchten Malereien; es war leicht, sich in diesen geschmackvollen Räumen auf einige Zeit selber zu vergessen, und so stand er eben betrachtend mit sich allein, als ihm der entfernte Spiegel eines dritten Zimmers zwei von der entgegengesetzten Seite herbeikommende Personen zeigte, in denen er bei genauerem Hinblicken endlich den Grafen, und gegen alle seine Erwartung, Constanzen selbst erkennen konnte. Ganz außer Fassung gebracht schaute er unverrückt mit klopfendem Herzen noch immer auf die nah und näher im Spiegel herbeischwebenden Gestalten, bis die Tritte hinter ihm rauschten, und seinerseits ein ziemlich verwirrtes, andererseits ein durchaus unbefangenes und fröhliches Willkommen stattfand. Nie war ihm die Gräfin so reizend, so anmutig vorgekommen, sie trug ein mild graues Kleid mit roten Schnüren, Gürtel und Schleifen, deren Faltung und Farbe ihm flüchtig die Granatblüte wieder in das Gedächtnis rief; an die zarte Wange, von der [70] frischen Luft mit einem leisen Karmin überhaucht, legte sich ein weißer Pelz, und der zurückgeschlagene Schleier ließ dem Beschauer den Anblick des holdesten Gesichtes frei. Man kehrte fürs erste zu den neuen Sehenswürdigkeiten und ihrem tollen Meister zurück, an dessen Art und Weise der Graf sich dergestalt erbaute, daß die Schwester, sich mit einiger Ungeduld nach anderem umsehend, den Vorschlag Noltens, in den mannigfaltigen Sälen hin und wieder zu wandeln, nicht ungerne annahm. Gar bald ging ihre Unterhaltung auf eigene Verhältnisse und Persönlichkeiten über, denn Noltens leidenschaftlich beengte und zurückhaltende Stimmung gab Constanzen Anlaß, einen leichten Vorwurf gegen ihn auszusprechen, den er sogleich ergriff und ins Allgemeine über sich ausdehnte.

»Sie haben recht!« sagte er, »und nicht heute, nicht in gewissen Augenblicken bloß bemächtigt sich meiner dieser lästige, mir selbst verhafte Mißmut; es ist keine Laune, die nur kommt und geht, es ist ein stetes unruhiges Gefühl, daß es anders mit mir sein sollte und könnte, als es ist.«

»Wie meinen Sie das? Sollte Ihnen Ihre Lage nicht genügen? Das wäre mir doch kaum gedenkbar.«

»Sprechen Sie's geradezu aus, gnädige Frau: Es wäre unbillig. Wohl, es ist wahr, ich könnte glücklich sein, aber ich weiß nicht eigentlich zu sagen, warum ich es nicht bin. Ich wäre undankbar, wollte ich nicht gerne bekennen, daß während meines ganzen Lebens sich alle Umstände vereinigten, mich endlich bis zu dem Punkte zu führen, auf dem ich jetzt stehe, in eine Lage, die mancher andere und würdigere Mann vergebens suchte. Ein günstiges Schicksal, so grillenhaft und mißwollend es mitunter scheinen mochte, trug nur dazu bei, ein Talent in mir zu fördern, in dessen freier Ausübung ich von jeher das einzige Ziel meiner Wünsche erblickt hatte. Manche Arbeit ist mir gelungen, ich habe, wenn ich meinen Freunden glauben darf, den höheren Forderungen der Kunst einiges Genüge getan, und, was mir fast ebenso lieb sein sollte, man hat von der Zukunft größere Erwartungen, ohne daß mir vor ihrer Erfüllung bange wäre. Ein unendliches Feld dehnt sich vor mir aus, und wenn ich sonst an der Möglichkeit verzweifelte, die Welt, welche sich in mir drängte, jemals in heiterer Gestaltung an das Licht hervorzuführen, so seh ich, daß sie jetzt, sobald ich recht will, von selber leicht und zwanglos unter meinem Pinsel sich befreit. Aber wie kommt es, daß eben jetzt mein [71] Fleiß und meine Lust nachläßt? Warum so manche Arbeit angefangen, ohne sie zu vollenden? Woher die Ungeduld, sich auswärts umzutun, überall, nur nicht in meinen vier Pfählen vor meiner Staffelei mich zu befriedigen? Was den Künstler sonst wohl reizt und treibt und ermuntert, das ist die Hoffnung auf die ruhmvolle Anerkennung der Verständigen, die rege Teilnahme zunächst seiner Freunde; auch mir war dies Gefühl nicht fremd, jetzt vermag es nichts mehr auf mich. Ungenützt und trocken und verdrießlich gehn mir die Wochen dahin, und nurdie Stunden glaub ich wirklich gelebt zu haben, die mir in Ihrem Hause vergönnt sind. Aber nun, für einen Mann, welcher seine Pflicht so gut fühlt, als ein jeder andere, sagen Sie mir, ist so ein Leben nicht ein unerträgliches? Und sehen Sie ein Mittel, es zu ändern? Könnten Sie auch nur den kranken Fleck entdecken, wovon mir all dies Unheil kommt, das mich so gänzlich von mir selber trennt und scheidet?«

»Mit Verwunderung, Nolten, hör ich Sie an«, erwiderte die Gräfin, »und Ihre Klagen, ich gestehe es, mißfallen mir mehr, als daß mein Mitleid dadurch rege würde. Ich verstehe Sie nicht ganz, nur glaub ich fast zu sehen, die Schuld liegt meist an Ihnen. Gern dacht ich Sie mir diese ganze Zeit her tätig, frisch und aller Hoffnung voll. Ließen nicht Ihre Gespräche nur den wärmsten Eifer blicken für Ihren Beruf und alles, was dahin gehört? War Ihr Benehmen denn nicht weit mehr heiter als zerstreut und unbefriedigt? Wie angenehm für unsern kleinen Kreis, wenn Sie des Abends als ein mehr und mehr unentbehrlich werdender Gast bei uns erschienen, munter, gefällig, teilnehmend an allem, erfinderisch für jede Art von Unterhaltung, dabei bescheiden und ohne viel Worte. Dann, was soll ich's Ihnen bergen, so wie auf diese Weise wir Ihnen manches schuldig wurden, so mochten wir uns gerne überreden, daß eben in unserem Hause eine Zuflucht für Nolten gefunden sei, wo der Künstler das vielfach bewegte Leben seines Innern harmlos und ruhig mit der Gesellschaft zu vermitteln imstande wäre, um immer wieder mit freigeklärter Stirne in den Ernst seiner Werkstätte zurückzukehren und sich mit mehr Gelassenheit alles desjenigen zu bemeistern, was sonst mit verworrener Übermacht betäubend und niederschlagend auf ihn eindrang. Ja, mein Freund, Sie mögen im stillen meiner spotten, ich leugne nicht, so weit gingen meine Hoffnungen.«

»Verhüte Gott es, edle vortreffliche Frau, daß ich verkennen [72] sollte, was Sie mit unverdienter Güte für mich dachten! Mehr weit mehr als Sie soeben angedeutet haben, könnte der herrliche Kreis mir gewähren, wofern ich den Segen zu nutzen verstünde, den er mir bietet. Aber, meine Gnädige, wenn gerade der neue Reiz dieser schönen Sphäre einen Zwiespalt in mir hervorbrächte, wenn der innige Anteil, den dasHerz hier nehmen muß, dem weit allgemeineren Interesse des Geistes im Wege stünde, wenn ich, statt beruhigt und gestärkt zu mir selbst zurückzukehren, immer das leidenschaftliche Verlangen fühlte, in den Mittelpunkt eines so lieblichen Vereins alle Strahlen meines menschlichen und künstlerischen Daseins zu versammeln, sie ewig dort festzuhalten, und so meinem Bestreben einen um so wärmeren Schwung, einen unmittelbareren Lohn zu verschaffen, als der zerstreute Beifall der Welt jemals gewähren kann?«

»Es liegt«, antwortete die Gräfin nach einigem Nachsinnen mit Heiterkeit, »es liegt in der Natur von Männern Ihresgleichen, alles nur einseitig zu nehmen, von einer Seite her alles zu erwarten, und zwar je unmöglicher, je schädlicher es wäre. Indessen, mein lieber Maler, ich bin für jetzt nicht gefaßt, noch geneigt, in Ihren gegenwärtigen Zustand, in Ihr Wünschen und Wollen augenblicklich ratend und helfend einzugehen. Die erhabenen Grillen dieses Geschlechts von Künstlern sind schwer zu fassen, und wir scharfsinnigen Frauen haben jedesmal Mühe, um bei dergleichen subtilen Erörterungen, wo wir nur lauschen, nur tasten und halb erwidern können, nicht unsern Blödsinn, unsre Einfalt zu verraten. Am Ende möchten wir bei einem Menschen, welchem wir doch einmal herzlich wohlwollen, alles gerne mit einem Schlage gutmachen, und, dem Unnatürlichen zum Trotz, mit der natürlichsten Auskunft dazwischenfahren. Gar oft sind wir aber selbst um eine solche Zauberformel verlegen, ja wenn wir sie gefunden zu haben glauben, will es uns manchmal gefährlich dünken, davon Gebrauch zu machen, und so können wir zuletzt nichts Besseres tun, als – mit Bedeutung schweigen und die Herren an ihren Genius verweisen.«

Theobald machten diese Worte nachdenklich; sie schienen ein Verständnis der Absicht, welche er vorhin halb versteckt Constanzen nahegelegt, ebenso zweideutig zu verhüllen, und obgleich sich bereits ein guter Schluß auf die Gesinnungen der liebenswürdigen Frau daraus machen ließ, so hatte der muntere ablehnende Ton ihn doch etwas erschreckt, sogar verletzt.

[73] Die Gräfin sah sich im Vorbeigehen nach den beiden Herren um; da jedoch der Italiener soeben in einer lustigen und langen Erzählung begriffen war, welche für ein weibliches Ohr nicht eben von der delikatesten Art sein mochte, so zog sich Constanze wieder zu rück, und Theobald verfehlte keineswegs, ihr Gesellschaft zu leisten.

Sie stiegen die breiten Stufen zur Gartenanlage hinab, und die Gräfin bezeugte auf eine drollige und neckische Art ihre Freude über die Leichtigkeit, womit sie auf der gefrorenen Schneedecke hinschlüpfen konnte, indes ihr Begleiter zuweilen unversehens mit dem Fuße einsank. Aber all ihr munteres Wesen vermochte kaum etwas gegen den sinnenden Ernst des Malers. Sie kamen vor eine dunkle Gruppe hoher Forchen, welche den Eingang zu der sogenannten schönen Grotte vorbereiteten. Diese zog sich eine beträchtliche Länge unter einem reichbewachsenen Felsen fort und führte unmittelbar in den großen Saal der Orangerie. Nicht ohne vielen Sinn war die Sache so angelegt worden, um dem Spaziergänger eine höchst überraschende Szene zu bereiten, wenn man, besonders zu dieser Jahreszeit, aus dem toten Wintergarten in eine schauerliche Nacht eingetreten, nach etlichen hundert Schritten mit einem Male einen hellgrünen, warmen Frühling zauberhaft aus breiten Glastüren sich entgegenleuchten sah.

Theobald forderte zu einem Gang durch die Höhle auf, und die Gräfin, die den Ort noch nicht kannte, nahm nach kurzem Zaudern den Arm ihres Begleiters an. Ein eisernes Geländer, woran man fortlief, leitete sicher an den Wänden hin, und so waren beide mit vorsichtigen Tritten eine Strecke weit gewandert, als Constanze, das Ende des dunkeln Ganges vergeblich erwartend, bereits ängstlich die Umkehr verlangte. Nolten bat dringend, vollends auszuhalten, und überredete sie endlich. Aber in steter Furcht, einen Mißtritt zu tun, oder gegen einen Vorsprung des Felsen zu stoßen, hielt sich die zarte Frau fest und fester an ihren Führer, und indes beide schweigend und sachte nebeneinander gingen, wie seltsam war es unserem Freunde, so viel Schönheit und Jugend in voller und doch unsichtbarer Gegenwart leis atmend an seiner Seite! Sein Herz pochte gewaltsamer, und wie schon das Wunderbare und Großartige eines solchen Ortes erhöhend auf die Sinne wirkt, so steigerte sich jetzt seine Phantasie bis zu einer gewissen Feierlichkeit, alles schien ihm etwas Außerordentliches, etwas Entscheidendes ankündigen zu wollen.

[74] Dies trat auch nur zu bald und auf ganz andere Weise ein, als er sich hätte je vermuten können; denn in dem Augenblick, wo ihm vorne ein dämmernd hereinfallendes Licht den nahen Ausgang verheißt, glaubt er von derselben Seite her eine Stimme zu vernehmen, deren wohlbekannter Ton ihn plötzlich starr wie eingewurzelt stehenbleiben macht. Constanze fühlt, wie er zusammenschrickt, wie sein Atem ungestüm sich hebt, wie er mit der Faust gegen die Brust fährt, »Was ist das? um Gottes willen Nolten, was haben Sie?« Er schweigt. »Wird Ihnen nicht wohl? Ich beschwöre, reden Sie doch!«

»Keine Furcht, edle Frau Besorgen Sie nichts – aber ich gehe nicht weiter – keinen Schritt – denken Sie was Sie wollen, nur fragen Sie mich nicht!«

»Nolten!« entgegnete die Gräfin mit Heftigkeit, »was soll der unsinnige Auftritt? kommen Sie! Soll ich mich etwa krank hier frieren? Was haben Sie vor? Den Augenblick verlaß ich diesen Ort – werden Sie mir folgen oder geh ich allein? Lassen Sie mich los! ich befehl es Ihnen.« – Er hält sie fester. »Nolten! ich rufe laut, wenn Sie beharren!«

»Ja, rufen Sie! rufen Sie ihn herbei – er ist nicht weit von uns – ich habe seine Stimme gehört, meines schlimmsten, meines tödlichsten Feindes – Herzog Adolph ist in der Nähe!«

Nun erst schien Constanze zu begreifen; sie stand sprachlos, ohne Bewegung.

»Der Augenblick ist da!« rief Theobald, »ich fühl es, jetzt, oder niemals muß es heraus, das Geheimnis, das seit Monaten an meinem Leben zehrt und frißt, das mich zugrunde richten wird, wenn ich's nicht endlich darf aus der Brust stoßen – Constanze! ahnest du es nicht? O daß ich dir ins Auge blicken, dir's von der Stirne lesen könnte, du habest längst erraten!«

»Still, Nolten! schweigen Sie – um meiner Ruhe willen, kein Wort weiter! Kommen Sie vorwärts, dort an das Licht –«

»Dorthin? nein, nimmermehr! sein Sie barmherzig – Nicht daß ich mich fürchtete vor ihm, dem Übermütigen – sein Anblick nur ist mir unerträglich – Jetzt, eben jetzt, als hätte die Hölle ihn bestellt, mir jede meiner kurzen Seligkeiten zu vergiften! Ich haß ihn, haß ihn, weil er um deine Liebe schleicht Constanze! Ist's nicht so? kannst du's leugnen? und dürft er hoffen? Er? Gib einen Laut! Laß mich's erfahren! Alles weißt du, weißt, was ich leide, mein Herz, mein Verlangen kann dir [75] nicht unbekannt sein; Engel! o himmlischer, gib mir ein Zeichen! Laß mir ein Lispeln, mir einen schwachen Händedruck bekennen, was du im stillen mir zudenkst, was deine Güte schüchtern mir gewähren möchte! Glaub mir, ein Gott hat uns hieher geführt, mein Innerstes erst bitter aufgeregt und alles, alles – Haß, Verzweiflung, Angst, die unbegrenzte Wonne deiner Nähe zusammengedrängt hier in diesen verborgenen Winkel, um endlich mein Herz hervorzurufen, mir das Bekenntnis zu entreißen, und auch deine Lippen aufzuschließen – So sprich denn, o sprich! die Minuten sind kostbar!« Er zog die Zitternde, Verstummte an sich. Ihr Haupt sinkt unwillkürlich an seine Brust, indes ihre Tränen fließen und sein Kuß auf ihrem Halse brennt. Den Mund in die dichte Lockenfülle drückend, hätte er ersticken mögen vom süß betäubenden Dufte dieser üppigen Haare – der Boden schien sich zu teilen unter den Füßen Constanzens – Erd und Himmel zu taumeln vor ihrem geschlossenen Auge – in eine unendliche Nacht voll seliger Qualen stürzt ihr Gedanke hinab – liebliche Bilder in flammendem Rosenschein, wechselnd mit drohenden, grünaugigen Larven, dringen auf sie ein – aber noch immer halten ihre Kniee sich aufrecht, noch immer entfahrt ihr kein Laut, kein Seufzer, nur von einem flüchtigen Schauder zuckt augenblicklich ihr Körper zusammen. Mächtiger, kecker fühlt das herrliche Weib sich umschlungen; da rauscht auf einmal der Tritt eines Menschen unfern von ihnen, jäher Schrecken faßt Theobald an, und eh er noch seitwärts ausbeugen kann, streift schon das Kleid des Vorübergehenden an ihnen hin. Glücklich war die Gefahr überstanden. Niemand als der Herzog kann es gewesen sein. Theobald schöpft wieder Atem. Constanze, regungslos in seinen Armen, scheint von allem nichts bemerkt zu haben. Nach einer Weile fährt sie wie aus einem Traume empor und – »Fort! fort!« ruft sie mit durchdringender Stimme – »Wo bin ich? Was soll ich hier? Hinweg, hinweg!« Sie riß sich heftig los und eilte voran, so daß Theobald kaum mehr folgen konnte. Ein blendendes Meer von Sonnenschein empfängt die Eilenden an der Schwelle des blühenden Saales. Nolten will soeben die Gräfin erreichen, aber die große Glastüre schlägt klirrend hinter ihr zu, ohne daß er sie wieder öffnen könnte. Er sieht die geliebte Gestalt zwischen dem Laub der Orangen verschwinden. Trunken an allen Sinnen, ratlos, verwirrt, in schmerzlicher Furcht steht er allein. Noch einmal versucht er das verwünschte [76] Schloß – umsonst, er sieht sich gezwungen, rückwärts zu gehen. Wütend rennt er eine Strecke fort bis in die Gegend der verhängnisvollen Stelle, wo er stehenbleibt, sich fragt, ob es Blendwerk, ob es Wirklichkeit gewesen, was hier vorgegangen? Unmöglich schien es, daß noch soeben Constanze hier zwischen diesen Felsen gestanden, daß er sie, sie selber in seinen Armen gehalten, ihren Busen an dem seinigen klopfen gehört. Wie kalt und teilnahmlos lag jetzt diese Finsternis um ihn her, wie so gar nicht schienen diese rohen Massen von jener holden Gegenwart zu wissen, deren Gottheit noch soeben rings die Nacht purpurisch glühen machte! Hier klang das Rufen der Geliebten hier fiel der Tropfe aus dem schönen Auge! O läßt kein leiser Geisterton sich hören, der mir versichere: ja, hier war es, hier geschah's! Begreife denn dein Glück, ungläubig Herz! umfaß, umspanne den vollen Gedanken, wenn du es kannst, denn ohne Grenzen ist dein Glück, auch dann, wenn du sie nimmer sehen solltest, wenn dich ihr Zorn, ihr Stolz auch auf immer verbannte! War sie nicht dein, dir hingegeben einen vollen, unerschöpflichen Moment? O dieser Augenblick sollte eine bettelarme leere Ewigkeit reich machen können!

Glühend aufgeregt verließ der Freund den Ort, und um sich, so gut es gehen mochte, noch zu sammeln, nahm er absichtlich einen weiten Umweg nach dem Saale, wo die Gesellschaft beieinander war.

»Sie bleiben lange aus!« rief ihm der Graf entgegen, »und haben dadurch den Herzog versäumt, welcher diesen Morgen auf eine Stunde hier gewesen, aber bereits wieder weg ist.«

Die Unbefangenheit dieses Empfangs, den er mit einer leichten Entschuldigung erwiderte, und die Ruhe, welche sich in Constanzens Benehmen aussprach, überzeugte Theobald hinlänglich, daß ihre und seine Abwesenheit nicht aufgefallen war. Dennoch wollte ihn die Art, wie die schöne Frau sich anließ befremden: sie kam ihm beinahe wie ein anderes Wesen vor, ernst ohne niedergeschlagen, zurückhaltend und höflich, ohne abstoßend zu sein; eine gleichgültige Frage, die er an sie richtete, beantwortete sie mit mehr Natürlichkeit und Geistesgegenwart, als der Frager in diesem Augenblicke selbst besaß. Bei alledem schien ihre Miene das, was vorgefallen war, eher stillschweigend zu verzeihen als zu billigen, ja es hatte das Ansehen, als verleugnete sie die Erinnerung daran ganz und gar.

[77] Nicht mehr lange, so wurde das Mittagessen angesagt, wozu der Graf ohne weiteres auch den Italiener geladen hatte, zu nicht geringem Verdrusse Noltens, der es denn auch geduldig geschehen lassen mußte, als jener sich die Gnade erbat, Eccellenza der Frau Gräfin seinen Arm zum Gange nach dem Meierhause leihen zu dürfen.

Die kleine Tafel fiel reichlicher aus, als man erwartet hatte, denn außer dem fremden Weine, der im Schlitten des Grafen mitgekommen war, fand sich ein schmackhafter und seltener Bissen Geflügel ein, bei dessen Auftischung der Graf zu bemerken nicht unterließ, daß man den trefflichen Seevogel der Galanterie seiner Hoheit verdanke, der Herr Herzog haben ihn vorhin am großen Teiche geschossen.

Der Italiener hielt sich besonders an den feinen Roussillon und schwatzte kunterbuntes Zeug durcheinander, was indessen für Theobald zu jeder andern Zeit ärgerlicher gewesen wäre, als jetzt, wo er seine Zerstreuung gerne hinter diesen Lärm verbarg. Man redete dem Ausländer zuliebe, der kein Deutsch verstand, und Constanzen, der das Italienische nicht geläufig war, französisch, und unser Freund fand in dieser fremden Sprache eine willkommene Art von Scheidewand zwischen sich selber und seinem gegenwärtigen Gefühl; aber sonderbarerweise rückte sich ihm auch die lebhafte Szene von heute morgen nur um desto mehr in das Unglaubliche, ja Constanze selbst verschwand ihm in eine zweifelhafte Ferne, so nahe ihm ihre äußere Gestalt auch war. Er sah die jetzt verflossenen Stunden, wenn er je sie wirklich verlebt haben sollte, wie eine längst entflohene Vergangenheit an, aber die Gegenwart deuchte ihm deshalb um nichts wahrhafter und gegenwärtiger und die Zukunft völlig ein Unding.

So leidlich auf diese Art die Stimmung Theobalds war, so bitter sollte sie bald gestört werden. Der fremde Künstler nahm nach und nach Anlaß, seine gute Laune an dem Manne zu üben, welchen er doch in keinem Betracht als Nebenbuhler ansehen konnte. Erst waren es leichte Spötteleien, dann höchst indiskrete Fragen, worauf Nolten anfangs mit gutmütigem Spaße, zuletzt mit einiger Schärfe antwortete, ohne jedoch seinen Gegner zu dem Grade von Wut reizen zu wollen, welcher sich alsbald sehr ungesittet hervortat, so daß Nolten schnelle aufstand und dem Schreier den Vorschlag machte, den Streit außerhalb des Zimmers mit ihm abzutun, damit wenigstens das Ohr [78] der übrigen nicht beleidigt würde. Constanze hatte bereits den Tisch verlassen.

»Sie sind Zeuge!« rief der jähzornige Mann dem Grafen zu, »Sie gestehen, daß Signor meinen Scherz absichtlich böse mißverstand, um mich beleidigen zu können! Aber es soll ihm nicht hingehen, so wahr ich lebe, Signor wird mir Genugtuung verschaffen!«

»Sehr gern!« erwiderte Theobald, »doch dünkt mich, wer dies am ersten fordern könnte, das wäre ich; indessen hätte ich für meine Person darauf verzichtet, weil Sie durch Ihre Reden meine Ehre nicht zu kränken vermochten, weder in meinen noch in den Augen der Anwesenden. Sollten Sie aber die Rettung der Ihrigen noch auf irgendeine Art versuchen wollen, so will ich alles dazu beitragen, wiewohl ich mir fast lächerlich dabei vorkomme.«

»Lächerlich, Signor?« triumphierte der Italiener, das Wort falsch deutend, mit entsetzlichem Lachen, »lächerlich? ja, ja, nun ja, da haben Sie recht! ich kann beinahe zufrieden sein mit diesem Geständnis, hi, hi, hi!«

Nolten wollte sich dem Unverschämten mit derber Wahrheit erklären, aber ein Wink des Grafen bat ihn um Zurückhaltung, und er folgte um so williger, je mehr er dabei an Constanzen und ihre entschiedene Abneigung gegen dergleichen Ehrenerörterungen dachte. Doch der Italiener wollte sich seines Siegs noch weiter freuen, er wandte sich gegen seinen Mann mit den Worten: »Gratulieren Sie sich, daß Sie so wegkommen, mein Herr Maler! Künftig etwas bescheidener, will ich geraten haben! Sie dürften sonst eine deutsche Klinge mit einer welschen messen, oder daß ich es recht sage, ich möchte mir leicht einmal den Spaß machen, und mein scarpello aufheben gegen einen deutschen – Pinsel; verstanden?«

»Wohl, mein Herr«, versetzte Nolten ruhig, »ich bin der Meinung, Sie machten die Probe je eher je lieber; ich werde mich diesfalls heute noch in bester Form eines nähern bei Ihnen vernehmen lassen. Was inzwischen den deutschen Pinsel betrifft, so mögen Sie immerhin den Maler in mir verachten, und zwar noch ehe Sie ihn kennengelernt haben, ich bin gegen den Bildhauer gerecht, dessen Werke ich vorhin gesehen habe; sie sind vortrefflich, und sind es so sehr, daß es der frechsten Lüge gleichsieht, wenn Sie, mein Herr, sich den Schöpfer derselben nennen.«

[79] Dieser letzte Ausfall machte den Fremden offenbar ein wenig betroffen, obgleich er getan, als hörte er nichts; aber er wurde noch verlegener, da Nolten ihm tiefer ins Gesicht schaute, den Kopf schüttelte und mit einem zweifelnden Lächeln dem Grafen zuwinkte; – noch einen prüfenden Blick auf die seltsame Physiognomie des Italieners, noch einen, und wieder einen und – »Gemach, mein Freund!« rief Theobald, den Burschen am Schnurrbart packend, da er eben aus der Tür schlüpfen wollte, »ich glaube, wir kennen uns!« – Wunder! der falsche Schnurrbart blieb Nolten in den Fingern, der arme Teufel selber fiel zitternd auf seine Kniee, es war kein anderer Mensch als – Barbier Wispel, der entlaufene Bediente Noltens.

Der Graf traute seinen Augen kaum bei dieser Szene, und unser Freund, ungewiß, sollte er lachen oder zürnen, rief: »Du unterstehst dich, Elender, nachdem du mich einmal schändlich bestohlen, aufs neue deinen Betrug, deine Narrheit an mir und in dieser Gegend auszuüben, wo dich das Zuchthaus erwartet? Wie kommst du nur zu diesen Kleidern, wie kommst du überhaupt dazu, diese apokryphische Rolle zu spielen?«

In der Tat konnte Nolten trotz aller angenommenen und wirklichen Indignation ein herzliches Lachen kaum zurückdrängen. Es nahm ihn nun gar nicht mehr wunder, wie er sich eine Zeitlang wirklich in der Person dieses Menschen täuschen konnte; denn es war bei weitem nicht der magere, splitterdünne Wispel mehr, es mußte ihm auf seinen neuen Reisen ganz besonders wohl ergangen sein, auch von seinen früheren Manieren hatte sich vieles verwischt, oder legte er sie auf einige Stunden ab, und dann die künstlich braun gefärbte Haut, veränderte Stimme, verstellte Frisur, Bart und sonstige Ausstattung, alles half zu diesem närrischen Quiproquo. Aus seinen Bekenntnissen ergab sich nach und nach, daß er in die Dienste des fremden Künstlers ungefähr auf dieselbe Weise gekommen war, wie einst in Theobalds; es ging dies um so leichter an, da ihm von seinen früheren Landstreichereien noch einige Kenntnis der Sprache seines Herrn geblieben war, und er diesem als Dolmetscher auf seiner Reise nach Deutschland, an dessen Grenze sie sich kennengelernt, gar oft nützlich sein konnte. Die guten Kleider, die er am Leibe trug, waren teils Geschenk seines Herrn, teils hatte er sich zur Ausführung des gegenwärtigen Prunkstückchens die Garderobe des Künstlers heimlich zunutze gemacht. Der Italiener, erst vorgestern angelangt, hielt sich in [80] der Stadt auf, und sollte erst diesen Abend zu Anordnung der Bildwerke herauskommen, weil aber durch ein Mißverständnis die Handlanger schon in der Frühe vergeblich hiehergesprengt worden, so empfand Wispel einen unüberwindlichen Reiz, vor diesen Leuten und den etwa sich einfindenden Fremden jenen berühmten Mann vorzustellen, dessen bizarres Wesen er zwar mit Übertreibung, doch nicht ganz unglücklich, nachzuahmen wußte. Es sei ihm selber, gestand er nun, sehr leid gewesen, als ihm Nolten, sein ehemaliger Gebieter, so unerwartet in den Wurf gekommen, und noch jetzt wisse er nicht recht, was ihn verführt habe, augenblicklich eine offensive Stellung gegen ihn anzunehmen.

»Aber Mensch, wie konntest du so unbegreiflich grob, so frech gegen mich sein? Weißt du, was du noch im Rest bei mir sitzen hast?«

»Ach, mein charmantester, mein göttlicher Herr, wie sollt ich's nicht wissen? aber das steht ja in guter Hand – es mag etwa eine halbe Carolin sein, was Sie mir an meinem Lohn noch schulden – Bagatell – wenn Sie gelegentlich, aber wohlverstanden, nur ganz gelegentlich, das Pöstchen –«

Hier bekam Wispel unversehens einen Backenstreich von Theobalds Hand, daß ihm die Haut feuerte. »Schandbube! eine Anweisung ins Spinnhaus bin ich dir schuldig! Aber gib Rechenschaft über das, was ich eben frage: wie warst du fähig, gegen deinen ehemaligen Wohltäter dich so zu vergessen?«

»Ach«, antwortete er, ganz wieder mit seiner gewohnten Affektation, mit jenem Hüsteln und Blinzeln, »dem Himmel ist es bewußt, wie das zuging, ich wollte mich durch solch ein Betragen gleichsam unkenntlich machen, mich gegen meine eigene Rührung verschanzen, daher meine Wut, meine Malice, auch leugn' ich nicht, es war vielleicht ein – ein – vielleicht ein Kitzel, das heiße Blut des Südens an mir selbst zu bewundern, und so – und dann – aber gewiß werden Sie mir zugeben, Monsieur, ich habe den höhern Ton der Schikane und den eigentlichen vornehmen Takt, womit das point d'honneur behandelt werden muß, mir so ziemlich angeeignet. Wie? ich bitte, sagen Sie, was denken Sie?«

Mit diesem letzten Zusatz war es seiner Eitelkeit so völlig Ernst, er war so gespannt auf ein schmeichelhaftes Urteil Noltens, daß dieser und der Graf nur staunten über die unsinnigste Art von Ehrgeiz, womit dieses Subjekt wie mit einer Krankheit [81] gestraft war Erinnerte man sich vollends der einzelnen Momente, in denen der Mensch seit heute früh sich stufenweise, zuerst bei der Ankunft Theobalds, dann beim Grafen, endlich als Weltmann bei der Gräfin geltend gemacht, so hätte man sich beinahe schämen müssen, wäre die Sache weniger lustig und neu gewesen. Sogar Constanze, welche vom Bruder herbeigerufen ward, konnte, nachdem sie den unglaublichen Betrug eingesehen, sich des Lächelns nicht enthalten, obgleich sie den Entlarvten, dessen Beschämung sie sich schmerzlicher als billig vorstellte, mit einem fast peinlichen Gefühl, wie einen armen Verrückten, betrachtete. Die Fragen, welche sie etwa an ihn tat, bildeten durch ihre wahrhaft naive Delikatesse einen fast komisch rührenden Kontrast zwischen der edlen Frau und der verächtlichen Kreatur. Theobald fand sich hiedurch auch wirklich zu einem gewissen Grad von Mitleid mit dem ärmlichen Sünder bewogen, und als Wispel auf das beredteste ihn um Wiederaufnahme in sein Haus ersuchte, konnte er sich zwar hiezu nicht verstehen, aber er versprach, ihm außer einer Warnung, die man dem Italiener schuldig sei, keineswegs schaden zu wollen. Hierauf verabschiedete sich Wispel mit gehörigem Anstand, er wollte Constanzen die Hand küssen, was jedoch höflich verbeten wurde.

Die Gesellschaft verhehlte sich den im ganzen versöhnenden Eindruck nicht, welchen der letzte Auftritt bei ihr zurückgelassen hatte. Bei der Gräfin selbst war der Rückblick auf den heutigen Morgen leichter, weil seine Wirkung wenigstens äußerlich durch so manches andere in etwas war verdrängt worden; nur sobald Nolten ihr näher kommen wollte, wich sie schüchtern und unbehaglich aus. Im allgemeinen, dies durfte er sich mit Recht sagen, ließ ihr Benehmen sich gar nicht zu seinen Ungunsten auslegen, ja er konnte den tief gegründeten Keim wirklicher Liebe nicht mehr an ihr verkennen, er hoffte eine zwar langsame, aber unaufhaltsame Entwicklung. Nur jede Voreiligkeit, alles dringend Heftige, so sehr dies in seinem Temperamente lag, beschloß er zu vermeiden, und wir selber sind der Meinung, daß er dabei seinen Vorteil und die Sinnesart der Frauen von Constanzens Werte fein genug zu schätzen gewußt.

Man hätte gerne noch den echten Italiener gesehen, allein der Abend nahte stark heran, es war unwahrscheinlich, daß der Künstler noch käme, überdies verlangte Constanze nach Haus, und so schickte man sich denn zum Aufbruch an.

[82] Nolten, der den Schlitten des Grafen eine Weile rasch verfolgte, blieb mit seinem Pferde doch bald zurück. Er hatte Zeit seinen Gedanken über den heutigen Tag, seinen Besorgnissen und Hoffnungen stille nachzuhängen, indes der Mond mit immer hellerem Lichte die dämmernde Schneelandschaft überschien. Was hatte sich doch verändert in den wenigen Stunden seit er diese Wege hergeritten! um wieviel näher war er gegen alles Denken und Vermuten seinem ersehntesten Ziele gekommen, ja, das er wirklich schon erreicht, das er schon mit kühnen Armen umschlungen und auf alle Zukunft für sich geweiht hatte! Je verwunderter er diese rasche Wendung bei sich überlegte, desto stärker drang sich ihm der alte Glaube auf, daß es Augenblicke gebe, wo ein innerer Gott den Menschen unwiderstehlich besinnungslos vorwärts stoße, einer großen Entscheidung entgegen, so daß er, daß sein Schicksal und sein Glück sich selber gleichsam übertreffen müssen. Er schauderte im Innersten, er drang mit weit offenem Aug in das tiefe Blau des nächtlichen Himmels und forderte die Gestirne heraus, seine Seligkeit mitzuempfinden. Was doch jetzt in Constanzen vorgehen mag! – er hätte die Welt verschenken mögen, um dieses Einzige zu wissen, und doch pries er wieder seine Ungewißheit, weil sie ihm vergönnte, alles zu glauben, was er wünschte. Sollte jetzt nicht auch in ihrem Busen der wonnevollste Tumult von Freude, Furcht und Hoffnung laut sein? und ist nicht der Grund ihrer Seele, wie die Tiefe eines stillen Meeres, jetzt von jener unendlichen Ruhe beherrscht, welche im Bewußtsein hoher Liebe liegt? – So dachte er, so durchlief er noch manches, was ihn mächtig emporhob, kräftig gab er seinem Pferde die Sporen, als gälte es, noch heute allen seinen Wünschen die Krone aufzusetzen.


In derselben Woche kamen Briefe aus Neuburg an Theobald, wie gewöhnlich unter der Aufschrift an Larkens. Voll Begierde nach dem Inhalte, welcher ihm, wie er zuverlässig hoffte, jeden Zweifel über Agnes benehmen sollte, riß er das Kuvert auf. Jedesmal ergriff ihn die eigenste Rührung, wenn er solche treuherzige Linien ansah, die nach des Mädchens Meinung der Geliebte lesen sollte, und die unser Schauspieler doch wiederum nur sich selber zueignen konnte, da es nur Antworten auf dasjenige waren, was er zwar ganz im früheren Sinne Noltens geschrieben, aber doch gleichsam durch alle Fasern des eigenen [83] innigsten Gefühls übertragend, empfunden hatte. In der Tat, er kam sich dann immer wie ein gedoppeltes Wesen vor, und nicht selten kostete es ihn Mühe, sein Ich von der Teilnahme an diesem zärtlichen Verhältnis auszuschließen.

Was Agnesens gegenwärtigen Brief betrifft, so klangen ihm die Worte anfangs einigermaßen rätselhaft, bis ihm ein größeres Schreiben vom Vater in die Hände fiel, das er auch zugleich von Blatt zu Blatt mit immer steigendem Erstaunen hastig durchlas. Der Alte beruft sich auf seinen frühern Brief an Theobald, worin die sonderbare Verirrung des Mädchens, soweit es damals möglich gewesen, bereits entwickelt worden sei; er wolle aber, da einige erst neuerdings entdeckte Umstände die Ansicht des Ganzen bedeutend verändert hätten, alles von vornherein erzählen, und so setzt er denn dasjenige weitläufig auseinander, was wir dem Leser schon mitgeteilt haben. Mehrere auffallende Vorgänge hatten dem Förster zuletzt über das Dasein eines stillen Wahnsinns keinen Zweifel mehr übriggelassen. Es ward ein Arzt zu Rat gezogen, und mit Hülfe dieses einsichtsvollen Mannes gelang es gar bald, den eigentlichen Grund des Unheils aus dem Mädchen hervorzulocken. Hiebei mußte es für den aufmerksamen Beobachter solcher abnormen Zustände von dem größten Interesse sein, zu bemerken, daß schon das Aussprechen des Geheimnisses an und für sich entscheidend für die Heilung war. Denn von dem Augenblicke, da der Auftritt mit der Zigeunerin über Agnesens Lippen kam, schien der Dämon, der die Seele des armen Geschöpfes umstrickt hielt, seine Beute fahrenzulassen, und ein herzzerschneidender Strom der heftigsten Tränen schien die Rückkehr der Vernunft anzukündigen. Die Entdeckung jener geheimen Ursache fand aber um so weniger Schwierigkeit, da das Mädchen selbst seit der zweiten Unterredung mit der Zigeunerin ein gewisses Mißtrauen gegen dieselbe nährte, worin sie sich nun eben nicht ungerne bestärken ließ. Wirklich rührend war es anzusehen, mit welcher Begierde sie jedes Wort einschluckte, das man zum Beweis eines offenbaren Betrugs vorbringen mochte. Auf ihrem zwischen Angst und dankbarer Freude wechselnden Gesichte malten sich die letzten Zuckungen des abergläubischen Gewissens, dem die vernünftige Beredsamkeit des Vaters nun den Todesstoß gab. Dennoch fühlte sie noch immer eine Art von Zwiespalt im Innern, sie fand sich schwer zurecht, und wie der Blindgewesene sich nur langsam wieder an das Licht gewöhnt, [84] das alle Welt erfreut, so dauerte es einige Zeit, bis Agnes ihr Glück zu fassen vermochte, bis sie es wagte, sich den andern Menschen wieder gleichzustellen. Oft kam es ihr noch vor, als ob irgendein finsterer Zeuge ihres Schicksals hinter ihrem Rücken lauschte und auf Rache denke, weil sie seinen Banden entsprungen. Aber der Verbrecher, der durch eine feierliche Absolution aus dem Munde des Heiligen Vaters mit einemmal sich einer ganzen Hölle entbunden fühlt, kann nicht leichter atmen als Agnes, nachdem endlich das düstere Phantom für immer verabschiedet war. Wie ganz anders konnte sie nun an Nolten denken! Wie herzhaft prüfte ihre Liebe wieder die alte Freiheit ihrer Flügel! Wie ungewohnt erschien ihr alles, was in bezug auf ihn gesagt oder getan ward! Sprach jemand seinen Namen aus, so konnte sie den Namen mit seligem Befremden vor sich wiederholen und mit Entzücken rief sie ihn dann laut aus, so daß man sie kaum begreifen wollte. Kam ihr zufällig seine Handschrift vors Auge, so deuchten ihr die Züge wie sprechend, sie betrachtete sie mit einem völlig neuen Sinn – kurz, es schien, als sei er ihr erst heute geschenkt, als heiße sie jetzt zum ersten Male Noltens Braut.

Dieselbe unschuldige Trunkenheit atmete aus ihrem Briefe, den Larkens jetzt in der Hand hielt. Sie vermied soviel möglich jede Berührung jener störenden Ereignisse, und ihre Worte verrieten nicht die geringste Unruhe darüber, wie Theobald die Geschichte ihrer Krankheit aufnehmen werde, welche der Vater mit ihrem Vorwissen, jedoch ohne der Tochter sie lesen zu lassen, ihm aufrichtig mitteilte.

Mit Staunen und Rührung legte Larkens die Blätter auf den Tisch, nachdem er sie zwei – und dreimal mit der größten Sorgfalt durchgelesen hatte. Er hatte Mühe, sich die Fäden dieser unerhörten Verwirrung klarzumachen, sich zu sammeln und ein ruhiges Bild vom Ganzen zu gewinnen, um hierauf seine Entschließung zu fassen. An der getreuen Darstellung der Begebenheiten zweifelte er keinen Augenblick, alles trug zu sehr das Gepräge der inneren Wahrheit. Aber was ihn bei der Sache besonders nachdenklich machte, das war die Einmischung der Zigeunerin. Denn auf der Stelle war es wie ein Blitz in ihn geschlagen, daß er die Person kenne, daß ihm ihr sonderbarer Bezug zu Nolten nicht unbekannt sei. Nach dem sehr bestimmten Bilde, das er von ihrem Charakter hatte, befremdete ihn einigermaßen ihr falsches Spiel gegen Agnes, dennoch hatte er [85] guten Grund, sie deshalb keineswegs mit den gemeinen Betrügerinnen ihrer Nation zu verwechseln, ja ihn ergriff das tiefste Mitleid, wenn er bedachte, daß eben dieses unbegreifliche Wesen, das an Agnesens Verrückung Schuld war, selbst ein trauriges Opfer des Wahnsinns sei. So verhielt es sich wirklich und in diesen Zustand mischte sich eine Leidenschaft für Theobald, von deren wunderbarer Entstehung wir dem Leser in der Folge Rechenschaft geben werden. Die Unglückliche glaubte sich in Agnes von einer Nebenbuhlerin befreien zu müssen, und leider kam der Zufall, wie wir gesehen haben, ihrer Absicht gar sehr zu Hülfe. Ihre List mochte übrigens leicht von der Art sein, wie sie sich bei Verrückten häufig mit der höchsten Gutmütigkeit gepaart findet, und Larkens entschuldigte sie um so mehr, da er Elisabeth (so hieß das Mädchen) immer von einer äußerst arglosen, ja kindlichen Seite kennengelernt hatte. Wieviel eigentliche Lüge und wieviel Selbstbetrug an jener verhängnisvollen Prophezeiung Anteil gehabt, wäre daher nicht wohl zu entscheiden, nur wird es jetzt um so begreiflicher, daß die Erscheinung und der ganze Ausdruck der Prophetin eine so gewaltsame und hinreißende Wirkung auf das kränklich reizbare Gemüt Agnesens machen konnte.

Einige Augenblicke war der Schauspieler entschlossen, sogleich mit dem ganzen Paket zu seinem Freunde zu eilen. Aber die Sache näher betrachtet verbot solches die Klugheit. Nolten wäre im gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer unbefangenen Ansicht der Dinge nicht fähig gewesen und es war zu befürchten, daß ihm die Oberzeugung von der Tadellosigkeit des Mädchens jetzt eben nicht willkommen wäre, daß er, von zweien Seiten aufs äußerste gedrängt, an einen Abgrund widersprechender Leidenschaften gezerrt, nichts übrig hätte, als an allem zu verzweifeln. Larkens sah dies deutlich ein, und stand wirklich eine Zeitlang ratlos, was zu tun sei. »Ich muß auf einen Kapitalstreich sinnen«, rief er aus, »das Zögern wird mir gefährlich, es ist Zeit, daß man dem Teufel ein Bein breche!«

Vor allem wollte er suchen, es gelte was es wolle, einen Bruch mit der Gräfin vorzubereiten. Aus einzelnen Spuren hatte er neuerdings von der Neigung Noltens doch ernstlichere Begriffe bekommen, und er fing an, mehr und mehr an der Offenheit seines Freundes in diesem Punkte zu zweifeln, wie denn auch wirklich der Vorfall im Parke bisher ganz und gar ein Geheimnis für Larkens geblieben war. Für jetzt dachte dieser[86] nur auf schleunige Beruhigung des Mädchens durch einen abermaligen Brief, den er auch sogleich, und mit ungewöhnlicher Wärme und Heiterkeit des Ausdrucks, niederschrieb.


Es gingen, bis Nolten wieder eine Einladung zu Zarlins erhielt, zwei volle Wochen auf, und wenn diese lange Zwischenzeit unserem Freunde desto unausstehlicher vorkam, je bedeutender seine gegenwärtige Stellung zu Constanzen war, so stand er nun doch betroffen und unentschieden, ob Furcht oder Freude mächtiger in ihm sei. Aber als er sich nun an dem bestimmten Abende mit Larkens wieder in jenen geliebten Wänden, in jener edlen Umgebung fühlte, als die Gräfin nun die Versammlung bewillkommte und auch ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, wie man sie sonst kaum an ihr wahrnahm, da schien sich um ihn und über sein ganzes Dasein ein Lichtglanz herzugießen, in welchem sich alle Vergangenheit und Zukunft seines Lebens wie durch Magie verklärte: und doch war es nur die Sorglosigkeit ihrer Miene, es war die edle Freiheit ihres Benehmens, was ihn so tief erquickte, und was ihm, auch abgesehen von jeder andern Vorbedeutung, die uneigennützigste Rührung hätte abgewinnen müssen, indem es ihm die Wiederherstellung des schönen Friedens ihrer Seele verbürgte, welchen gestört zu haben er sich zum Verbrechen rechnete.

Von ähnlicher Munterkeit wurde denn auch die übrige Gesellschaft belebt, und die letzte beengende Rücksicht bei Nolten fiel vollends weg mit der Nachricht, Herzog Adolph werde heute nicht gegenwärtig sein.

Herren und Damen saßen bereits in bunter Ordnung, als die Gräfin sich mit den Worten an Larkens wandte: »Sie sagten ja von etwas ganz Besonderem, das Sie uns diesmal zum besten geben wollten, machen Sie doch die Gesellschaft mit Ihrem Vorhaben bekannt, ich zweifle nicht, wir dürfen uns etwas recht Hübsches, zum mindesten etwas Ungewöhnliches versprechen.«

»Es liegt«, antwortete Larkens mit guter Laune, »in diesem Komplimente etwas so verzweifelt Bedingtes, daß ich nun erst schüchtern werde, mit meinem Schatz hervorzutreten. Wirklich, es ist immer gewagt, wenn ein einzelner oder wenn zwei Mitglieder eines gebildeten Kreises die Unterhaltung ausschließlich über sich nehmen wollen, und obendrein ist mein Gegenstand von der Beschaffenheit, daß ihm ein allgemeines Interesse sehr schwerlich zukommen möchte, wenigstens insoweit ich dabei [87] betätigt bin. Aber was mich tröstet, ist einzig die Unterstützung durch meinen Freund Nolten, der Ihnen bei dieser Gelegenheit ein ganz neues Genre seiner Kunst vorführen wird.«

»Ich meines Teils«, erwiderte der Maler, »muß die Gesellschaft untertänigst bitten, auf diese Bedingung hin von ihren Forderungen an Larkens nicht nagelsgroß nachzulassen, da mein Beitrag als bloße Verzierung und Erläuterung der Hauptsache an und für sich nicht in Betracht kommen kann.« –

»Kurz, meine Gnädigsten«, fiel der Schauspieler ihm ins Wort »was wir Ihnen diesmal zeigen, ist nichts anderes, als ein Schattenspiel.«

»Ein Schattenspiel!« riefen die Damen in die Hände klatschend, »ach, das ist ja ganz unvergleichlich! wirklich ein ordentliches, chinesisches werden wir sehen?«

»Allerdings«, sagte der Graf, »und zwar ein ganz neu eingerichtetes, wozu Herr Nolten die Bilder auf Glas gemalt, und dieser Herr, der als Dichter noch allzuwenig von sich hören ließ, den Text geliefert hat. Soviel ich weiß, besteht der letztere durchaus in einer dramatisierten Fabel, rein von der Erfindung des Herrn Larkens.«

»Diese Fabel«, bemerkte der Schauspieler, »und der Ort, wo sie vorgeht, ist freilich närrisch genug, und es bedarf einer kleinen Vorerinnerung, wenn man den Poeten nicht über alle Häuser wegwerfen soll.

Ich hatte in der Zeit, da ich noch auf der Schule studierte einen Freund, dessen Denkart und ästhetisches Bestreben mit dem meinigen Hand in Hand ging; wir trieben in den Freistunden unser Wesen miteinander, wir bildeten uns bald eine eigene Sphäre von Poesie, und noch jetzt kann ich nur mit Rührung daran zurückdenken. Was man auch zu dem Nachfolgenden sagen mag, ich bekenne gern, damals die schönste Zeit meines Lebens genossen zu haben. Lebendig, ernst und wahrhaft stehen sie noch alle vor meinem Geiste, die Gestalten unserer Einbildung, und wem ich nur einen Strahl der dichterischen Sonne, die uns damals erwärmte, so recht gülden, wie sie war, in die Seele spielen könnte, der würde mir wenigstens ein heiteres Wohlgefallen nicht versagen, er würde selbst dem reiferen Manne es verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang in die duftige Landschaft jener Poesie machte und sogar ein Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine mitbrachte Doch zur Sache. Wir erfanden für unsere Dichtung [88] einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verschiedene Stämme, Grenzen und Charakterabstufungen geteilt, aber mit so ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt haben soll. Die Insel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man sich in dem Stillen Ozean zwischen Neuseeland und Südamerika. Orplid hieß vorzugsweise die Stadt des bedeutendsten Königreichs: sie soll von göttlicher Gründung gewesen sein und die Göttin Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands den Namen hatte, war ihre besondere Beschützerin. Stückweise und nach den wichtigsten Zeiträumen erzählten wir uns die Geschichte dieser Völker. An merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht. Unsere Götterlehre streifte hie und da an die griechische, behielt aber im ganzen ihr Eigentümliches; auch die untergeordnete Welt von Elfen, Feen und Kobolden war nicht ausgeschlossen.

Orplid, einst der Augapfel der Himmlischen, mußte endlich ihrem Zorne erliegen, als die alte Einfalt nach und nach einer verderblichen Verfeinerung der Denkweise und der Sitten zu weichen begann. Ein schreckliches Verhängnis raffte die lebende Menschheit dahin, selbst ihre Wohnungen sanken, nur das Lieblingskind Weylas, nämlich Burg und Stadt Orplid, durfte, obgleich ausgestorben und öde, als ein traurig schönes Denkmal vergangener Hoheit stehen bleiben. Die Götter wandten sich auf ewig ab von diesem Schauplatz, kaum daß jene erhabene Herrscherin zuweilen ihm noch einen Blick vergönnte, und auch diesen nur um eines einzigen Sterblichen willen, der, einem höheren Willen zufolge, die allgemeine Zerstörung weit überleben sollte.

Neuerer Zeiten, immerhin nach einem Zwischenraum von beinahe tausend Jahren, geschah es, daß eine Anzahl europäischer Leute, meist aus der niedern Volksklasse, durch Zufall die Insel entdeckte und sich darauf ansiedelte. Wir Freunde durchstöberten mit ihnen die herrlichen Reste des Altertums, ein gelehrter Archäologe, ein Engländer, mit Namen Harry, war zum Glück auf dem Schiffe mitgekommen, seine kleine Bibliothek und sonst Materialien verschiedenen Gebrauchs waren gerettet worden; Nahrung aller Art zollte die Natur im Überfluß, die neue Kolonie gestaltete sich mit jedem Tage besser und bereits blüht eine zweite Generation in dem Zeitpunkte, wo unser heutiges Schauspiel sich eröffnet.

[89] Was nun diese dramatische, oder vielmehr sehr undramatische Kleinigkeit betrifft, so sind meine Wünsche erfüllt, wenn die verehrten Zuschauer sich mit einiger Teilnahme in die geistige Temperatur meiner Insel sollten finden können, wenn sie für die willkürliche Ökonomie meines Stückes einen freundschaftlichen Maßstab mitbringen und sich mehr nur an den Charakter, an das Pathologische der Sache halten. Das ganze Ding machte sich, ich weiß nicht wie, vor kurzem erst, nachdem mir seit langer Zeit wieder einmal eines Abends die alten Erinnerungen in den Ohren summten. Eine längst gehegte tragische Lieblingsvorstellung drang sich vorzüglich in dem Charakter des letzten Königs von Orplid auf; dagegen gab es Veranlassung, zwei moderne, aus dem Leben gegriffene Nebenfiguren lustig einzuflechten, wovon die eine in der Laufbahn meines Freundes Nolten dergestalt Epoche gemacht, daß diese Person – und sie soll ja neuerdings wieder in unserer Stadt spuken – sogar einigen der Anwesenden als eine nicht ganz unbekannte Fratze wiederbegegnen wird.«

Hier steckten sich einige begierige Köpfe zusammen, und als es hieß, daß jener diebische Bediente Noltens im Schattenspiel seine Aufwartung machen werde, verlautete allgemein ein herzliches Vergnügen; man machte sich überhaupt auf eine ergötzliche Unterhaltung gefaßt, nur Tillsen fühlte sich im stillen durch jene komische Berührung verletzt, wiewohl niemand an etwas Beleidigendes dachte.

»In einem andern Subjekt«, fuhr der Schauspieler fort, »in dem Kameraden des vorigen zeig ich Ihnen meinen eigenen ehmaligen Sancho; es machte mir Freude, diese beiden Tröpfe einmal treulich zu kopieren, Nolten verfehlte keinen Zug, und die Gesellschaft muß uns schon vergeben, wenn wir sie auf einen Augenblick in das Dachstübchen dieser Schmutzbärte zu schauen zwingen.«

Indessen hatte Larkens den erforderlichen Apparat aus seinem Hause holen lassen; der Diener brachte ein braunes Kästchen, worin das Zaubergeräte verschlossen war; zugleich zog der Schauspieler ein Manuskript hervor, blätterte und sagte: »In Absicht auf die Art und Weise, wie die Tableaux den Text begleiten, versteht sich von selbst, daß der Schauplatz zuweilen, wiewohl nur selten, leer bleiben wird, daß für den Maler nicht jede Szene gleich brauchbar sein konnte, daß er von einer Szene meist nur einen Moment, eine hervorstechende Gruppe darstellen [90] konnte, daß jedoch so viel Varietät als nur immer möglich in die Bilder gebracht wurde. Nun hab ich nur noch eine Bitte, den Vortrag des Dialogs betreffend. Ich werde zwar sämtliche männliche Personen aus meinem Munde mit abwechselnder Stimme unter sich sprechen lassen, für die weiblichen aber und für die Kinderkehlen sollte mir doch eins und das andre der Fräulein zur Seite stehen und mit mir aus der Rolle lesen. Welche von den Damen würde wohl die Gefälligkeit haben? Sie, Fräulein von R. und von G. erfreuten uns schon auf dem Liebhabertheater, an Sie richt ich meine Bitte im Namen aller.«

Die Schönen mußten sich's gefallen lassen, sie traten mit dem dargereichten Hefte beiseit, es vorläufig zu durchsehen, während Larkens sich von der Gräfin einen geheizten Saal mit weißen Wänden ausbat und seine Einrichtung traf.

Nach kurzer Zeit ertönte sein Glöckchen, das die Gesellschaft hinüber lud in den verdunkelten Saal. Hinter einer spanischen Wand, die nach einer Seite offen war, befanden sich Larkens und seine Gehülfinnen neben der magischen Laterne, welche inzwischen nur einen runden hellen Schein an die Zimmerdecke warf. Man nahm im Halbkreise Platz, und Nolten hatte sich so gesetzt, daß er Constanzen ins Auge fassen konnte.

Nachdem alles stille geworden, begann hinter der Gardine eine einleitende Symphonie auf dem Klavier von einem Mitgliede der Gesellschaft gespielt und von Larkens mit dem Violoncello begleitet. Unter den letzten Akkorden erschien an der breitesten, völlig freien Wandseite des Saales in bedeutender Größe die Ansicht einer fremdartigen Stadt und Burg, im Mondschein, vom See bespült, links im Vorgrund drei sitzende Personen und der Dialog nahm seinen Anfang.

Wir bedenken uns nicht, den Leser an dem Spiele teilnehmen zu lassen, da es nachher in den Gang unserer Geschichte einschlägt und die wichtigsten Folgen hat. Zugleich mag es einen lebhaften Begriff von dem inneren Leben jenes Schauspielers geben, welcher bereits unsere Aufmerksamkeit erregte und noch mehr künftig unsere Teilnahme gewinnen wird.

[91]

Der letzte König von Orplid

Ein phantasmagorisches Zwischenspiel

Erste Szene

Anblick der Stadt Orplid mit dem Schlosse; vorn noch ein Teil vom See. Es wird eben Nacht. Drei Einwohner sitzen vor einem Haus der unteren Stadt auf einer Bank im Gespräch. Suntrard, der Fischer, mit seinem Knaben, und Löwener, der Schmied.


SUNTRARD. Lasset uns hieher sitzen, so werden wir nach einer kleinen Weile den Mond dort zwischen den zwei Dächern heraufkommen sehen.

KNABE. Vater, haben denn vor alters in all den vielen Häusern dort hinauf auch Menschen gewohnt?

SUNTRARD. Jawohl. Als unsere Väter, vom Meersturm verschlagen, vor sechzig Jahren zufälligerweise an dem Ufer dieser Insel, was das Einhorn heißt, anlangten, und tiefer landeinwärts dringend sich rings umschauten, da trafen sie nur eine leere steinerne Stadt an; das Volk und das Menschengeschlecht, welches diese Wohnungen und Keller für sich gebauet, ist wohl schon bald tausend Jahr ausgestorben, durch ein besonderes Gerichte der Götter, meint man, denn weder Hungersnot noch allzu schwere Krankheit entsteht auf dieser Insel.

LÖWENER. Tausend Jahr, sagst du, Suntrard? Gedenk ich so an diese alten Einwohner, so wird mir's, mein Seel, nicht anders, als wie wenn man das Klingen kriegt im linken Ohr.

SUNTRARD. Mein Vater erzählt, wie er, ein Knabe damals noch, mit wenigen Leuten, fünfundsiebzig an der Zahl, auf einem zerbrochenen Schiffe angelangt, und wie er sich mit den Genossen verwunderte über eine solche Schönheit von Gebirgen, Tälern, Flüssen und Wachstum, wie sie darauf fünf, sechs Tage herumgezogen, bis von ferne sich auf einem blanken, spiegelklaren See etwas Dunkeles gezeigt, welches etwan ausgesehen, wie ein steinernes Wundergewächs, oder auch wie die Krone der grauen Zackenblume. Als sie aber mit zweien Kähnen darauf zugefahren, war es eine felsige Stadt von fremder und großer Bauart.

KNABE. Eine Stadt, Vater?

[92] SUNTRARD. Wie fragst du, Kind? Ebendiese, in der du wohnest. – Des erschraken sie nicht wenig, vermeinend, man käme übel an; lagen auch die ganze Nacht, wo es in einem fort regnete, vor den Mauern ruhig, denn sie getrauten sich nicht. Nun es aber gegen Morgen dämmerte, kam sie beinahe noch ein ärger Grauen an; es kräheten keine Hähne, kein Wagen ließ sich hören, kein Bäcker schlug den Laden auf, es stieg kein Rauch aus dem Schornstein. Es brauchte dazumal jemand das Gleichnis, der Himmel habe über der Stadt gelegen, wie eine graue Augbraun über einem erstarrten und toten Auge. Endlich traten sie alle durch die Wölbung der offenen Tore; man vernahm keinen Sterbenslaut als den des eigenen Fußtritts und den Regen, der von den Dächern niederstrollte, obgleich nunmehr die Sonne schon hell und goldig in den Straßen lag. Nichts regte sich auch im Innern der Häuser.

KNABE. Nicht einmal Mäuse?

SUNTRARD. Nun, Mäuse wohl vielleicht, mein Kind. Er küßt den Knaben.

LÖWENER. Ja, aber Nachbar, ich bin zwar, wie du, geboren hier und groß geworden, allein es wird einem doch alleweil noch sonderlich zumut, wenn man so des Nachts noch durch eine von den leeren Gassen geht und es tut, als klopfte man an hohle Fässer an.

KNABE. Aber warum doch wohnen wir neuen Leute fast alle wie ein Häuflein so am Ende der Stadt und nicht oben in den weitläuftigen schönen Gebäuden?

SUNTRARD. Weiß selber nicht so recht; ist so herkommen von unsern Eltern. Auch wäre dort nicht so vertraut zusammennisten.

LÖWENER. Wo wir wohnen, das heißt die untere Stadt, hier waren vor alters wahrscheinlich die Buden der Krämer und Handwerker. Die ganze Stadt aber beträgt wohl sechs Stunden im Ring.

SUNTRARD. Wenn der Mond vollends oben ist, laßt uns noch eine Strecke aufwärts gehen, bis wo die Sonnenkeile 1 ist. Nachbar, als ein kleiner Junge, wenn wir Buben noch abends spät durch die unheimlichen Plätze streiften bis zur Sonnenkeile, [93] so trieb und plagte mich's immer, den Stein mit dem Finger zu berühren, weil ein Glauben in mir war, daß er den warmen Strahl der Sonne angeschluckt, wie ein Schwamm, und Funken fahren lasse, welches im Mondschein so wunderlich aussehen müsse.

LÖWENER. Hört, was weiß man denn auch neuerdings von dem Königsgespenst, das an der Nordküste umgeht?

SUNTRARD. Kein Gespenst! wie ich dir schon oft versicherte. Es ist der tausendjährige König, welcher dieser Insel einst Gesetze gab. Der Tod ging ihn vorbei; man sagt, die Götter wollten ihn in dieser langen Probezeit und Einsamkeit geschickt machen, daß er nachher ihrer einer würde, wegen seiner sonstigen großen Tugend und Tapferkeit. Ich weiß das nicht; doch er ist Fleisch und Bein, wie wir.

LÖWENER. Glaub das nicht, Fischer.

SUNTRARD. Ich hab es sicher und gewiß, daß ihn der Kollmer, der Richter ist in Elnedorf, jeweilig insgeheim besucht; sonst sieht ihn kein sterblicher Mensch.

KNABE. Gelt, Vater, er trägt einen Mantel und trägt ein eisern spitzig Krönlein in den Haaren?

SUNTRARD. Ganz recht, und seine Locken sind noch braun, sie welken nicht.

LÖWENER. Laßt's gut sein! ist schon spät. Das Licht dort in der äußersten Ecke vom Schloß ist auch schon aus. Dort wohnt Herr Harry, der bleibt am längsten auf. Will noch eine Weile in die Schenke. Gut Nacht!

SUNTRARD. Schlaf wohl, Freund Löwener. Komm Knabe, gehen zur Mutter.

Zweite Szene

Öder Strand. Im Norden.

KOLLMER allein. Hier pflegt er umzugehn, dies ist der Strand.
Den er einförmig mit den Schritten mißt.
Mich wundert, wo er bleiben mag. Vielleicht
Trieb ihn sein irrer Sinn auf andre Pfade,
Denn oft konnt ich gewahren, daß sein Geist
Und Körper auf verschiedner Fährte gehn.
O wunderbar! mich jammert sein Geschick,
Denk ich daran, was doch kaum glaublich scheint,
[94] Daß die Natur in einem Sterblichen
Sich um Jahrhunderte selbst überlebt –
Wie? tausend Jahre? – tausend – ja nun wird mir
Zum ersten Male plötzlich angst und enge,
Als müßt ich's zählen auf der Stell, durchleben
In einem Atemzug – Hinweg! man wird zum Narren!
Hm, tausend Jahr; ein König einst! – o eine Zeit
So langsam, als man sagt, daß Steine wachsen.
Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft –
Gäb es für die Vernunft ein drittes noch,
So müßt er dort verweilen in Gedanken.
Sind's aber einmal tausend, ja, so können
Unzählige noch kommen; sagt man nicht
Daß auch ein Ball, geworfen über die Grenze
Der Luft, bis wo der Erde Atem nicht mehr hinreicht,
Nicht wieder rückwärts fallen könne, nein
Er müsse kreisen, ewig, wie ein Stern.
So, fürcht ich, ist es hier.
Auch spricht man von der Inselgöttin Weyla,
Daß sie ein Blümlein liebgewann von seltner
Und nie gesehner Art, ein einzig Wunder,
Dies schloß die Göttin in das klare Wasser
Des härtsten Diamants ein, daß es daure
Mit Farben und Gestalt; wahrhaftig nein,
Ich möchte so geliebt nicht sein von Weyla,
Doch diesem König hat sie's angetan.
Oft ahnte mir, er selber sei ein Gott,
So anmutsvoll ist sein verfinstert Antlitz;
Das ist sein größtes Unglück, darum ward,
Wie ich wohl deutlich merke, eine Fee
Von heißer Liebe gegen ihn entzündet,
Und er kann ihrem Dienste nicht entgehn,
Sie hat die Macht schon über ihn, daß er,
Sooft sich ihr Gedanke nach ihm sehnt,
Tag oder Nacht, und aus der fernsten Gegend,
Nach ihrem Wohnsitz plötzlich eilen muß.
Wenn dieser Ruf an ihn ergeht, so reißt
Der Faden seines jetzigen Gedankens
Auf einmal voneinander, ganz verändert
Erscheint sein Wesen, hellres Licht durchwittert
Des Geistes Nacht, der längst verschüttete Brunn
[95] Der rauhen und gedämpften Rede klingt
Mit einmal hell und sanft, sogar die Miene
Scheint jugendlicher, doch auch schmerzlicher:
Denn greulich ist verhaßter Liebe Qual.
Drum sinnt er sicherlich in schwerem Gram,
Wie er sich ledig mache dieser Pein;
Dahin auch deut ich jene Worte mir,
Die er einst fallenlassen gegen mich:
»Willst du mir dienstbar sein, so gehe hin
Zur Stadt, dort liegt in einem unerforschten Winkel
Ein längst verloren Buch von seltner Schrill,
Das ist geschrieben auf die breiten Blätter
Der Thranuspflanze, so man göttlich nennt,
Das suche du ohn Unterlaß, und bring es.«
Drauf lächelt' er mitleidig, gleich als hätt er
Unmögliches verlangt, und redete
Zeither auch weiter nicht davon. Nun aber
Kam mir zufällig jüngst etwas zu Ohren
Von ein paar schmutzigen, unwissenden Burschen,
Die hätten der Art einen alten Schatz
Bestäubt und ungebraucht im Hause liegen.
Vielleicht, es träfe sich; so will ich denn
Vom König nähere Bezeichnung hören;
Doch aber zweifl' ich, zweifle sehr – Horch! ja, dort kommt er
Den Hügel vor. O trauervoller Anblick!
Sein Gang ist müde. Horch, er spricht mit sich.
KÖNIG. O Meer! Du der Sonne
Grüner Palast mit goldenen Zinnen!
Wo hinab zu deiner kühlen Treppe?
KOLLMER. (Ob ich es wagen darf, ihn anzurufen?)
Mein teurer König!
KÖNIG. Wer warf meinen Schlüssel in die See?
KOLLMER. Mein hoher Herr, vergönnt –
KÖNIG ihn erblickend.
Was willst du hier? Wer bist du? Fort! Hinweg!
Fort! willst du nicht fort? Fluch auf dich!
KOLLMER. Kennst du mich nicht mehr? dem du manches Mal
Dein gnädig Antlitz zugewendet hast?
KÖNIG. Du bist's, ich kenne dich. So sag mir an,
Wovon die Rede zwischen uns gewesen
Das letztemal. Mein Kopf ist alt und krank.
[96] KOLLMER. Nach jenem Buche hießest du mich suchen.
KÖNIG. Wohl, wohl, mein Knecht. Doch suchet man umsonst,
Was Weyla hat verscharrt, die kluge Jungfrau,
Nicht wahr?
KOLLMER. Gewiß, wenn nicht ihr Finger selbst
Mich führt; wir aber hoffen das, mein König.
Für jetzt entdeck mir mehr vom heilgen Buche.
KÖNIG. Mehr noch, mein Knecht? das kann schon sein, kann sein,
Will mich bedenken; wart, ich weiß sehr gut –
– Wär vor der Stirn die Wolke nicht! merkst du?
Elend! Elend! hier, hier, merkst du? die Zeit
Hat mein Gehirn mit zäher Haut bezogen.
Manchmal doch hab ich gutes Licht...
KOLLMER. Ach Armer!
Laß, laß es nur, sei ruhig! Herr, was seh ich?
Was wirfst du deine Arme so gen Himmel,
Ballst ihm die Fäust ins Angesicht? Mir graut.
KÖNIG. Ha! mein Gebet! meine Morgenandacht! Was?
Willst einen König lehren, er soll knien?
Seit hundert Jahren sind ihm wund die Kniee –
Was hundert –? o ich bin ein Kind! Komm her,
Und lehr mich zählen – Alte Finger! Pfui!
Auf, Sklave, auf! Ruf deine Brüder all!
Sag an, wie man der Götter Wohnung stürmt!
Sei mir was nütze, feiger Schurke du!
Die Hölle laß uns stürmen, und den Tod,
Das faule Scheusal, das die Zeit verschläft,
Herauf zur Erde zerren ans Geschäft!
Es leben noch viel Menschen; Narre du,
Mir ist es auch um dich! willst doch nicht ewig
Am schalen Lichte saugen?
KOLLMER. Weh! er raset.
KÖNIG. Still, still! Ich sinne was. Es tut nicht gut,
Daß man die Götter schmähe. Sag, mein Bursch,
Ist dir bekannt, was, wie die Weisen meinen,
Am meisten ist verhaßt den sel'gen Göttern?
KOLLMER. Lehr mich's, o König.
KÖNIG. Das verhüte Weyla,
Daß meine Zunge nennt was auch zu denken
Schon Fluch kann bringen. – Hast du wohl ein Schwert?
KOLLMER. Ich habe eins.
[97] KÖNIG. So schone deines Lebens,
Und laß uns allezeit die Götter fürchten! –
Was hülf es auch, zu trotzen? Das Geschick
Liegt festgebunden in der Weissagung,
So deins wie meines. Nun – wohlan, wie lautet
Der alte Götterspruch? ein Priester sang
Ihn an der Wiege mir, und drauf am Tag
Der Krönung wieder.
KOLLMER. Gleich sollst du ihn hören;
Du selber hast ihn neulich mir vertraut.

Ein Mensch lebt seiner Jahre Zahl:
Ulmon allein wird sehen
Den Sommer kommen und gehen
Zehnhundertmal.
Einst eine schwarze Weide blüht,
Ein Kindlein muß sie fällen,
Dann rauschen die Todeswellen,
Drin Ulmons Herz verglüht.
Auf Weylas Mondenstrahl
Sich Ulmon soll erheben,
Sein Götterleib dann schweben
Zum blauen Saal.

KÖNIG. Du sagst es recht, mein Mann; ein süßer Spruch!
Mich dünkt, die wen'gen Worte sättigen rings
Die irdische Luft mit Weylas Veilchenhauch.
KOLLMER. Ergründest du der Worte Sinn, o Herr?
KÖNIG. Ein König, ist er nicht ein Priester auch?
Still, meine heil'ge Seele kräuselt sich,
Dem Meere gleich, bevor der Sturm erscheint,
Und wie ein Seher möcht ich Wunder künden,
So rege wird der Geist in mir.
– Freilich, zu trüb, zu trüb ist noch mein Aug –
Ha, Sklave, schaff das Buch! mein lieber Sklave!
KOLLMER. Beschreib es mir erst besser.
KÖNIG. Nur Geduld.
Ich sah es nie und kein gemeiner Mensch.
Von Priesterhand verzeichnet steht darin,
[98] Was Götter einst Geweihten offenbarten,
Zukünftger Dinge Wachstum und Verknüpfung;
Auch wie der Knoten meines armen Daseins
Dereinst entwirrt soll werden, deutet es.
(Laß mich vollenden, weil die Rede fließt –)
Im Tempel Nidru-Haddin hütete
Die weise Schlange solches Heiligtum,
Bis daß die große Zeit erfüllet war,
Und alle Menschen starben; sieh, da nahm
Die Göttin jenes Buch, und trug es weg
An andern Ort, wer wollte den erkunden?
Auch meinen Schlüssel nahmen sie hinweg,
Die Himmlischen, und warfen ihn ins Meer.
KOLLMER. Herr, welchen Schlüssel?
KÖNIG. Der zum Grabe führt
Der Könige.
KOLLMER. Was zitterst du? erbleichst?
KÖNIG. Die Zaubrin lockt – Thereile reißt an mir –
Leb wohl! Ich muß –

Beide nach verschiedenen Seiten ab.

Dritte Szene

Nacht.

Ein offener, grüner Platz an einem sanften Waldabhang beim Schmettenberg, ohnweit des Flusses Weyla.

Thereile, eine junge Feenfürstin. Kleine Feen um sie her. König an der Seite, mehr im Vorgrund.


THEREILE. Seid ihr alle da?
MORRY. Zähl nur, Schwester, ja!
THEREILE. Ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.
Silpelitt ist ausgeblieben!
Hat doch stets besondre Nester!
Nun, so sucht, ihr faulen Dinger,
Steckt euch Lichtlein an die Finger!

Kinder eilen davon.


MORRY die heimlich zurückbleibt, leise.
Weithe!
WEITHE. Was?
[99] MORRY. Siehst du nicht dort
Ihren Buhlen bei der Schwester?
Darum schickt sie uns nun fort,
Dieses hat was zu bedeuten.
WEITHE. Ei, sie mag ihn gar nicht leiden.
MORRY. Bleibe doch! und laß uns lauschen,
Wie sie wieder Küsse tauschen.
Guck, wie spröd sie tut zum Scheine,
Trutzig ihre Zöpfe flicht!
Sie nur immer ist die Feine,
Unsereins besieht man nicht.
WEITHE. Aber wir sind auch noch kleine.
MORRY. Nun, so sag, ist dieses Paar
Nicht so dumm wie eines war?
Darf sich süße Feenbrut
Einem Sterblichen wohl gatten?
Beide zwar sind Fleisch und Blut
Doch die Braut wirft keinen Schatten.
WEITHE. Ja, das ist doch unanständig.
MORRY. Aber stets war sie unbändig.
WEITHE. Morry, laß uns lieber fort!
Mir wird angst an diesem Ort
MORRY. Wie sich wohl dies Spiel noch endet!
Beide stehen abgewendet;
Wahrlich, wie im tiefsten Schlummer
Steht der König, unbeweglich.
WEITHE. Ach, wie traurig scheint der Mann!
Liebe Schwester, ist's nur möglich,
Daß man so betrübt sein kann?
MORRY. Seine Stirne, voller Kummer,
Seine Arme sind gesenkt!
WEITHE. Was nur unsre Schwester denkt!
MORRY. Wär er mir wie ihr so gut,
Ich ließ mich küssen wohlgemut.
WEITHE. Bitte, komm und laß uns gehn!
Wollen nach dem Walde sehn,
Ob die holden Nachtigallen
Bald in unsre Netze fallen. Beide ab.
[100]

Vierte Szene

König und Thereile allein.

KÖNIG für sich.
Still, sachte nur, mein Geist; gib dich zur Ruhe!
Lagst mir so lang in ungestörter Dumpfheit,
Hinträumend allgemach ins Nichts dahin,
Was weckt dich wieder aus so gutem Schlummer?
Lieg stille nur ein Weilchen noch!
Umsonst! umsonst! es schwingt das alte Rad
Der glühenden Gedanken unerbittlich
Sich vor dem armen Haupte mir!
Will das nicht enden? mußt du staunend immer
Aufs neue dich erkennen? mußt dich fragen,
Was leb ich noch? was bin ich? und was war
Vor dieser Zeit mit mir? – Ein König einst,
Ulmon mein Name; Orplid hieß die Insel;
Wohl, wohl, mein Geist, das hast du schlau behalten;
Und doch mißtrau ich dir; Ulmon – Orplid –
Ich kenne diese Worte kaum, ich staune
Dem Klange dieser Worte – Unergründlich
Klafft's da hinab – O wehe, schwindle nicht!
Ein Fürst war ich? So sei getrost und glaub es.
Die edle Kraft der Rückerinnerung
Ermattete nur in dem tiefen Sand
Des langen Weges, den ich hab durchmessen;
Kaum daß manchmal durch seltne Wolkenrisse
Ein flüchtges Blitzen mir den alten Schauplatz
Versunkner Tage wundersam erleuchtet.
Dann seh ich auf dem Throne einen Mann
Von meinem Ansehn, doch er ist mir fremd,
Ein glänzend Weib bei ihm, es ist mein Weib.
Halt an, o mein Gedächtnis, halt ein wenig!
Es tut mir wohl, das schöne Bild begleitet
Den König durch die Stadt und zu den Schiffen.
Ja, ja, so war's; doch jetzt wird wieder Nacht. –
Seltsam! durch diese schwanken Luftgestalten
Winkt stets der Turm von einem alten Schlosse,
Ganz so, wie jener, der sich wirklich dort
Gen Himmel hebt. – – Vielleicht ist alles Trug
[101] Und Einbildung und ich bin selber Schein.
Er sinkt in Nachdenken; blickt dann wieder auf.

Horch! auf der Erde feuchtem Bauch gelegen
Arbeitet schwer die Nacht der Dämmerung entgegen,
Indessen dort, in blauer Luft gezogen,
Die Fäden leicht, kaum hörbar fließen,
Und hin und wieder mit gestähltem Bogen
Die lustgen Sterne goldne Pfeile schießen.
THEREILE noch immer in einiger Entfernung.
Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift,
Und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft!
Da noch der freche Tag verstummt,
Hört man der Erdenkräfte flüsterndes Gedränge,
Das aufwärts in die zärtlichen Gesänge
Der reingestimmten Lüfte summt.
KÖNIG. Vernehm ich doch die wunderbarsten Stimmen
Vom lauen Wind wollüstig hingeschleift,
Indes mit ungewissem Licht gestreift
Der Himmel selber scheinet hinzuschwimmen.
THEREILE. Wie ein Gewebe zuckt die Luft manchmal,
Durchsichtiger und heller aufzuwehen,
Dazwischen hört man weiche Töne gehen
Von sel'gen Elfen, die im blauen Saal
Zum Sphärenklang,
Und fleißig mit Gesang,
Silberne Spindeln hin und wieder drehen.
KÖNIG. O holde Nacht, du gehst mit leisem Tritt
Auf schwarzem Samt, der nur am Tage grünet,
Und luftig schwirrender Musik bedienet
Sich nun dein Fuß zum leichten Schritt,
Womit du Stund um Stunde missest,
Dich lieblich in dir selbst vergissest –
Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit!

Thereile legt sich auf einen Rasen,
das Auge sehnsüchtig nach dem Könige gerichtet.
Er fährt fort, mit sich selbst zu reden.

Im Schoß der Erd, im Hain und auf der Flur
Wie wühlt es jetzo rings in der Natur
Von nimmersatter Kräfte Gärung!
Und welche Ruhe doch, und welch ein Wohlbedacht!
Dadurch in unsrer eignen Brust erwacht
Ein gleiches Widerspiel von Fülle und Entbehrung.
[102] In meiner Brust, die kämpft und ruht,
Welch eine Ebbe, welche Flut!
Pause.

Almissa – –! Wie? Wer flüstert mir den Namen,
Den langvergeßnen, zu?
Hieß nicht mein Weib
Almissa? Warum kommt mir's jetzt in Sinn?
Die heilge Nacht, gebückt auf ihre Harfe,
Stieß träumend mit dem
Finger an die Saiten,
Da gab es diesen Ton.
Vielleicht genoß ich
In solcher Stunde einst der Liebe Glück – –

Langes Schweigen.
Aufschauend endlich gewahrt er Thereilen,
die sich ihm liebevoll genähert hat.

Ha! bin ich noch hier? Stehst du immer da?
So tief versank ich in die stummen Täler,
Die mir Erinnrung grub in mein Gehirn,
Daß mir jetzt ist, ich säh zum erstenmal
Dich, die verhafte Zeugin meiner Qual.
O warf ein Gott mich aus der Menschheit Schranken,
Damit mich deine fluchenswerte Gunst
Gefesselt hält in seligem Erkranken,
Mich sättigend mit schwülem Zauberdunst,
Mir zeigend aller Liebesreize Kunst,
Indes du dich in stillem Gram verzehrst
Um den Genuß, den du dir selbst verwehrst?
Denn dieser Leib, trotz deinen Mitteln allen,
Ist noch dem Blut, das ihn gezeugt, verfallen;
Umsonst, daß ich den deinen an mich drücke,
Vergebens diese durstig schöne Brust,
So bleiben unsre Küsse, unsre Blicke
Fruchtlose Boten unbegrenzter Lust!
Für sich.

Weh! muß ich eitle Liebesklage heucheln,
Mir Mitleid und Erlösung zu erschmeicheln? –
Darum, unsterblich Weib, ich bitte sehr,
Verkenne dich und mich nicht länger mehr!
Verbanne mich aus deinem Angesicht,
So endigst du dies jammervolle Schwanken,
Mein unwert Bildnis trage länger nicht
Im goldnen Netze liebender Gedanken!
THEREILE. Ganz recht! was ungleich ist, wer kann es paaren?
Wann wäre Hochzeit zwischen Hund und Katze?
[103] Und doch, sie sind sich gleich bis auf die Tatze.
Wie soll, obwohl er Flossen hat, der Pfeil
Alsbald, dem Fische gleich, den See befahren?
Hat ja ein jedes Ding sein zugemessen Teil;
Doch weiß ich nichts, das wie des Menschen Mund
So viel verschiedne Dienste je bestund.
Ei, der kann alles trennen und vereinen,
Kann essen, küssen, lachen oder weinen,
Nicht selten spricht er, wenn er küssen soll;
Muß aber einmal doch gesprochen sein,
So ist es Wahrheit, sollt ich meinen,
Schön Dank! da ist er aller Lügen voll.
Denn sieh, mit welcher Stirn wirfst du mir ein,
Wir glichen uns nur halb, und nur zum Schein?
Kann der von Bitter sagen oder Süß
Den ich den Rand noch nicht des Bechers kosten ließ?
Still, still! ich will nichts hören, nicht ein Wort!
So wenig lohnt es sich mit dir zu rechten,
Als wollt ich einem Bären Zöpfe flechten.
Tu, was du magst. Geh, trolle dich nur fort!
Ich bin des Schnickeschnackens müde.
KÖNIG. Ist es dein Ernst?
THEREILE. Ernst? o behüte!
Jetzt überfällt mich erst die wahre Lust,
Dir zum Verdruß dich recht zu lieben.
Komm, laß uns tanzen! Komm, mein Freund, du mußt!
Sie fängt an zu tanzen.

KÖNIG für sich. Wie haß ich sie! und doch, wie schön ist sie!
Hinweg! mir wird auf einmal angst und bange
Bei dieser kleinen golden-grünen Schlange.
Von ihren roten Lippen träuft
Ein Lächeln, wie drei Tropfen süßes Gift,
Das in dem Kuß mit halbem Tode trifft.
Ha! wie sie Kreise zieht, Anmut auf Anmut häuft!
Doch stößt's mich ab von ihr, ich weiß nicht wie.
Es ruft etwas entfernt: »Thereile! Ach Thereile!«

KÖNIG. Horch!
THEREILE. Die Kinder kommen: welch Geschrei!
[104]

Fünfte Szene

Die Vorigen und die Kinder mit Silpelitt.


THEREILE. Was habt ihr denn? was ist geschehn? sprich, Malwy! Talpe, oder du!

MALWY. Ach Schwester!

THEREILE. Nun! Der Atem steht euch still. Wo habt ihr Silpelitt?

SILPELITT hervortretend. Hie bin ich.

MALWY. Als wir Silpelitt suchten, konnten wir sie gar nicht finden. Wir rannten wohl neun Elfenmeilen, darfst glauben, und stöberten in dem Schilf herum, wo sie zu sitzen pflegt, wenn sie sich verlaufen hat. Auf einmal an dem Fels, wo das Gras aus den mauligen Löchern wächst, steht Talpe still und sagt: »Hört ihr nicht Silpelitts Stimme, sie redet mit jemand und lacht.« Da löschten wir die Laternlein aus und liefen zu. Ach du mein! Thereile, da ist ein großer, grausam starker Mann gewesen, dem saß Silpelitt auf dem Stiefel und ließ sich schaukeln. Er lachte auch dazu, aber mit einem so tückischen Gesicht –

TALPE. Schwester, ich weiß wohl, das ist der Riese, er heißt der sichere Mann.

THEREILE. Über das verwegene, ungeratene Kind! Warte nur, du böses, duckmäuseriges Ding! Weißt du nicht, daß dieses Ungeheuer die Kinder alle umbringt?

TALPE. Bewahre, er spielt nur mit ihnen, er knetet sie unter seiner Sohle auf dem Boden herum und lacht und grunzt so artig dabei und schmunzelt so gütig.

THEREILE zum König. Mir tötete er einst den schönsten Elfen durch diese heillose Beschäftigung. Er ist ein wahrer Sumpf an Langerweile.

TALPE zu einem andern Kind. Gelt? ich und du wir haben ihn einmal belauscht, wie er bis über die Brust im Brulla-Sumpf gestanden, samt den Kleidern; da sang er so laut und brummelte dazwischen: ich bin eine Wasserorgel, ich bin die allerschönste Wassernachtigall!

THEREILE. Hast du dieses Ungetüm schon öfter besucht, Silpelitt? Ich will nicht hoffen.

SILPELITT. Er tut mir nichts zuleide.

KÖNIG für sich. Wer ist das Kind? Es gleicht den andern nicht.

[105] Mit sonderbarem Anstand trägt es sich,
Und ernsthaft ist sein Blick. Nein, dieses ist
Kein Feenkind, vielleicht die Fürstin hat
Es grausam aus der Wiege einst entführt.

Man hört in der Ferne eine gewaltige Stimme.

Trallirra – a – aa – aü – ü –
Pfuldararaddada – –!

Die Anwesenden erschrecken heftig.
Die Kinder hängen sich schreiend an Thereile.

THEREILE. Seid stille! seid doch ruhig! Er kommt gar nicht daher, es geht gar nicht auf uns. Zum König: Es ist die Stimme dessen, von dem wir vorhin sprachen.

KÖNIG. Horch!

THEREILE. Horcht! ...

KÖNIG. Dies ist der Widerhall davon; das Echo, das durch die Krümmen des Bergs herumläuft.

THEREILE. Habt gute Ruhe, Kinder. Jetzt muß er schon um die Ecke des Gebirges gewendet haben.

Nun auf und fort ihr närrischen Dinger alle!
Und sammelt tausend wilde Rosen ein;
In jeder soll mit grünem Dämmerschein
Ein Glühwurm, wie ein Licht, gebettet sein,
Und damit schmückt, noch eh der Morgen wach,
Mein unterirdisch Schlafgemach
Im kühlen Bergkristalle!

Die Kinder hüpfen davon.

Thereile wendet sich wieder an den König.


Du bist heut nicht gelaunt zum Tanz,
Den alten Trotzkopf seh ich wieder ganz.
Was möcht ich doch nicht alles tun,
Dir nur die kleinste Freude zu bereiten!
Laß uns in sanfter Wechselrede ruhn,
Zwei Kähnen gleich, die aneinander gleiten.
Sieh, wie die Weide ihre grünen Locken
Tief in die feuchte Nacht der Wasser hängt,
Indessen dort der erste Morgenwind
Ihr ihre keuschen Blütenflocken
Mutwillig zu entführen schon beginnt.
KÖNIG. Und siehst du nicht dies hohe Feenkind,
Vom Atemzug der lauen Nacht beglückt,
[106] Nicht ahnend, welche schmeichelnde Gefahr
Auf ihre Tugend nah und näher rückt?
THEREILE. Du bist ein Schalk! Dies ist nicht wahr!
KÖNIG. Gestatte wenigstens, daß wir nun scheiden,
Und, möcht es sein, für immerdar;
Ich sehe keine Rettung sonst uns beiden,
Wenn nicht dein Herz, verbotner Liebe voll,
So wie das meine, ganz verzweifeln soll.
THEREILE. O Gimpel! ich muß lachen über dich.
Leb wohl für heute. Morgen siehst du mich.

Sie stößt ihn fort.

Sechste Szene

THEREILE allein; nach einer Pause, auffahrend.
O Lügner, Lügner! schau mir ins Gesicht!
Sprich frei und frech, du liebst Thereile nicht!
Dies nur zu denken zitterte mein Herz,
Und hinterlegte sich's mit kümmerlichem Scherz.
Nun steh mir, Rache, bei...! Doch dies ist so:
Von nun an wird Thereile nimmer froh.
Hätt ich den Hunger eines Tigers nur,
Dein falsches Blut auf einmal auszusaugen!
Ha, triumphiere nur, du Scheusal der Natur,
Ich sah es wohl – allein mit blinden Augen.
Doch, bleibt mir nicht die Macht, ihn festzuhalten?
Ist er gefesselt nicht durch ein geheimes Wort?
Ich bann ihn jeden Augenblick,
Wenn ich nur will, zu mir zurück.
So fliehe denn, ja stiehl dich immer fort,
Ich martre dich in tausend Spukgestalten!

Sie sinnt wieder nach.


Oft in der Miene seines Angesichts
Ahnt ich schon halb mein jetziges Verderben;
Ich hatte Wunden, doch sie taten nichts:
Da ich sie sehe, muß ich daran sterben!

Ab.

[107]

Siebente Szene

Wirtsstube in der Stadt Orplid. Kollmer aus Elne und einige Bürger sitzen an den Tischen umher, trinkend und schwatzend.


EIN WEBER. Hört, Kollmer! Ihr habt ja neulich wieder nach den beiden Lumpenhunden gefragt, von denen ich Euch sagte, daß sie gern die alte Chronik an Euch los wären, die kein Mensch lesen kann. Wenn Ihr noch Lust habt, so mögt Ihr dazutun, sie wollen's aufs Schloß dem gelehrten Herrn bringen, dem Harry; der ist Euch wie besessen auf dergleichen Schnurrpfeifereien aus.

KOLLMER. Seid außer Sorgen, ich hab den Schatz schon in Händen und wir sind bereits halb handelseinig. Diesen Abend wird es vollends abgemacht.

GLASBRENNER. Wenn ich Euch raten darf, laßt Euch nicht zu tief mit den saubern Kameraden ein; Ihr habt sie sonst immer aufm Hals.

MÜLLER. Mir denkt's kaum, daß ich sie einmal sah.

WEBER. O sie liegen ganze Nachmittage im lieben Sonnenschein aufm Markt, haben Maulaffen feil, schlagen Fliegen und Bremsen tot und erdenken allerlei Pfiffe, wie sie mit Stehlen und Betrügen ihr täglich Brot gewinnen. Es sind die einzigen Taugenichtse, die wir auf der Insel haben; Schmach genug, daß man sie nur duldet. Wenn's nicht den Anschein hätte, als ob die Götter selbst sie aus irgendeiner spaßhaften Grille ordentlich durch ein Wunder an unsern Strand geworfen, so sollte man sie lange ersäuft haben. Nehmt nur einmal: Unsere Kolonie besteht schon sechzig Jahre hier, ohne daß außer den Störchen und Wachteln auch nur ein lebend Wesen aus einem fremden Weltteil sich übers Meer hieher verirrt hätte. Die ganze übrige Menschheit ist, sozusagen, eine Fabel für unsereinen; wenn wir's von unsern Vätern her nicht wüßten, wir glaubten kaum, daß es sonst noch Kreaturen gäbe, die uns gleichen. Da muß nun von ungefähr einem tollen Nordwind einfallen, die paar Tröpfe, den Unrat fremder Völker, an diese Küsten zu schmeißen. Ist's nicht unerhört?

SCHMIED. Wohl, wohl! Ich weiß noch als wär's von gestern, wie eines Morgens ein Johlen und Zusammenrennen war, es seien Landsleute da aus Deutschland. All das Fragen und Verwundern hätt kaum ärger sein können, wenn einer warm vom Mond gefallen wär. Die armen Teufel standen keuchend [108] und schwitzend vor der gaffenden Menge, sie hielten uns für Menschenfresser, die zufällig auch deutsch redeten. Mit Not bracht man aus ihnen her aus, wie sie mit einer Ausrüstung von Dingsda, von – wie heißt das große Land? nun, von Amerika aus, beinah zugrund gegangen, wie sie, auf Booten weiter und weiter getrieben, endlich von den andern verloren, sich noch zuletzt auf einigen Planken hieher gerettet sahen.

GLASBRENNER. Hätt doch ein Walfisch sie gefressen! Der eine ist ohnehin ein Hering, der winddürre lange Flederwisch, der sich immer für einen gewesenen Informator ausgibt, oder wie er sagt, Professor. – Der Henker behalt alle die ausländischen Wörter, welche die Kerls mitbrachten. Ein Barbier mag er gewesen sein. Sein Gesicht ist wie Seife und er blinzelt immer aus triefigen Augen.

SCHMIED. Ja, und er trägt jahraus jahrein ein knappes Fräcklein aus Nanking, wie er's nennt, und grasgrüne Beinkleider, die ihm nicht bis an die Knöchel reichen, aber er tut euch doch so zierlich und schnicklich, wie von Zucker und bläst sich jedes Stäubchen vom Ärmel weg.

WEBER. Ich hab ihn nie gesehen, wo er nicht ängstliche, halbfreundliche Gesichter gemacht hätte, wie wenn er bei jedem Atemzug besorgte, daß ihm sein Freund, der Buchdrucker, eins hinters Ohr schlüge. Ich war Zeuge, als ihm dieser von hinten eine Tabakspfeife mit dem Saft auf seine Häupten ausleerte, um einen Anlaß zu Händeln zu haben.

GLASBRENNER. Richtig, der mit dem roten schwammigten Aussehen, das ist erst der rechte; so keinen Säufer sah ich in meinem Leben. Sein Verstand ist ganz verschlammt, er redt langsam und gebrochen, auf zehn Schritte riecht er nach Branntwein.

WEBER. So haltet nur die Nase zu, denn dort seh ich beide edle Männer an der Tür.

KOLLMER. Sie werden mich suchen wegen des Kaufs. Auf Wiedersehn, ihr Herren!


Ab.


SCHMIED. Was will denn der Kollmer mit dem unnützen Zeug, dem Buch, oder was es ist?
WEBER. Er sagt, er lege vielleicht eine Sammlung an von dergleichen alten Stücken.
SCHMIED. Ein sonderbarer Kauz. Es heißt auch, er gehe mit Gespenstern um.
WEBER. Man redt nicht gern davon. Was geht's mich an!
[109]

Achte Szene

Eine kleine schlechte Stube.


BUCHDRUCKER allein; er steht an die Wand gelehnt mit geschlossenen Augen. Den Fund hab ich getan, nicht du! So ist die Sache. Du hast keinen Teil an der Sache, miserable Kreatur! Ich hab die Rarität entdeckt, ich hab im alten Keller im Schloß, hab ich das eiserne Kistel – alle Wetter! hab ich's nicht aufgebrochen? Willst gleich mein Stemmeisen an Kopf, Nickel verfluchter?


Er schaut auf und kommt zu sich.


Wieder einmal geschlafen. Ah! – Der Musje Kollmer wird jetzt bald dasein. Muß ihn der Teufel just herführen, wenn ich besoffen bin? Nimm dich zusammen, Buchdrucker, halt die Augen offen, lieber Drucker. – Und der Tropf, der Wispel muß weg, wenn mein Besuch kommt, er geniert mich nur; der Affe würde tun, als gehörte der Profit ihm und die Ehre.

WISPEL kommt hastig herein. Durchaus mit Affektation. Bruder, geschwind! Wir wollen aufräumen, wir wollen uns ankleiden. Der Herr wird gleich kommen, er will Bunkt ein Uhr kommen. Jetzt haben wir gerade zwölf.

BUCHDRUCKER. Ja, man muß sich ein wenig einrichten. Ich will mich etwas putzen. Wenn ich mich heut mit lauem Wasser wasche, kann er zufrieden sein; er wird es zu rühmen wissen.

WISPEL geschäftig hin und her. Es kömmt darauf an daß ich in größter Eile meine Toilette rangiere oder embelliere.

BUCHDRUCKER. Wo wirst du dich indessen aufhalten, während mich der Fremde spricht?

WISPEL schnell. Ich bleibe, Guter, ich bleibe. Wo ist das Zähnebürstchen, das Zäh – – die Schuhbürste wollt ich sagen. – Aber meine Zähne sind ebenfalls häßlich und teilweise ausgefallen. – Ei, was tut's aber? ich bekomme dadurch eine sehr weiche Aussprache, eine Diktion, die mich besonders bei den Damen sehr empfehlen muß, denn, verstehst du, weil der Buchstabe R in seiner ganzen Roheit gar nicht ohne die Zähne ausgesprochen werden kann, so darf ich von meinen ausgefallenen Zähnen füglich sagen, es seien lauter elidierte Erre. Durch dergleichen Elisionen gewinnt aber eine Sprache unendlich an süßem italienischem Charakter. Aber, mein Gott, dieses Hemd ist gar zu schmutzig – Nun!

[110] BUCHDRUCKER stellt sich dicht neben ihn. Wo willst du denn hingehen, solang der Herr mich abfertigt, mich honoriert?

WISPEL. – und meine Kamaschen ebenfalls etwas abgetragen. Wie? Ich bleibe, ich bleibe, Bester.

BUCHDRUCKER. Vielleicht machst du in dieser Zeit einen Gang um die Stadt, Bruder? Geh, führ dich ab!

WISPEL. Freilich, wir sollten ihn eher an einem dritten Ort empfangen, du hast recht. Es ist doch gar zu unreinlich in unserm Zimmerchen, in unserm kleinen Appartementchen. Eine unsäuberliche Mansarde präsentiert sich nicht gut – malpropre.

BUCHDRUCKER für sich. Er muß fort – er muß fort. Wie er sich putzt! Ich würde wie ein Schwein aussehen neben ihm; neben seiner geläufigen Zunge müßte ich wie ein einfältiger unwissender Weinzapf dastehn. Ich kann es nicht ertragen, daß er zusehn soll, wie ich meinen Profit einstreiche, er würde gleich auch seine knöcherne Tatze dazwischenstrecken, mein Seel, er wär imstand und bedankte sich mit allerhand Ausdrücken für die Bezahlung. Laut. Was hast du denn in dem großen Hafen da?

WISPEL. Es is nur ein Schmalznäpfchen, Bruder. Ich habe das Näpfchen unterwegs – ä – ä – entlehnt, um meine Haare ein wenig zu befetten, weil wir keine Pomade haben für unsre beiderseitigen Kapillen. Es is nur – e – nämlich, daß man nicht ohne alle Elegance erscheint vor dem Manne; mein Gott!

BUCHDRUCKER. Das ischt ja aber eine wahre Schweinerei!

WISPEL. Nämlich – ä – nein, es is –

BUCHDRUCKER für sich. Aber er wird sich doch gut damit herausstaffieren, er wird für einen Prinzen neben mir gelten. Herr Gott! was sich diese Spitzmaus einreibt! was sich dieser unscheinbare weiße Ferkel auf einmal herausstriegelt!


Der Buchdrucker taucht jetzt die Hand auch in den Topf und streicht sich's auf. Es stehen beide um den Tisch; in der Mitte der Topf.


WISPEL. Hör mal, Bruder, es soll gar ein kurioser Mann sein, auf Ehre; ganz eichen, welcher seine Liebhaberei an abenteuerlichen, seltsamen, dunkeln Redensarten und Ideen hat. Ich denke recht in ihn einzugehen, recht mit ihm zu konservieren. Ich freue mich sehr, wahrhaftig.

BUCHDRUCKER. Nein, nein, nein! bitt dich! just das Gegenteil! Je weniger man redt, je stummer und verstockter man ist, [111] desto mehr nimmt man an Achtung bei diesem eigenen, allerdings raren Manne zu.

WISPEL. Gottlob, daß mich mein beseligter Vater in der Erziehung nicht vernachlässigte. Ich werde ihm z.B. von dem eigentlichen sinnigen Wesen der unterirdischen Quellen oder Fontänen, von den Kristallen unterhalten.

BUCHDRUCKER für sich. So wahr ich lebe, Kristallknöpfe trägt er wirklich an seinem Rock. Ich werde ihm auch von Korallen und Steinen allerhand sagen.

WISPEL im Ankleiden. Seit meiner berühmten Seefahrt hab ich gewiß allen Anspruch auf Distinktion, ich werde mich erbieten, ein praktisches Kollegium über Nautik und höhere Schwimmkunst vorzutragen; ich werde dem guten Kollmer überhaupt dieses und jenes Phantom kommunizieren. Und was das seltene Buch betrifft, so überlaß nur mir, zu handeln. Man muß etwa folgendergestalt auftreten: Mein Herr! Es is'n Band, der, wie er einmal vor uns liegt, ohne Eigendünkel zu reden, in der Tat ein antiquarisches Interesse, eine antiquarische Gestalt annimmt. Wenn Sie zu dem bereits festgesetzten Kaufpreis, nämlich zu den drei Butten Mehl, dem Fäßchen Honig und dem goldenen Kettlein, etwa noch eine Kleinigkeit, eine Hemdkrause eine Busennadel oder dergleichen – ä – hinzufügen wollten, so möcht es gehen. Nun macht er entweder Basta oder macht nicht Basta; ich werde jedoch auf jeden Fall delikat genug sein, um schnell abzubrechen; es wäre gemein, werd ich sagen, zu wuchern um etwas ganz Triwiales; transilieren wir auf andere Materie. Ich habe oft eigene Gedanken und Ideen, mein Herr, auch weiß ich, daß Sie nicht minder Liebhaber sind. So z.B. fällt mir hier ein, es wäre eichen, wenn sich ä – wart, ich hab es sogleich – Ja, nun eben stößt mir's auf, ich hab es: – nämlich in der Natur, wie sie einmal vor uns liegt, scheint mir alles belebt, rein alles, obgleich in scheinbarer Ruhe schlummernd und fantatisierend; so par exemple, wenn sich einmal die Straßensteine zu einem Aufruhr gegen die stolzen Gebäude verschwüren, sich zusammenrotteten, die Häuser stürzten, um selbst Häuser zu bilden? Wie? heißt das nicht eine geniale Fantaisie? Comment?

BUCHDRUCKER. Esel! So? Wenn sich die Finger meiner Hand auch zusammenrottieren und machen eine Faust und schlagen dir deinen Schafskopf entzwei? Comment?

[112] WISPEL lächelt. Ä hä hä hä! ja das wäre meine Idee etwas zu weit ausgeführt, Bester. – Aber was treibst du –? Ciel! Deine Haare werden ja so starr wie ein Seil! Dein Haupt ist ja wie eine Blechhaube! Du leertest ja die Hälfte des Topfes aus!

BUCHDRUCKER. Alle Milliarden Hagel Donnerwetter! Warum sagst du's nicht gleich! du hundsföttischer neidischer Blitz!


Mißhandelt ihn.


WISPEL. Himmel! wie konnt ich es früher äußern, da ich es in diesem Moment erst gewahre? so wahr ich lebe, Bruder – Himmel! du beschmutzest ja mein Fräckchen völlig – schlag auf die Wange, lieber auf die Wange! um deiner Freundschaft willen –

BUCHDRUCKER. Daß dich das höllische Pech! Du Krötenlaich! Du Stinktier! Schwerenot! die Brüh läuft mir den Hals runter! Ein' Kamm her! Ein' Kamm!

WISPEL trocknet ihn mit einem Tuch. So. So. Es is ja alles wieder gut und hübsch – Ich habe dich nie so glänzend gesehen, auf Ehre. So. Jetzt sind wir ja fix und fertig. Geht vor ein kleines Spiegelchen und hüpft freudig empor. Ach alle Engel! Ich sehe aus wie gemalt. Singt:


Das Bräutlein schön zu grüßen
Stürz ich vor ihre Füßen –

Sieh her, du hättest eben freilich auch solche kleine Löckchen zwirbeln sollen – Schau – ich hab hier mehrere Dutzende auf der Stirn; allein du siehst, wie gesagt, nicht so übel aus, gar nicht so übel aus – Horch! Es klopft doch nicht?

BUCHDRUCKER. Laß es klopfen!

WISPEL. Schön gesagt! das erinnert treffend an Don Giovanni, wo der Geist auftreten muß – Eine treffliche Oper.

BUCHDRUCKER gibt ihm eine Ohrfeige. Da hast du einen Schiowanni und eine Ooper. Und jetzt gehst du auf der Stell, weil mich jemand sprechen will, weil ich einen Wert von drei Louisdor einnehmen will – Geh spazieren!


Man hört anklopfen.


WISPEL. Er kömmt! – Bruder – Was stößt mir auf – wir sind noch nicht balbiert!

BUCHDRUCKER. Laß dich vom Henker einseifen, Chinese!

WISPEL. Soll ich durch den Spalt wispern und sagen: er soll [113] in einer halben Stunde wiederkommen, wir seien zwar schon rasiert, aber wir hätten – ä noch einen Brief zu schreiben?

BUCHDRUCKER. Dummer Hund! – Herein!

EIN MÄDCHEN des Wirts tritt herein. Drunten hat ein Knecht von Elne einige Sachen gebracht, und einen Gruß von Herrn Kollmer.

WISPEL. Mein! Will denn der Herr nicht selbst kommen?

MÄDCHEN. Scheint nicht.

WISPEL. Ich bin des Todes! Mich so um nichts und wieder nichts präpariert – mich bei zwei Stunden – o himmelschreiend! Denke nur, gutes Kind, ich hatte ihm die wichtigsten Eröffnungen zu machen!

MÄDCHEN. Mein Vater, der Wirt, läßt die Herren ersuchen, Sie möchten bei dieser Gelegenheit auch an die halbjährige Rechnung denken.

WISPEL. Ja Mädchen, ich wollte Herrn Kollmern sogar den Plan zur Grundlegung einer gelehrten Gesellschaft mitteilen. So was wie die Académie française.

MÄDCHEN. Der Vater läßt fragen, ob er Ihre Schuldigkeit nicht lieber gleich von den bei uns niedergelegten Sachen abziehen soll, die der Knecht gebracht hat.

WISPEL. So manche Erfindungen der gebildeten Europa dachte ich auch auf unserer armen Insel einzuführen! z.B. die Buchdruckerkunst, welch ein herrlicher Wirkungskreis gleich für dich, mein Bruder! – sodann die Fabrikation des Schießpulvers – das Münzwesen – ein Nationaltheater – ein hôtel d'amour – ich wollte der Schöpfer eines neuen Paris werden.

MÄDCHEN. Was sag ich denn meinem Vater als Antwort?

WISPEL. Und dieser Monsieur Kollmer wäre offenbar der einzige Mann, den ich mir assoziieren könnte.

MÄDCHEN. Ade, ihr Herren!

BUCHDRUCKER. Bleibe sie ein wenig bei uns, lieber Schatz. Vertreibe sie uns ein wenig die Zeit!

WISPEL. Ja, lassen Sie uns einiger Zärtlichkeit frönen!


Mädchen macht sich schnell davon.


BUCHDRUCKER nach einem Stillschweigen. Jetzt muß eine ganz besondere Maßregel ergriffen werden, und ergib dich nur gutmütig drein.

WISPEL. Was soll dieser Strick, Bruder?

BUCHDRUCKER. Bei meiner armen Seele, und so wahr ich selig werden will, ich drehe dir den Kragen um, wenn du nicht [114] alles stillschweigend mit dir anfangen läßt, was ich mit diesem Strick vorhabe.

WISPEL. Grand Dieu! o Himmel! nur schone mein bißchen Leben, nur juguliere mich nicht! bedenke, was ein Brudermord besagt!

BUCHDRUCKER. Schweig, sag ich! Er bindet ihm beide Füße an einen Pfosten und knebelt ihn fest. So. Ich will nur nicht haben, daß du beim Auspacken meines Profits die Nase überall voraus habest, Racker! Addio indessen.


Ab. Wispel wimmert und seufzt, dann fängt er in der Langeweile an, mit dem Saft seines Mundes künstliche Blasen nach Art der Seifenblasen zu bilden. Der Buchdrucker sieht ihm eine Zeitlang durchs Schlüsselloch zu. Endlich schläft Wispel ein.

Neunte Szene

Nacht. Mondschein.

Waldiges Tal. Mummelsee. Im Hintergrunde den Berg herab gegen den See schwebt ein Leichenzug von beweglichen Nebel gestalten. Vorne auf einem Hügel der König, starr nach dem Zuge blickend. Auf der andern Seite, unten, den König nicht bemerkend, zwei Feenkinder.


DIE FEENKINDER im Zwiegespräch.

Vom Berge, was kommt dort um Mitternacht spät
Mit Fackeln so prächtig herunter?
Ob das wohl zum Tanze, zum Feste noch geht?
Mir klingen die Lieder so munter.
Ach nein!
So sage, was mag es wohl sein?
Das was du da siehest ist Totengeleit,
Und was du da hörest sind Klagen;
Gewiß einem Könige gilt es zu Leid,
Doch Geister nur sind's, die ihn tragen.
Ach wohl!
Sie singen so traurig und hohl.
Sie schweben hernieder ins Mummelseetal,
Sie haben den See schon betreten,
[115] Sie rühren und netzen den Fuß nicht einmal,
Sie schwirren in leisen Gebeten.
O schau!
Am Sarge die glänzende Frau!
Nun öffnet der See das grünspiegelnde Tor
Gib acht, nun tauchen sie nieder!
Es schwankt eine lebende Treppe hervor
Und – drunten schon summen die Lieder.
Hörst du?
Sie singen ihn unten zur Ruh.
Die Wasser, wie lieblich sie brennen und glühn!
Sie spielen in grünendem Feuer,
Es geisten die Nebel am Ufer dahin,
Zum Meere verzieht sich der Weiher.
Nur still,
Ob dort sich nichts rühren will? –
Es zuckt in der Mitte! O Himmel, ach hilf!
Ich glaube, sie nahen, sie kommen!
Es orgelt im Rohr und es klirret im Schilf;
Nur hurtig, die Flucht nur genommen!
Davon!

Sie wittern, sie haschen mich schon!


Die Kinder entfliehen. Der Zug streicht wieder den Berg hinan. Während er verschwindet, ruft der König mit ausgestreckten Armen nach.


KÖNIG. Halt! Haltet! Steht! Hier ist der König Ulmon!

Ihr habt den leeren Sarg versenkt, o kommt!
Ich, der ihn füllen sollte, bin noch hier.
Almissa, Königin! hier ist dein Gatte!
Hörst du nicht meine Stimme? kennst sie nimmer?
Nein, kennst sie nimmer. Weh, o weh mir, weh!
Könnt ich zur Leiche werden, sie vergönnten
Mir auch so kühles Grab. Leb ich denn noch?
Wach ich denn stets?
Mir deucht, ich lag in dem kristallnen Sarge,
Mein Weib, die göttliche Gestalt, sie beugte
Sich über mich mit Lächeln; wohl erkannt ich
Sie wieder und ihr liebes Angesicht.
[116] Fluch! wenn sie einen anderen begraben,
Wenn einem Fremden sie so freundlich tat!
Wie? so starb Lieb und Treue vor mir hin?
Freilich, zu lange säumt ich hier im Leben –
O Weyla, hilf! laß schnell den Tod mich haben!
Auf kurze Weile nur führ mich hinab
Ins Reich der Abgeschiedenen, daß ich eilig
Mein Weib befragen mag, ob sie mir Treue
Bewahrt, bis daß ich komme.
Und wenn dem nicht so wäre, wenn ich ganz
Vergessen wäre bei den sel'gen Toten?
O Weyla hilf! Laß dieses Ärgste mich
Nicht schauen, dies nur nicht! Denn eher fleh ich,
Wenn deine Gottheit keinen Ausweg weiß,
Laß lieber hier mich an der irdschen Sonne,
Die traurgen Tage durch die Ewigkeit
Fortspinnend, leben, fern gebannt von jenen,
Die meine königliche Seele so Gekränkt.
O schändlich, schändlich! unbegreiflich!
Almissa, du mein Kind? Sollt ich das glauben?

Man hört eine besänftigende Musik. Pause.

Das Nachtgesichte, das ich vorhin sah,
Ich wag es nun zu deuten – Ja, mir sagt's
Der tiefe Geist.
Die Götter zeigten wohlgesinnt und gütig
Im Schattenbilde mir das baldge Ende
All meiner Not. Es war das holde Vorspiel
Des Todes, der mir zubereitet ist.
Vor Freude stürmt mein Herz!
Und schwärmt schon an des Sees Ufern hin
Wo endlich mir die dunkle Blume duftet.
Oh, eilet, Götter, jetzt mit mir! Laßt bald
Mich euren Kuß empfangen! sei es nun
Im Wetterstrahl, der schlängelnd mich verzehre,
Sei es im Windbauch, der die stillen Gräser
Vorüberwandelnd neigt und weht die Seele
Ulmons dahin.

Ab.
[117]

Zehnte Szene

Mittag.

In der Nähe des Meeres.


KOLLMER allein.
Welch Wunder wird geschehen durch dies Buch!
Ja, welch ein Wunder hat sich schon ereignet
In meiner Gegenwart! Denn als ich ihm,
Dem König, jene Blätter übergab,
Warf er sein Haupt empor mit solchem Blick,
Als sollt es kommen, daß vom Himmel ein Stern
Herniederschießend rückwärts würde prallen
Vorm Sterne dieses siegestrunknen Auges.
Dann, alsbald meiner Gegenwart vergessend,
Lief er mit schnellem Schritt davon. Gewiß
Ist jenes dunkle Buch die Weissagung
Und Lösung seines Lebens, es enthüllet
Das Rätsel der Befreiung – Horch,
Es donnert! Horch! Die Insel zittert rings,
Sie hüpfet wie ein neugebornes Kind
In den Windeln des Meers!
Neugierige Delphine fahren rauschend
Am Strand herauf, zu Scharen kommen sie!
Ha! welch ein lieblich Sommerungewitter
Flammt rosenhell in kühlungsvoller Luft
Und färbt dies grüne Eiland morgenfrisch!
Ihr Götter, was ist dies? Mich wundert' nicht,
Wenn nun, am hellen Tag, aus ihren Gräbern
Gespenster stiegen, wenn um alle Ufer
In grauen Wolken sich die Vorzeit lagerte!

Ein heftiger Donnerschlag. Kollmer flieht.

Eilfte Szene

Mondnacht. Wald.

König tritt herein. Silpelitt springt voraus.


SILPELITT. Hier ist der Baum, o König, den du meinst,
Den meine Schwester manche Nacht besucht;
Das Haupt anlehnend pflegt sie dann zu schlummern.
[118] KÖNIG. Von gelber Farbe ist der glatte Stamm,
Sehr schlank erhebt er sich, und, sonderbar,
Die schwarzen Zweige senken sich zur Erde,
Wie schwere Seide anzufühlen. Kind,
Wir sind am Ziel. Sei mir bedankt, du hast
Mich mühsam den versteckten Pfad geleitet,
Die zarten Füße hat der Dorn geritzt,
Doch sind wir noch zu Ende nicht. Sag mir –
SILPELITT. Ich will dir alles sagen, nichts verschweigen –
KÖNIG. Was hast du? Warum fängst du an zu zittern?
Nicht dich zu ängstigen kam ich hieher.
SILPELITT. Nein, du mußt alles wissen, aber nur
Der Schwester sage nichts –
KÖNIG. Gewißlich nicht.
SILPELITT. Schon seit der Zeit, als ich mich kann besinnen,
War ich Thereilen untertan, der Fürstin;
Doch nur bei Nacht (dies ist der Feen Zeit)
War ich gehorsam, gleich den andern Kindern;
Allein am Morgen, wenn sie schlafen gingen,
Band ich die Sohlen wieder heimlich unter,
Nach Elnedorf zu wandern, und im Nebel
Schlüpft ich dahin, von allen unbemerkt.
Dort wohnt ein Mann, heißt Kollmer, dieser nennt
Mich seine Tochter, warum? weiß ich nicht.
Er meint, ich wäre gar kein Feenkind.
Er ist gar gütig gegen mich. Bei Tag
Sitz ich an seinem Tisch, geh aus und ein
Mit andern Hausgenossen, spiele dann
Mit Nachbarkindern in dem Hofe, oder
Wenn ich nicht mag, so zerren sie mich her
Und schelten mich ein stolzes Ding; ei aber
Sie sind zuweilen auch einfältig gar.
Zur Nachtzeit geh ich wieder fort und tue,
Als lief ich nach der obern Kammertür,
So glaubt der Vater auch, denn droben steht
Mein Bettlein, wo ich schlafen soll. Allein
Ich eile hinten übern Gartenzaun
Durch Wald und Wiesen flugs zum Schmettenberg,
Damit Thereile meiner nicht entbehre;
Auch hat sie's nie gemerkt, doch einmal fast.

KÖNIG. Besorge nichts; vertraue mir; bald hörst du weiter.


[119] Silpelitt verliert sich während des Folgenden etwas im Walde.

KÖNIG. Dies ist die Frucht von einem seltnen Bund,
Den vor elf Jahren eine schöne Fee
Mit einem Sterblichen geschlossen hat;
Nachher verließ sie ihn, ja sie benahm
Ihm das Gedächtnis dessen, was geschah,
Vermittelst einer langen Krankenzeit;
Nur dieses Kind sollt ihm als wie ein eignes
Lieb werden und vertraut. Ja, sonder Zweifel
Ist es der Mann, der, wenn mein Geist nicht irrt,
Mich oft besucht und mir das Buch verschaffte.
So also ward der Vater Silpelitts
Zum ersten Werkzeug meiner Rettung weislich
Erlesen von den Göttern, doch das Kind
Soll noch das Werk vollenden, aber beide
Erwartet gleicher Lohn. Dies liebliche Geschöpf
Wird eine Handlung feierlicher Art
Nach Ordnung dieses Buchs mit mir begehen,
Und in dem Augenblicke, wo der Zauber
Thereilens von mir weicht durch dieses Kinds
Unschuldge Hand, ist auch das Kind befreit;
Ein süß Vergessen kommt auf seine Sinne,
Und der geliebte Vater wird in ihm
Die eigne Tochter freudevoll umarmen.
Zum ersten Male morgen, Silpelitt,
Wirst du den Fuß ins kleine Bettlein setzen,
Das noch bis jetzt dein reiner Leib nicht hat
Berühren dürfen; dennoch sollst du glauben,
Du wärst es so gewohnt, Thereile aber
Wird dir ein fabelhafter Name sein.
– Wo bleibst du, Mädchen?
SILPELITT kommend. Sieh, hier bin ich schon.
Ich war den Felsen dort hinangeklettert,
Mein' Schwester Morry hat einmal auf ihm
'nen roten Schuh verloren.
KÖNIG. Sei bereit,
Hier rechter Hand die Schlucht hinabzusteigen.
Dort wirst du eine Grotte finden –
SILPELITT. Wohl.
Ich kenne sie. Noch gestern hat der Riese,
Der starke Mann, den Felsen weggeschoben.
[120] Jetzt ist der Eingang frei. Ich sah ihm zu
Bei seiner Arbeit. Herr, die Erde krachte,
Da er den Block umwarf, ihm stund der Schweiß
Auf seiner Stirn, doch sang er Trallira!
Und sagte: dies wär nur ein Kinderspiel.
Dann nahm er mich und setzt' mich auf den Gipfel;
Ich bat und weint, er aber ließ mich zappeln,
Bis ich ihm oben ein hübsch Liedchen sang.
Nun trollt er weg und brummt: ich soll dich grüßen,
Wenn du ihn wieder brauchest, sollst's nur sagen.
Verzeih, daß ich's vergaß.
KÖNIG. Schon gut; nun höre!
Durch jene schmale Öffnung dringest du
Zu einer Höhle, deren Innerstes
Ein Schießgerät mit einem Pfeil verwahrt.
Dies beides hole mir.
Sie geht.

So lehret mich
Das Buch des Schicksals, so heißt mich ein Gott.
Dort lehnt ein uralt schwer Geschoß, zeither
Von keines Menschen Hand berührt, nur heute
Soll dieser Bogen an das Tageslicht,
Den Pfeil zu schleudern in den giftgen Auswuchs
Reizvoller Liebe, die nach kurzem Schmerz
Zur Heilung sich erholet. O Thereile,
Ich nehme bittern Abschied, denn es fährt
Die feige Schneide, die uns trennen soll,
Bald rücklings in dein treues Herz; hier steht
Der träumerische Baum, in dessen Saft
Du unser beider Blut vor wenig Monden
Hast eingeimpft.
Jetzt kreiset es in süßer Gärung noch
Im Innern dieses Stammes auf und nieder.
Wie sehr die Nacht auch stille sei, mein Ohr
Bestrebet sich vergeblich, zu vernehmen
Den leisen Takt in diesem Webestuhl
Der Liebe, die mit holden Träumen oft
Dein angelehnet Haupt betöret hat.
Bald aber rinnet von dem goldnen Pfeil
Der Liebe Purpur aus des Baumes Adern,
Und alsbald aus der Ferne spürt dein Herz
[121] Die Qual der schrecklichen Veränderung,
Doch nach vertobtem Wahnsinn wird im Schlummer
Sich Ruhe senken auf dein Augenlid.
O Himmel! wie verlangt mich nach Erlösung!
Die Senne jenes göttlichen Geschosses
Zu spannen, fordert tausendjährge Stärke,
Ich habe sie; doch wahrlich, o wahrhaftig,
Auch ohnedem fühl ich die Kraft in mir,
Gleich jenem Gott, der den demant'nen Pfeil
Zum höchsten Himmel schnellte, daß er knirschend
Der Sonne Kern durchschnitt und weiterflog,
Bis wo des Lichtes letzter Strahl verlöschte.

Das Kind kommt zurück mit einer Art von Armbrust. Er spannt sie mit leichter Mühe, legt auf, und reicht sie dem Mädchen in der Richtung nach dem Baume. Silpelitt drückt ab und in dem Augenblicke wird es ganz finster. Man hört ein Seufzen von der getroffenen Stelle her. Beide schnell ab.

Zwölfte Szene

Vor Tagesanbruch.

Tal.

Die Feenkinder treten auf.


MORRY. Hurtig! nur schnelle!
Entspringt und versteckt euch
Da hier ins Gebüsche!
Laß keine sich blicken!
Los bricht schon das Wetter.
TALPE. Was hast du? Was schnakst du,
MORRY. Gift speit die Schwester!
Sie raset, sie heulet
Mit Wahnsinnsgebärde
Dort hinter dem Felsen
Durchs Wäldchen daher.
WEITHE. Was ist ihr begegnet?
Ach laßt uns ihr helfen!
Hat Dorn sie gestochen?
Eidechslein gebissen?
[122] MORRY. Dummköpfige Ratte,
Halt's Maul und versteck dich!
Das ist ihre Stimme –
Die Kniee mir zittern.

Alle ducken sich zur Seite ins Gesträuch.

THEREILE tritt auf.
Sieh her! Sieh her, o Himmel!
Seht an, seht an, ihr Bäume,
Thereile, die Fürstin,
Die Jammergestalt!
Die Freud hin auf immer!
Verraten die Treue!
Und weh! nicht erreichen,
Und weh! nicht bestrafen
Kann ich den Verräter,
Entflohen ist er.
O armer Zorn!
Noch ärmere Liebe!
Zornwut und Liebe
Verzweifelnd aneinandergehetzt,
Beiden das Auge voll Tränen,
Und Mitleid dazwischen,
Ein flehendes Kind.
Hinweg! kein Erbarmen!
Ich muß ihn verderben!
Ha! möcht ich sein Blut sehn,
Ihn sterben sehen,
Gemartert sterben
Von diesen Händen,
Die einst ihm gekoset,
Die Stirn ist ihm gestreichelt –
Wie zuckt mir die Faust!
Vergebliche Rachlust!
So reiß ich zerfleischend
Hier, hier mit den Nägeln
Die eigenen Wangen,
Die seidenen Haare –
Du hast sie geküsset,
O garstiger Heuchler!
Weh! Schönheit und Anmut –
Was frag ich nach diesen!
[123] Ist Freud hin auf immer,
Ist brochen die Liebe,
Was hilft mir die Schönheit
Was frag ich darnach!
Und bleibt nichts zu hoffen?
Ach leider, ach nimmer!
Der Riß ist geschehen,
Er traf aus der Ferne
Mir jählings das Leben,
Mein Zauber ist aus.
WEITHE hervorstürzend. Ich halt mich nicht –
O liebe süße Schwester!
THEREILE. Du hier? und ihr? Was ist's, verdammte Fratzen?
WEITHE. Gewiß nicht lauschen wollten wir; sie fürchten
Sich nur vor deiner argen Miene so,
Da steckten wir uns neben ins Gebüsch.
THEREILE. Was glotzt ihr so, gefällt euch mein Gesicht?
Könnt's auch so haben, wenn ihr wollt.
Wo habt ihr Silpelitt? Antwort! ich will's!
WEITHE. Sei gütig, Schwester, wir verschulden's nicht;
Sie fehlt uns schon seit gestern.
THEREILE. Wirklich? So?
Ihr falschen Kröten! Ungeziefer! Was?
Ich will euch lehren, eure Augen brauchen.
Mißhandelt sie.

Daß euch die schwarze Pest! Ja, wimmert nur!
Ich brech euch Arm und Bein, ihr sollt's noch büßen!

Alle ab.

Dreizehnte Szene

Nacht. Wald. Bezauberte Stelle.

Feenkinder.


TALPE. Dies ist der Platz; dort steht die schwarze Weide.
Was nun? sagt, wie befahl die Fürstin uns?
WINDIGAL. Was kümmert's mich? Ich rühre keine Hand.
TALPE. Hast du die Püffe schon versaust von gestern?
WINDIGAL. Pfui! Bückel und Beulen übern ganzen Leib!
Ich lege mich ins weiche Moos; kommt nur,
Wir ruhen noch ein Stündchen aus und plaudern;
[124] Zur Arbeit ist noch Zeit; die andern sind
Auch noch nicht da. – Seht' eine feine Nacht!
MALWY. Vollmond fast gar.
WINDIGAL. Wir singen eins; paßt auf!

Sie singen.

Bei Nacht im Dorf der Wächter rief:
Elfe!
Ein ganz kleines Elfchen im Walde schlief;
Elfe!
Und meint', es rief ihm aus dem Tal
Bei seinem Namen die Nachtigall,
Oder Silpelitt hätt ihm gerufen.
Drauf schlüpft's an einer Mauer hin,
Daran viel Feuerwürmchen glühn:
»Was sind das helle Fensterlein!
Da drin wird eine Hochzeit sein,
Die Kleinen sitzen beim Mahle
Und treiben's in dem Saale;
Da guck ich wohl ein wenig 'nein –«
Ei, stößt den Kopf an harten Stein!
Elfe, gelt, du hast genug?
Gukuk! Gukuk!
MORRY kommt mit den andern.
Ei brav. So? tut sich's? Nun, das ist ein Fleiß;
Wollt ihr nicht lieber schnarchen gar? Thereile
Wird euch fein wecken. Das vertrackte Volk,
Noch bluten Maul und Nasen ihm, und doch
Um nichts gebessert.
TALPE leise. Schaut, wie sie sich spreizt!
Sie äfft der Schwester nach, als wenn sie nicht
So gut wie wir voll blauer Mäler wäre.
MORRY. Den Baum sollt ihr umgraben, rings ein Loch,
Bis tief zur Wurzel, dann wird er gefällt.
Dies alles muß geschehen sein, bevor
Die erste Lerche noch den Tag verkündet.
Rasch, sputet euch, faßt Hacken an und Schaufel!
WINDIGAL. Hört ihr nicht donnern dort?
TALPE. Beim Käuzchen, ja.
Es wetterleuchtet blau vom Häupfelberg,
Der Mond packt eilig ein; gleich wird es regnen.
[125] MORRY. Dann habt ihr leidlich graben. Frisch daran!
THEREILE tritt auf in Trauerkleidern, für sich.
Zum letztenmal betritt mein scheuer Fuß
Den Ort der Liebe, den ich hassen muß.
Vor diesem Abschied wehret sich mein Herz
Und krümmt sich wimmernd im verwaisten Schmerz!
Verblutet hast du, vielgeliebter Baum,
Vom goldnen Pfeil, zerronnen ist dein Traum.
Wie grausam du es auch mit mir geschickt,
Seist du zu guter Letzte doch geschmückt!
Ach, mit dem Schönsten, was Thereile hat,
Bekränzet sie der Liebe Leichenstatt:
Ihr süßen Haargeflechte, glänzend reich,
Mit dieser Schärfe langsam lös ich euch
Umwickelt sanft die Wunde dort am Stamm!
Noch quillt die Sehnsucht nach dem Bräutigam.
Mit euch verwese Liebeslust und Leiden
Auf solche will ich keine neuen Freuden!
Und du, verwünschtes, mördrisches Geschoß,
Um das die Träne schon zu häufig floß,
Mein Liebling hat dich wohl zuletzt berührt,
So nimm den Kuß, ach, der dir nicht gebührt!
Und nun, ihr kleinen Schwestern, macht ein Grab,
Und berget Stamm und Zweige tief hinab.
Seid ohne Furcht, und wenn ich sonsten gar
Zu hart und ungestüm und mürrisch war –
Von heute an, geliebte Kinder mein,
Wird euch Thereile hold und freundlich sein.

Ab.

Vierzehnte Szene

Morgen.


Mummelsee. König steht auf einem Felsen überm See.


KÖNIG.
»Ein Mensch lebt seiner Jahre Zahl,
Ulmon allein wird sehen
Den Sommer kommen und gehen
Zehnhundertmal.
Einst eine schwarze Weide blüht,
Ein Kindlein muß sie fällen,
[126]
Dann rauschen die Todeswellen,
Drin Ulmons Herz verglüht.
Auf Weylas Mondenstrahl
Sich Ulmon soll erheben,
Sein Götterleib dann schweben
Zum blauen Saal.«

So kam es und so wird es kommen. Rasch
Vollendet sich der Götter Wille nun.
Noch einmal tiefaufatmend in der Luft,
Die mich so lang genährt, ruf ich mein Letztes
Der Erde zu, der Sonne und euch Wassern,
Die ihr dies Land umgebet und erfüllt.
Doch du, verschwiegner See, empfängst den Leib,
Und wie du grundlos, unterirdisch, dich
Dem weiten Meer verbindest, so wirst du
Mich flutend führen ins Unendliche,
Mein Geist wird bei den Göttern sein; ich darf
Mit Weyla teilen bald das ros'ge Licht.
Gehab dich wohl, du wunderbare Insel!
Von diesem Tage lieb ich dich; so laß
Mich kindlich deinen Boden küssen; zwar
Kenn ich dich wenig als mein Vaterland,
So stumpf, so blind gemacht durch lange Jahre
Kenn ich nicht meine Wiege mehr; gleichviel,
Du warst zum wenigsten Stiefmutter mir,
Ich bin dein treustes Kind – Leb wohl, Orplid!
Wie wird mir frei und leicht! wie gleitet mir
Die alte Last der Jahre von dem Rücken!
O Zeit, blutsaugendes Gespenst!
Hast du mich endlich satt? so ekelsatt
Wie ich dich habe? Ist es möglich? ist
Das Ende nun vorhanden? Freudeschauer
Zuckt durch die Brust! Und soll ich's fassen das?
Und schwindelt nicht das Auge meines Geistes
Noch stets hinunter in den jähen Trichter
Der Zeit? – Zeit, was heißt dieses Wort?
Ein hohles Wort, das ich um nichts gehaßt;
Unschuldig ist die Zeit; sie tat mir nichts.
Sie wirft die Larve ab und steht auf einmal
Als Ewigkeit vor mir, dem Staunenden.
[127] Wie neugeboren sieht der müde Wandrer
Am Ziele sich.
Er blickt noch rückwärts auf die leidenvoll
Durchlaufne Bahn; er sieht die hohen Berge
Fern hinter sich, voll Wehmut läßt er sie,
Die stummen Zeugen seines bittern Gangs:
Und so hat meine Seele jetzo Schmerz
Und Heiterkeit zugleich. Ha! fühl ich mir
Nicht plötzlich Kräfte gnug, aufs neu den Kreis
Des schwülen Daseins zu durchrennen – Wie?
Was sagt ich da? Nein! Nein! o gütge Götter,
Hört nimmer, was ich nur im Wahnsinn sprach!
Laßt sterben mich! O sterben, sterben! Nehmt,
Reißt mich dahin! Du Gott der Nacht, kommst du?
Was rauscht der See? was locken mich die Wellen –
Was für ein Bild? Ulmon, erkennst du dich?
Fahr hin! Du bist ein Gott! ...

(Bei den letzten Worten stieg Silpelitt in der Mitte des Sees mit einem großen Spiegel hervor, den sie ihm entgegenhielt. Wie der König sich im Bildnis als

Knaben und dann als gekrönten Fürsten erblickt, stürzt er unmächtig vom Felsen und versinkt im See.)


Das Spiel war beendigt. Das Pianoforte machte nach einigen erhebenden Triumphpassagen zuletzt einen wehmütig beruhigenden Schluß, der den übriggebliebenen Eindruck vom Grame Thereilens mild verklingen lassen sollte. Die Gesellschaft erhob sich unter sehr geteilten Empfindungen. Einige, besonders die Männer, klatschten den herzlichsten Beifall, drei oder vier Gesichter sahen zweifelhaft aus und erwartungsvoll, was andere urteilen würden. Schon während der Vorstellung war hin und wieder ein befremdetes, deutelndes Flüstern entstanden, jetzt schienen ein paar hochweise unglückverkündende Frauennasen nur auf Constanzens Miene und Äußerung gespannt, aber sie zogen sich eilig wieder ein, als die liebenswürdige Frau ganz munter und arglos, bald dem Schauspieler, bald Theobalden das ungeheucheltste Lob erteilte, wobei die Mehrzahl der Männer und Damen fröhlich mit einstimmte Endlich konnten die Bedenklichen sich doch der bescheidenen Frage nicht enthalten, ob nicht irgend etwas Politisches, Satirisches, Persönliches dem [128] Stücke zugrunde liege? irgendein versteckter Sinn? denn für das, was es nur obenhin an Poesie prätendiere, könne man es doch nicht einzig nehmen.

»Und warum denn nicht, meine Gnädigste?« fragte Larkens die Hofdame, indem er jenes schneidend scharfe Gesicht zeigte, das einem durch die Seele ging.

»Weil – weil – ich meinte nur –«

»Aber wie? wenn ich Sie alles Meinens und Vermutens überhebe, wenn ich Sie versichere, es ist ein reines Kindermärchen, womit ich Sie zu unterhalten wagte? Doch Sie vermissen die Pointe dabei – ja, so ist der Dichter eben ein ruinierter Mann!«

»Er mag nur sorgen, daß er kein solcher wird, wenn man die Pointe wirklich herausgefunden haben sollte«, raunte der Baron von Vesten einem Geheimenrat ins Ohr und zog ihn beiseite »merken Sie denn nicht, daß das Ganze ein Pasquill auf unsern verewigten König und seine Geschichte mit der Fürstin Viktorie ist?«

»Was sagen Sie? Ja, wahrlich, jetzt geht mir ein Licht auf! Mir deucht, die Figur im Schauspiel hatte Ähnlichkeit mit den Zügen des Höchstseligen –«

»Allerdings! allerdings! nun? ist das aber nicht ein ungeziemender Spaß? ist es nicht impertinent von diesem Larkens? aber ich hielt ihn von jeher für einen maliziösen Menschen.«

»Fein und edel wär's auf keinen Fall, ich muß sagen, wenn es sich wirklich so verhielte. Denn, was man auch behaupten mag, der Verewigte war doch ein geistreicher, vortrefflicher Mann. Es ist seine Schuld nicht, daß er in der Folge krank und elend wurde, daß er zum Verdruß gewisser Patrioten ein übermäßiges Alter erreichte, daß ihn die Fürstin – nun! könnten wir uns aber nicht etwa täuschen, wenn wir diese Beziehungen –«

»Täuschen? täuschen? Gerechter Gott! Sind Sie blind, Exzellenz? Stieß ich denn nicht nach dem zweiten Auftritt gleich meine Frau an? und fiel es ihr nicht auch plötzlich auf? Treffen nicht die meisten Umstände zu? Daß der Vogel sich dann wieder hinter andere unwesentliche Züge versteckte, das hat er schlau genug gemacht, aber er mag sich wahren; es gibt Leute, die die Lunte riechen, und ich tue mir in der Tat etwas darauf zugute, daß ich die Bemerkung zuerst gemacht.«

»Jedoch, nur das noch, Baron! mir deuchte doch, der alte Narr in der Piece da, er benimmt sich, wenigstens der Absicht [129] des Poeten nach, immer recht nobel, besonders vis-à-vis der Hexe oder was es ist, und es widerfährt ihm, wie mir's vorkam, zuletzt noch gleichsam göttliche Ehre.«

»Spott! Spott! lauter infame Ironie! ich will mich lebendig verbrennen lassen, wenn es was anders ist.« »Und wie gemein mitunter«, lispelte die bleichsüchtige Tochter Vestins, hinzutretend, »wie pöbelhaft!«

Die übrigen hatten sich inzwischen wieder in das vordere Zimmer begeben. Man unterhielt sich noch eine Weile über das sonderbare Stück, allein bald stockte das Gespräch ein vorsichtiges Ansichhalten, eine gewisse Verlegenheit teilte sich auch dem Unbefangensten mit, es glaubten endlich mehrere, es müsse jemand aus der Gesellschaft beleidigt worden sein, und man sah einander lauschend an. Wer sich allein nicht irremachen ließ, das war die schöne Wirtin des Hauses, und dann Larkens selbst, welcher nur desto mehr schwatzte, lachte, dem Wein zusprach, je kälter das Benehmen der übrigen war, das er im stillen gutmütig mehr nur als eine verzeihliche Gleichgültigkeit gegen sein fremdartiges Produkt, denn als Spannung auslegte.

Da es übrigens schon spät war, ging man in kurzem auseinander. Constanze beehrte den verkannten Schauspieler noch auf der Schwelle mit der Bitte, sein Manuskript zu nochmaliger Erbauung dagelassen zu dürfen, und Freund Nolten bekam eine, wie ihm schien, ungewöhnlich freundliche »Gute Nacht« mit auf den Weg.


Im Heimgehen machte Theobald seinen Begleiter auf jene Störung aufmerksam. »Gott weiß«, antwortete Larkens, »was die Fratzen im Kopfe hatten! Am Ende war's nur Unbeholfenheit, was sie zu dem exotischen Ding sagen sollten; wären wir doch lieber damit zu Hause geblieben oder hätten ihnen eine gutbürgerliche Komödie gegeben – Ei aber ein verdammter Streich müßt es doch sein, wenn sie eine Neckerei mit der alten Majestät darunter suchten!«

»Das fürcht ich«, erwiderte Nolten, »und riet ich dir nicht damals schon, wie du mich mit der Sache bekannt machtest, es lieber bei dir zu behalten, weil für keine Mißdeutung zu stehen sei? Es war vorauszusehen. Denn daß dir der alte Nikolaus und die Mätresse bei der ganzen Komposition vorgeschwebt, gestehst du selber und hat sich heute nur zu sehr gerechtfertigt –«

[130] »Zumal«, unterbrach der andere ihn mit Gelächter, »zumal, wenn es wahr sein sollte, daß dir selbst der Teufel auch einigemal in den Pinsel gefahren ist, weil du, wie du sagtest, den herrlichen Kopf des Alten auf dem Porträt über meinem Schreibtisch länger als rätlich war, ins Auge gefaßt!«

»Leid genug auf alle Fälle sollte mir's sein«, gestand Nolten nach einigem Besinnen, »man weiß nicht, wie so was umkommt und sich in der Leute Mund verunstaltet.«

»Was da!« rief der andere, »wer wird so abgeschmackt sein und etwas Böses da herauskombinieren wollen? weißt du mir was Tolleres? Gar zu klein fänd ich es schon, wenn diese Kreaturen, die sich Gebildete nennen, überhaupt einem fremden Gedanken dabei Raum geben und über das Poetische der schlichten Fabel hinausgehen konnten. Aber das ist ganz in der Art eines schöngeistigen Klubs, das weiß man ja lange. Lassen wir's halt gut sein; werden uns den Prozeß nicht machen.«

So kamen die beiden in ihrer Wohnung an. Theobald, ganz nur in der heimlich entzückten Erinnerung an die Güte der Geliebten schwelgend, ließ sich den ärgerlichen Gegenstand wenig anfechten, er freute sich auf die Stille seines Zimmers, wo er ungestört mit seinem Herzen weiterreden konnte. Larkens pfiff wie gewöhnlich, wenn er bei der Nachhausekunft den Schlüssel in die Türe steckte, seine fröhliche Arie, und so überließ sich denn jeder sich selber.

Dem Leser aber mag zum Verständnisse des Obigen Folgendes dienen.

Der seit etwa zwei Jahren mit Tod abgegangene König Nikolaus, Vater und Vorfahrer des regierenden, galt bis in sein späteres Alter für einen ausnehmend schönen und auch sonst sehr begabten Mann. Er hatte mit einer ungleich jüngeren Dame aus einem anverwandten Fürstenhause ein zärtliches Verhältnis, das die letztere mit einiger Aufdringlichkeit und – so glaubte man – aus eigennützigen, politischen Absichten auch dann noch fortzusetzen wußte, als der Monarch für die Reize der Jugend bereits abgestorben sein sollte, oder ihnen auch wirklich schon entsagt hatte. Aber Schwäche des Charakters, oder eine Verbindlichkeit, der er nicht ausweichen konnte, machten ihn gegen die Zauberin nachgiebiger, als wohl seinem Rufe dienlich war. Eine beschwerliche Nervenkrankheit, aber mehr noch die Sorge, er genüge als Regent seinem Volke nimmer, verbitterte ihm vollends das Leben, er sehnte sich mit einer Ungeduld, deren [131] Ausbrüche oft schauerlich gewesen sein sollen, dem Tod entgegen, und man wollte wissen, daß er einen mißlungenen Versuch zum Selbstmorde gemacht. Bekannt genug war die Anekdote, wonach er einst in einem Anfall von Verzweiflung bitter scherzend ausgerufen. »Der Himmel will einen neuen Methusalah aus mir haben, und Viktorie zerrt mich mit Gewalt in die Jünglingsjahre zurück.« Diese Worte klangen um so komischer, je mehr man der boshaften Meinung einiger Spötter trauen wollte, daß die schneeweißen Locken Seiner Majestät sich noch immer nicht ungerne von den Rosen der jungen Fürstin schmeicheln ließen. Wie dem auch gewesen sein mag – unter denjenigen, welchen das Gedächtnis dieses merkwürdigen, früher sehr wohltätigen Regenten höchst ehrwürdig, ja heilig blieb, war auch unser Larkens, und zwar abgesehen von der persönlichen Gunst des Königs gegen ihn als Schauspieler, war Nikolaus in seinen Augen ein großartiges tragisches Rätsel der Menschennatur, eine mächtige graue Trümmer an dem uralten Königspalast. Geschmäht von dem Geschmacke einer frivolen Zeit, angestaunt von wenigen edleren Geistern, hätte sich die herrliche Säule, wie sie bereits mit halbem Leibe schon in die Erde eingesunken war, gramvoll lieber vollends unter den Boden verborgen mit ihren für dieses Geschlecht unlesbar gewordenen Chiffern, aber es war anders mit ihr beschlossen, und so konnte oder wollte sie auch den Trost nicht von sich abwehren, daß ein jugendlicher Efeu sich liebevoll an ihr hinanschlinge.

Zu entschuldigen ist es nun, wenn der Freund einen Teil jener Idee mit frommem Sinne auf ein Gebilde seiner Phantasie übertrug, und gewissermaßen eine Apotheose jenes unglücklichen Fürsten liefern wollte, ohne weder zu hoffen noch zu fürchten, daß andere, denen er seinen Versuch vorgeführt, auch nur entfernterweise geneigt sein könnten, irgendeine – würdige oder unwürdige – Deutung zu machen.


Es war eine überaus klare und schöne Winternacht. Die Glocke schlug soeben eilf. Im Zarlinschen Hause war alles schon stille geworden, nur das Schlafzimmer der Gräfin finden wir noch erhellt. Constanze, im weißen Nachtgewande, allein vor einem Tischchen bei dem Bette sitzend, ist beschäftigt, die schönen Haare loszuwickeln, das Ohrgehänge und die schmale Perlschnur abzulegen, die ihrem Halse immer so ein fach reizend gestanden. Sie hob die Schnur nachdenklich spielend am kleinen [132] Finger gegen das Licht, und wenn wir recht auf ihrer Stirne lesen, so ist es Theobald, an den sie gegenwärtig denkt. Scheint es doch, als wüßte sie, daß sie ihm diese Gabe verdanke, daß das Geschenk nur vermittelst eines künstlichen Umwegs aus seiner Hand durch eine dritte in die ihre gelangt war! – aber, in der Tat, sie wußte es nicht; und doch wiederholte sie sich heute nicht zum erstenmal jene Worte, die er einst, im Anschaun ihrer Gestalt verloren, gegen sie hatte fallenlassen. »Perlen«, sagte er, »haben von jeher etwas eigen Sinn – und Gedankenvolles in ihrem Wesen für mich gehabt, und wahrlich, diese hier hängen um diesen Hals, wie eine Reihe verkörperter Gedanken, aus einer trüben Seele hervorgequollen. Ich wollte, daß ich es hätte sein dürfen, der das Glück hatte, Ihnen das Andenken umzuknüpfen. Es liegt ein natürliches unschuldiges Vergnügen darin, zu wissen, daß eine Person, die wir verehren, der wir stets nahe sein möchten, irgendeine Kleinigkeit von uns bei sich trage, wodurch unser Bild sich ihr vergegenwärtigen muß. Warum dürfen doch Freunde, warum dürfen entferntere Bekannte sich einander nicht allemal in diesem Sinne beschenken? muß das edlere Gefühl überall der Konvenienz weichen?«

Constanze erinnerte sich gar wohl, wie sie damals errötete, und was sie scherzhaft zur Antwort gab. Ach, seufzte sie jetzt vor sich hin, wüßte er, wie tief ich sein Bild im Innersten des Herzens bewahre, er würde den Geber dieser armen Zierde nicht beneiden.

Unruhig stand sie auf, unruhig trat sie ans Fenster und ließ den herrlich erleuchteten Himmel mit aller seiner Ahnung, mit all seiner Hoheit auf ihre Seele wirken. Die Liebe zu jenem Manne, von ihren ersten unmerklichen Pulsen bis zu dem bestürzten Zustande des völligen Bewußtseins, von der Zeit an, wo ihr Gefühl bereits zur Sehnsucht, zum Verlangen ward, bis zu dem Gipfel der mächtigsten Leidenschaft – alles durchlief sie in Gedanken wieder und alles schien ihr unbegreiflich. Sie sah unter leisem Kopfschütteln, mit schauderndem Lächeln in die reizende Kluft des Schicksals hinab. Die Augen traten ihr über wie damals in der Grotte, wo die noch getrennten Elemente ihrer Liebe, durch Noltens unwiderstehliche Glut aufgereizt, zum erstenmal in volle süße Gärung überschlugen und alle Sinne umhüllten. Sie hatte nichts zu beweinen, nichts zu bereuen, es waren die Tränen, die dem Menschen so willig kommen, wenn er, sich selbst anschauend, das Haupt geduldig in [133] den Mutterschoß eines allwaltenden Geschicks verbirgt, das die Waage über ihm schweben läßt; er betrachtet sich in solchen Momenten mit einer Art gerührter Selbstachtung, die höhere Bedeutsamkeit einer Lebensepoche macht ihn in seinen eigenen Augen gleichsam zu einem seltenen Pflegekinde der Gottheit, es ist, als fühlte er sich hoch an die Seite seines Genius gehoben.

Lange, lange noch starrte Constanze, stillversunken, einer Bildsäule gleich an die Fensterpfoste angelehnt, hinaus in die schöne Nacht. Jetzt überwältigte sie der Drang ihrer Gefühle; sie sank unwillkürlich auf die Kniee nieder, und indem sie die Hände faltete, wußte sie kaum, was alles in ihrem Innern durcheinanderflutete; und doch, ihr Mund bewegte sich leise zu Worten des brünstigen Dankes, der innigsten Bitten.

Nachdem sie sich wieder erhoben, glaubte sie, der Himmel wolle ihr in der ruhigen Heiterkeit, wovon ihre Seele jetzt wie getragen war, Erhörung ihres Gebets ankündigen. In der Tat, jetzt war sie auch beherzt genug, um endlich nicht länger die Frage abzuweisen: was denn zuletzt von dieser Liebe zu hoffen oder zu fürchten sei? was es mit Theobald, was es mit ihr werden solle? Sie stellte sich aufrichtig alle Verhältnisse vor, sie verschwieg sich keine Bedenken, keine Schwierigkeit, sie wog jegliches gegeneinander ab, und mehr und mehr vertraute sie der Möglichkeit einer ehrenvollen und glücklichen Vereinigung, ja, wenn sie sich genauer prüfte, so fand sie diese Hoffnung längst vorbereitet im Hintergrund ihrer Seele gelegen. Aber nicht allzukühn durfte sie ihr sich überlassen, denn schon der nächste Augenblick wies ihr so manches Hindernis, worunter der Adelstolz der Familie keineswegs das geringste war, in einem strengeren Lichte, als es ihr noch kaum vorher erschien. Es bemächtigte sich ihrer eine nie empfundene Angst; sie wollte sich für heute der Sache ganz entschlagen, sie griff nach einem Buche: umsonst, kein Gedanke wollte haften; Mitternacht war vorüber; sollte sie sich niederlegen, schlafen? Es wäre unmöglich gewesen, so bang, so heiß und unbehaglich wie ihr war.

Ich will Emilien wecken, fiel ihr endlich ein, das Mädchen soll mit mir plaudern. Sie bedachte sich um so weniger, die Gesellschaft des Kammermädchens zu suchen, da zu ihrer Verwunderung wirklich noch der Schein eines Lichtes in dem Erker zu sehen war, wo jene schlief. Sie ging leise über den Gang, öffnete das Kabinett und fand das Mädchen fest eingeschlafen im Bette, daneben das Licht, ausflammend in den Leuchter [134] hinabgesunken. Eine offene Brieftasche und eine Anzahl zerstreuter Blätter lag unter den Händen der Schlafenden. Auf einen Anruf erwachte diese, heftig erschrocken, und ihre erste Bewegung war, schnell Tasche und Papiere zu verbergen, so daß Constanze dadurch aufmerksam gemacht, gelassen fragte: was sie hier gelesen?

»Ach!« war die bebende Antwort, »zürnen Sie nicht, gnädige Frau! es sind alte Briefe, die ich nach langer Zeit einmal wieder vornahm, und darüber muß der Schlaf mich überrascht haben – wieviel Uhr ist es doch?«

»Wieviel?« sagte Constanze, sie scharf ansehend, »ich denke es ist halb – gelogen, was du da sprichst. Laß doch sehen!«

»O bitte, liebste, süße gnädige Frau! ich habe ja gewiß nichts Unrechtes – aber erlassen Sie's mir!«

»Nichts weiter, mein Kind, verlang ich, als einen Blick, mich zu überzeugen.«

So reichte denn Emilie mit Zittern alles hin, indem sie in lautes Weinen ausbrach. Aber Constanze, wie mußte sie erschrecken, als der Anblick der Tasche, als die goldgedruckten Lettern T. N. auf der dunkelblauen Saffiandecke zur Genüge den Eigentümer bezeichneten.

»Wie kommst du zu diesem?« fragte sie, mit Mühe ihre Verlegenheit bergend.

»Drüben«, schluchzte das Mädchen, »wo die Herren heute das Spiel machten, lag die Tasche hinter dem Schattenspielkästchen, ich wollte mir nur die bunten Gläser ein wenig besehen, und da – nun da nahm ich –«

»Hinter dem Kästchen, sagst du?«

»Ja ja, gnädige Frau! ich sage nun die reine Wahrheit, es hälfe mir ja doch nichts mehr, und aufgeschlagen lag sie da, ganz nachlässig, als hätte man sie eben erst gebraucht und dann vergessen; – richtig! die Bleifeder war auch herausgenommen, sie muß noch auf dem Tischchen zu finden sein. Wahrhaftig, wäre nicht alles so offen dagelegen, ich hätte mich nicht unterstanden.«

»Eine Entschuldigung ist das in keinem Falle. Indessen – blieb nichts mehr zurück? Sieh im Bette nach!«

»Sie haben das letzte Papierchen.«

»Ich werde das zu mir nehmen bis morgen. Lösche dein Licht. Gute Nacht!« – Unwillig und ängstlich eilte sie auf ihr Zimmer. Daß das, was sie in Händen hielt, Nolten zugehöre, zweifelte sie keinen Augenblick; auch wie es zu dem Larkensschen [135] Apparate gekommen, erklärte sie sich leicht daher, daß Theobald einmal hinter die Gardine getreten war, um mit irgend etwas auszuhelfen, wobei er vielleicht der Tasche bedurfte. Aber die Möglichkeit, es könnte außer dem Mädchen sonst noch jemand neugierig auf den Inhalt derselben gewesen sein, beunruhigte sie um so stärker, je mehr sie Ursache hatte zu der Vermutung, daß auch ihr Name und damit ein gefährliches Geheimnis darin berührt sein könnte. Diese Rücksicht und vielleicht mitunter ein verzeihliches Interesse des eigenen Herzens bewog sie, zwar mit beklommenem Atem, erst nur einen halben Blick, dann einen ganzen, endlich mehrere und immer gierigere Blicke in die Blätter zu werfen. Aber mitten im wärmsten Zuge riß ihr das Gefühl von etwas Unerlaubtem, Verächtlichen die Tasche wieder aus der Hand. Vor lauter ängstlicher Hast hatte sie bis jetzt nichts Zusammenhängendes lesen können, und sie sagte das ihrem Gewissen zum Troste, während sie, dennoch mit einiger Überwindung, den Schatz beiseite legte Allein plötzlich steigt ihr eine Besorgnis auf, die alles Blut in ihre Wangen jagt. Sie hatte vorhin nur oberflächlich einige Briefe von zarter, unbekannter Schrift gesehen, und, ohne zu wissen warum, an eine Schwester Theobalds dabei gedacht; jetzt meldete sich noch ein ganz anderer Gedanke. Entschlossen kehrte sie zu dem Gegenstande ihres Verdachts zurück und griff einiges Geschriebene heraus, sie las und las, errötend, erblassend; ihr Busen kämpfte mit lauten Schlägen; jetzt entfällt das Papier ihren Fingern, sie sinkt auf das Lager, einer Leiche gleich, keines Lautes, keiner Träne mächtig.

Ein Pochen an der Tür bringt sie endlich zu sich, sie fährt auf, und indem sie verworren umherblickt, lächelt die Arme, wie fragend, ob jenes Entsetzliche ihr bloß im Schlummer begegnet sei, und lächelt wieder, aber wie eine Verzweifelte, da das Blatt auf dem Boden ihr die traurige Wahrheit bezeugt.

Es klopfte von neuem an und eine klägliche Mädchenstimme ließ sich hören: »Nein! ich kann nicht ruhen, ich will erfrieren hier, bis ich sie gesprochen habe, bis sie mir vergeben hat! – Gnädige Frau! Liebe! Gute!«

Da keine Antwort erfolgte, bat es wiederholt im flehentlichsten Tone: »Um Gottes willen, lassen Sie Emilien ein, nur auf zwei Minuten, nur auf zwei Worte! Vergeben Sie mir!«

»Ja, ja doch! geh nur, mein Kind!« erwiderte Constanze kaum hörbar, und das Mädchen schlich getröstet weg, ohne alle [136] Ahnung, welchen Schmerz sie ihrer Herrin bereitet. Wir wagen es nicht, diesen Schmerz zu schildern. Aber wie alles zum Äußersten und Unnatürlichen Gesteigerte sich nicht lange auf dieser Höhe erhält, so fiel alsbald ein unwiderstehlicher tiefer Schlaf über die Erschöpfte her und versenkte sie in ein wohltätiges Vergessen ihres mitleidswerten Zustandes.

Ebenso ruhig und gelassen wie vor einer Stunde, da der Blick der Sterne das Gebet einer Glücklichen zu segnen schien, funkelten sie jetzt auf das Lager des unglücklichsten Weibes herab. So rasch kann sich an die höchste irdische Wonne das Dasein unübersehbaren Jammers drängen.


Noch ehe es vollkommen Tag geworden, erwachte Constanze, und leider schnell genug besann sie sich auf den betäubenden Schlag. Sie bat Gott um Stärkung und Fassung, stand ermattet auf und ordnete mit trockenem Aug die Brieftasche, woraus ihr zum Überflusse noch eine Haarlocke, ohne Zweifel von der unbekannten Briefstellerin, entgegenfiel.

Sie erschien sich selber im Spiegel wie ein verändertes Wesen, das, seitdem etwas Ungeheures mit ihm vorgegangen, gar nicht mehr in die bisherigen Umgebungen, in diese Wände, unter diese Geräte passen wolle, es schien sie alles umher wie einen lange entfernten Gast, ja als eine Abgeschiedene anzublicken, und sie selbst kam sich mit ihrem schwanken Tritt, mit ihrem schmerzverklärten, stillen Gefühl beinahe wie ein erst kurz aus dem Grabe Entlassenes vor, das noch nicht festen Fuß gefaßt und den Eindruck des letzten Todeskrampfes nur nach und nach loswerden kann.

Indessen sie sich langsam ankleidete, wunderte sie selbst ihre Ruhe, die freilich mehr Stumpfheit zu nennen war. Sie eilte aus dem traurigen Gemach und hinüber in die vorderen Zimmer, wo noch niemand war. Bald erschien die Morgensonne in den Fenstern und lud zu Heiterkeit und Leben ein. Gedankenlos schaute Constanze durch die Scheiben, und um nur etwas zu tun, rieb sie die Meubles mit dem Staubtuch ab, wobei sie manchmal zerstreut innehielt. – Emilie trat herein, voll Erstaunen, ihre Gebieterin schon hier zu treffen. »Ich habe dir dein Geschäft abgenommen!« sagte die Gräfin freundlich, »siehst du, zum Zeichen, daß ich wieder gut bin. Aber den Gefallen tu mir und rede kein Wort weiter darüber.« Ein warmer Handkuß dankte der Gütigen.

[137] Sehr willkommen war es der sonderbar gestimmten Frau, als jetzt auch ihr Bruder erschien. »Guten Tag, mein Schwesterchen! So früh wie der Vogel schon auf? Die Sorge um das Gewächshaus trieb mich aus den Federn; das war eine grimmkalte Nacht, mein Thermometer zeigt fast fünfundzwanzig; ich muß nur nachsehen, ob unten nichts gelitten hat.« »Ich darf dich begleiten!« sagte die Gräfin und warf die Saloppe um. Ihr Wesen, erzwungen munter und verstört, machte den Bruder einen Augenblick stutzig, aber er hatte fast keine Augen vor lauter Erwartung, wie es im Garten stehe.

Die streng frische Luft tat Constanzen wohl. In gereizten Stimmungen, wie die ihrige jetzt war, hat der Mensch auf einige Sekunden vielleicht die höchste Empfänglichkeit für die Natur, in welcher Gestalt sie ihm auch entgegentreten mag; er möchte mit einem Sprung sich ganz nur ihrer Freundschaft, ihres göttlich stillen Lebens bemächtigen, um auf einmal eine Last von alten Zuständen abzuwerfen und zu vergessen. Aber dieses schnell aufflackernde Gefühl ist nur der Sonnenblick, dem alsbald wieder die vorige Wolkentrübe folgt. Constanze erwehrte sich so gut wie möglich. Doch als der Graf zu seiner größten Freude die Gewächse meist unverletzt fand, und bei jedem neuen Stocke bemüht war, die Schwester von seinem Glück zu überzeugen, da konnte sie den wehmütigen Gedanken nicht bei sich unterdrücken: wie war mir zumute in der Stunde, als diesen Pflanzen, diesen edlen Stämmchen der Frost das Verderben drohte? Sie grünen noch und blühen, wie auch ich noch aufrecht stehe, mir selber zum Wunder; aber vielleicht der innerste Lebenskeim dieser zarten Staude ist doch angegriffen, es wird sich zeigen, ob sie uns nicht mit dem bloßen Scheine von Gesundheit täuscht, ob nicht heute abend schon diese Knospe erstorben dahängt, und – –

Constanzens künstliche Fassung war weg, sie eilte, ihr Gesicht bedeckend, mit schnellen Schritten nach dem Hause zu. Bei dem Wiedersehen ihres Zimmers, dessen Türe sie sogleich hinter sich zuriegelte, brach aller verhaltene Schmerz mit doppelter und dreifacher Gewalt hervor, und sie überließ sich ihm ohne Schonung. Nun erst überdachte sie, was geschehen war, nun erst wagte sie ganz in den Abgrund ihres Elends hinabzutauchen. Wie begierig auch ihr Verstand mitunter nach einer Auskunft, nach einem Troste umhertastete, wie scharfsinnig auch selbst die Verzweiflung noch war, um einen erträglichen [138] Zusammenhang der Sache zu entdecken, um den ungeheuren Widerspruch, worin Nolten in dem Doppelverhältnis zu ihr und einer Unbekannten erschien, beruhigend zu lösen oder doch zu erklären, sie fand keinen Ausweg, keinen Schimmer von Licht. Verglich sie alles dasjenige, wodurch er ihr die unzweideutigste Leidenschaft an den Tag gelegt, mit den fremden Briefen, deren ganzer Ausdruck ein längst begründetes und sehr blühendes Verlobtenverhältnis verriet, so blieb nichts übrig als Theobalden für den ruchlosesten Heuchler zu erkennen, der zwei Geschöpfe zugleich betrog, oder für einen Wahnsinnigen, Charakterlosen, welcher mit sich selber in unerhörtem Zwiespalte lebt. Beides aber ist mit der ganzen Art und Weise, wie Nolten sonst sich gab, schlechterdings nicht zu reimen. Denn selbst die Spuren exzentrischen Wesens an ihm waren bei weitem gemäßigter, als sie zuweilen sogar an geachteten Männern von verwandtem Talente und Bestreben hervorzutreten pflegen. Am wenigsten konnte Constanze die Güte seines Herzens aufgeben. Jeder einzelne Moment, den sie sich zurückrief und worin sie in die Falten seines eigensten Denkens und Empfindens geblickt zu haben glaubte, so mancher Anlaß, wo in wenigen treffend ausgesprochenen Worten über Leben, über Kunst, ein gedrungener Strahl seines Gemüts aufgestiegen war und auf eine ganze Versammlung anregend wirkte, endlich der ganze erschöpfende Begriff, den sie sich nach so langem Umgange von ihm abgezogen hatte – alles stritt mit dem finstern, unheimlichen Zerrbilde, das vielleicht ein blinder Zufall ihr aufdringen wollte, sie zu schrecken, zu ängstigen, und worüber der Geliebte, der wahre unverfälschte, wohl selbst verwundert lächeln würde. Ein Funke von Hoffnung beschleicht sie, sie schaut aufs neue nach dem Datum der Briefe, sie rechnet schnell Monate, Wochen, Tage, aber das Resultat ist immer nicht tröstlich, immerhin fällt ein Teil der zärtlichen Korrespondenz in die Zeit, wo Theobald Constanzen bereits unverkennbare Zeichen seiner Absichten gegeben. Und gesetzt auch, die Neigung, wovon jene Briefe zeugen, wäre bloß eine einseitige – was jedoch den Anschein gar nicht hat –, gesetzt, Nolten hätte, den Glauben des Mädchens hinhaltend, sich indessen heimlich einer unglaublichen Veränderung schuldig gemacht, was würde das Constanzen helfen? was hätte sie von einem solchen Manne zu gewarten? wie möchte sie ein anderes Geschöpf um seine teuersten Hoffnungen bestehlen? und ein Geschöpf, das sie wirklich [139] nicht hassen konnte, das allem nach das rührendste Bild der Unschuld, der hingebenden Liebe ist? ja, wie konnte ihr die heißeste Liebe Theobalds nur im entfernten noch schmeicheln, wenn diese der sündige Raub an einem fremden guten Wesen wäre?

Aber noch immer war ja die Frage nicht überwunden, wie nur Nolten eines so beispiellosen Betrugs fähig sein konnte?

Constanzens Auge stand weit, groß, nachdenkend in einen Winkel des Zimmers gerichtet, während ihr Geist sich nach und nach den unglückseligen Gedanken zurechtarbeitete: es könne denn doch wohl einen Menschen geben, der aus Schwäche, frevelhafter Selbstsucht und gelegentlich aus einem Rest ursprünglicher Gutmütigkeit zusammengesetzt, vor andern, wie zum Teil auch vor sich selber, einen Schein von Vortrefflichkeit zu erhalten und vor dem eigenen Gewissen jede Untat zu rechtfertigen wisse, es lasse sich ein Grad von Verstellung denken, der alle gewöhnlichen Begriffe übersteige. Der genaue Umgang Theobalds mit Larkens, so wenig sie dem letztern bis jetzt mißtraut hatte, konnte sie nun, wenn sie sich der Meinungen anderer erinnerte, in ihrem Urteile nur bestärken, und sie glaubte in ihm den Verführer entdeckt zu haben.

Teilnehmend blickte sie aufs neue nach den Briefen Agnesens, sie enthielt sich nicht, den reinen harmonischen Sinn zu bewundern, welcher sich in jedem Worte des Mädchens aussprach. »Arme Agnes!« sagte sie, »armes betrogenes Kind! Ist es möglich? sollte er sich nicht der Sünde gefürchtet haben, diese Seele zu hintergehen, wenn er sie auch nur so weit kennengelernt hatte, als ich sie aus diesen Blättern kennenlernte? Gütiger Gott! solch ein Lamm und solch eine Schlange, wie kommen sie zusammen? Mich hat Gottes Finger noch zu rechter Zeit gewarnt, aber sie – tue ich recht, wenn ich sie ihrem Schicksal überlasse? ist's nun nicht an mir, zu warnen? Ja, wahrlich, das kommt mir zu – – Und doch, es könnte übereilt sein; wer weiß, ob ich Schlimmes nicht schlimmer machte, ob der Verräter, wenn der Himmel ihn noch retten will, nicht einzig durch die Liebe dieses Engels zu retten ist?«

Der letzte Zweifel über die Gesinnungen Noltens verschwand vollends, als ein Dokument von seiner eigenen Hand zum Vorschein kam – das Konzept eines Schreibens an die Braut, das erst gestern entworfen worden war. Mit einem tiefen Gefühle von Unwillen, von Wehmut, von Verachtung, ja von Schauder [140] vernahm sie hier die Sprache der beredtesten Liebe und einen sehr redlichen, männlich klingenden Ton. Eine Stelle aber war ihr besonders merkwürdig. »Ich befand mich«, hieß es, »diese letzte Zeit her in einem vielleicht nicht ganz löblichen Rausche von Zerstreuungen aller Art, wobei denn die geistige Gestalt meiner Agnes doch immer aufs lebendigste durchblickte. Ja, ich darf dir wohl gestehen, daß ich seit der glücklichen Beilegung jenes argwöhnischen Skrupels mit doppelter Innigkeit in dir lebe.«

Die Äußerung sah fast aus wie ein verstecktes Geständnis seiner Herzensverirrung, das ihm vielleicht sein Gewissen notdürftig abgedrungen. Diese Verirrung selbst konnte nunmehr in Constanzens Augen, wenn auch keinen Entschuldigungsgrund, doch eine Art Erklärung für Noltens Betragen abgeben, wenn sie annahm, daß das Mißverständnis, wovon sie auch in einem Briefe Agnesens eine Spur gefunden, der Anlaß zu einer heftigen und nachhaltigen Verstimmung für Theobald geworden, daß er, seinem extremen Charakter nicht ungemäß, sich in einen desperaten Wechsel gestürzt habe, und daß sie als das Opfer dienen müssen. Seine Bekehrung war natürlich in die Zeit zwischen gestern und jener Lustpartie gefallen, und allem nach unterzog er sich ihr sehr willig.

Soviel Wahrscheinliches diese Schlüsse hatten, und sosehr sie auch geeignet schienen, ein wenigstens erträgliches Licht auf Noltens Benehmen zu werfen, so wenig Trost gaben sie der schönen Frau. Denn von dem Augenblicke an, wo ihre Achtung für ihn sich einigermaßen erholte, begann auch ihre Liebe wieder zu atmen, und nun war sie fast übler daran, als solange sie ihn getrost verabscheuen konnte. Also Noltens Glück war wiederhergestellt, das Mädchen selig in seinem Besitz und – sie selbst hatte nur auf eine kurze Zeit die Lücke gebüßt, um jetzt wieder allein, verlassen, vergessen dazustehen, den bittern Stachel im Herzen. Eine Regung von Zorn flammte in ihr auf, sie fühlte ihre weibliche Würde beleidigt, mit Füßen getreten, sie fühlte alle Qual verschmähter Liebe. Und hatte sie vorhin einen reinen Zug schwesterlicher Neigung zu Agnes empfunden, so konnte sie nun einer Anwandlung von schmerzlicher Mißgunst nicht widerstehen, so lebhaft sie sich auch darüber anklagte. Aber auch indem es ihr gelang, allen Groll von der Unschuldigen ab und auf den geliebten Überläufer zu werfen – es blieb nur das Bewußtsein ihrer Unmacht, ihrer Kränkung [141] übrig. Jede Erinnerung an das Vergangene, das kleinste Zeichen, womit sie ihm ihre Gunst verraten haben mochte, versetzte jetzt ihrem Stolze, ihrem Ehrgefühle Stich auf Stich. Noch gestern beim Abschied unter der Türe hatte sie ihn mit bedeutungsvoller Freundlichkeit entlassen und – so kam es ihr jetzt vor – ihm beliebte kaum ein kalter Dank darauf. Am meisten demütigte und beschämte sie der Auftritt in der Grotte, sie bedeckte bei diesem Gedanken ihr glühendes Gesicht mit dem Tuche, weinend und schluchzend.

Kein Wunder, wenn ihr jetzt die kläglichen Worte Thereilens aus dem gestrigen Schauspiele einkamen, das gleichsam weissagend von ihr gesprochen; kein Wunder, gab sie auf einen Augenblick dem widersinnigen Gedanken Raum, als hätte Larkens einigemal eine boshafte Anspielung auf sie im Sinne gehabt. Aber ganz ist ihr gegenwärtiger Zustand durch die leidenschaftlichen Zeilen bezeichnet:


O armer Zorn!
Noch ärmere Liebe!
Zornwut und Liebe
Verzweifelnd aneinandergehetzt
Beiden das Auge voll Tränen,
Und Mitleid dazwischen,
Ein flehendes Kind!

Desselben Morgens gegen zehn Uhr, als Larkens eben von einem Ausgange nach Hause kam, übergab sein Bedienter ihm das braune Kästchen, das die Laterna magica verwahrte; man habe es vor einer Viertelstunde aus dem Zarlinschen Hause hiehergebracht nebst dem Danke der gnädigen Frau. Unser Schauspieler öffnete den Deckel, zog begierig die zuoberst liegende Brieftasche heraus, untersuchte sie von allen Seiten und sein Mund verzog sich zu einem vergnügten, doch gewissermaßen befremdeten Lächeln, indem er ausrief: »Beim Himmel! die Falle hat gelockt, der Speck ist angebissen, und das wacker! kein Zettelchen blieb unverrückt. Ich sorge nur, der Spaß ist in plumpere Hände geraten, als ich gewollt hatte. Sei's drum; durch die Finger von Madame ist die Tasche auf jeden Fall auch gekommen, und ich müßte mich übel auf Evas Geschlecht verstehen, wenn diese Finger mehr Diskretion gehabt hätten, [142] als mir für den Kasus lieb wäre. Genug; es wird sich zeigen, die Wirkung kann nicht ausbleiben. Diesmal hättest du fürwahr meisterlich kalkuliert, Bruder Larkens, der Herr gebe seinen Segen dazu.«

Wirklich war es die Absicht des Freundes gewesen, daß Constanze die Tasche finden und sich ihrer Geheimnisse nicht enthalten möge; er konnte darauf zählen, daß man sie für das Eigentum Noltens erkennen würde, in der Tat aber war sie nur ein Geschenk, das dieser dem Freunde zu der Zeit gemacht hatte, wo er alles, was ihn an Agnes erinnern konnte, Briefe, Haare und hundert andere Kleinigkeiten, auf immer loswerden wollte.

Larkens hoffte durch jenen ausgedachten, wohlgemeinten Streich teils bei der Gräfin jeder möglichen Neigung gegen Theobald vorzubeugen, teils glaubte er, sie müßte von nun an, eingedenk des Verhältnisses mit Agnes, durch ihr Betragen unzugänglich für Nolten selber werden. Nun hatte zwar Larkens, zufolge der mißtrauischen Verschlossenheit seines Freundes mit der wahren Lage der Dinge unbekannt, sich in seinem Plane etwas geirrt; er hätte, wäre er besser unterrichtet gewesen, vielleicht einen ganz andern Weg eingeschlagen, aber auch auf diesem erreichte er, wie wir gesehen haben, seinen Hauptzweck vollständig, nur freilich auf eine grausamere Art, als er sich vorgestellt hatte. Sehr übereilt und tadelnswert würden wir seine eigenmächtige Handlungsweise nennen müssen, wenn er eine Ahnung von den großen Fortschritten gehabt hätte, welche Theobalds neue Liebe bereits gemacht hatte, weil Larkens jene Rechte der Braut nur auf große Kosten der Ehrlichkeit seines Freundes aufdecken konnte; übereilt und unsicher müßten wir sein einseitiges Verfahren auch insofern schelten, als er ja nicht wissen konnte, ob Nolten, wenn er sich auch bis jetzt noch gegen Constanze zurückgehalten, doch in kurzem nicht vielleicht ihr sein Herz anbieten werde, da er dann notwendig im zweideutigsten Lichte vor ihr erscheinen müßte; allein fürs erste hatte Larkens nicht die mindeste Vermutung davon, wie weit bereits das Verständnis der beiden gediehen war, und fürs zweite, was die Zukunft betrifft, ging er neuerdings ernstlich mit dem Gedanken um, Theobalden die Zeugnisse für Agnesens Unschuld vorzulegen, ihn zu näherer Prüfung der Sache zu vermögen, ihn im Notfall damit zu bedrohen, daß er die Gräfin selbst zur freundschaftlichen Schiedsrichterin darüber aufrufen werde.

[143] Vor allen Dingen widmete er der Frage, inwiefern es geraten sei, Theobalden schon jetzt seine Pflichten für die Verlobte aufzudringen, eine reifliche Überlegung. – Wir überlassen ihn jetzt seinen Gedanken und kehren in das Zarlinsche Haus zurück.

Dort meldete sich des andern Tages gegen Abend ein vornehmer Besuch. Herzog Adolph erschien, und Constanze, in Abwesenheit ihres Bruders, empfing ihn allein. Das ungewöhnlich blasse und verstörte Aussehen der schönen Frau mochte ihm sogleich auffallen, er erkundigte sich auf das angelegentlichste nach ihrem Befinden, ging dann mit einer leichten Wendung auf sein eigenes Anliegen über und erzählte mit sichtbarem Verdrusse, was ihm gestern von einer höchst ärgerlichen Sache bekannt geworden, wobei er bedaure, daß sie gerade in diesem, ihm so höchst schätzbaren, Hause habe vorfallen müssen. Der König, sein Bruder, dessen Ehre dabei beteiligt wäre, sei auf das genaueste davon unterrichtet und aus dessen eigenem Munde habe er es gehört.

Constanze erschrak, erklärte, wie sie zwar an jenem Abende die allgemeine Bewegung der Gesellschaft wahrgenommen, wie auch sie nachher den Grund davon erfahren, wie sie aber an einen solchen Frevel von solchen Männern nicht sogleich habe glauben können. Sie bat, man möge doch wenigstens sie aller Stimme dabei überheben, da Leute von besserer Einsicht, von bedeutenderem Urteil zugegen gewesen. Aber der Herzog gestand, daß der König die vorläufige Ausmittelung der Sache ihm anbefohlen, daß er das Manuskript und was dazugehöre, bereits in Beschlag genommen, daß er aber nach wiederholtem Lesen und genauer Prüfung alles einzelnen noch nicht ganz habe mit sich einig werden können. Er sei zuletzt auf den Einfall geraten, alles von der Entscheidung einer »ebenso scharfsinnigen, als unbefangenen Dame« abhängen zu lassen, und er werde diesfalls auf seiner Bitte beharren, ihrem Ausspruch werde er unbedingt vertrauen. »Freilich«, setzte er mit einem pikanten Akzente hinzu, »freilich, wenn meine getroste Voraussetzung von der gänzlichen Unbefangenheit meiner geliebten Freundin mich denn doch etwas trügte, wenn ihr einer oder der andere von den Beklagten mehr als billig am Herzen läge, dann, meine Gnädige, wäre es wirklich höchst undelikat, trotz Ihrer Weigerung einen gerechten Spruch aus Ihrem Munde zu verlangen.«

[144] Gelassen schaute die Gräfin ihn an und erwiderte: »Beide Männer waren mir sehr viel wert; Sie selbst haben diesen Nolten begünstigt, und schon um Ihretwillen, Adolph, sollte es mir leid sein, wenn Ihnen ein Freund unschuldig gekränkt würde. Was aber jenen Fehler, ich sagte füglich, jenes Verbrechen, betrifft, das man diesen Leuten schuld gibt, so will ich keineswegs der Gerechtigkeit im Wege stehen, nur sie zu befördern bin ich außerstande. Sie selbst können, dünkt mich, doch wohl am besten wissen, was Ihrem Freunde allenfalls zuzutrauen wäre, Sie dürfen vonihm aus dann getrost auf die Gesinnungen des Schauspielers schließen, denn beide sind ja ein Sinn und ein Gedanke. Richten Sie also. Sie waren zwar nicht Zeuge jenes Abends, aber die Dokumente liegen in Ihren Händen, was hätt ich demnach vor Ihnen voraus, das mich zu einem Urteil geschickter machte?«

Der Herzog stand auf, machte einige Schritte und sagte dann im freundlichsten Tone: »Ich tat Ihren Unrecht, meine Liebe! vergeben Sie's. Ich sehe, wir sind beide in einer und derselben Verlegenheit, und wären so ziemlich gleich geneigt, das Ganze zu entschuldigen, wenigstens zum Guten zu wenden. Ich finde nun erst, wie unbillig es von meinem Bruder war, mich in diesen schlimmen Fall zu setzen, wie töricht von mir, den Auftrag anzunehmen. Zwar auch meine Ehre mußte dabei interessiert sein, aber je leidenschaftlicher ich die Sache aufnahm, um so weniger konnt ich hoffen, klar darin zu sehen, und meinem Unwillen hielt auf der andern Seite die Neigung für Nolten kaum das Gleichgewicht, da diese, in der letzten Zeit gar zu lässig von ihm gepflegt, so gut wie eingeschlafen war; um so schlimmer für Noltens Recht, wenn ich ohnehin Ursache hatte, ihm böse zu sein. Bei Ihnen, Beste, spricht ein reines menschliches Gefühl zugunsten des übrigens so braven Künstlerpaares, und ich gestehe Ihnen, auch mich will in Ihrer Nähe die alte Vorliebe für diesen Maler wieder einnehmen, ohne daß Sie noch ein Wort zu seiner Verteidigung vorgebracht – aber vielleicht gerade darum könnt ich ihm verzeihen, weil Sie ihn nicht verteidigen. Könnte ich bei dem Lärm, bei der Erbitterung, die der tolle Vorfall schon bei Hofe veranlaßt hat, ganz ruhig sein, mich vor dem Verdachte der Parteilichkeit bei meinem Bruder sichern, ich möchte die Herren wohl freisprechen und alles zu vertuschen suchen; so aber bin ich der Sorge doch nicht los, und meiner Stellung zu dem guten Maler erwächst aus der [145] dummen Geschichte auf alle Fälle eine bleibende Schwierigkeit. Doch, was beschwere ich Sie mit diesen Unbilden – Lassen Sie uns davon schweigen. Am artigsten wär's«, setzte er scherzend hinzu, »man setzte ein Gericht nieder, bestehend aus einem Archäologen, einem Professor der Ästhetik und einem Advokaten, die sich über das Manuskript und die Bilder hermachen sollten. Nicht wahr, meine Schönste?«

Die wahre Gesinnung des Herzogs und seine schwierige Lage läßt sich übrigens leicht aus folgenden Bemerkungen erkennen.

Weit entfernt von der Torheit, in der fabelhaften Figur jenes tausendjährigen Königs eine ehrenrührige Beziehung zu entdecken, fand er diese Beziehung eher schön und wohlgemeint; dagegen ihm die Ähnlichkeit jener Feenfürstin mit Viktorien um so bedenklicher vorkam. Denn wenn gleich das wahre Verhältnis dieser Person zum verstorbenen Regenten nicht ganz getroffen sein mochte, so war die scheinbarste Seite davon doch so charakteristisch herausgehoben, daß man nicht leugnen konnte, ein sehr frappantes Bild von Viktoriens Erscheinung vor sich zu haben. Die Zeichnung des selbstsüchtigen schalkhaften und doch wieder so innigen Wesens ahmte wirklich die leisesten Nuancen nach. Das alles hätte noch hingehen mögen. Aber diese Dame glänzte noch am Hofe, das Vertrauen, das Nikolaus ihr geschenkt hatte, ward noch vom Sohne geehrt. Insoferne müssen wir jenes Spiel höchst unbedachtsam nennen. Dennoch hätte es vielleicht dem Herzog nicht schwer sein müssen, den möglichen Schaden abzulenken, wäre nicht der König selbst in einer müßigen Stunde auf das verschrieene Manuskript neugierig gewesen. Hier entging ihm denn so manche Verwandtschaft keineswegs, er äußerte sich mit großer Unzufriedenheit über eine so unschickliche Anspielung, namentlich die leichtfertige oder ernste Einführung der bewußten wertgeschätzten Frau empörte ihn als eine unverzeihliche Vermessenheit. Der Herzog besänftigte ihn vorläufig, indem er dieses und jenes noch problematisch darstellte, versprach, das Ganze nochmals genau zu durchgehen, sowie auch nähere Erkundigungen einzuziehen; weil er aber doch ein gerechtes Gefühl des Bruders nicht schlechterdings umgehen und das Zutrauen nicht mißbrauchen wollte, womit dieser ihm die Entscheidung des keineswegs gleichgültigen Gegenstandes überließ, so kam er wirklich mit einer doppelten Pflicht ins Gedränge, er hätte ebensogerne den Maler geschont als dem Bruder Genüge getan; daher denn auch jene [146] Anfrage bei Constanze nichts weniger als bloße Pantomime war, er dachte sie bei dieser Gelegenheit ein wenig zu schrauben, fand aber ein solches Frauenorakel wirklich bequem für seine Unschlüssigkeit, nur glaubte er auf den Fall, daß die Geschichte Rumor machen könnte, aus Diskretion gegen Viktorie den eigentlichen Grund des Ärgernisses verstecken und mehr das Allgemeine vorkehren zu müssen.

Constanze blickte noch immer ernst vor sich nieder, ohne eine Miene zu ändern. Den Herzog rührte ihr Anblick, worin er von jetzt an wirklich nur die edelste Teilnahme an dem Schicksale zweier Hausfreunde zu lesen glaubte; ihr ganzes Wesen von diesem Kummer leicht beschattet, deuchte ihm nie so reizend, so weich gewesen zu sein. Er setzte sich an ihre Seite und gab dem Gespräch eine andere Richtung, sie ging soviel möglich darauf ein, und der Zwang, den sie sich mitunter dabei antat, machte sie nur immer liebenswürdiger, kindlicher, unwiderstehlicher. Dazu kam die einladende Ruhe dieser Stunde, von zweien auf dem Tische brennenden Kerzen traulich verklärt. Der Herzog ergriff in der Unterhaltung die Hand seiner schweigsamen Nebensitzerin, er ließ die schmeichelhaftesten Vorwürfe gegen sie spielen über die karge Art, womit sie seiner Zärtlichkeit immer entgegne, auch jetzt erfuhr diese noch einigen Widerstand, doch – so schien es dem schlauen Manne – mehr einen anständigen als strenge zurückweisenden Widerstand.

Aber als ihr gepreßter Schmerz, ihre Unruhe, ihr Mißbehagen sich immer weniger verbarg, als der wärmer gewordene Liebhaber aufs neue mißtrauisch werden wollte, bald mit dringenden Worten, bald mit den lebhaftesten Liebkosungen zu einer Erklärung nötigte, da war es seltsam, jammervoll anzusehen, wie die arme Frau ganz außer sich geriet, in dem Augenblick, wo sie von ihrem unseligen Geheimnis aufs höchste bewegt, an die verlorene Liebe doppelt schmerzlich erinnert werden mußte, indem eine andere, bisher verhafte, sich hülfreich stürmisch aufdrang. Jetzt stößt sie den Herzog heftig weg, jetzt gibt sie sich seiner Kühnheit unerhört willig hin, dem bängsten Seufzer, dem heißesten Gusse von Tränen folgt plötzlich ein Lachen, dessen kindische Lieblichkeit, dessen herzlicher Klang unter jeden andern Umständen hätte bezaubernd sein müssen. Der Herzog sah in alle diesem nur den unbeschreiblich rührenden Ausdruck einer bis jetzt verhüllten Leidenschaft für ihn, welche sich endlich verraten und noch im entzückten Momente [147] der ersten Umarmung mit holder Scham und süßer Reue kämpfe, ihn selber jedoch zum seligsten der Men schen mache. Wie ganz anders sah es im Busen Constanzens aus! Oft war es ihr, als säße sie, von einem Dämon, von einem höllischen Wesen umschlungen, in entsetzlicher Unmacht festgebannt; Lust und Unlust empörten sich wechselseitig in ihrem Innern, sie überließ sich seinem Kusse mit einem schneidenden Gefühle von Widerwillen, ja von Ekel, sie empfand es unerträglich, wie elend sie sich verirrt, wie töricht rasend ihre Einbildung sei, als ob sie auf diese Art an jenem Verräter heimlich Rache üben könnte! Er – (so rief, so wimmerte es in ihrer Seele) ja er allein hat es verschuldet, daß Constanze so sich verleugnet, daß ich tue, was ich sonst verabscheut hätte, und doch – wie wird alles werden? wie soll das enden? wohl, wohl – mag es, wie es kann! – Sie rang sich los, drückte den Kopf in die Purpurkissen des Sofa, ihr Schluchzen zerriß dem Herzog das Herz, er berührte sie schüchtern, er bat, er beschwor sie um Fassung; sie möge sich doch besinnen, warum sie denn eigentlich verzweifle, ob das unfreiwillige Bekenntnis einer Neigung, die ihn auf ewig zu einem guten, mit Welt und Himmel glücklich ausgesöhnten Menschen zu machen bestimmt sei, ob die Furcht, daß dieses schöne Verständnis jemals dem rohen Urteil der Menschen bloßgestellt werden könne, ob ein Zweifel an seiner Verschwiegenheit, an seiner Treue, ein Zweifel an seiner Ehrfurcht vor ihrer Tugend sie quäle? »Constanze! Teure! Geliebte! blicken Sie auf! sagen Sie, daß ich für heute, für jetzt, mich entfernen soll, fordern Sie, daß ich Sie mein Leben lang durch nichts, durch kein halbes Wort, mit keiner Miene, keinem leisen Wunsche mehr an diesen Abend mahne! Mir aber darf er unvergeßlich bleiben, so wie jetzt wird auf ewig dieses Zimmer, wird das Licht dieser Kerze und wovon es Zeuge gewesen, vor meiner Erinnerung stehen – o Gott! und so, in dieser traurig abgewendeten Lage muß die Gestalt der edelsten Frau vor mir erscheinen, um allen himmlischen Reiz des vorigen Augenblicks wieder auszulöschen! ich werde vergehen, verzweifeln, wenn Sie sich nicht aufrichten, wenn ich Sie so verlassen muß.«

Er faßte sie schonend an beiden Schultern, und sanft rückwärts gebeugt lehnte sie den Kopf an ihn, so daß die offenen schwimmenden Augen unter seinem Kinne aufblickten. Freundlich gedankenlos schaut sie hinan, freundlich senkt er die Lippen auf die klare Stirne nieder.

[148] Lang unterbrach die atmende Stille nichts. Endlich sagt er heiter: »Ist's nicht ein artig Sprichwort, wenn man bei der eingetretenen Pause eines lange gemütlich fortgesetzten Gesprächs zu sagen pflegt: es geht ein Engel durch die Stube?«

Constanze schüttelte, als wollte sie sagen: der vorige, der gegenwärtige Auftritt habe doch wohl einen so friedsamen Geist nicht herbeilocken können.

Abermals versagt ihm ein weiteres Wort; er sinnt über den Zustand der Gräfin nach, der ihm aufs neue verschiedenes zu bedenken gibt. Nicht ohne Absicht kommt er daher spielend wieder auf Nolten und Larkens zurück. »Nein«, sagt er zuletzt, »es würde mir sehr angenehm sein, wenn Sie, meine Liebe, mir über den bösen Punkt Ihre Ansicht offenbaren wollten. Ganz gewiß sind Sie längst darüber im reinen, zum wenigsten haben Sie eine Meinung. Reden Sie mir, ich bitte recht ernstlich – Halten Sie die beiden für schuldig?«

Die Befragte bedenkt sich eine Weile und sagt mit einer sonderbar zuckenden Bewegung: »Schuldig? – er ist's!«

»Wer doch?«

»Nun, der Nolten –«

»Ich erstaune! – und Larkens?«

»Wohl ebensogut. Ja, mein Herr, darauf verlassen Sie sich.«

»Und sind strafbar?«

»So denk ich.«

»Nun, auf mein Wort! so sollen sie's bereuen.«

Der Herzog stand auf; Constanze blieb wie angefesselt. Er hatte dies strenge Urteil aus Constanzens Munde am wenigsten erwartet, um so gegründeter mußte es sein. Er fragte einiges, was ihre Ansicht näher bestimmen sollte, sie versicherte, nichts weiter zu wissen: er möge sich damit begnügen und auf keinen Fall sie verraten. Nun erst, da er Gewißheit zu haben glaubte, da selbst diese billig denkende Frau von solcher Ungebühr bewegt, entrüstet schien, erwachte Ärger und Verdruß in ihm, er enthielt sich der empfindlichsten Ausdrücke nicht, wiederholt dankte er der Geliebten ihre Aufrichtigkeit, die er als natürliche Folge einer zärtlich aufgeschlossenen Stimmung auslegte. Ihm ahnte nicht, von welchem Aufruhr widersprechender Gefühle die Gräfin innerlich zerrissen war, seitdem sie das Entscheidende ausgesprochen. Wie versteinert vor sich hinstarrend, blieb sie aufeiner Stelle sitzen, war mehr als einmal versucht zu Milderung, zu völliger Widerrufung des Gesagten, aber ein [149] unbegreiflich Etwas band ihr die Zunge. Plötzlich hört man den Wagen des Grafen vor dem Haus anrollen, ein eiliger Kuß, ein schmeichelhaft Wort versiegelt von seiten des Herzogs das Geheimnis dieser Stunde.


Ehe wir noch auf die Folgen zu reden kommen, welche diese Vorgänge rasch genug nach sich gezogen, enthalten wir uns nicht, einen allgemeinen Blick auf die Gemüter zu werfen, zwischen denen sich durch die fatalste Verschränkung der Umstände, durch ein doppeltes und dreifaches Mißverständnis eine so ungeheure Kluft gebildet hatte.

Indem unser Maler sich den Aussichten eines unbegrenzten Glückes überläßt, mit jedem Tage der völligen Entscheidung desselben entgegenblickt und soeben beschäftigt ist, der Gräfin seine Wünsche, seine Anerbietungen in einem ruhig besonnenen Briefe frei und edel hinzulegen, spinnt ihm die Liebe selbst durch Constanze ein verräterisches Netz. Der redliche Wille eines Freundes, der im dunkeln seinen Zweck hartnäckig verfolgte ward zum Spiel eines schlimmer oder besser gesinnten Schicksals: die sorgsam aber grillenhaft angelegte Mine, womit Larkens einen gefährlichen Standpunkt der Personen nur leicht auseinanderzusprengen dachte, hat sich tückisch entladen und ist im Begriff, ihrer viere, und darunter ihn selber, mit bitterm Unheil zu treffen, so daß man kaum wüßte, wer von allen am meisten zu bedauern sei, wenn es nicht jenes unschuldige Mädchen ist, um dessen gerechtes Wohl es sich von Anfang an handelte. Aber, scheint Constanze unser Mitleid verscherzt zu haben, seitdem sie sich zu einer heftigen Rache hinreißen ließ und derselben einen falschen Grund unterzuschieben wußte, ja seitdem es den Anschein hat, als wolle sie sich an einen zweideutigen Verehrer wegwerfen, so werden wir doch billig genug sein, uns den Zustand eines weiblichen Herzens zu vergegenwärtigen, das aufs grausamste getäuscht, von der Höhe eines herrlichen Gefühls herabgestürzt, an sich selber, wie an der Menschheit, auf einen Augenblick irrewerden mußte. Was Theobalden selbst betrifft, so sehen wir schon jetzt, wie sich ein zwar sehr verzeihliches, aber dennoch übereiltes Mißtrauen in der Liebe durch ein ganz ähnliches an ihm bestraft, und wir wollen erwarten, ob diese harte Züchtigung mehr zu seinem Unglück oder zu seinem Heile ausschlagen soll.

Die auf Befehl des Herzogs geschehene Konfiskation des verdächtigen [150] Spielkästchens war den Freunden schon kein gutes Zeichen. Larkens geriet in Wut über diesen abgeschmackten Gewaltstreich, wie er's nannte. »Mögen sie sich doch«, rief er dem Maler zu, »die Zähne ausbeißen an diesen armseligen verklecksten Gläsern! und dem ersten Schöpsen, der die Nase in mein argloses Machwerk stecken wird, schlage der Geist des alten Nikolaus nur tüchtig hinters Ohr, zur Erleichterung des kritischen Verständnisses!«

Theobald wollte den Herzog selbst belehren, der Schauspieler gab es nicht zu, indem er behauptete, man müsse dem Pack den Gefallen nicht tun, man müsse abwarten, bis die Maus selbst aus dem unheilschwangeren Berg hervorspringe und die Dummheit sich prostituiere. Da demungeachtet der Maler in seiner gütlichen Absicht den fürstlichen Gönner aufsuchte, ward er zu seiner größten Bestürzung und Verdruß nicht vorgelassen. Ganz trostlos aber machte es ihn, als er sich seine letzte Zuflucht zu Zarlins auf gleiche unerhörte Weise abgeschnitten sah. Er wußte sich nicht zu helfen, nicht zu raten, er hätte mit Freuden den Haß des ganzen Hofes auf sich geladen, wenn er nur über Constanze hätte ruhig sein können.

Inzwischen ward jene mißliche Sache durch einen hinzugetretenen Umstand gar sehr verschlimmert, ja sie bekam eine völlig veränderte Gestalt. Wie immer ein Übel das andere erzeugt und in solchen Fällen des Unheils kein Ende ist, so hatten einige Stimmen nicht ermangelt, bei dieser Gelegenheit an gewisse vor längerer Zeit anhängig gemachte und zum Teil wirklich erhobene Kriminalfälle, geheime Umtriebe betreffend, zu erinnern, und obgleich diese Dinge bereits für abgetan galten, so glaubte man doch keinen unbedeutenden Nachtrag hinter dem Schauspieler suchen zu müssen.

Der unruhige Geist, welcher, von gewissen politischen Freiheitsideen ausgehend, eine Zeitlang die Jugend Deutschlands, der Universitäten besonders, ergriffen hatte, ist bekannt. Die Regierung, von welcher hier die Rede ist, behandelte dergleichen Gegenstände mit um so größerer Aufmerksamkeit, als sich entdeckte, daß immer auch einige durch reiferes Alter, Geist und übrigens unbescholtenen Charakter ausgezeichnete Männer nicht verschmäht hatten, an solchen Geheimverbindungen, im weiteren oder engeren Sinne, teilzunehmen. So hegten denn namentlich zwei genaue Bekannte unseres Schauspielers diese gefährliche Tendenz mit vieler Vorliebe, und der letztere, weit [151] entfernt von jedem ernstlichen Interesse an der Sache, verbarg diesen Leuten gegenüber seine Gleichgültigkeit und Geringschätzung hinter der Maske des feurigsten Enthusiasten, indem er sich das Vergnügen nicht versagen konnte, seine Genossen auf eine jedenfalls unverantwortliche Weise zum besten zu haben. Er schrieb ihnen Briefe voll schwärmerischen Schwungs, machte die absurdesten Vorschläge und wußte den Verdacht einer bloßen Äfferei durch eine kunstvolle ironische Einkleidung, durch abwechselnd vernünftige Gedanken, sowie durch die höchste Konsequenz in der persönlichen und mündlichen Darstellung zu entfernen, so daß ihn die Gesellschaft zwar für ein seltsam überspanntes, doch aber höchst talentvolles Mitglied ansprach, wenn es gleich an einzelnen klugen Köpfen nicht fehlte, die ihm heimlich mißtrauten und scharf auf die Finger sahen; er bemerkte dies, spielte den Gekränkten, zog sich noch eben zu rechter Zeit zurück und erhielt gegen das Versprechen der tiefsten Verschwiegenheit seine schriftlichen Aufsätze sämtlich zurück Als es zwei Jahre nachher von Staats wegen zur Untersuchung und Aufhebung der Verbrüderten kam, und entfernterweise auch seiner erwähnt ward, konnte es ihm bei der Diskretion der Bundesgenossenschaft wirklich gelingen, sich wie ein Aal aus der Klemme zu winden, während andre, zum Teil schon in öffentlichen Ämtern stehende, Männer zu nachdrücklicher Bestrafung gezogen wurden. So erfreute er sich geraume Zeit einer guten Sicherheit, aber sein frevelhafter Mutwille sollte nicht ungerächt bleiben. Das berüchtigte Schauspiel rief die alten Erinnerungen wieder hervor, übelwollende, wichtigtuende Aufklauber übten sogleich ihre ganze Geschäftigkeit, und der König sah sich bewogen, einen so verhaften Gegenstand abermals in öffentliche Anregung zu bringen. Der Herzog, seinerseits an die Erheblichkeit dieses neuen Verdachtes keineswegs glaubend, bedauerte diese höchst verdrießliche Wendung der ohnehin so schief gedrehten Geschichte um so aufrichtiger, je weniger Freund Nolten ungefährdet dabei bleiben konnte, und je weniger er selbst sich verhehlte, daß vielleicht einige glücklich angebrachte Winke von ihm hingereicht haben würden, den ersten schwierigen Eindruck des bewußten Gedichtes zu vernichten, und so jedem weiteren Nachhalle vorzubeugen. Er sah nur zu deutlich ein, wie es am Ende doch jenes einzige Wort aus Constanzens Munde gewesen, was seine Schritte geirrt und seine versöhnliche Gesinnung mit einem geheimen Aber angesteckt [152] habe. Jetzt konnte an eine Vertuschung nicht mehr gedacht werden, und alles nahm seinen strengen, gesetzlichen Gang.

Wie ein Donnerschlag traf es die Freunde, als ihre Verhaftung nun wirklich erfolgte. Eine Kommission ward beauftragt, ihre Papiere zu durchsuchen, und zum Unglück kam dies alles so rasch, so unvermutet, beide hatten so gar keine Ahnung von den neuesten Gerüchten, daß Larkens nicht von weitem daran dachte, jene verfänglichen Briefe auf die Seite zu schaffen; denn leider waren sie noch vorhanden, er hatte die Vertilgung so merkwürdiger Aktenstücke nicht über sich vermocht, vielmehr lagen sie über die Zeit der ersten Untersuchung als geheimes Depositum in dem Hause eines unverdächtigen Bekannten, später nahm sie der Verfasser wieder zu sich und ein versiegeltes Portefeuille in seinem Pult verwahrte den verräterischen Schatz. Wie sehr der Umstand unsern Schauspieler beunruhigen mußte in dem Augenblick, als ihm die Festnehmung seiner eigenen Person das Ernstliche der Absicht genugsam bewies, läßt sich denken; denn daß man die Briefe finden würde, daß der Inhalt, obwohl höchst komischer Natur, gar sehr gegen ihn zeugen müsse, war zu erwarten.

Die beiden wußten kaum, wie ihnen geschah, als sie sich eines Morgens in zwei abgesonderte Zimmer des sogenannten alten Schlosses zu trauriger Einsamkeit verwiesen sahen. Leopold und Ferdinand waren teilnehmende Begleiter auf dem verhaßten Gange. Beim Abschied konnte Nolten kein Wort vorbringen, kaum fand er Gelegenheit, dem Bildhauer ein kurzes Billett an den Grafen nochmals zu empfehlen. Larkens' Benehmen drückte einen knirschenden Schmerz aus, er kehrte das Gesicht ab, während er Noltens Hand zum letztenmal faßte.

Wenn der Mensch von einem unerwarteten Streiche des ungerechtesten Geschickes betäubt stille steht und sich allein betrachtet, abgeschlossen von allen äußeren mitwirkenden Ursachen, wenn das verworrene Geschrei so vieler Stimmen immer leiser und matter im Ohre summt, so geschieht es wohl, daß plötzlich ein zuversichtliches, fröhliches Licht in unserm Innern aufsteigt, und mit Heiterkeit sagen wir uns, es ist ja nicht möglich, daß dies alles wirklich mit mir geschieht, ungeheurer Schein und Lüge ist es! Wir fühlen uns mit Händen an, wir erwarten, daß jeden Augenblick der Nebel zerreiße, der uns umwickelt. Aber diese Mauern, diese sorgsam verriegelte Tür wiesen dem [153] armen Maler mit frecher Miene ihr festes unbezwingliches Dasein. Erschüttert, mit lautem Seufzen ließ er sich auf den nächsten Stuhl nieder, ohne einmal an das Fenster zu treten, das ihm eine weite Aussicht ins Freie und seitwärts einen kleinen Teil der Stadt freundlich und tröstlich hätte zeigen können. In der Tat hatte das Zimmer eine angenehme Lage, in dem obersten Teil des ohnehin hochgelegenen, altertümlichen, hie und da noch befestigten Gebäudes. Dieser eine Flügel war, die Wohnung des Kommandanten und des Wärters ausgenommen, ganz unbewohnt, von einer andern Seite, wo Garnison lag, tönte zuweilen ein munterer militärischer Klang, Trommel und Musik nicht allzu geräuschvoll. Auch die nächsten Umgebungen Theobalds nahmen sich eben nicht sehr düster aus, die Wände rein geweißt und trocken, die Eisenstäbe vor den Fenstern weit genug, um nichts zu verdunkeln, die Heizung regelmäßig, soweit die herankommende Frühlingszeit sie nicht gar entbehrlich machte. Aber an der notdürftigsten Unterhaltung mit Büchern, Schreibzeug und dergleichen fehlte es, und jede Art von Material für den Künstler insbesondere schien ausdrücklich verwehrt. Auch dachte unser Gefangener für jetzt noch an alle das keineswegs; vielmehr liefen seine Gedanken mit der Geliebten, mit dem ganzen zerrissenen und verhüllten Bilde seiner Zukunft beschäftigt, immer in demselben Schwindelkreise, wie an einem unübersteiglichen, von keiner Seite zugänglichen Walle, verzweifelnd hin und her. Und wenn er sich das Ärgste, das Äußerste vorgehalten, so kam ihm doch stets wieder der Glaube an Constanzens richtiges Gefühl, an ihre Klarheit, ihre treue Gesinnung mutig entgegen. Sie mochte ihn damals abgewiesen haben, weil ihre Stellung zum Hofe ihr diesen Zwang auflegte, sie mochte selbst, auf kurze Zeit vom allgemeinen Irrtum angesteckt, einigen Unwillen hegen, aber ihr Herz werde ihn freisprechen, werde mit ihm leiden, sie selbst werde eine Milderung des gegenwärtigen Übels zu befördern wissen. Diese seine Hoffnung gewann nach und nach so viel Stärke, daß ihm die Gestalt der schönen Frau nicht anders als mit dem Ausdruck mitleidiger Liebe wie ein Friedensbote vorschwebte, ja zuletzt mit dem reizenden Ungestüm einer angstvollen Braut, welche die Befreiung des Verlobten fordert. Aber furchtbar lastete die Zeit der Ungewißheit auf ihm, bis er den ersten gütigen Laut von ihr vernehmen könnte! Jenes Billett an den Grafen – kaum erinnerte er sich der hastig hingeworfenen Worte – drückte [154] eigentlich nur eine lebhafte Beteurung seiner Unschuld, einen schmerzlichen Klageton aus, der hauptsächlich auf das Gemüt Constanzens berechnet sein mochte. Ein früher entworfenes Schreiben an die letztere, wovon wir oben etwas gesagt, hatte er mit sich hiehergebracht; er las jetzt diese gemäßigten, freudig hoffenden, kühn versprechenden Linien aufs neue; er glaubte die Teure vor Augen zu haben, ihre zarte Hand zu ergreifen, ihre Zusage zu hören, den Hauch ihres Mundes zu fühlen, und ach! wie stumpfte dann wieder der Anblick dieser Zelle gegen den lebendigsten Traum!

Larkens an seinem Orte quälte sich nicht weniger mit Zweifeln und Sorgen auf und nieder. Es entbehrte seine Phantasie der immer noch lieblichen Hintergründe, womit jener Leidensbruder sich seinen Zustand aufschmeichelte. Überdies mußte er nach einer Äußerung, die ihm privatim zugekommen war, und die er schonungsvoll für sich allein behalten, die Aussicht auf baldige Lossprechung viel weiter hinaus denken, als man sonst geneigt war; und er empfand dies um so peinlicher, je mehr er alle Schuld dieses doppelten Mißgeschicks auf sich zurückführte. Für die auswärtigen Angelegenheiten seines Freundes glaubte er indessen vorläufig dadurch gesorgt zu haben, daß er, auf den Fall eines längeren Stillstandes im schriftlichen Verkehr mit Agnes, diese unter Vorschützung einer Geschäftsreise beruhigte. Einigen Vorteil für seinen geheimen Plan fand er in der Entfernung Noltens von der Person Constanzens. Aber dieser kleine Gewinn, wie teuer erkauft! Und bedachte er vollends, was er selbst entbehre durch die Trennung von Theobald, was in solcher Widerwärtigkeit der Trost eines gemeinsamen Gespräches wäre, erwog er die Unmöglichkeit, sich auch nur durch einen Buchstaben von Zeit zu Zeit wechselsweise mitzuteilen und anzufrischen, so hätte er laut toben, er hätte aufschreien mögen über die Einförmigkeit eines Daseins, wovon er, der ungebundene, keck verwöhnte und reizbare Mensch nie einen Begriff gehabt. Die einzige Hoffnung setzte er auf ein Verhör.

Schon waren einige Tage verstrichen, als die Lage der beiden durch die zugestandene Erholung mit Lektüre bereits erträglicher zu werden versprach, doch Larkens wies dergleichen starrsinnig von sich, und während Nolten bei allem erdenklichen Leidwesen doch den Vorzug genoß, daß ihm teils die Liebe, teils ein zu Hülfe gerufener Künstlersinn immer neuen Stoff zu innerlicher Belebung zuführte, so versank der Schauspieler [155] gar bald in die Finsternis seines eigenen Selbst, er wurde die freiwillige Beute eines feindseligen Geistes, den wir bisher nur wenig an ihm kennengelernt, weil er ihn selber bis auf einen gewissen Grad glücklich genug bekämpft hatte. Um uns übrigens hierin ganz verständlich zu machen, wird folgender Aufschluß hinreichen.

Von vermögenden Eltern herkommend, ohne sorgfältige Erziehung von Hause aus, bezog er sehr jung die Akademie, wo er, keinen festen Plan im Auge, neben einem lustigen kameradschaflichen Treiben dennoch schöne philosophische und ästhetische Studien machte. Eine Reise nach England und die Höhe des dortigen Schauspielwesens bekräftigte den Entschluß, sich mit höchstem Ernste dieser Kunst zu weihen. Seine erste theatralische Schule begleiteten bereits öffentliche Proben auf einem der angesehensten Schauplätze, und die Aufmerksamkeit des Publikums wurde zur Bewunderung, als er, obwohl ungerne, dem Rate eines erfahrenen Mannes folgend, sich eine Zeitlang in durchaus komischen Repräsentationen erging. In dem Maße, wie er, einem sonderbaren Naturzwang zufolge, wieder zum Ernsthaften einlenkte, nahm der allgemeine Beifall ab, und so schwankte er unbefriedigt, mißlaunisch ein volles Jahr hin und her, ohne einsehen zu wollen, welchem von beiden Fächern er sein Talent zuwenden müsse. Dazu kam der Übelstand, daß dem praktischen Künstler seine poetische Produktivität viel mehr hinderlich als förderlich war; er wollte im Reiche seiner eigenen Dichtung leben und empfand es übel, wenn ihn mitten in der schaffenden Lust das Handwerk störte, was um so unvermeidlicher war, da seine Arbeiten ganz außer der allgemeinen Bühnensphäre lagen und nur von einem engen Freundeskreise gefaßt und geschätzt werden konnten. Dieser widrige Konflikt des Dichters und des Brotmenschen brachte die ersten Stockungen und Unordnungen in seinem Leben hervor; aus Verdruß über die Unausführbarkeit seiner höhern Geisteswelt warf er sich in den Strudel der gemeinen, und die Leidenschaften, welche er durch kunstmäßige Darstellung im schönen Gleichgewichte mit seinem bessern Selbst zu erhalten gedacht hatte, ließ er jetzt in zügelloser Wirklichkeit rasen.

Um jene Zeit hatte sich unter seinen Freunden die eigene Sucht hervorgetan, sich durch Erfindung und Durchführung fein angelegter Intrigen zu zeigen. Larkens spielte in einem gutartigen Sinne hierin gerne den Meister, aber leider verwickelte [156] ihn dies Unwesen bald mit einer, als schön und witzig gleichbekannten, Schauspielerin, ein Umgang, der ihn bald in einen Wirbel der verderblichsten Genüsse niederzog. Sein Beruf ward ihm leidige Nebensache, und, mehr als einmal im Begriffe, verabschiedet zu werden, erhielt er sich nur dadurch, daß er von Zeit zu Zeit durch eine Vorstellung, worin er allem Genie aufbot, die Gunst seiner Leute gewaltsam an sich riß. Mit Schmerzen blickte man ihm nach, als er freiwillig den Ort verließ, welcher Zeuge seiner traurigen Versunkenheit gewesen. Er entsagte dem unwürdigen Leben, raffte sich zu neuer Tätigkeit auf, und ward ein erfreulicher Gewinn für die Stadt, worin wir ihn später als Noltens Freund kennenlernten Aber jene fleckenvolle Zeit seines Lebens hinterließ auch dann noch eine unüberwindliche Unruhe, eine Leere bei ihm, als er seine sittliche und physische Natur längst mit den besten Hoffnungen aus dem Schiffbruch gerettet hatte. Des heiteren geistreichen Mannes bemächtigte sich eine tiefe Hypochondrie, er glaubte seinen Körper zerrüttet, er glaubte die ursprüngliche Stärke seines Geistes für immer eingebüßt zu haben, obgleich er den zwiefachen Irrtum durch tägliche Proben widerlegte. Wie oft hielt er Theobalden, wenn dieser bemüht war, seine Grillen zu verjagen, mit wehmütigem Lachen das traurige Argument entgegen: »Das bißchen, was noch aus mir glänzt und flimmt, ist nur ein desparates Vexierlichtchen, durch optischen Betrug in euren Augen vergrößert und verschönert, weil sich's im trüben Hexendunste meiner Katzenmelancholien bricht.« Mit solchen Ausdrücken konnte er sich ganze Stunden gegen Theobald erhitzen, und erst nachdem er sich gleichsam völlig zerfetzt und vernichtet hatte, gewann er einige Ruhe, eine natürliche Heiterkeit wieder, wobei er, nach dem Zeugnis aller, die ihn umgaben, unglaublich sanft und liebenswürdig gewesen sein soll. Außer Theobald und etwa einem andern früheren Vertrauten kannte ihn jedoch keine Seele von dieser schwermütigen Seite, er wußte sie trefflich zu verbergen, und sein Betragen auf diesen Punkt gab selbst dem Menschenkenner niemals eine Blöße. Inzwischen war der gute Einfluß nicht zu mißkennen, den Noltens Umgang, sein kräftiger Sinn, auf jenes verdunkelte Temperament ausübte, denn wenngleich unser Maler selbst an einer gewissen Einseitigkeit leiden mochte, so war doch sein sittlicher Grundcharakter unerschütterlich, und ein Streben nach voller geistiger Gesundheit beurkundete sich zeitig in der mehr [157] und mehr zum Allgemeinen aufsteigenden Richtung seiner Kunst, mit Bereinigung alles dessen, was ihm von einer phantastischen Entwicklungsperiode noch anklebte. Larkens schöpfte mit Lust aus dieser Quelle ein reines Wasser auf sein dürres Land, er hielt sich leidenschaftlich an den neuerworbenen Freund, ohne doch diese Inbrunst stürmisch im Worte zu verraten; vielmehr geriet er unwillkürlich in die gemäßigte Rolle eines Mentors hinein, eines Meisters, welcher durch eigenen unsäglichen Schaden klug geworden, dem Jüngern gar wohl gelegentlich auf die rechte Spur helfen zu können glaubt. Und indem er so am raschen Strom eines in jugendlicher Fülle strebenden Geistes teilnahm, erwuchs ihm ein neues Zutrauen zu sich selber, die Schuppen seines veralteten Wesens fielen ab, eine frische Bildung erschien darunter. Immer seltener wurden jene selbstquälerischen Ausbrüche, ja sie verschwanden zuletzt völlig; was Wunder, daß nun ein Gefühl von Dankbarkeit ihn unserem Freunde auf ewig verband, daß er sich's zur Pflicht machte, mit aller Kraft für das Wohl des Geliebten zu arbeiten? Mögen wir auch an einem auffallenden Beispiele, das er von diesem warmen Eifer gab, einen Hang zum Seltsamen keineswegs verkennen, so war die Intention dennoch die lauterste brüderlichste, und wer wollte ihm verargen, wenn er bei der zarten Pflege, die er einem gebrochenen Liebesverhältnis widmete, zugleich seinem Herzen den Triumph bereitete, welcher in dem Zeugnis lag, daß er als ein vielversuchter Abenteurer sich dennoch mit unschuldiger Innigkeit an der eingebildeten Liebe eines engelreinen Wesens erfreuen konnte, eines Mädchens, das er nie mit Augen gesehen und an dessen Besitz er niemals gedacht hatte, so wünschenswert er auch erscheinen mochte. Gerne begnügte er sich mit der Fähigkeit, ein schönes Ideal noch in sich aufnehmen und außer sich fortbilden zu können; er fing an, mit sich selber, mit der Welt sich zu versöhnen. So weit war alles in gutem Geleise: nun aber herausgerissen aus aller Tätigkeit, aus einem gesellig zerstreuenden Leben, dem Elemente seines Daseins, gefoltert überdies von dem Gedanken, einem teuren Freunde Veranlassung zu bedenklichem Unfalle geworden zu sein, erwehrte er sich eines allgemeinen Trübsinnes nicht mehr, die alten Wunden brachen wieder auf, geschäftig wühlte er darin, Vergangenheit und Gegenwart flossen in ein grinzendes Bild vor ihn zusammen, er betrachtete sich als den elendesten der Menschen, er verlor sich mit Wollust in der Vorstellung, [158] daß dem Manne, durch Schuld und Jammer überreif, die Macht gegeben sei, das Leben eigenwillig abzuschütteln. Je gewisser er im äußersten Falle auf diese letzte Freistatt rechnen konnte, und je ruhiger er nach und nach den entsetzlichen Gedanken beherrschen lernte, desto mehr gewann sein Gemüt auf der andern Seite an Freiheit und an Mut, die nächste Zukunft duldend abzuwarten; sein Zustand wurde milder, sogar heiterer.

Eine unerwartete Unterbrechung dieses brütenden Stillesitzens, so angenehm sie erschien, wollte ihn doch beinahe störend überraschen, da er die ersten Fäden einer allmählichen Verpuppung durch den Zudrang frischen Lebenshauches wieder zerrissen, und sich selbst zu neuer Hoffnung aufgemuntert sah. Denn eines Morgens, in der vierten Woche der Gefangenschaft, trat der Kommandant ins Zimmer, mit der Nachricht: es solle beiden Herren erlaubt sein, zuweilen einen und den andern Freund bei sich zu sehen, doch jeder nur auf seinem eigenen Zimmer und ohne daß die Gefangenen selbst zusammengeführt würden Larkens dankte so gut er konnte, besonders verdroß ihn die letzte Bedingung; auch hatte der Offizier einem weiteren guten Vorurteil, das man aus dieser Vergünstigung ziehen mochte, nicht undeutlich vorgebeugt, und überdies vermutete Larkens, daß man diese Gunst nur der besonderen Attention des Herzogs gegen Nolten zu verdanken habe.

Den ersten Abend brachten Ferdinand und Leopold bei Theobald zu, den folgenden bei dem Schauspieler, wozu sich noch ein dritter Freund anschloß. So lebhaft ein solches Wiedersehen sein mußte, so freundlich die lieben Gäste mit Neuigkeiten aller Art und mit dem besten Weine zu Belebung der Gemüter das Ihrige taten, so war es doch nur erzwungene Freude, und Theobald wußte sich um so weniger zu lassen, da er gleich anfangs hören mußte, daß sein Billett an Zarlin zwar angenommen worden, daß jedoch bei einem Besuche, welchen Leopold im Hause gemacht, der Graf bloß ein allgemeines, ziemlich kühles Bedauern geäußert habe. Insofern Leopold nichts von der wahren Beziehung wissen sollte, welche Noltens Interesse für jene Familie hatte, so konnte dieser nur durch entfernte Fragen herauslauschen, daß Constanze gar nicht sichtbar, auch keine Rede von ihr gewesen sei.

Diese Lage der Dinge drückte nun freilich schwer auf das Herz des geängstigten Liebhabers, aber wie ward ihm vollends [159] zumute, als der Bildhauer sein vor einigen Wochen schon gemachtes Anerbieten wiederholte, einen Brief an Agnes zu besorgen, ja als er gutmütig äußerte, wie er die ganze Zeit her im Zweifel gewesen, ob er nicht selbst diese Pflicht übernehmen und dem Vater des Mädchens die leidigen Begebenheiten schonungsvoll beibringen solle, wie ihn aber ein Wort, das Larkens gleich anfangs hierüber fallenlassen, dennoch beruhigt habe. »Jawohl«, sagte Nolten, »dafür ist schon Rat geschafft!« und verdrängte diese Materie, während er im stillen aus der ablehnenden Äußerung, welche der Schauspieler getan haben sollte, nicht ganz klug werden konnte, und überhaupt auf die traurigsten Kombinationen verfiel.

Die Art, wie Larkens die Besuche aufnahm, war im Grunde ansprechender, denn er setzte von jeher einen Vorzug darein, sich vor Menschen zusammenzunehmen und eine wohlwollende Annäherung, auch wenn sie zur Unzeit kam, gutmütig, zart und gefällig zu erwidern. Die Nachricht aber, womit man ihn besonders zu erfreuen dachte, daß das Theater und dessen Liebhaber herzlich und laut um ihren besten Liebling trauern, nahm er gleichgültig auf und wollte nichts davon hören. Die Urteile der Stadt im allgemeinen betreffend, hieß es, man trage sich mit allerlei übertriebenen Meinungen von dem Vergehen der Verhafteten; die Vernünftigen zucken die Achsel, niemand wolle an eine gänzliche Unschuld der beiden glauben. Auch hatten indessen drei Verhöre stattgefunden, ohne daß man dadurch einer glücklichen Entscheidung um vieles nähergerückt wäre.

War der Zustand unseres Paares unter diesen Umständen beklagenswert genug, so sollte noch die schwerste Prüfung über den Maler ergehen, indem sich auf alle die heftigen Erschütterungen ein Fieber bei ihm ankündigte, das der Arzt sogleich für bedeutend erkannte. Der Kranke verließ seit drei Tagen das Bett nicht mehr, häufig lag er ohne Bewußtsein da und in freieren Stunden war das Gefühl seines Elends nur um so stärker; die Phantasien der Fieberhitze setzten ihr grelles Spiel auch im Wachen fort und schleuderten den Gequälten in unbarmherzigem Wechsel hin und her. Bald nahte sich Constanze seinem Lager, und wenn sein inniger Klageton ihr Mitleid, ihre Liebe ansprach, wenn sich die edle Gestalt soeben über den Leidenden herzusenken schien, floh sie entsetzt und zürnend wieder weg; bald zeigte sich die verstoßene Agnes an der [160] Tür, den stillen Blick betrübt auf ihn gerichtet, bis sie sich nicht mehr hielt und lautweinend neben ihm auf die Kniee stürzte, seine Hand mit tausend Küssen bedeckte und er die arme Reuevolle gleichfalls liebreich an sich herzuziehen genötigt war.

Dergleichen Vorstellungen, worin sich der Rest seiner Neigung zu jenem verkannten liebenswürdigen Kinde nun auf dem durch Krankheit und Schwäche erweichten Grunde seines Gemütes sonderbar und lebhaft abspiegelte, wiederholten sich immer häufiger und waren um so weniger abzuweisen, da sie ihm zunächst durch einen seltsamen Zufall von außen aufgedrungen worden waren. Denn eines Morgens erwachte er vor Tag aus einem unruhigen Halbschlafe an einem weiblichen Gesang, der aus der Küche des Wärters unter seinem Fenster zu kommen schien. Der Inhalt des Lieds, sowenig es ihm selber gelten konnte, traf ihn im Innersten der Seele, und die Melodie klang unendlich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe, ja die Töne selber nahmen in seiner Einbildung eine wunderbare Ähnlichkeit mit der Stimme Agnesens an.


Früh, wenn die Hähne krähn,
Eh die Sternlein verschwinden,
Muß ich am Herde stehn
Muß Feuer zünden.
Schön ist der Flammen Schein,
Es springen die Funken,
Ich schaue so drein,
In Leid versunken.
Plötzlich da kommt es mir,
Treuloser Knabe!
Daß ich die Nacht von dir
Geträumet habe.
Träne auf Träne dann
Stürzet hernieder,
So kommt der Tag heran –
O ging' er wieder!

Zum ersten Male seit undenklicher Zeit fühlte Theobald wieder die Wohltat unaufhaltsamer Tränen. Die Stimme schwieg, [161] nichts unterbrach die Ruhe des langsam andämmernden Morgens. Der Kranke barg das Gesicht in die Kissen, ganz der Süßigkeit eines – den noch so bittern! Schmerzens genießend.


An demselben Morgen bekam Larkens, da er kaum das Bett verlassen hatte, von Leopold, dem Bildhauer, einen Besuch, der eigentlich Theobalden bestimmt war; auf die Nachricht vom Pförtner jedoch, daß der Kranke nach einer erträglichen Nacht soeben noch ruhig schlummere, wagte der Freund keine Störung und ließ sich das Zimmer des Schauspielers aufschließen. Er fand den letztern in der traurigsten Stimmung, worein ihn die Sorge um Nolten versetzte, und Leopold, gleichfalls heftig bewegt, hatte Mühe, ihn zu trösten.

Nach einiger Zeit fing der Bildhauer an: »Nun muß ich Ihnen eine Eröffnung machen, die freilich zunächst für Nolten gehörte, sie betrifft einen Vorfall, womit ich mich schon drei Tage herumtrage, ohne daß ich Gelegenheit erhalten konnte, ihn einem oder dem andern von Ihnen mitzuteilen; denn der Obrist schlug mir die Bitte zweimal ab, zumal da der Arzt den Kranken sowenig als möglich durch Gesellschaft beunruhigt wissen will; gestern bekam ich mit Not auf eine Stunde Erlaubnis; die Angst um Nolten und, ich darf wohl sagen, auch meine Neuigkeit ließ mir nicht Rast noch Ruhe mehr. Das was ich mitzuteilen habe, ist unerhört, ist ganz unbegreiflich, für Nolten taugt es unter gegenwärtigen Umständen auf keinen Fall.«

»Nun, nur um Gottes willen kein Unglück!« sagte der Schauspieler verdrießlich lächelnd über den langen Eingang; »ich meine schon von einer neuen Resolution hören zu müssen, daß wir armen Tropfen am Ende noch Karren schieben werden bei Wasser und Brot?«

»Nichts! Setzen wir uns, und hören Sie. Es war an dem Abend unserer neulichen Zusammenkunft; ich und Ferdinand hatten Sie kaum verlassen, das Schloß lag hinter uns, ich wollte soeben in die Prinzenstraße einlenken, so zeigt mir ein zufälliger Seitenblick in die leere Kastanienallee, wo wir vorüber mußten, ein weibliches Wesen ganz ruhig an einen der Bäume gelehnt. Das Auge der Unbekannten begegnete dem meinigen. Ich kam fast von Sinnen beim Anblick dieser Physiognomie, denn – doch zuvor muß ich fragen – Sie erinnern sich wohl des tollen Gemäldes von Nolten?«

»Welches?«

[162] »Der Organistin.«

»Ganz wohl.«

»Und wenn ich Ihnen nun sage, diese war's, werden Sie mir glauben?«

»Nicht, bis ich erst ausgerechnet, wie viel Bouteillen wir damals getrunken.«

»Spaßen Sie; es war heller Mondschein, ich sah das Gesicht deutlich wie am Tage, und was meine Nüchternheit betrifft –«

»Schon gut!« unterbrach ihn Larkens aufstehend und ging einigemal nachdenklich auf und ab, indessen Leopold fortfuhr. »Noch muß ich Ihnen gleich eine Schwachheit bekennen, lieber Larkens, und Sie mögen mich immerhin darüber ausschelten, aber wer in aller Welt ist ganz vorm Aberglauben sicher, sonderlich unter solchen Umständen? Kaum war mir vorgestern gesagt worden, Theobald habe sich gefährlich krank gelegt, so deutete ich mein Begegnis mit der gespenstischen Orgelspielerin urplötzlich als ein Omen aus, denn mir fiel ein, was man von Trauerfällen sagt, welche auf ähnliche Weise angekündigt worden. Und dieser dummen Furcht bin ich noch heute nicht ganz los, obwohl ich recht gut weiß, daß die Erscheinung keine Vision, noch Gespenst oder dergleichen, sondern ein ordentliches Menschenkind gewesen.«

»Aufrichtig gesprochen, mein Bester«, sagte Larkens, »ich zweifle an dieser Apparition so gar nicht im mindesten, daß ich Ihnen vielleicht selber den Schlüssel zu dem Rätsel geben kann. Doch, schweigen Sie darüber gegen unsern Freund, versprechen Sie mir reinen Mund zu halten.«

»Gewiß, wenn Sie's für nötig finden.«

»Nun denn – aber zuvor wär ich begierig, wie Ihr Abenteuer abgelaufen. Sie sprachen die Person?«

»Mein Gott, nicht doch! denn (beinahe schäme ich mich, es zu bekennen) die Erscheinung bestürzte mich dergestalt, daß ich mich wohl drei – viermal im Ring herumwirbelte, und während ich nach meinem zurückgebliebenen Begleiter umsah, war das Nachtbild schon verschwunden, auch mit aller Mühe nicht mehr aufzufinden. Das einzige erfuhren wir des andern Tages zufällig von Theobalds Bedientem, daß eine Bettlerin, deren Beschreibung mit jener Person vollkommen zusammenstimmte, sich tags vorher in Noltens Hause eingefunden und auf die Versicherung, er sei auf längere Zeit abwesend, sich wieder [163] fortgeschlichen. Alles mein Fragen und Forschen blieb fruchtlos.«

»Also« – fing Larkens an – »merken Sie auf. Zwei Tage vor der letzten Neujahrsnacht, die Ihnen hoffentlich noch im Gedächtnis ist, traf ich auf meinem Hausflur ein Mädchen an dessen Äußeres mich gleich frappierte, und zwar eben auch in der von Ihnen angegebenen Beziehung. Es war eine Zigeunerin, hoch, schlank gewachsen, nicht mehr ganz jung, aber immer noch eine wirkliche Schönheit, kurz die Ähnlichkeit mit jenem Bilde bis auf wenig zwischenliegende Jahre vollkommen Ein Korb mit hölzerner Schnitzware hing ihr am Arme, allein meine erste Ahnung, daß sie wohl in anderer Absicht als des Verkaufs wegen hiehergekommen, bestätigte mir bald ihre Frage nach einem Maler, der hier wohnen sollte; sie zog einen Brief hervor, es war die Handschrift von Noltens Braut, doch lautete die Adresse, ich weiß nicht mehr warum, an mich, die Sendung selbst gehörte für Nolten. Es hatte nämlich die Zigeunerin auf ihren Streifzügen auch Neuburg berührt und einen Gruß mit hiehergenommen. Mir war die Person nach mehrfältigen Erzählungen Theobalds nichts weniger als fremd, aber je genauer ich um ihre frühere Berührung mit unserm Freunde wußte, desto bedenklicher fand ich's, so ohne weiteres zur Erfüllung ihres Wunsches beizutragen, welcher dahin ging, den ›schönen herrlichen Jungen‹, wie sie ihn nannte, einmal wiederzusehen. Wenigstens, dacht ich, müßte der herrliche Junge vorbereitet werden, und bei näherer Betrachtung schien mir die Hintertreibung einer solchen Zusammenkunft das Sicherste und Zweckmäßigste. Ich gebrauchte allerlei Finten, sie ein für allemal von jedem Versuche abzuschrecken; da indessen das närrische Ding darauf bestand und ihr Verlangen ebenso gerecht als arglos und treuherzig erschien, so sann ich auf Mittel, wie Nolten ihr gezeigt werden könnte, ohne daß jedoch er sie gewahr würde. Das ließ sich nun wohl auf verschiedene Weise machen. Mir gefiel aber, wie ich gern gestehen will, ein etwas romantisch seltsamer Weg besser als etwa ein simples Gucken durch Spalt und Schlüsselloch, kurz, die Neujahrsmaskerade kam mir eben recht zu statten und –«

»Was?« rief Leopold verwundert, »am Ende wird noch der Nachtwächter vom Albaniturm aus der Geschichte hervorspringen!«

»Das errät sich nun leicht; so hören Sie kurz noch den Hergang. [164] Nachdem ich das Mädchen mit meinem Plane bekannt gemacht, den sie anfangs freilich gar nicht fassen wollte, nachdem sie mir ferner auf eine mir unvergeßlich rührende Weise das Versprechen gegeben, mit Willen schlechterdings nichts gegen meine genaue Instruktion zu tun oder merken zu lassen so diktiert ich ihr einige Seiten, welche sie zu meiner größten Freude mit fremden Zeichen schrieb, da sie unsere Buchstaben nur sehr schlecht zu machen wußte. Aber es kostete immer noch Mühe genug, bis ich ihr meine Worte geschickt in die Feder gegeben und noch mehr, bis sie sich die Rolle einigermaßen angeeignet hatte. Sodann schafft ich die nötige Kleidung, und wahres Vergnügen gewährte mir die naive Miene, womit sie sich selbst in ihrer idealischen Vermummung betrachtete. Sie behandelte das Ganze mit einer gewissen Feierlichkeit und gefiel sich gar wohl dabei; ihre Rezitation freilich war hart und trocken, allein ihr Begriff von dieser poetischen Figur so ziemlich richtig. Sämtliche Vorbereitungen geschahen in einem abgelegenen Zimmer außer dem Hause, wo ich Schauspielern beiderlei Geschlechts zuweilen Unterricht erteilte, so daß mein jetziges Geschäft niemandem auffiel. Wie anständig das Mädchen seine Sache machte, haben Sie ja gesehen, und ich selbst verwunderte mich im stillen über die glückliche Ausführung.«

Leopold ward kaum fertig, sein Erstaunen auszudrücken, indem er sich die Einzelheiten der Neujahrsfeier auf dem Turme zurückrief. Da er nun um so mehr Verlangen bezeugte, über die sonderbare Person der Zigeunerin und ihr früheres Verhältnis zu Theobald eines näheren belehrt zu werden, zeigte sich der Schauspieler nicht ungerne bereit; er wollte soeben seine Erzählung beginnen, als er sich bedenkend innehielt und endlich sagte: »Wissen Sie was, mein Lieber? Sie erfahren die kurze Geschichte am besten aus einigen Blättern, worin ich dasjenige, was mir Nolten im Anfange unserer Bekanntschaft vertraute, treulich darzustellen gesucht habe, da mir die Begebenheit gar wohl der Aufbewahrung wert geschienen; besonders merkwürdig ist das mit dem Ganzen verflochtene Schicksal eines gewissen längst gestorbenen Verwandten der Noltenschen Familie, in dessen Leben überhaupt ich die prototypische Erklärung zur Geschichte unseres Freundes zu finden glaube. Vor mehreren Wochen entlehnte ein Bekannter das Heft von mir, ich gebe Ihnen einige Zeilen an ihn mit und er wird es Ihnen einhändigen. Durchläuft man dies Bruchstück aus unsers Noltens Leben mit Bedacht, und [165] vergleicht man damit seine spätere Entwicklung bis auf die Gegenwart, so erwehrt man sich kaum, den wunderlichen Bahnen tiefer nachzusinnen, worin oft eine unbekannte höhere Macht den Gang des Menschen planvoll zu leiten scheint. Der meist unergründlich verhüllte, innere Schicksalskern, aus welchem sich ein ganzes Menschenleben herauswickelt, das geheime Band, das sich durch eine Reihe von Wahlverwandtschaften hindurchschlingt, jene eigensinnigen Kreise, worin sich gewisse Erscheinungen wiederholen, die auffallenden Ähnlichkeiten, welche sich aus einer genauen Vergleichung zwischen früheren und späteren Familiengliedern in ihren Charakteren, Erlebnissen, Physiognomieen hie und da ergeben (so wie man zuweilen unvermutet eine und dieselbe Melodie, nur mit veränderter Tonart, in demselben Stücke wiederklingen hört), sodann das seltsame Verhängnis, daß oft ein Nachkomme die unvollendete Rolle eines längst modernden Vorfahren ausspielen muß – dies alles springt uns offener, überraschender als bei hundert andern Individuen hier am Beispiel unseres Freundes in das Auge. Dennoch werden Sie bei diesen Verhältnissen nichts Unbegreifliches, Grobfatalistisches, vielmehr nur die natürlichste Entfaltung des Notwendigen entdecken. Die Spitze des Ganzen besteht aber in der Art und Weise, wie unser Freund als Knabe zur innigsten Vermählung mit der Kunst geleitet worden, deren ursprünglicher Charakter sich noch heute in einem großen Teil seiner Gemälde erkennen läßt. Genug, Sie mögen selbst urteilen. Aber ach! was werden Sie bei dieser Lektüre fühlen, wenn Sie denken, daß eben derjenige, dessen ahnungsvolle Knabengestalt Ihnen in den Blättern begegnet, nunmehr als Mann von der sinnlosen Faust eines fremdartigen Geschickes aus seiner eigenen Sphäre herausgestoßen, und noch ehe er die Hälfte seiner Rechnung abgeschlossen, hier in diesen Mauern eilig verwelken und vergehen soll! Denn, o mein Freund! ich fürchte alles, und dieser Kummer wird mich aufreiben, wird mich noch vor ihm töten – und möchte er nur! Sehen Sie mich an; ich glaube zu fühlen und mein Spiegel sagt es mir, daß der Gram dieser drei Tage mich um doppelt soviel Jahre älter gemacht hat. Still; ich muß abbrechen, wenn ich nicht von Sinnen kommen will. Gehen Sie hinüber zu dem Armen und drücken ihm die Hand im Namen des Larkens. Ach, möchte ich ihn wenigstens einmal wieder von Angesicht sehen! und doch – ich fürchtete mich davor.«

[166] Leopold griff nach dem Hute und erbat sich noch die Anweisung zu dem merkwürdigen Heft; da eben der Schließer eintrat, säumte er nicht länger, um vor allem den geliebten Patienten zu besuchen. Mit heißen Blicken sah ihm der Schauspieler nach, eine unbegrenzte Sehnsucht nach Theobald übermannte ihn, aber umsonst, die Türe zog sich zu und drüben hörte er das Schloß zum Zimmer des Geliebten rauschen.

So stand nun der Bildhauer vor dem Bette Noltens, und heimlich entsetzt über das äußerst elende Aussehen des Kranken mußte er alle Fassung aufbieten, um seine Bewegung nicht zu verraten. Den Gemütszustand Noltens konnte er im ganzen nicht gewahr werden, er sprach wenig und nur angestrengt mit matter Stimme. Einmal fragte er den Wärter, wer doch des Morgens in aller Frühe unten in der Küche so hübsch zu singen pflege? Etwas kleinlaut erwiderte der Alte: »Meine Tochter. Ich will's ihr aber untersagen, es schickt sich nicht, und ach! das Gesinge ist noch ihr einzig Leben.« Theobald bat sehr, man möge das Mädchen ja nicht irremachen in diesen Unterhaltungen; er fragte, wie es komme, daß sie nur ernste traurige Lieder zu kennen scheine? »Der Henker weiß«, war die Antwort, »woher sie all das Zeug herkriegt; sie war von Kindheit auf ein närrisches Ding, nicht auch lustig und rasch wie die andere Jugend, aber fleißig und verständig, und besorgt mir alles in der Haushaltung seit ihrer Mutter Tod.« Da der Alte sofort über den Verlust seiner Frau, deren Tugend er nicht genug rühmen konnte, in die beweglichsten Klagen ausbrach, auch zuletzt immer wärmer und aufrichtiger werdend eine unglückliche Liebschaft seines Kindes auseinanderzusetzen anfing, konnte man leicht bemerken, wie angreifend solche Dinge auf Nolten wirkten, daher Leopold dem Erzähler einen Wink gab. Endlich schied der Bildhauer mit ungewissem beklommenem Herzen. Er eilte, nachdem er sich zuvor das bewußte Manuskript verschafft, allein aus dem Geräusche der Stadt, einen selten betretenen Weg verfolgend. Ein warmer, sonnenheller Tag schmolz vollends die letzten Reste Schnee und Eis hinweg, eine erquickende Luft schmeichelte bereits mit Vorgefühlen des Frühlings. So gelangt unser ernster Fußgänger, eh er sich's versah, in die ländlichste Umgebung, ein freundliches Dorf lacht ihm entgegen. Dort sucht er nach einem stillen Garten hinter dem nächsten besten Wirtshause und findet auch bald ein hübsches erhöhtes Plätzchen zwischen Weinbergen mit Tisch und Bank, [167] von wo man die angenehmste Aussicht hat. Er bestellt eine Flasche Wein, setzt sich und holt jene Schrift hervor, deren Inhalt wir dem Leser nicht vorenthalten können.


Ein Tag aus Noltens Jugendleben


Die Zeit war wieder erschienen, wo der sechszehnjährige Theobald von der Schule der Hauptstadt aus die Seinigen auf zwei Wochen besuchen durfte. In dem Pfarrhause zu Wolfsbühl war daher gegenwärtig große Freude, denn Vater und Schwestern (die Mutter lebte nicht mehr) hingen an dem jungen blühenden Menschen mit ganzem Herzen. Ein besonders inniges Verhältnis fand aber zwischen Adelheid und dem nur wenig jüngeren Bruder statt. Sie hatten ihre eigenen Gegenstände der Unterhaltung, worein sonst niemand eingeweiht werden konnte sie hatten hundert kleine Geheimnisse, ja zuweilen ihre eigene Sprache. Es beruhte dies zarte Einverständnis vornehmlich auf einer gleichartigen Phantasie, welche in den Tagen der Kindheit unter dem Einfluß eines märchenreichen, fast abergläubischen Dorfes und einer merkwürdigen Gegend die erste Nahrung empfangen und sich nach und nach auf eine eigentümliche und sehr gereinigte Weise ihren bestimmten Kreis gezogen hatte. Von der Richtung, welche die beiden jugendlichen Gemüter genommen, war also, wie es schien, nichts zu befürchten, und selbst äußerlich wurde das Verhältnis keineswegs einseitig auf Kosten der übrigen drei minder empfänglichen Schwestern unterhalten. Es herrschte eine gutmütige heitere Verträglichkeit; nur die ältere Tochter, Ernestine, deren Sorge vorzüglich das Hauswesen überlassen blieb, zeigte mitunter ein finsteres, gebieterisches Wesen, und sie hatte den Vater bereits mehr als billig war auf ihre Seite gebracht.

An einem trüben Morgen in der letzten Zeit des Oktobers spazierten Theobald und seine Vertraute zusammen im Gärtchen hinter dem Hause. Er erzählte soeben seinen Traum von heute nacht und die Schwester schien ernsthaft zuzuhören, indes sie unverwandt nach der Seite hinüberblickte, wo die alte Ruine, der Rehstock genannt, tief in Nebel gesteckt liegen mußte.

»Aber du gibst nicht acht, Adelheid! Ich habe vorhin, um dich zu prüfen, absichtlich den tollen Unsinn in meinen sonst vernünftigen Traum hineingebracht und du nahmst es so natürlich wie zweimal zwei vier.«

[168] Das Mädchen erschrak ein wenig über die Ertappung, lachte sich jedoch sogleich herzlich selber aus und sagte: »Ja, richtig! ich hab nur mit halbem Ohr gehört, wie du unaufhörlich von einer großen großen, unterirdischen Kellertür schwatztest welche endlich mit beiden Hinterfüßen nach dem armen Mann ausgeschlagen habe. Indessen, was ist im Traum nicht alles möglich? Gib mir aber keck eine Ohrfeige! ich hatte fürwahr ganz andere Gedanken. Höre! und daß du es nur weißt, wir gehen heute auf den Rehstock. Noch nie hab ich ihn an einem Tag gesehen, wie der heutige ist, und mich deucht, da muß sich das alte Gemäuer, die herbstliche Waldung ganz absonderlich ausnehmen; mir ist, als könnten wir heut einmal die Freude haben, so ein paar stille heimliche Wolken zu belauschen und zu überraschen, wenn sie sich eben recht breit in die hohlen Fenster lagern wollen. Wie meinst du? Schlag ein. Wir werden's vom Papa schon erhalten, daß mir Johann das Pferd satteln darf, und du selbst bist ja rüstig auf den Füßen. Wir gehen gleich nach dem Frühstück womöglich ganz allein, und kommen erst mit dem Abend wieder.«

Dem Bruder war der Vorschlag recht; es wurde verabredet, man wolle alles Erdenkliche von Gefälligkeit tun, um die übrigen günstig zu stimmen. Adelheid flocht der ältern Schwester, der eiteln Ernestine, diesmal den Zopf mit ungewöhnlichem Fleiße, verlangte nicht einmal den Gegendienst, und der Kuß den sie dafür erhielt, war für die beiden ungefähr dasselbe gute Zeichen, was für andere, wenn sie ein gleiches Vorhaben gehabt hätten, der erste Sonnenblick gewesen wäre. Ehe man es dachte, hat Theobald die Sache bereits beim Vater vermittelt und bald stand der Braune mit dem bequemen Frauensattel ausgerüstet im Hofe. Man ließ das Pärchen ungehindert ziehen. Der Alte brummte unter dem Fenster mit einem geschmeichelten Blick auf die schlanke Reiterfigur seines Mädchens bloß vor sich hin: »Narrheiten!« Ernestine kreischte nur etwas weniges zur Empfehlung der zerbrechlichen, mit Mundvorrat gefüllten Gefäße nach, welche der Knecht in einer Ledertasche nebst den Schirmen hinten nachtrug, und die ehrlichen Wolfsbühler, an das berittene Frauenzimmer längst gewöhnt, grüßten durchs ganze Dorf auf das freundlichste.

Die Sonne hielt sich brav hinter ihrem Versteck und der Tag behielt zu Adelheids größter Zufriedenheit »sein mockiges Gesicht« bei.

[169] »Indem ich«, hob sie nach einer Weile an, »wohl gute Lust hätte, recht wehmütig zu sein, wie dieser graue Tag es selber ist, so rührt sich doch fast wider meinen Willen ein wunderlicher Jubel in einem kleinen feinen Winkel meines Innersten, eine Freudigkeit, deren Grund mir nicht einfällt. Es ist am Ende doch nur die verkehrte Wirkung dieses melancholischen Herbstanblicks, welche sich von Kindheit an gar oft bei mir gezeigt hat. Mir kommt es vor, an solchen trauerfarbnen Tagen werde die Seele am meisten ihrer selbst bewußt; es wandelt sie ein Heimweh an, sie weiß nicht wornach, und sie bekommt plötzlich wieder einen Schwung zur Fröhlichkeit, sie kann nicht sagen woher. Ich freue mich der Freiheit auf meinem guten Pferde, ich wickle mich mit kindischem Vergnügen in mein Mäntelchen gegen die rauhe Luft, die da auf uns zustreicht, und halte mir das sichre Herze warm und wiege mich in meinen Gedanken. Aber nicht wahr, als wir noch in Rißthal wohnten da war es ein anderes, auszureiten? Enges Tal, dichter Wald, wohin man immer sah. Hier das platte Feld und lauter Fruchtbaum. Wir haben anderthalb gute Stunden, bis es ein wenig krauser hergeht. Glücklich, daß wir wenigstens die Landstraße nicht brauchen.«

Beide Geschwister durchliefen jetzt in unerschöpflichen Gesprächen die Lichtpunkte ihres früheren Lebens in Rißthal, einem dürftigen Orte, wo der Vater zwölf Jahre lang Pfarrer gewesen. Sie begegneten sich mit der innigsten Freude bei so mancher angenehmen, kaum noch in schwachen Anklängen vorhandenen Erinnerung, es wagten sich nach und nach gegenseitige Worte der Rührung und Frömmigkeit über die Lippen, wie sie sonst, von einer Art falscher Scham bewacht, zwischen jungen Leuten nicht gewechselt werden.

Endlich sagte der Bruder: »Indem wir da so offenherzig plaudern, läßt mich's nicht ruhen, dir zu gestehen, daß ich doch ein Geheimnis auch vor dir habe, Adelheid! Es ist nichts Verdächtiges, nichts, was ich verheimlichen müßte, eine Grille hat mich bisher abgehalten, dir es mitzuteilen. Aber heute sollst du es hören, und zwar unter den Mauern des alten Rehstocks damit du künftig daran denken magst, wenn du hinaufsiehst.«

»Gut!« erwiderte die Schwester, »ich freue mich, und für jetzt kein Wörtchen weiter davon!«

Unter hundert Wendungen des Gesprächs war man in weniger als zwei Stunden unvermerkt dem erwünschten Ziele ziemlich [170] nahe gekommen. Deutlich und deutlicher traten die Umrisse der hohen Trümmer hervor; in kurzer Zeit stand man am Fuße des wenig bewachsenen Bergs, an dessen Rückseite sich jedoch die lange Fortsetzung eines waldreichen Gebirgs anschloß. Hier ward gerastet und die fast vergessene Provianttasche mit weniger Gleichgültigkeit geöffnet, als man sie am Morgen hatte füllen sehen. Dann ging es langsam die Krümmung des Weges hinan, nachdem das Pferd an Johann abgegeben war, um es in einem nahe gelegenen Meierhof unterzubringen und zur bestimmten Zeit wieder hier mit ihm einzutreffen. Auf der Höhe angelangt schweiften die Glücklichen zuerst Hand in Hand dann zerstreut durch die weitläuftigen Räume über Wälle und Graben, durch zerfallene Gemächer, feuchte Gänge, verworrenes Gesträuch. Man verlor sich freiwillig und traf sich wieder unvermutet an verschiedenen Seiten. So geschah es, daß Adelheid eben allein mit der Entzifferung einer unverständlichen Inschrift beschäftigt war, als auf einmal sich die verlorenen Töne eines, wie es schien, weiblichen Gesanges vernehmen ließen. Das Mädchen erschrak, ohne zu wissen warum. Ein besorgter Gedanke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück hatte sie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geschärftem Ohr, sie glaubte schon sich getäuscht zu haben, aber in diesem Augenblick hörte sie dieselbe Stimme deutlicher und allem Anscheine nach innerhalb des Mauerwerks aufs neue sich erheben, den schwermütigen Klängen einer Äolsharfe nicht unähnlich. In einem gemischten Gefühle von feierlicher Rührung und einer unbestimmten Furcht, als wären Geisterlaute hier wach geworden, wagte die Überraschte kaum einige Schritte vorwärts und stand wieder still bei jedem neuen Anschwellen des immer reizendern Gesanges, und während unwillkürlich ihre Lippen sich zu dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung bewegten, fühlte sie doch fast zu gleicher Zeit ihren Körper von leisem Schauder überlaufen. Jetzt verstummte die rätselhafte Stimme nur das Rauschen des Windes in dem dürren Laube, der leise Fall eines da und dort losbröckelnden Gesteins, oder der Flug eines Vogels unterbrach die tatenhafte Stille des Orts. Das Mädchen stand eine geraume Zeit nachdenklich, unentschlossen, stets in bänglicher Erwartung, daß die unsichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke hervorkommen werde, ja sie machte sich bereits auf eine kecke Anrede gefaßt, wenn die Erscheinung sich blicken lassen sollte. Da rauschten plötzlich starke, [171] hastige, aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam atemlos einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die Schwester wiedergefunden zu haben und sagte: »Höre nur! mir ist etwas Sonderbares begegnet –«

»Mir auch; hast du den wunderlichen Gesang gehört?«

»Nein, welchen? – aber bei dem Eingang in die Kasematte, wo der verschüttete Brunnen ist, sitzt eine Gestalt in brauner Frauenkleidung und mit verhülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt, ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich zu suchen.«

Die Schwester erzählte ihrerseits auch, was vorgegangen, und beide kamen bald dahin überein, man müsse sich die Person genauer besehen, man müsse sie anreden, sei es auch wer es wolle. »Ein ähnliches Gelüsten, wie das unsrige, hat diesen Besuch wohl schwerlich veranlaßt«, meinte Adelheid; »das heutige Wetter findet außer mir und dir gewiß jedermann gar unlustig zu solchen Partien; ich vermute eine Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu trösten vielleicht eben wir bestimmt sind.« – »Und laß es ein Gespenst sein!« rief Theobald, »wir gehen darauf zu!«

So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin. Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber keineswegs unangenehmes Aussehen auf den ersten Blick eine Zigeunerin zu verraten schien. Bildung des Gesichts, Miene und Anstand hatte ein auffallendes Gepräge von Schönheit und Kraft, alles war geeignet, Ehrfurcht, ja selbst Vertrauen einzuflößen, wenn man einem gewissen kummervollen Ausdruck des Gesichts nachging. Bis zu dem Gruße Adelheids hatte die Unbekannte die Annäherung der beiden nicht bemerkt, oder nicht beachten wollen; jetzt aber hielt sie die schwarzen Augen groß und ruhig auf die jungen Leute gespannt und erst nach einer Pause erwiderte sie in wohlklingendem Deutsch: »Guten Abend!« wobei ein Schimmer von Freundlichkeit ihren gelassenen Ernst beschlich. Adelheid, hiedurch schnell ermutigt, war soeben im Begriff, ein Wörtchen weiter zu sprechen, als ein erschrockener Blick der Zigeunerin auf Theobald sie mitten in der Rede unterbrach. Sie sah, wie er zitterte, erbleichte, wie ihm die Kniee wankten. »Der junge Herr ist unwohl! Lassen Sie ihn niedersitzen!« sagte die Fremde, und war selbst beschäftigt, ihn in eine erträgliche Lage zu bringen und ihr Bündel unter seinen Kopf zu legen. »Gewiß eine Erkältung in den ungesunden Gewölben?« setzte sie fragend [172] gegen das Mädchen hinzu, das sprachlos in zagender Unruhe über dem ohnmächtig Gewordenen hing und nun in lautes Jammern ausbrach. »Kind! Kind! was machst du? der Unfall hat ja, will ich hoffen, wenig zu bedeuten, wart ein Weilchen, ich will schon helfen!« tröstete die Fremde, indem sie in ihrer Tasche suchte und ein Fläschchen mit starkriechender Essenz hervorholte, das sich gar bald recht kräftig erweisen sollte an dem ›hübschen guten Jungen‹, wie sie sich ausdrückte. Als aber nach wiederholten Versuchen die Augen des Bruders geschlossen blieben und Adelheid untröstlich davongehen wollte, verwies ihr die Zigeunerin das Benehmen durch einen unwiderstehlich Ruhe gebietenden Wink, so daß das Mädchen unbeweglich und gleichsam gelähmt nur von der Seite zusah, wie die seltsame Tochter des Waldes ihre flache Hand auf die Stirne des Kranken legte und ihr Haupt mit leisem Flüstern gegen sein Gesicht heruntersenkte. Dieser stumme Akt dauerte mehrere Minuten, ohne daß eines von den dreien sich rührte. Siehe, da erhub sich weit und helle der Blick des Knaben und blieb lange fest, aber wie bewußtlos, an den zwei dunkeln Sternen geheftet, welche ihm in dichter Nähe begegneten. Und als er sich wieder geschlossen, um bald sich aufs neue zu öffnen, und nun er klar erwachte, da begegnete ihm ein blaues Auge statt des schwarzen; er sah die Freudetränen der Schwester. Die Unbekannte stand seitwärts, er konnte sie nicht sogleich bemerken, aber er richtete sich auf und lächelte befriedigt, da er sie gefunden. Es trat nun einige Heiterkeit überhaupt auf die Gesichter, und Theobald erholte sich mehr mit jedem Atemzug.

Indes Adelheid nach dem innersten Hofraum der Burg eilte, wo die Reisetasche lag, um Wein für den Bruder herbeizuholen, entspann sich zwischen den Zurückgebliebenen ein sonderbares Gespräch. Theobald nämlich begann nach einigem Stillschweigen mit bewegter Stimme: »Sagt mir doch, ich bitte Euch sehr, wißt Ihr, warum das mit mir geschehen ist, was Ihr vorhin mit angesehen habt?«

»Nein!« war die Antwort.

»Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele gelesen?«

»Ich verstehe Euch nicht, lieber Herr!«

»Seht nur«, fuhr jener fort, »als ich Euch ansah, da war es, als versänk ich tief in mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe stürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch in hundert Träumen gesehen habe, so, [173] wie Ihr da vor mir stehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die Zeiträume meines Lebens und sah mich als Knaben und sah mich als Kind neben Eurer Gestalt, so wie sie jetzt wieder vor mir aufgerichtet ist; ja ich kam bis an die Dunkelheit, wo meine Wiege stand, und sah Euch den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging das Bewußtsein mir, ich habe vielleicht lange geschlafen, aber wie sich meine Augen aufhoben von selber, schaut ich in die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Rätsel meines Lebens lag.«

Er schwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann sagte er lebhaft: »Laßt mich Eure Rechte einmal fassen!« Die Fremde gab es zu, und eine schöngebildete braune Hand wog er mit seligem Nachdenken in der seinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf die hingeliehenen Finger zu fallen begann, zogen diese sich schnell zurück, die Jungfrau selber entfernte sich mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo sie hinter den Mauern verschwand. In diesem Augenblick kam Adelheid rüstig den Wall heruntergesprungen, allein sie hielt mit einemmal betroffen an, denn der alte Gesang schwang sich mächtig, durchdringend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd schwarzes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht unterscheiden. Ein leidenschaftlicher, ein düsterer Geist beseelte diese unregelmäßig auf- und absteigenden Melodien, so fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne waren. Erstaunt erhob sich Theobald von seinem Sitz, mit Entsetzen trat ihm die Schwester nahe. »Wir haben eine Wahnsinnige gefunden«, sagte sie, »mache, daß wir fortkommen.« »Um Gottes willen bleib!« rief Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts zu einer außerordentlichen Kraft gesteigert: »Liebe Schwester, du warst doch sonst keine von denen, die für das Seltene, was sie nicht begreifen, gleich einen verpönenden Namen wissen. Ja, und wär es auch eine Wahnsinnige, sie wird uns nicht schaden. Ich kenne sie und sie kennt mich. Du sollst noch vieles hören.« Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Gesang gekommen war, welcher indessen wieder aufgehört hatte. Die Schwester, ihren Ohren kaum trauend, sah ihm nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerster Besorgnis. So blieb sie eine geraume Weile, dann rief sie, von unerträglicher Angst ergriffen, mehrmals und laut den Namen ihres Bruders.

Er kam, und zwar Hand in Hand mit der Fremden, traulich [174] und langsam heran. Es schien, daß unter der Zeit eine entschiedene Verständigung zwischen den beiden stattgefunden haben müsse. Wenn die Miene Theobalds nur eine tiefbefriedigte, entzückte Hingebung ausdrückte, so brach zwar aus der Jungfrau noch ein matter Rest des vorigen Aufruhrs ihrer Sinne wie Wetterleuchten hervor, aber um so reizender und rührender war der Obergang ihres Blickes zur sanften, gefälligen Ruhe, wozu sie sich gleichsam Gewalt antat. Adelheid begriff nichts von allem; doch milderte der jetzige Anblick der Unbekannten ihre Furcht um vieles, erweckte ihre Teilnahme, ihr Mitleid. »Sie geht mit uns nach Hause, Schwester, damit du es nur weißt!« fing Theobald an, »ich habe schon meinen Plan ausgedacht. Nicht wahr, Elisabeth, du gehst?« Ihr Kopfschütteln auf diese Frage schien bloß das schüchterne Verneinen von jemand, der bereits im stillen zugesagt hat. »Laßt uns aber lieber gleich aufbrechen, es will schon Abend werden!« setzte jener hinzu; und so rüstete man sich, packte zusammen und ging.

»Ich sehe nicht«, flüsterte Adelheid in einem günstigen Augenblick, während Elisabeth weit vorauslief, dem Bruder zu, »ich begreife nicht, was daraus werden kann! Hast du denn überlegt, wie der Vater dies Abenteuer aufnehmen wird? Wenn du die Absicht hast, daß diese Person heute nacht eine Unterkunft bei uns finde, was kann ihr dieses viel nützen? oder was trägst du sonst im Sinne? Um des Himmels willen, gib mir nur erst Aufschluß über dein rätselhaftes Benehmen! Welche Bewegung! welche Leidenschaft! Wie hängt denn alles zusammen? du handelst wie ein Träumender vor mir!«

»Da magst du wohl recht haben«, war die Antwort, »ja, wie ein Träumender! weiß ich doch kaum, wie alles kam. Ich zweifle zuweilen an der Wirklichkeit dessen, was da vorging. Aber doppelt wunderbar ist es, daß dasjenige, was ich dir heute auf dem Rehstock offenbaren wollte und was nirgends als in meiner Einbildung lebte, uns beiden in leibhafter Gestalt hat erscheinen müssen.«

Nach und nach erklärte er, daß ihm das Mädchen über sich selbst nichts weiter zu sagen gewußt, als: sie habe sich vor vier Tagen heimlich von ihrer Gesellschaft, einer übrigens öffentlich geduldeten Zigeunerhorde, getrennt, weil sie ihre Heimat habe wiedersuchen wollen, der man sie in jungen Jahren entrissen, deren sie sich auch nur schwach mehr erinnere. Diese Nachricht diente keineswegs, die Teilnahme Adelheids [175] sehr zu vermehren, vielmehr erregte der angegebene Grund der Entweichung ihren Verdacht in hohem Grade als unwahrscheinlich. Indessen war das vernünftige Mädchen in der Voraussicht, daß eine Zurechtweisung des Bruders für jetzt schlechterdings vergeblich wäre, nur darauf bedacht, unter mißlichen Umständen wenigstens größeres Unheil zu verhüten. Theobalds körperlicher Zustand, der nach einer unnatürlichen Anspannung eine gefährliche Schwäche befürchten ließ, war das nächste, was sie beunruhigte, und ihr Vorschlag, man wolle den benachbarten Rittmeister um sein Gefährt ansprechen, fand bei dem Bruder nur insoferne Widerspruch, als Elisabeth ihrerseits darauf beharrte, den Weg zu Fuß zu machen. Johann, welcher inzwischen treulich gewartet hatte, ward jedoch mit den geeigneten Aufträgen nach dem nächsten Hofe zu dem alten Herrn Rittmeister, einem guten Bekannten des Pfarrers, abgeschickt. Während einer peinlichen halben Stunde des Wartens fand Adelheid Veranlassung, den Gegenstand ihres Unmuts und ihres Mißtrauens von einer wenigstens unschuldigen Seite kennenzulernen. Elisabeth äußerte auf die unzweideutigste Weise eine fast kindliche Reue darüber, daß sie sich von ihrer Bande weggestohlen, wo man sie nun recht mit Sorgen vermisse, wo ihr nie ein Leid geschehen sei, wo sie, sooft sie krank gewesen, immer guten Trost und geschickte Pflege bei gar muntern und redlichen Leuten gefunden habe. Bei dem Wörtchen »krank« legte sie mit einer traurig lächerlichen Grimasse den Zeigefinger an die Stirn, und gab auf diese Art ganz unverhohlen ein freiwilliges Bekenntnis dessen, was Adelheid anfangs gefürchtet hatte. Aber sie fügte sogar noch den naiven Trost hinzu: »Seid nur nicht bang, ihr guten Kinder, daß ich jemand Übels zufüge, wenn mein Leid mich übernimmt. Da sorgt nur nicht. Ich gehe dann immer allein beiseite und singe das Lied, welches Frau Faggatin, die Großmutter, mich gelehrt, da wird mir wieder gut. Du, armer Junge, du sollst auch das Lied noch lernen, du hast gar viel zu leiden; ich habe das wohl bald bemerkt, darum geh ich mit dir, bis du zu Hause bist, doch behalten könnt ihr mich nicht. Auch schlaf ich heute nicht bei euch. Diese Nacht noch zieht Elisabeth weiter, woher sie gekommen, denn die Heimat ist nicht mehr zu finden. Man hat mir sie verstellt die Berge, das Haus und den grünen See, mir alles verstellt Wie das nur möglich ist! Ich muß lachen!«

Der Knecht kam jetzt mit der verlangten Aushülfe; nicht [176] mehr zu frühe, denn schon war es dunkel geworden. Um so weniger wollte Theobald und selbst Adelheid es geschehen lassen, daß Elisabeth neben dem Gefährt herging. Allein sie war nicht zu überreden, und so rückte man immerhin rasch genug vorwärts.

Indes die Geschwister nun unter sehr verschiedenen Empfindungen, jedoch einverstanden über die nächsten Maßregeln, sich auf diese Weise dem väterlichen Orte nähern und Theobald endlich der Schwester die ganze wundersame Bedeutung des heutigen Tags entdeckt, ist man zu Hause schon in großer Erwartung der beiden, und der Vater machte seine Verstimmung wegen des längern Ausbleibens der jungen Leute bereits auf seine Art fühlbar. Um übrigens einen richtigen Begriff von der gegenwärtigen Stimmung im Pfarrhause zu geben, müssen wir, so ungerne es geschieht, schlechterdings eine gewisse Gewohnheit des Hausvaters anführen, welche soeben jetzt wieder in Ausübung gebracht wurde. Der Pfarrer nämlich, ein Mann von den widersprechendsten Launen, wohlwollend und tückisch, menschenscheu, hypochondrisch, und dabei oft ein beliebter Gesellschafter, hatte neben manchen höchst widrigen Eigenheiten den Fehler der Trägheit in einem fast abscheulichen Grade und sie verleitete ihn zu den abgeschmacktesten Liebhabereien. Konnte es ihm gefallen, mit gesundem Leibe ganze Tage im Bette zuzubringen und über ein und dasselbe Zeitungsblatt hinzugähnen, so machte dieses wenigstens niemanden unglücklich. Nun aber fand er, der in früheren Tagen gelegentlich ein Jagdfreund gewesen war, eine Art von Zeitvertreib darin, vom Bette aus nach allen Seiten des Zimmers hin mit dem Vogelrohr zu schießen. Zu diesem Behuf knetete er mit eigenen Fingern kleine Kugeln aus einem Stücke Lehm, das stets auf seinem Nachttisch liegen mußte. Er selbst war so gelegen, daß er von seinem Schlafgemach aus fast das ganze Wohnzimmer mit seinem Rohr beherrschen konnte. Das Ziel seiner Übungen blieb jedoch nicht immer der große Essigkrug auf dem Ofen, oder das Türchen des Vogelkäfigs, oder das alte Portrait Friedrichs von Preußen, sondern der Pfarrherr betrachtete es mitunter als den angenehmsten Teil seiner Kinderzucht, gewisse Unarten, die er an den Töchtern bemerken wollte, durch dergleichen Schüsse zu verweisen. Jungfer Nantchen, bei Licht am Nähtische beschäftigt, brauchte z.B. vorhin etwas längere Zeit, als dem Vater billig vorkam, um ihren Faden durch das Nadelöhr [177] zu schleifen, und unerwartet klebte eine Kugel an ihrem bloßen Arm, die denn auch so derb gewesen sein muß, daß das gute Kind recht schmerzhaft aufseufzte. Es kamen diesen Abend noch einige Fälle der Art vor, wobei doch Jungfer Ernestine verschont blieb, ein Vorzug, welchen gewöhnlich auch Adelheid, Theobald ohnehin, mit ihr teilen durfte Allein welchen Empfang können wir den letztern unter solchen Umständen versprechen? Es wurde acht Uhr, bis sie gegen das Dorf herfuhren. Sie waren inzwischen übereingekommen, man wolle Elisabeth, welche jedes Nachtquartier fortwährend mit Hartnäckigkeit ausschlug, zum wenigsten über Tisch behalten, wozu sie sich zuletzt auch verstand.

Die endliche Ankunft der Vermißten war indessen im Pfarrhause schon durch einen Burschen hinterbracht, den man entgegengesandt und welchem der ehrliche Johann im Vertrauen das Merkwürdigste zugeraunt hatte. Dies veranlaßte denn ein groß Verwundern, ein gewaltig Geschrei im Haus. Dem Pfarrer sank das Spielzeug aus der Hand, da von einer Zigeunerin, von der Chaise des Rittmeisters, von Unpäßlichkeit seines Sohns verlautete. Er stand vom Bette auf und warf den Schlafrock um unter den Worten: »Was? eine Kartenschlägerin? eine Landfährerin? alle Satan! eine Hexe? und deswegen mein Sohn plötzlich unwohl geworden? – und ein Fuhrwerk – eine Heidin, was? Ich will sie bekehren, ich will ihr die Nativität stellen! gebt mir mein Rohr her! nicht das – mein spanisches! Wie hat Johann gesagt? Die Pferde seien scheu geworden, wenn die Zigeunerin neben ihnen hergelaufen?«

Die Tür ging auf. Adelheid und Theobald standen im Zimmer; jene mit stockender Stimme, an ihrer Angst schluckend, dieser mehr beschämt und vor bitterem Unwillen glühend über das unwürdige Benehmen seines Vaters. Umsonst stellte er sich dem hitzigen Manne beschwörend in den Weg, als er mit dem Licht in den Hausflur treten wollte, wo Elisabeth in einer Ecke unbeweglich hingepflanzt stand und ihm nun groß und unerschrocken entgegenschaute. Jetzt aber folgte eine den gespannten Erwartungen aller Umstehenden völlig entgegengesetzte Szene. Denn Pfarrer erstickt die rauhe Anrede auf der Zunge, wie er die Gesichtszüge der Fremden ins Auge faßt, und mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens tritt er einige Schritte zurück. Auf der Schwelle des Zimmers wirft er noch einen Blick auf die Gestalt, und in lächerlicher Verwirrung läuft er [178] nun durch alle Stuben. »Wie kommt sie denn zu euch? was wißt ihr von dem Weibsbild?« fragt er Adelheiden, während Theobald sich auf den Gang hinausschleicht. Das Mädchen berichtete, was es wußte, und setzte zuletzt noch hinzu, daß der Bruder von einem Bilde gesagt, welches er schon als Kind öfters in einer Dachkammer gesehen und das die wunderbarste Ähnlichkeit mit dem Mädchen habe. Der Pfarrer winkte verdrießlich mit der Hand und seufzte laut. Er schien in der Tat über die Person der Fremden mehr im reinen zu sein, als ihm selber lieb sein mochte, und der letzte Zweifel verschwand vollends während einer Unterredung, welche er, so gut es gehen mochte, mit Elisabeth unter vier Augen auf seiner Studierstube vornahm. Er ward überzeugt, daß er hier die traurige Frucht eines längst mit Stillschweigen zugedeckten Verhältnisses vor sich habe, das einst unabsehbares Ärgernis und unsäglichen Jammer in seiner Familie angerichtet hatte. Was jedoch Elisabeth jetzt über ihr bisheriges Schicksal vorbrachte, war nicht viel mehr, als was die andern bereits von ihr wußten, und der Pfarrer fand nicht für gut, sie über das Geheimnis ihrer Geburt und somit über die nahe Beziehung aufzuklären, worin sie dadurch zu seinem Hause stand. Den auffallenden Umstand aber, daß die Flüchtige just in diese Gegend geriet, machten einige Äußerungen des Mädchens klar, aus welchen hervorging, daß ein unzufriedenes Mitglied jener Bande sich an dem Anführer durch die Entfernung Elisabeths rächen wollte, wozu ihm die letztere selbst durch die häufige Bitte Gelegenheit gegeben haben mußte, er möchte sie doch einmal in ihre Heimat zu Besuche führen, und allerdings war der Mensch, wie sich später ergab, von der eigentlichen Herkunft des Mädchens, sowie von dem Dasein einiger Verwandten ihres Vaters vollkommen unterrichtet; er beabsichtigte, sie nach Wolfsbühl zu bringen, wo er sich nicht geringen Dank versprach, aber wenige Stunden von dem Orte traf er auf die Spur von Zigeunern, welche ohne Zweifel ihm nachzusetzen kamen. Er ließ das Mädchen im Stiche und setzte seine Flucht alleine fort.

Jungfer Ernestine mahnte bereits zum dritten Male an das ohnehin verspätete Nachtessen; man schickte sich also an, und wohl selten mag eine Mahlzeit einen sonderbarern Anblick dargeboten haben. Sie ging ziemlich einsilbig vonstatten. Der fremde Gast war natürlich unausgesetzt von neugierigen zweifelhaften Blicken verfolgt, die nur, wenn zuweilen ein Strahl[179] aus jenen dunkeln Wimpern auf sie traf, pfeilschnell und schüchtern auf den Teller zurückfuhren.

Elisabeth ersah sich nach Tische den schicklichsten Zeitpunkt, um aus der Tür und sofort geschwinde aus dem Haus zu entschlüpfen, ohne auch nachher, als man sie vermißte, wiederaufgefunden werden zu können. Der Vater schien dadurch eher erleichtert als bekümmert. Sie hatte jedoch, wie man jetzt erst bemerkte, ihr Bündel zurückgelassen; sie mußte also wahrscheinlich wiedererscheinen, und Theobald tröstete sich mit dieser Hoffnung.

Eine mächtige und tiefgegründete Leidenschaft, soviel sehen wir wohl schon jetzt, hat sich dieses reizbaren Gemütes bemeistert, eine Leidenschaft, deren Ursprung vielleicht ohne Beispiel ist und deren Gefahr dadurch um nichts geringer wird, daß eine reine Glut in ihr zu liegen scheint. Der junge Mensch befand sich, seit das rätselhafte Wesen verschwunden war, in dem Zustand eines stillen dumpfen Schmerzens, wobei er, sooft Adelheid ihn mitleidig ansah, Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. Sie nötigte ihn auf seine Schlafkammer, wo sie ihm bald gute Nacht sagte. Der Pfarrer war durch das unerwartete Ereignis des heutigen Abends in seinem gewohnten Gleichmute dergestalt gestört, daß er jetzt noch an keine Ruhe denken konnte. Die Erinnerung an eine bedeutende Vergangenheit, an das unglückliche Schicksal eines leiblichen Bruders wurde nach langer Zeit wieder zum ersten Male heftig in ihm aufgeregt, er fühlte ein Bedürfnis, sich seiner ältesten Tochter mitzuteilen, und Ernestine, von jeher nur wenig unterrichtet über jenes merkwürdige Familienverhältnis, sah jetzt mit neugieriger Miene den Vater ein bestäubtes Manuskript hervorholen, worin die Geschichte ihres Oheims größtenteils von dessen eigener Hand verzeichnet stand. Alle übrigen im Hause hatten sich zu Bette begeben, nur Adelheid saß nachdenklich in einem Winkel des Zimmers und hörte bescheiden zu, indes der Vater aus dem Gedächtnis erzählte, nachdem er die vor ihm liegende Handschrift mit Wehmut, ja mit Grauen, bald wieder auf die Seite geschoben hatte.

»Mein jüngerer Bruder Friedrich«, fing er an, »dein seliger Oheim, war ein Genie, wie man zu sagen pflegt, und leider bei aller Herzensgüte ein überspannter Kopf, welcher schon in der frühesten Jugend nichts wollte und nichts vornahm, was in der Ordnung gewesen wäre. Er bewies ein außerordentliches Geschick [180] zur Malerkunst und mit der Zeit unterstützte ihn der Fürst auf das großmütigste. Er ließ ihn auf sechs Jahre nach Italien reisen, gab ihm auch nach seiner Zurückkunft ungemeine Zeichen seiner Gnade. Anfänglich nahm er seinen Aufenthalt in der Hauptstadt, später kaufte er sich das etwa fünf Stunden von Rißthal und drei von hier entfernte Gütchen F. wo er, noch immer unverheiratet, bloß für sein Geschäft lebte. In dieser Zeit habe ich ihn gar oft gesehen. Es war ein großer schöner Mann und gar munter, wenn es an ihn kam. Er hätte glücklich sein können, aber eine Reise hat ihn in sein Verderben geführt. Er entschloß sich nämlich im Frühjahr 17** auf den Rat der Ärzte, seiner Erholung wegen, einen Freund in Böhmen zu besuchen, mit dem er zu gleicher Zeit in Rom gewesen war. Ach, er ahnete nicht, welchem Verhängnis er entgegenging!«

So sprach der Pfarrer und nun folgte die Erzählung einer Geschichte, welche der Leser besser aus dem Tagebuche des Malers selbst erfährt.


In der Gegend von H** den 22. Mai


Schon seit Wochen fühle ich meine Gesundheit kräftiger als jemals; aber seit wenigen Tagen streckt auch der Geist seine erschlafft gewesenen Organe so begierig und arbeitsdurstig wieder aus, daß ich ordentlich über mich selbst erstaune. Ich spüre, es will sich ein neues Leben hervordrängen, es will ein Wunder in mir werden. Ich wüßte niemanden, dem ich die Ursache dieser mächtigen Revolution, die Geschichte der letzten vier Tage, so vertraulich mitteilen könnte, als diesen verschwiegenen Blättern. Aber fürwahr, ich tue es beinahe bloß in der grillenhaften Besorgnis, daß mein gegenwärtiges Glück, ja daß mir selbst die Erinnerung an diese außerordentliche Zeit entrissen werden könne.

Am 17. Mai trat ich von G. aus eine kleine Exkursion an und zwar allein, weil mein Freund verhindert war. Ich fand etwas Reizendes in dem Gedanken, so wie zuweilen im Vaterland, jetzt auch auf böhmischem Boden einmal ohne bestimmtes Ziel und besondere Absicht auszufliegen, nur dachte ich an das schöne Gebirge gegen *** zu, das ich vom Fenster aus als dunkelblauen Streif gesehen hatte. Ich schlug also ungefähr diese Richtung ein und ließ mich nach Bequemlichkeit vom nächsten besten Wege fortziehen, verweilte bei allem, was mir neu und merkwürdig war, machte meine Beobachtungen an Menschen und Natur, zog mein Skizzenbuch hervor, zeichnete oder las wie [181] mir's einkam, und ließ es mir mitunter in den dürftigsten Dorfschenken aufs beste gefallen. Am zweiten Abend meiner Wanderung befand ich mich bereits in einer anziehenden Gebirgsgegend und der darauf folgende Mittag sah mich schon tief in den herrlichsten Waldungen herumschwärmen, wo ich nach Herzenslust den wilden Atem der Natur kostete, die Schauer der Einsamkeit empfand, mich hundert Zerstreuungen überließ. Unvermerkt sank die Dämmerung herein, da es mir denn erst einfiel, den Fußsteig wieder aufzusuchen, der, wie man mir gesagt hatte, nach einer guten, mitten im Walde gelegenen Herberge führen mußte. Das ging aber nicht so leicht; eine volle halbe Stunde quälte ich mich ab, ohne eine Spur zu entdecken. Jetzt war es fast Nacht. Meine Wahl ging nahe zusammen. Auf gut Glück lief ich noch eine Zeitlang vorwärts, bis das dicker werdende Gesträuch und eine große Müdigkeit mich verdrossen stille stehen machte. Ungeduld und Ärger über meine Unvorsichtigkeit waren aufs äußerste gestiegen, da überraschte mich mit einemmal der Gedanke, daß ich mir ehedem oft eine solche Situation gewünscht, und daß dieser scheinbar widerwärtige Zufall recht eigentlich im Charakter meiner Reise sei. Hiemit gab ich mich denn auch wirklich zufrieden. Unbequem genug lagerte ich mich unter einer hohen Eiche, murmelte etwas von der Lieblichkeit der warmen Sommernacht, vom baldigen Aufgang des Mondes und konnte doch nicht verhüten daß meine Gedanken einigemal in dem verfehlten Wirtshaus einkehrten, wo ein ordentliches Abendbrot und ein leidlicheres Bette auf mich gewartet haben würden. Mit solchen Bildern beschäftigt, bemerkte ich jetzt in einiger Entfernung durch das Gezweige hindurch den Glanz eines Feuers. Meine ganze Einbildungskraft entzündete sich in diesem Anblick unter tausend mehr oder weniger angenehmen Vermutungen; aber bald entschloß ich mich zu einer genauern Untersuchung. Nach einer mühsam zurückgelegten Strecke von etwa fünfzehn Schritten unterschied ich eine bunte Gesellschaft von Männern, Weibern und Kindern auf einem etwas freien Platz um ein Feuer herumsitzend und zum Teil von einer Art unordentlichen Gezeltes bedeckt; sie führten, soviel ich hörte, ein zufriedenes aber lebhaftes Gespräch.

Das Herz hüpfte mir vor Freuden, hier einen Trupp von Zigeunern anzutreffen, denn ein altes Vorurteil für dies eigentümliche Volk wurde selbst durch das Bewußtsein meiner gänzlichen [182] Schutzlosigkeit nicht eingeschreckt. Ich weiß nicht, welches rasche zuversichtliche Gefühl mich überredete, daß wenigstens bei dieser Versammlung durch eine offene Ansprache nichts zu wagen sei. Mein kleiner Tubus trug in keinem Fall etwas dazu bei, denn bei einer physiognomischen Untersuchung der vom roten Schein der Flamme beleuchteten Köpfe hätte mein Urteil unentschieden bleiben müssen, trotz der frappantesten Deutlichkeit, womit jeder Zug sich vor mein Auge stellte. Ich trat hervor, ich grüßte treuherzig und erfuhr ganz die gehoffte Aufnahme, nachdem ich mich durch das erste barsche Wort des Häuptlings nicht hatte irremachen lassen. Meine unbefangene Keckheit schien ihm plötzlich zu gefallen, auch meinen Anzug musterte er jetzt mit sichtbarem Respekt. Man lud mich ein, auf einen Teppich niederzusitzen, und bot mir zu essen an. Ich gab mir ein mehr und mehr treuherziges und redseliges Wesen, dessen gute Wirkung sich gar bald an meinen Leuten zeigte, die mit Aufmerksamkeit meinen Schilderungen aus fremden Ländern zuhörten, während ich mich nebenher an den merkwürdigen Gesichtern und köstlichen Gruppen in die Runde erquicken konnte.

Dies dauerte ungestört eine ganze Zeit. Jetzt ließ sich ein ferner Donner vernehmen und man machte sich auf ein Gewitter gefaßt, das auch wirklich unvermutet schnell herbeikam. Jedes schützte sich so gut wie möglich.

Bei dieser allgemeinen Bewegung, indes der Regen unter heftigen Donnerschlägen stromweise niedergoß und eines der seitwärts stehenden Pferde scheu wurde, war mir mein Portefeuille entfallen. Ich suchte es in der dicksten Finsternis am Boden und hatte es soeben glücklich aufgehoben, als ich plötzlich beim jähen Licht eines starken Blitzes hart an meiner Seite ein weibliches Gesicht erblickte, das freilich derselbe Moment, welcher es mir gezeigt, wieder in die vorige Nacht verschlang. Aber noch stand ich geblendet wie in einem Meere von Feuer und vor meinem innern Sinne blieb jenes Gesicht mit bestimmter Zeichnung wie eine feste Maske hingebannt, in grünflammender Umgebung des nassen glänzenden Gezweigs. Nichts in meinem Leben hat einen solchen Eindruck auf mich gemacht, als die Erscheinung dieses Nu. Unwillkürlich streckte sich mein Arm aus, um mich zu überzeugen, aber es rauschte schon an mir vorüber und eine längere Zeit, als meine Ungeduld wollte, verging, bis ich ins klare kommen sollte. Doch das blieb nicht aus.

[183] Ein Mädchen, das anfangs in dem Zelt verborgen gewesen sein mochte, und das man mit dem Namen Loskine rief, zeigte sich jetzt auch unter den andern, als man bei nachlassendem Regen wieder Feuer anmachte und sich unter wechselnden Scherz- und Scheltworten auf den störenden Oberfall wieder in Ordnung brachte. Das Mädchen ist die Nichte des Hauptmanns. – Loskine – wie soll ich sie beschreiben? Sind doch seit jener Nacht vier volle Tage hingegangen, in denen ich dies Gebilde der eigensten Schönheit stündlich Aug in Auge vor mir hatte, ohne daß dem Maler in mir eingefallen wäre, sich ihrer durch das elende Medium von Linien und Strichen zu bemächtigen! O diese wenigen Tage, wie reich an Entdeckungen, wie unermeßlich in ihren Folgen für meine ganze Art zu existieren!

Ich bin seither der freiwillige Begleiter dieser streifenden Gesellschaft. Ja, das bin ich und ich erröte keineswegs über diesen Einfall, den mir auch kein Professor ordinarius der schönen Künste beachselzucken soll, weil ich ihn einem Professori ordinario sicherlich nicht erzählen werde. Oder schändet es in der Tat einen vernünftigen Mann, den sein Beruf selber auf Entdeckung originaler Formen hinweiset, eine Zeitlang der Beobachter von wilden Leuten zu sein, wenn er unter ihnen unerschöpflichen Stoff, die überraschendsten Züge, den Menschen in seiner gesundesten physischen Entwicklung findet, und dabei die übrige Natur wie mit neuen Augen, mit doppelter Empfänglichkeit anschaut? Ich lerne mit jeder Stunde und die Leute sind die Gefälligkeit selbst gegen mich. Einiger Eigennutz ist freilich immer dabei; meine Freigebigkeit behagt ihnen, aber mich wird sie nie gereuen.


Einen Tag später


Ich muß lächeln, wenn ich mein gestriges Räsonnement von Malerstudium und Kunstgewinn wieder lese. Es mag seine Richtigkeit damit haben, aber wie käme diese hochtrabende Selbstrechtfertigung hieher, wenn nicht noch etwas anderes dahinterstäke, um was ich mir mit guter Art einen Lappen hängen wollte? Doch ich gestehe ja, daß Loskine schon an und für sich allein die Mühe verlohnen könnte, sich eine Woche lang mit dem Zug herumzutreiben. Ich kann dies Geschöpf nicht ansehen, ohne die Bewunderung immer neuer geistiger, wie körperlicher Reize. Sie fesselt mich unwiderstehlich, und wäre es auch nur durch das Interesse an der ungewöhnlichen Mischung dieses Charakters.

[184] Äußerungen eines feinen Verstandes und einer kindischen Unschuld, trockener Ernst und plötzliche Anwandlung ausgelassener Munterkeit wechseln in einem durchaus ungesuchten und höchst anmutigen Kontraste miteinander ab und machen das bezauberndste Farbenspiel. Das Unbegreifliche dieser Komposition und dieser Übergänge ist auch bloß scheinbar; für mich hat das alles bereits die notwendige Ordnung einer schönen Harmonie angenommen. Erstaunlich ist zuweilen die Behendigkeit ihrer äußern Bewegungen und herrlich das Lächeln der Überlegenheit, wenn es ihr mitunter gefällt, die Gefahr gleichsam zu necken. Mit Zittern seh ich zu, wie sie einen jähen Abhang hinunterrennt und so von Baum zu Baum stürzend sich nur einen kurzen Anhalt gibt; oder wenn sie sich auf den Rücken eines am Boden ruhenden Pferdes wirft und es durch Schläge zum plötzlichen Aufstehen zwingt. Unter den übrigen bildet sie indessen eine ziemlich isolierte Figur; man läßt sie auch gehen, weil man ihre Art schon kennt, und doch hängen alle mit einer gewissen Vorliebe an ihr. Besonders scheint der Sohn des Anführers, ein gescheiter männlich schöner Kerl, größere Aufmerksamkeit für sie zu haben, als ich leiden mag, wobei mich zwar einesteils ihre Kälte freut, auf der andern Seite aber sein heimlicher Verdruß doch wieder herzlich rührt. Mich mag sie gerne um sich dulden, allein ich scheue mich fast vor Marwin, so heißt jener Mensch, und bin schon daran gewöhnt, vorzüglich nur die Gelegenheit zu benützen, wann er eben auf Rekognoszierung oder sonst in einem Geschäft ausgeschickt wird, was häufig vorkommt. Ich habe ihr schon manche kleine Geschenke gekauft, deren Absichtlichkeit ich durch ähnliche Gaben an die andern zu bemänteln weiß. – Aber, mein Gott! was will ich denn eigentlich? Noch treffe ich nicht die Spur eines Gedankens an die Umkehr bei mir an. Vorgestern schrieb ich, unter einem nicht sehr wahrscheinlichen Vorwand und ohne das geringste von meinem jetzigen Leben verlauten zu lassen, an Freund S., er möchte mir meine ganze Barschaft nach dem Städtchen G*** senden, wo wir, wie der Hauptmann sagt, in vier Tagen zur Marktzeit eintreffen werden. Dieser Marsch bringt mich dem Orte, von dem ich ausgegangen, wieder um fünf Meilen näher. Aber doch welche Entfernungen immer noch! Gut, daß ich in diesen Gegenden nicht fürchten muß, auf irgendein bekanntes Gesicht zu stoßen, wofern ich anders in meinem gegenwärtigen Zustand noch kenntlich wäre. Ich habe meinem Anzug durch einige [185] geborgte Kleidungsstücke ein etwas freieres Wesen gegeben, um mich meinen Gesellen einigermaßen zu konformieren. Eine violett und rote Zipfelmütze auf dem Kopf, ein breiter Gürtel um den Leib tun wahrlich schon viel.


26. Mai


Einen artigen Auftritt hat es gegeben. Wir rasteten nach einem ermüdenden Strich mittags in einem Tannengehölze. Marwin war abwesend und sonst überließ sich fast alles dem Schlafe. Loskine suchte ihre Lieblingsspeise, das durstlöschende, angenehme Blatt des Sauerklees, der dort in großer Menge wächst. Ich begleitete sie und wir setzten uns endlich hinter einem Hügel an einer schattigen Stelle auf den von abgefallenen Nadeln ganz übersäeten Moosboden. Ich weiß nicht, wie wir auf allerlei Märchen und wunderbare Dinge zu sprechen kamen, woran sie bei weitem reicher war als ich. Unter anderem wußte sie von der spinnenden Waldfrau zu sagen, die im Frühen, wenn der herbstliche Wald von der Morgenröte glühet, unter den Bäumen hergehe und das Laub, wie vom Rocken, in grün und goldnen Fäden abspinne, indes die Spindel neben ihr hertanze. Auch vertraute sie mir vieles von der heimlichen Kraft der Kräuter und Wurzeln, was nicht wiederholt werden kann, ohne zugleich ihre eigenen Worte zu haben. Dazwischen arbeitete sie mit dem Schnitzmesser sehr fertig an einem niedlichen Geräte, dergleichen die Zigeuner aus einem gelben Holze zum Verkauf machen. Ich hatte zuletzt beinahe kein Ohr mehr für ihre Erzählungen ob der Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Lippen, auf das Spiel ihrer Miene, und endlich von stille glühenden Wünschen innerlich bestürmt und aufgeregt, wandte ich mich von ihr ab, so daß ich etwas tiefer sitzend ihr Gesicht im Rücken und ihren nackten Fuß – denn so geht sie gar häufig – dicht vor meinem Auge hatte. Wie trunken an allen Sinnen und meiner nicht mehr mächtig ergriff ich den Fuß und drückte meinen Mund fest auf die feine braune Haut. In diesem Augenblick gab Loskine mir lachend einen derben Stoß, wir standen beide auf und ich bemerkte eine hohe Röte auf ihrer Wange, eine Verwirrung, die ich schnell zu deuten wußte. Dadurch kühn gemacht schlang ich ohne Besinnen die Arme um die treffliche Gestalt, und sie widerstand mir nicht. Heiß brannten ihre Lippen und ihr Blick sprühte in den meinigen sein schwarzes Feuer. Aber kurz nur, denn jetzt kehrte er sich verworren ab, und der nächste Gegenstand, auf den er zugleich [186] mit dem meinigen fällt, ist – Marwin, welcher ruhig an einen unfernen Baum gelehnt ein Zeuge dieser Szene war. Loskine stand wie vom Schlage gerührt. Ich suchte, ohne Marwin bemerken zu wollen, ihn über den Vorfall zu täuschen, indem ich laut und scherzhaft mich über Sprödigkeit beklagte und daß sie mir das Gesicht schändlich zerkratzt hätte. Bei dieser Komödie leistete mir das Mädchen nicht die geringste Unterstützung. Sie starrte schweigend vor sich hin und unter stille hervorstürzenden Tränen entfernte sie sich langsam. Nun erst grüßte ich ganz verwundert meinen Nebenbuhler, ging auf ihn zu und wollte in meiner Rolle fortfahren, allein er sah mich ein paar Sekunden lang verächtlich an, dann ließ er mich stehen und ging.

Es sind seitdem sechzehn Stunden verflossen, ohne daß sich bisher die mindeste Folge gezeigt hätte, außer daß Loskine mir überall ausweicht.


In einer Bauernhütte zu ***


Ich bin getrennt von meiner Bande, aber um welchen Preis getrennt!

An demselben Morgen, da ich das letzte schrieb, nahm der Hauptmann mich beiseite und erklärte mir mit Mäßigung, aber mit finsterm Unmut, daß ich ihn verlassen müßte oder mich ganz so verhalten, als ob Loskine gar nicht vorhanden wäre. Sein Sohn wünscht sie als Weib zu besitzen, er selber habe sie ihm versprochen, sie werde sich auch jetzt nicht länger weigern. Ich möchte überhaupt auf meiner Hut sein, Marwin wolle mir sehr übel, nur die Furcht vor ihm, seinem Vater, habe ihn im Zaum gehalten, daß er sich nicht an mir vergriffen. Ich erwiderte, wenn mein argloses Wohlgefallen an dem Mädchen Verdruß errege, so wäre es mir ein leichtes, künftig behutsam zu sein; wenn aber Marwin überhaupt durch meine Gegenwart beunruhigt werde, so würde ich auch diese aufheben. Der Hauptmann, im Bewußtsein der nicht unbeträchtlichen Vorteile, die ihm meine Gesellschaft brachte, lenkte ein. Ich antwortete darauf wieder in unbestimmten Ausdrücken und so beruhte die Sache auf sich. Aber bald kam ich zu einer herzzerschneidenden Szene, woran ich sogleich selber teilnehmen sollte. Loskine, mit dem Strickzeug auf dem Schoße, saß an der Erde, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, indes ihr Liebhaber unter gräßlichen Verwünschungen und im heftigsten Schmerz ihr ein offenes Geständnis über jenen Vorfall auszupressen suchte. Wie [187] er mich gewahr wurde, sprang er gleich einem Wütenden auf mich los, faßte mich an der Brust und forderte von mir, was jene ihm vorenthalte. Er zog das Messer und drohte mir noch immer, als wir schon von fünf bis sechs Personen, die herbeieilten, umringt waren. Der Vater entwaffnete ihn auf der Stelle. Aber erst Loskine, welche sich jetzt mit einem mir unvergeßlichen Ausdruck von würdevoller Ruhe aufhob, machte dem Lärmen ein Ende; sie faßte, ohne ein Wort zu sprechen, Marwin mit einem vielsagenden Blicke bei der Hand und er, der von der Bedeutung ihrer feierlichen Gebärde so mächtig ergriffen zu sein schien, wie ich, folgte wie ein Lamm, als sie ihn tief mit sich in das Gebüsche führte.

Nach einer Weile kehrte sie allein zurück, ging mit entschiedenem Schritt auf mich zu, den sie gleichfalls aus der Mitte der übrigen hinwegwinkte.

»Ich habe ihm versprochen«, fing sie, da wir weit genug entfernt waren und stillestanden, in ernstem Tone an, »ich hab ihm versprochen, dir zu sagen, daß ich dich hasse wie meinen ärgsten Feind und bis in den Tod. Ich sage dir also dieses. Doch du weißt es anders. Ich sage dir für mich, daß ich dich vielmehr liebe wie meinen liebsten Freund, und das solange ein Atem in mir sein wird. Aber du mußt fort von uns, auch das hab ich ihm gesagt. Mach es kurz, ich darf nicht lange ausbleiben. Küsse mich!«

»Muß ich fort«, antwortete ich, durch das Großartige dieses Augenblicks fast über allen Affekt hinausgehoben, »muß ich fort, und ist es wahr, daß du mich mehr liebest als alles, so laß uns zusammen gehen.«

Sie sah mich staunend an, dann schüttelte sie gedankenvoll das schöne Haupt:

»Loskine!« rief ich, »wolle nur, und was dir unmöglich scheint, soll gewiß möglich gemacht werden. Aber noch eins zuvor beantworte mir: Kannst du Marwins Verlangen nicht gutwillig erfüllen? Kannst du nicht die Seinige werden?«

Sie schwieg. Ich tat dieselbe Frage wieder, worauf sie ein bestimmtes: Nein! ausstieß. Mir fiel ein Berg vom Herzen und zugleich war mein Entschluß gefaßt. Mit Blitzesschnelle ordnete sich ein Plan in meinem Kopfe, dessen Unsicherheit ich freilich sogleich fühlte. Er lief darauf hinaus, daß ich nach meiner unverzüglichen Trennung von ihren Leuten allein bis G*** vorausreisen wolle, dem Städtchen, wo sie, wie ich ja wußte, nächstens [188] auch eintreffen würden. Dort sollte sie sich alsdann von den Ihrigen verlieren, sich unter der Hand und mit kluger Art nach dem angesehensten Gasthaus erkundigen, wo ich mich unfehlbar bereits befinden und alle Anstalten zur schnellen Flucht getroffen haben würde. Loskine hatte meinen Vorschlag kaum vernommen, so entriß sie sich mir eilig, denn wir hörten Geräusch. In einem Gewirre von ängstlich sich durchkreuzenden Gedanken über die Ungewißheit, in welcher ich in mehr als einer Hinsicht mit meinem Plane stand, blieb ich mir selber überlassen. Hat das Mädchen mich verstanden? Werde ich Gelegenheit finden, sie noch einmal darüber zu vernehmen? oder wenn sie mich gefaßt hat, wird sie sich zu dem Schritte entschließen? ist der letztere überhaupt ausführbar? Diese Zweifel beunruhigen mich nicht wenig, bis mir der glückliche Einfall kam, alles dem Willen des Schicksals anheimzustellen und zuletzt das Glücken oder Mißlingen meiner Absichten als Probe ihrer Güte oder Verwerflichkeit anzusehen. Mit dieser Idee schmeichelte ich mir ordentlich, sowie durch den strengen Vorsatz, Loskinen für jetzt nicht mehr aufzusuchen, mich wenigstens nicht näher mit ihr darüber zu verständigen. Um wieviel bedeutender – dies schwebte im Hintergrund meiner Seele – um wieviel glänzender wird nachher die Erfüllung deiner Erwartungen sein! Aber auch selbst in ihrem Fehlschlagen sah ich einen für mich reizenden Schmerz und eine schöne Entsagung voraus.

Jetzt begab ich mich zu meiner Gesellschaft, zog den Hauptmann beiseite und erklärte ihm die Notwendigkeit meiner Entfernung, die ich ihm durch einen letzten Beweis meiner Erkenntlichkeit um so leichter verschmerzen machte. Er empfing mein immer ansehnliches Geschenk mit einer Miene von Stolz und Freundlichkeit, erbot sich zu einem Ehrengeleite, was ich aber ausschlug, und er versprach, meiner Bitte gemäß, die andern in meinem Namen zu grüßen, da ich aus Schonung für Marwin einen allgemeinen Abschied vermeiden wolle. Im Grunde aber unterließ ich den Abschied aus Schonung für mich selber, aus einem eigenen Schamgefühl, das mich nicht vor den Menschen treten ließ, den ich um seine schönste Hoffnung zu betrügen gedachte. Ich suchte mich damit zu trösten, daß ich mir sagte, er werde um nichts beraubt, das er je besessen hätte oder jemals besitzen könnte, denn Loskinens Herz war weit von ihm entfernt.

In kurzer Zeit befand ich mich wieder allein und in meinen [189] ordentlichen Kleidern. Ich verfolgte zu Pferde mit einem gleichfalls berittenen Begleiter aus dem nächsten Dorfe einen Umweg nach G*** welchen, wie zu vermuten war, der Hauptmann nicht einschlug. Diese Vorsicht gebrauchte ich auf alle Fälle, so wie ich ihm auch die Richtung meiner Reise falsch angab.

In G. langt ich beizeiten an und nahm mein Absteigequartier gemäß dem Loskinen gegebenen Worte. Was meine Absicht weiter fördern konnte ward unverzüglich eingeleitet. Einige neue Kleidungsstücke, vor allem ein anständiger Mantel lag für die Geliebte bereit. Es fand sich ein bequemer verschlossener Wagen, dessen Anblick mich mit abwechselnd glücklichen und bekümmerten Ahnungen erfüllte; doch erhielt sich meine Hoffnung um so aufrechter, je weiter ich die Zeit hinaussetzte, wo meiner Berechnung nach die Ankunft des Trupps erfolgen konnte. Dies war auf den folgenden Morgen, als den eigentlichen Markttag. Ganz gelassen schaute ich soeben von meinem Zimmer auf die Straße hinab und überlegte, nicht ohne einige bedenkliche Rücksicht auf den sehr herabgesunkenen Zustand meiner Börse, die Art und Weise, wie ich das in den nächsten Tagen unfehlbar hier auf der Post einlaufende Paket von S. wollte am zweckmäßigsten heimwärts mir nachschicken lassen. Ich sah unter diesen Betrachtungen ruhig zu, wie unter meinem Fenster ein Junge vom Haus mit einer neuen hölzernen Armbrust spielte, wobei ein dunkles, gleichgültiges Gefühl in mir war, als wäre mir ein gleiches Instrument während der letzten Zeit irgendwo vorgekommen. Wie ein Blitz durchzückt mich plötzlich der Gedanke, daß ich noch vor zwei Tagen dergleichen Schnitzarbeit in den Händen Loskinens gesehen, daß sie bereits in der Nähe sein müsse, daß sie jeden Augenblick in das Haus treten könne. Ich war außer mir vor Freude, vor Erwartung und Angst. Aber dieser peinvolle Zustand sollte nicht lange dauern. O Gott! wer schildert den Augenblick, da die herrliche Gestalt in mein Zimmer schlüpfte, diese Arme sie empfingen und sie mit ersticktem Atem rief: »Da bin ich! da bin ich Unglückliche! beginne mit mir, was du willst!«

In kurzem saßen wir im Wagen; erst fuhr ich allein eine Strecke weit vor die Stadt und erwartete sie dort. Wir reisten den Tag und die Nacht hindurch und sind vorderhand weit genug, um nichts mehr zu fürchten. Aber welche Not, welche süße Not hatt' ich, den Jammer des holden Geschöpfs zu mäßigen. Sie schien jetzt erst den ungeheuren Schritt zu überdenken, [190] den sie für mich gewagt, sie quälte sich mit den bittersten Vorwürfen und dann wieder lachte sie mitten durch Tränen, mit Leidenschaft mich an sich pressend. So kamen wir gegen Tagesanbruch im Grenzorte B. ermüdet an. Ich schreibe dies in einem elenden Gasthof, indessen Loskine nicht weit von mir auf schlechtem Lager eines kurzen Schlafs genießt. Getrost, gutes Herz, in wenig Tagen zeig ich dir eine Heimat. Du sollst die Fürstin meines Hauses sein, wir wollen zusammen ein Himmelreich gründen, und die Meinung der Welt soll mich nicht hindern, der Seligste unter den Menschen zu sein.


*


Hier brach das Tagebuch des Malers ab. Der Pfarrer machte eine Pause und Jungfer Ernestine sagte: »Er brachte sie also ins Vaterland und nahm sie förmlich zum Weibe?« »Ja, leider daß Gott erbarm! er setzt' es durch. Er verleugnete die abscheuliche Herkunft der Person, doch man merkte sogleich Unrat, und wer von der Familie hätte sich nicht davor bekreuzen sollen, so eine wildfremde Verwandtschaft einzugehen? Alles riet dem Bruder ab, alles verschwor sich gegen eine Verbindung, ich selbst, Gott vergebe mir's, habe mich verfeindet mit ihm, so lieb ich ihn hatte. Umsonst, der Fürst war auf seiner Seite, er ward in der Stille getraut und lebte mit dem Weibsbild einsam genug auf seinem kleinen Gute. Seine Kunst nährte ihn vollauf, aber es konnte kein Segen dabei sein; beide Eheleute, sagt man, hätten sich geliebt, abgöttisch geliebt, und doch, heißt es, sei sie in den ersten Monaten krank geworden vor Heimweh nach ihren Wäldern, nach ihren Freunden. Man sage mir was man will, ich behaupte, so ein Gesindel kann das Vagieren nicht lassen, und mein armer Bruder muß tausendfachen Jammer erduldet haben. Es dauerte kein Jahr, so schlug der Tod sich ins Mittel, die Frau starb in dem ersten Kindbett. Euer Onkel statt, wie man hoffte, dem Himmel auf den Knieen zu danken, tat über den Verlust wie ein Verzweifelnder; er lebte eine Zeitlang nicht viel besser als ein Einsiedler; sein einziger Trost war noch das Kind, das am Leben erhalten war und in der Folge eine unglaubliche Ähnlichkeit mit der Mutter zeigte. Er ließ das Mädchen sorgfältig bei sich erziehen bis in sein siebentes Jahr. Da strafte Gott den hart Gezüchtigten mit einem neuen Unglück. Das Kind ward eines Tags vermißt, niemand begriff, wohin es geraten sein konnte. Später fand man Ursache, zu glauben, daß die verruchte Bande den Aufenthalt meines [191] Bruders entdeckt, und weil die Frau nicht mehr zu stehlen war, sich durch den Raub des Mädchens an dem Vater gerächt habe. Sein halb Vermögen ließ dieser es sich kosten, seinen Augapfel wieder an sich zu bekommen, vergebens, er mußte die Tochter verlorengeben, und nie vernahm man weiter etwas von ihr. Und heute nun – es ist ja unfaßlich, es ist rein zum Tollwerden, mir wirbelt der Verstand, wenn ich's denke, heute muß ich es erleben, daß der Bastard mir durch meine eigenen Kinder über die Schwelle gebracht wird. Mir ist nur wohl, seit sie wieder aus dem Haus ist! Wenn sie sich nur nicht irgendwo versteckt! dort liegt ja ihr Bündel noch; wenn nur nicht der ganze Trupp hier in der Nähe umherschleicht! Heiliger Gott! wenn sie mir das Haus anzündeten, die Mordbrenner – Auf, Kinder! mir läuft es siedend über den Rücken, mir ahnet ein Unglück! Durchsucht jeden Winkel – der Knecht soll den Schultheiß wecken – man soll Lärm machen im Dorfe –«

»Um Gottes willen, Vater was denken Sie?« riefen die Mädchen, »besinnen Sie sich doch! die Zigeuner sind ja meilenweit von uns entfernt und das Mädchen wird uns nicht schaden.«

»Was? nicht schaden? wißt ihr das? Ist sie nicht von Sinnen? Was ist von einer Närrin nicht alles zu fürchten!«

»So kann ja Johann die Nacht wachen, wir alle wollen wachen.«

»Keinen Augenblick hab ich Ruh, bis ich mich überzeugt, daß nicht irgendwo Feuer eingelegt ist. Kommt! ich habe nun einmal die Grille; begleitet mich.«

So tappte man denn zu dreien ohne Licht durch das ganze Haus; die Gänge, die Ställe, die Bühne, alles wurde sorgfältig untersucht. Als man in die Dachkammer kam, wo sich das merkwürdige Bild befand, empfanden die Mädchen einen heimlichen, jedoch reizen den Schauder; es war so aufgehängt, daß soeben der Mond sein starkes Licht darauf fallen ließ, und selbst der Pfarrer ward wider Willen von der dämonischen Schönheit des Gesichtes festgehalten, man hätte es wirklich für ein Porträt Elisabeths halten können; von ganz eigenem, nicht weiter zu beschreibendem Ausdruck waren besonders die braunen durchdringenden Augen. Keines von den dreien wollte ein lautes Wort sprechen, nur Adelheid fragte den Vater, ob der Onkel es gemalt? ob es seine Frau vorstelle? Der Pfarrer nickte, nahm das Bild seufzend von der Wand und versteckte es in die hinterste Ecke.

[192] Im Vorbeigehen traten sie in Theobalds Schlafkammer, er schlief ruhig, die Hände lagen gefaltet über der Decke.

Mitternacht war vorüber. Der Alte hatte wenig Lust sich zur Ruhe zu begeben, die Töchter sollten ihm Gesellschaft leisten, und um sie wach zu erhalten mußte er den Rest der traurigen Geschichte erzählen. »Dieser geht nahe zusammen«, sagte er. »Der Unfall mit dem Kinde vernichtete den Oheim ganz; der Aufenthalt im Vaterlande ward ihm unerträglich, er ging auf Reisen, nach Frankreich und England, soll aber in steter Verbindung mit seinem Fürsten geblieben sein und fortwährend für ihn gearbeitet haben, bis er aus unbekannten Gründen mit dem Hofe zerfiel. Auf einmal verscholl er und man weiß bloß, daß er mit einem Schiffe zwischen England und Norwegen umgekommen. Den größten Teil seines Vermögens hatte er bei sich, aber aus dem, was er zurückließ, zu schließen, schien er eine Heimkehr nicht aufgegeben zu haben. Seine Güter fielen der Herrschaft zu, welche Anspruch darauf machte. Außer einem kleinen Vorrat von Effekten, worunter auch jenes Gemälde und das Diarium sich befand, kam nichts an uns. – So endete der Bruder eures Vaters. Ich sage, Friede sei mit ihm! Ich werde ihn aufrichtig beweinen bis an meinen Tod, ob ich gleich was er tat nicht billigen kann und jeden warnen muß, dem Gott ein so gefährlich Temperament verlieh, daß er den Fallstrick des Versuchers vermeide und nie die Bahn heilsamer Ordnung verlasse. Ich denke hier an meinen eigenen Sohn, an Theobald. Der Junge hat, so fromm und sanft er ist, mich manchmal schon erschreckt. So ganz das Gegenteil von mir! So manches Übertriebene, Unnatürliche! So heute wieder – mir läuft die Galle über, wenn ich's denke – was soll die dumme Neugierde auf die Fremde? nichts, als daß seine Phantasie toll wird! Und du, Adelheid, machst oft gemeinschaftliche Sache mit ihm, statt ihn zu leiten – Er läßt sich nicht wie andere Knaben seines Alters an. Da – stundenlang oben im Glockenstuhl sitzen, wie ein Träumer, Spinnen ätzen und aufziehen, einfältige Geheimnisse, Zettel, Münzen unter die Erde vergraben – was sind mir das für Bizarrerien? Und daß ich einen Maler aus ihm mache, soll er sich nur nicht einbilden. Das ist das ewige Zeichnen und Pinseln! wo man hinsieht, ärgert man sich über so ein Fratzengesicht, das er gekritzelt hat, und wär's auch nur auf dem Zinnteller. Wenn er einmal sonntags nachmittag zur Erholung sich eine Stunde hinsetzte und machte [193] einen ordentlichen Baum, ein Haus und dergleichen nach einem braven Original, so hätt ich nichts dagegen, aber da sind es nur immer seine eigenen Grillen, hexenhafte Karikaturen und was weiß ich. Bei Gott! gerade solche Possen hat Onkel Friedrich in seiner Jugend gehabt. Nein, bei meiner armen Seele, mein Sohn soll mir kein Maler werden! Solange ich lebe und gebiete, soll er's nicht!«

Die Mädchen machten große Augen zu diesen Worten, denn es war beinahe das erstemal, daß der Vater über seinen Liebling entrüstet schien, und doch war auch dies nur der ängstliche Ausdruck seiner grenzenlosen Vorliebe für ihn. Endlich brach er auf und noch während des Auskleidens redete er nach seiner heftigen Gewohnheit laut mit sich selber über den störenden Vorfall des Abends.

Am folgenden Morgen meldete der Knecht, daß, als er mit Tagesanbruch aufgestanden und in den Hof getreten, um Wasser zu schöpfen, das Zigeunermädchen ihm dort in die Hände gelaufen sei; sie hätte sich nur ihr Kleiderbündel von ihm bringen lassen, um so gleich weiterzugehen. Sie habe ihm einen freundlichen Gruß an Adelheid, besonders aber an den jungen Herren befohlen. Ein Medaillon, das sie vom Halse losgeknüpft, soll man ihm als Angebinde von ihr einhändigen.

Der Vater nahm das Kleinod sogleich in Empfang; es war von feinem Golde, blau emailliert, mit einer unverständlichen orientalischen Inschrift; er verschloß es und verbot jedermann aufs strengste, seinem Sohn etwas von diesem Auftrage kundzutun.

Der junge Mensch hatte außer Adelheiden keine Seele, der er sein Inneres hätte offenbaren mögen. Er wandelte, seitdem er Elisabethen gesehen, eine Zeitlang wie im Traume.

Wenn er seit seinen Kinderjahren, in Rißthal schon, so manchen verstohlenen Augenblick mit der Betrachtung jenes unwiderstehlichen Bildes zugebracht hatte, wenn sich hieraus allmählich ein schwärmerisch religiöser Umgang wie mit dem geliebten Idol eines Schutzgeistes entspann, wenn die Treue, womit der Knabe sein Geheimnis verschwieg, den Reiz desselben unglaublich erhöhte, so mußte der Moment, worin das Wunderbild ihm lebendig entgegentrat, ein ungeheurer und unauslöschlicher sein. Es war, als erleuchtete ein zauberhaftes Licht die hintersten Schachten seiner inneren Welt, als bräche der unterirdische Strom seines Daseins plötzlich lautrauschend zu [194] seinen Füßen hervor aus der Tiefe, als wäre das Siegel vom Evangelium seines Schicksals gesprungen.

Niemand war Zeuge von dem seltsamen Bündnis, welches der Knabe in einer Art von Verzückung mit seiner angebeteten Freundin dort unter den Ruinen schloß, aber nach dem, was er Adelheiden darüber zu verstehen gab, sollte man glauben, daß ein gegenseitiges Gelübde der geistigen Liebe stattgefunden, deren geheimnisvolles Band, an eine wunderbare Naturnotwendigkeit geknüpft, beide Gemüter, aller Entfernung zum Trotze, auf immer vereinigen sollte.

Doch dauerte es lang, bis Theobald die tiefe Sehnsucht nach der Entfernten überwand. Sein ganzes Wesen war in Wehmut aufgelöst, mit doppelter Inbrunst hielt er sich an jenes teure Bild; der Trieb zu bilden und zu malen ward jetzt unwiderstehlich und sein Beruf zum Künstler war entschieden.

In kurzem starb der Vater am Schlagflusse. Die Kinder wurden zerstreut. Theobald ward einem wackern Manne (dem Förster zu Neuburg) in die Kost gegeben, von dessen Hause aus er die benachbarte Malerschule zu *** besuchte. Nach fünfthalb Jahren fleißiger Studien fand ein reicher Gönner sich bewogen, dem jungen Manne die Mittel zu seiner weiteren Bildung im Auslande zu reichen. In hohem Grade fruchtbar ward ihm der Aufenthalt zu Rom und Florenz, aber selbst die mannigfaltigen Anschauungen dieser herrlichen Kunstwelt vermochten den Grundton jener früheren Eindrücke nie völlig zu verdrängen, deren mysteriöser Charakter zunächst in der Idee des Christlichen eine analoge Befriedigung fand.

Elisabethen hat er nie wiedergesehen.

[195]

Zweiter Teil

Leopold ging unter tiefer Betrachtungen nach der Stadt zurück. Er kommt an dem Garten des wunderlichen Hofrats vorbei. Der Liebling des letztern, ein zahmer Star, sitzt auf dem Spitzdache eines Pumpbrunnens, über den sich eine Trauerweide neigt. Der Vogel stimmt, eben wie Leopold vorüber will, sein Stückchen an, mit einem spöttischen Zwischenruf, der offenbar ihm gilt: »Es reiten drei – Spitzbub – zum Tore hinaus«; zugleich wird das gepuderte Haupt des Hofrats sichtbar; derselbe ersucht den Bildhauer, einen Augenblick hereinzutreten. »Ich habe eine Neuigkeit«, sagte er, »über deren angenehmen Inhalt Sie wohl dem Flegel da oben seine Unart vergessen werden. Monsieur Larkens wurde den Morgen schnell zu einem Verhöre berufen. Man darf sich auf ein erwünschtes Resultat gefaßt halten; mir ward nur en passant und ganz im allgemeinen, jedoch von sicherer Hand ein Wink gegeben. Bringen Sie den Leutchen diesen Trost, sagen es aber nicht weiter.« Voll Freuden dankte der Bildhauer und wollte eilends gehn, als der Hofrat, der heute seinen schönen Tag hatte, ihn noch am Rockknopf festhielt und sagte: »Widmen Sie doch dem Burschen da droben noch einen Blick! Bemerken Sie die philosophische Klarheit, den feinen Sarkasmus, womit dieser Schnabel in die Welt hinaussticht! Stellen wir uns nun etwa unter der Brunnenpyramide ein Monument, ein Grabmal vor, so wäre es dem elegischen Geschmack ohne Zweifel gemäßer, in den hängenden Weidenzweigen sich Philomelen, die süße Sängerin der Wehmut und der Liebe, zu denken, als den gebildetsten Staren, dessen bloße Figur schon viel vom Weltmann hat. Indessen, dünkt mich, wäre ein Hanswurst, gedankenvoll auf einem Sarkophagen sitzend, eine üble Vorstellung auch nicht, vielleicht ein Gegenstand für einen Hogarth. Man gäbe dem Kujon etwa ein schlafendes Kind auf den Schoß und hinter seinem Rücken würde, halb zürnend halb lächelnd, ein eisgrauer Alter am Stabe das sonderbare Selbstgespräch belauschen. Des Narren Gesicht müßte zeigen, wie er sich Mühe [196] gibt, recht tiefsinnig und ernsthaft zu sein; aber es geht nicht, und das bedeutendste Kopfschütteln wird jedesmal von der Schellenkappe begleitet. Was meinen Sie nun? der geflügelte Schlingel dort, welcher gestern das Unglück gehabt, ich weiß weder wo noch wie, in einen Topf mit gelber Ölfarbe zu fallen, davon er die Spuren noch trägt – gleicht er denn nicht aufs Haar so einem buntscheckigen Allerweltsspötter? Ist es nicht ein unvergleichlicher Junge?«

Der Bildhauer mußte dem Vogel eine Lobrede halten, war aber endlich nur froh, loszukommen und sich bei den Freunden seiner glücklichen Zeitung zu entledigen.

Wirklich gingen nicht vier Tage hin, als den Gefangenen bereits ihre Lossprechung eröffnet ward. Man hatte bei keinem von beiden eine bösliche Absicht, wohl aber eine strafbare Unziemlichkeit in ihrer Handlungsweise entdeckt, wofür ihnen die Gnade des Königs Verzeihung zuerkannte.

Sämtliche Freunde fanden dies ganz in der Regel, nur den Schauspieler schien die schnelle Wendung der Sache zu befremden, er schüttelte den Kopf, indem er nicht undeutlich zu verstehen gab, daß dahinter irgend etwas stecken müsse; übrigens äußerte er weiter keine Vermutung und teilte von Herzen den allgemeinen Jubel.

Der Augenblick, in dem er Nolten zum ersten Male wieder, obgleich am Krankenbett begrüßte, riß jeden, der zugegen war, zu Rührung und Freude hin. Nie hatte man eine leidenschaftlichere Freundschaft gesehen, und wenn sonst Larkens die Vermeidung jedes Anscheins von Empfindsamkeit beinahe bis zur Härte trieb, so ward er jetzt nicht satt, den Kranken zu umarmen und zu küssen, ihm aufs beweglichste den Unfall abzubitten, dessen er sich allein anklagte. Zum Glück versprach der Arzt, daß Nolten in kurzer Zeit völligen Gebrauch von seiner Freiheit würde machen können, ja der Kranke selber schwur, es fehle gar nicht viel, so hätte er wohl Lust, sich heute schon auf die Füße zu richten; zum wenigsten wollte er aus dem traurigen Arrestzimmer erlöst sein und müßte man ihn auch samt dem Bette wegtragen. Larkens nahm gleich den Schließer auf die Seite, ließ sich die nächstgelegenen Zimmer weisen und kam bald mit der lustigen Botschaft wieder, er habe nur wenige Schritte von Theobalds Zelle ein Lokal entdeckt, darüber in der Welt nichts gehe: einen kleinen getäfelten Rittersaal mit einem Erker, der die schönste Aussicht im ganzen Schloß darbiete. [197] Sodann beschrieb er den altertümlichen Reiz der vielfach verzierten eichenen Wände, eine Reihe von lebensgroß in Holz geschnitzten Grafen und Herzogen mit ihren Wappenschildern und Sinnsprüchen, die hölzerne Decke, auf welcher, in gleiche Quadrate geteilt, die halbe biblische Historie in rührender Geschmacklosigkeit gemalt zu schauen, zwei riesenhafte Ofen, die man im Notfall beide heizen würde; daneben in einer Ecke lehne ein Haufen rostiger Waffen, an deren Schwere der Patient von Tag zu Tage seine zunehmenden Kräfte prüfen müsse; auch stünden ein paar kleine Feuerspritzen bereit, und er behalte sich vor, dieselben an dem Tage, wo man Befreiung und Genesung festlich begehen würde, mit Tokaier füllen zu lassen, denn da müsse der Wein recht eigentlich in Strömen fließen. Sprach er das letztere im Scherz, so war es ihm mit der Verlegung Noltens in den bezeichneten Saal so vollkommen Ernst daß er noch jenen Morgen die Erlaubnis hiezu von seiten des Verwalters einholte und Anstalt machte, alles recht sauber und reinlich herzustellen. Der Umzug ging des andern Tages vor sich, und Nolten mußte gestehen, er fühle sich wahrhaft erleichtert und erhoben durch eine so heitere als eindrucksvolle Umgebung. Fenster an Fenster reihten sich die langen Wände entlang und die ehemalige Pracht erstreckte sich selbst bis auf die kleinen runden Scheiben, deren Blei noch überall die Spuren guter Vergoldung zeigte. Es soll der Saal vorzeiten seiner Kostbarkeit und außerordentlichen Helle wegen, »die goldene Laterne« geheißen haben.

Einer der ersten Besuche, deren unser Freund in seiner neuen Wohnung eine große Anzahl erhielt, war Tillsen und der alte Baron von Jaßfeld. Beide hatten während der Gefangenschaft, vermutlich aus Rücksicht gegen den Hof, Anstand genommen, diese Pflicht zu erfüllen. Der Schauspieler konnte eine spöttische Bemerkung deshalb nicht unterdrücken, für Theobald aber war wenigstens der gegenwärtige Beweis von Aufmerksamkeit um so wichtiger, als er eine günstige Folgerung auf die Gesinnungen der Zarlinschen daraus zog. Allein hierin irrte er sich, denn gar bald ließ man ihn merken, daß in jenem Hause noch immer eine auffallende Verstimmung herrsche, daß er wohltun würde, sich vorderhand durchaus entfernt zu halten. Hiezu war er nun wirklich fest entschlossen, besonders da auch in den folgenden Tagen von seiten des Grafen nicht einmal ein trockener Glückwunsch, geschweige denn, wie doch [198] zu erwarten gewesen wäre, ein freundlich Wort an ihn erging.

Unter andern Umständen vielleicht hätten diese Aussichten ihn trostlos gemacht, aber so ward sein Stolz empfindlich gereizt, er sah sich unfreundlich, schnöde zurückgestoßen, und da er wußte, wie wenig von jeher die Gräfin gewohnt gewesen, sich ihre Gefühle und Handlungen durch den Bruder oder sonst jemanden vorschreiben zu lassen, so konnte er auch ihr jetziges Benehmen keineswegs auf fremde Rechnung setzen Er glaubte sich in seinen Vorstellungen von der ungemeinen Denkart dieses Weibes entschieden getäuscht, zum erstenmal fand er an Constanzen die Kleinlichkeit ihres Geschlechts, die engherzige Pretiosität ihres Standes, ja was noch mehr als dies, er überzeugte sich, daß sie ihn niemals eigentlich geliebt haben könne. Er war traurig, allein er wunderte sich, daß er es nicht in höherem Grade sei.

Auf diese Art hatte nun freilich der Schauspieler, dem sehr darum zu tun sein mußte, die Eindrücke dieser Leidenschaft bei Nolten von Grund aus zu vertilgen, bei weitem leichtere Arbeit, als er immer gefürchtet. Er wunderte sich im stillen höchlich über die vernünftige Gelassenheit seines Freundes, und gab dem Wunsche desselben gerne nach, daß von der Sache nicht weiter die Rede sein solle.

Übrigens gab es für Larkens gar mancherlei zu bedenken und auszumitteln. Gleich nach der Haftsentlassung war es eine seiner ersten Sorgen gewesen, ob jene seltsame Elisabeth, welche vor wenig Tagen von Leopold war auf der Straße gesehen worden, nicht etwa noch in der Nähe sich befinde: mehrere Gründe setzten es jedoch außer Zweifel, daß sie die Stadt bereits wieder verlassen. Jetzt wünschte er sich über den Zustand der Gemüter im Zarlinschen Hause, sowie über den wahren Grund der eilfertigen Erledigung jener anfänglich so ernsthaft behandelten Rechtssache genauer zu unterrichten. Er war um so begieriger, als einige heimliche Stimmen sich verlauten ließen Herzog Adolph habe sich mit seinem fürstlichen Worte für die Gefangenen verbürgt und so den Knoten miteinemmal zerschnitten. Dies fand der Schauspieler so unwahrscheinlich nicht, obgleich der Herzog, wie es schien, seine Großmut öffentlich nicht Wort haben wollte und sich übrigens jeder Berührung mit seinen Schützlingen entzog. Höchst peinlich empfand daher Larkens seine Ungewißheit über diesen Punkt, sowie die Unmöglichkeit, [199] dem Wohltäter ausdrücklich zu danken, wenn dieser sich wirklich in der Person des Herzogs versteckt haben sollte. Letzteres ward er je länger je mehr überzeugt, und bald gesellte sich hiezu noch eine weitere, obgleich noch sehr entfernte Mutmaßung, welche er jedenfalls vor Nolten auf das sorgfältigste zu verbergen guten Grund haben mochte. Der Gedanke stieg nämlich bei ihm auf, ob nicht Gräfin Constanze selbst als geheime Triebfeder, zunächst zugunsten Theobalds, durch den Herzog könnte gewirkt haben? Er wußte nicht eigentlich, was ihn auf diese Vorstellung führte, im allgemeinen aber setzte er bei Constanzen noch immer eine stille, sehr nachhaltige Neigung für Theobald voraus, und es war ihm unmöglich, sie anders als in einem leidenden Zustande zu denken.

Eines Morgens findet er seinen Freund außer dem Bette unter dem halboffenen Fenster sitzen und sich im kräftigen Strahl der Frühlingssonne wärmen. Der Schauspieler drückte laut seine Freude über die glücklichen Fortschritte des Rekonvaleszenten aus, während Theobald ihm lächelnd mit der Hand Stillschweigen zuwinkte, denn der lieblichste Gesang tönte soeben aus dem Zwinger herauf, wo die Tochter des Wärters mit den ersten Gartenarbeiten beschäftigt war. Sie selbst konnte wegen eines Vorsprungs am Gebäude nicht gesehen werden, desto vernehmlicher war ihr Liedchen, wovon wir wenigstens einen Vers anführen wollen.


Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte,
Süße wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land;
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen;
Horch, von fern ein leiser Harfenton! – –
Frühling, ja du bist's!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!

Die Strophen bezeichneten ganz jene zärtlich aufgeregte Stimmung, womit die neue Jahreszeit den Menschen, und den Genesenden weit inniger als den Gesunden, heimzusuchen pflegt. Eine seltene Heiterkeit belebte das Gespräch der beiden Männer, während ihre Blicke sich fern auf der keimenden Landschaft ergingen. Nie war Nolten so beredt wie heute, nie der[200] Schauspieler so menschlich und liebenswürdig gewesen. Auf einmal stand der Maler auf, sah dem Freunde lang und ernst, wie mit abwesenden Gedanken, ins Gesicht, und sagte dann, indem er seine Hände auf die Schultern des andern legte, im ruhigsten Tone: »Soll ich dir gestehen, Alter, daß dies der glücklichste Tag meines Lebens ist, ja daß mir vorkommt, erst heute fang ich eigentlich zu leben an? Begreife mich aber. Nicht diese erquickende Sonne ist es allein, nicht die ser junge Hauch der Welt und nicht deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, wovon ich rede, lag in der letzten Zeit schon beinahe reif in mir; ich kann nicht sagen, daß es die Folge langer Überlegung sei, doch ruht es auf dem klarsten und nüchternsten Bewußtsein und ist so wahr als ich nur selber wirklich bin. Es hat sich mir in diesen Tagen die Gestalt meiner Vergangenheit, mein inneres und äußeres Geschick, von selber wie im Spiegel aufgedrungen und es war das erstemal, daß mir die Bedeutung meines Lebens, von seinen ersten Anfängen an, so unzweideutig vor Augen lag. Auch konnte das und durfte nicht wohl früher sein. Ich mußte gewisse Zeiträume wie blindlings durchleben, vielleicht geht es mit den folgenden nicht anders und vielleicht ist das bei den meisten Menschen so; aber auf den kurzen Moment, wo die Richtung meiner Bahn sich verändert, wurde mir die Binde abgenommen, ich darf mich frei umschauen, als wie zu eigner Wahl, und freue mich, daß, indem eine Gottheit mich führt, ich doch eigentlich nur meines Willens, meines Gedankens mir bewußt bin. Die Macht, welche mich nötigt, steht nicht als eigensinniger Treiber unsichtbar hinter mir, sie schwebt vor mir, in mir ist sie, mir deucht, als hätt ich von Ewigkeit her mich mit ihr darüber verständigt, wohin wir zusammen gehen wollen, als wäre mir dieser Plan nur durch die endliche Beschränkung meines Daseins weit aus dem Gedächtnis gerückt worden, und nur zuweilen käme mir mit tiefem Staunen die dunkle wunderbare Erinnerung daran zurück. Der Mensch rollt seinen Wagen wohin es ihm beliebt, aber unter den Rädern dreht sich unmerklich die Kugel, die er befährt. So sehe ich mich jetzt an einem Ziele, wonach ich nie gestrebt hatte, und das ich mir niemals hatte träumen lassen. Vor wenig Wochen noch schien ich so weit davon entfernt! Manches, was mir so lang als notwendige Bedingung meines Glücks, meines vollendeten Wesens erschienen war, was ich mit unglaublicher Leidenschaft genährt und gepflegt hatte, liegt nun wie tote Schale von [201] mir abgefallen; so ist Constanze mir nicht viel mehr als noch ein bloßer Name, so ist mir schon früher jene Agnes untergesunken.

Große Verluste sind es hauptsächlich, welche dem Menschen die höhere Aufgabe seines Daseins unwiderstehlich nahebringen, durch sie lernt er dasjenige kennen und schätzen, was wesentlich zu seinem Frieden dient. Ich habe viel verloren, ich fühle mich unsäglich arm, und eben in dieser Armut fühle ich mir einen unendlichen Reichtum. Nichts bleibt mir übrig, als die Kunst, aber ganz erfahr ich nun auch ihren heiligen Wert. Nachdem so lange ein fremdes Feuer mein Inneres durchtobt und mich von Grunde aus gereinigt hat, ist es tief still in mir geworden, und langsam spannen alle meine Kräfte sich an, in feierlicher Erwartung der Dinge, die nun kommen sollen. Eine neue Epoche ist für mich angebrochen, und, so Gott will, wird die Welt die Früchte bald erleben. Siehst du, ich könnte dir die hellen Freudetränen weinen, wenn ich dran denke, wie ich mit nächstem zum ersten Male wieder den Pinsel ergreifen werde. Viel hundert neue, nie gesehene Gestalten entwickeln sich in mir, ein seliges Gewühle, und wecken die Sehnsucht nach tüchtiger Arbeit. Befreit von der Herzensnot jeder ängstlichen Leidenschaft, besitzt mich nur ein einziger gewaltiger Affekt. Fast glaub ich wieder der Knabe zu sein, der auf des Vaters Bühne vor jenem wunderbaren Gemälde wie vor dem Genius der Kunst geknieet, so jung und fromm und ungeteilt ist jetzt meine Inbrunst für diesen göttlichen Beruf. Es bleibt mir nichts zu wünschen übrig, da ich das Allgenügende der Kunst und jene hohe Einsamkeit empfunden, worin ihr Jünger sich für immerdar versenken muß. Ich habe der Welt entsagt, das heißt, sie darf mir mehr nicht angehören, als mir die Wolke angehört, deren Anblick mir eine alte Sehnsucht immer neu erzeugt. Ich sage nicht, daß jeder Künstler ebenso empfinden müsse, ich sage nur, daß mir nichts anderes gemäß sein kann. Auf diese Resignation hat jede meiner Prüfungen hingedeutet, dies war der Fingerzeig meines ganzen bisherigen Lebens; es wird mich von nun an nichts mehr irre machen.«

Der Maler schwieg, seine blassen Wangen waren von einer leichten Röte überzogen, er war aufs äußerste bewegt und bemerkte mit Unwillen die Befremdung seines Freundes, sowie sein zweifelhaftes Lächeln, das jedoch weniger Spott als die Verlegenheit ausdrückte, was er auf Theobalds höchst unerwartete Erklärung erwidern sollte.

[202] »Darf ich«, fing Larkens an, »darf ich aufrichtig sein, so leugne ich nicht, mir kommt es vor, mein Nolten habe sich zu keiner andern Zeit weniger auf sich selber verstanden, als gerade jetzt, da er plötzlich wie durch Inspiration zum einzig wahren Begriff sein selbst gelangt zu sein glaubt. Weiß ich es doch aus eigener Erfahrung, wie gerne sich der Mensch, der alte Taschenspieler, eine falsche Idee, das Schoßkind seines Egoismus die Grille seiner Feigheit oder seines Trotzes, durch ein willkürlich System sanktioniert, und wie leicht es ihm wird, einen schiefen oder halbwahren Gedanken durch das Wort komplett zu machen. Denn du gibst mir doch zu –«

»Hör auf! ich bitte dich«, rief Theobald lebhaft, »hör auf mit diesem Ton! du machst, daß ich bereue, dir mein Innerstes aufgeschlossen, dir das heiligste Gefühl bloßgestellt zu haben, das mir kein Mensch unter der Sonne von den Lippen gelockt hätte, wenn es der Freund nicht wäre, von dem ich eine liebevolle Teilnahme an meiner Sinnesart erwarten durfte, selbst wenn sie der seinigen zuwiderliefe. Höre, ich kenne dich als einen verständigen und klugen Mann, nur was gewisse Dinge anbelangt, gewisse Eigenheiten eines treuen Gemüts, so hätt ich nicht vergessen sollen, daß wir von jeher vergeblich drüber disputierten. Laß uns von diesem Punkte lieber gleich abgehn und tun, als wäre von nichts die Rede gewesen, es braucht's auch nicht, da ich meinen Weg verfolgen kann, unbeschadet unseres bisherigen Verhältnisses.«

»Doch wirst du mir nicht zumuten« antwortete Larkens »ich soll dich stillschweigend einer Grille überlassen, die dir nur schädlich werden kann. – Vorderhand finde ich deinen Irrtum verzeihlich; das Unglück macht den Menschen einsam und hypochondrisch, er zieht den Zaun dann gern so knapp wie möglich um sein Häuschen. Ich selber könnte wohl einmal in diesen Fall geraten, nur wär es dann ein Kasus – wahrhaftig ganz verschieden von dem deinen. Der Herr führt seine Heiligen wunderlich. Unstreitig hat dein Leben viel Bedeutung, allein du nimmst seine Lehren in einem viel zu engen Sinn: du legst ihm eine Art dämonischen Charakter bei, oder, ich weiß nicht was? – glaubst dich gegängelt von einem wunderlichen Spiritus familiaris, der in deines Vaters Rumpelkammer spukt. Ich will mich in diese Mysterien nicht mischen; was Vernünftiges dran ist, leuchtet mir ein, so gut wie dir: nur sage mir, mein Lieber du hast vorhin von Einsamkeit, von Unabhängigkeit gesprochen: [203] je nachdem du das Wort nimmst, bin ich ganz einverstanden. In allem Ernst, ich glaube, daß deine künstlerische Natur, um ihren ungeschwächten Nerv zu bewahren, ein sehr bewegtes gesellschaftliches Leben nicht verträgt. Eben die edelsten Keime deiner Originalität erforderten von jeher eine gewisse stete Temperatur, deren Wechsel soviel möglich nur von dir abhängen mußte, eine heimlich melancholische Beschränkung, als graue Folie jener unerklärbar tiefen Herzensfreudigkeit, die so recht aus dem innigen Gefühl unseres Selbst hervorquillt. Im ganzen ist das so bei jedem Künstler von Genie, ich meine bei jedem Künstler deines Faches, nur weiß der eine mehr, als der andere seine Stimmung in die Welt zu teilen. Was aber namentlich die Berührung mit der sogenannten großen Welt anbelangt, so war es mir gleich anfangs eine ausgemachte Sache, daß du dich nie dorthin verlieren würdest. Der plötzliche Anlauf, den du mit der Bekanntschaft des Herzogs genommen, schien mir deshalb der größte Widerspruch mit dir selber. Gewohnt, dich als einen seltnen Knaben zu betrachten, der ausgerüstet mit erhabnen Kräften sich auf einmal ungeschickt und fast unmächtig fühlen müsse, sobald man ihn in jene blendenden Zirkel hineinzöge, war mir die Geschmeidigkeit, womit du dich in kurzem assimiliertest, beinah, wie soll ich sagen? nicht verdächtig, doch höchst auffallend, und mir ahnete, es würde in die Länge nicht wohl dauern. Wie leicht, so meint ich, wär es möglich, daß unter solchen Influenzen sich dies und jenes von seiner ursprünglichen Farbe verwischte, daß sein Ehrgeiz eine falsche Richtung nähme, daß er an der Treue gegen seinen Genius etwas aufopferte! Kurzum, mich peinigte etwas, und wär's auch nur das törichte Mitleid, das einen anwandeln kann, wenn der Kristall, losgerissen aus seiner mütterlichen Nacht, die sein Wachstum förderte, in die unkeuschen Hände der Menschen fällt. Doch das sind Possen. Aber du siehst nur daraus, ich bin weder borniert, noch anmaßend, noch leichtsinnig genug, dir dein eigentliches Esse zu bestreiten und den stillen Boden aufzulockern, worin dein Wesen seit frühester Zeit so liebevoll Wurzel geschlagen. Gewiß, ich habe die herrlichsten Früchte daraus hervorgehn sehen; und – Nolten! siehst du, es hat dich nicht befremdet noch verdrossen, wenn du seit der ganzen Zeit, als wir uns kennen, nichts von überschwenglichem Lobe, von enthusiastischen Diskursen über den Gang deines Geistes und dergleichen aus meinem Munde vernahmst; ich bin nun einmal [204] wie ich bin. Aber in diesem Augenblick, wo sich so viel ernste Betrachtung von selbst aufdringt, du deine Sache gleichsam auf die Spitze stellst, jetzt möcht ich wohl, daß die Zunge sich mir löste, daß ich dir sagen könnte, wie ich von Anfang an mit einer stillen Rührung, mit einer bewundernden Freude deiner Entwicklung zugeschaut, ja gewiß mit mehr Pietät und Sorgfalt, als du mir zuzutrauen scheinst.«

Nolten hörte mit zunehmendem Staunen die Bekenntnisse seines Freundes, wodurch er sich wirklich höher geehrt und herzlicher gestärkt fühlte, als durch das ruhmvollste Lob, das ihm irgendein mächtiger Gönner hätte spenden mögen. Er wollte soeben etwas erwidern, als der Schauspieler fortfuhr:

»Laß mich dir eins anführen. Du erinnerst dich des Gesprächs, das wir bei einem Spazierritt nach L. zusammen hatten. Es war der köstlichste Abend mitten im Juli, die untergehende Sonne warf ihren roten Schein auf unsere Gesichter, wir schwatzten ein weites und breites über die Kunst. Mit jedem Worte schlossest du, ohne es zu wollen, mir die Bildung deiner Natur vollständiger auf, zum erstenmal durft ich mich freudig in den innern Kelch deines Wesens vertiefen. Es frug sich, weißt du über das Verhältnis des tief religiösen und namentlich des christlichen Künstlergemüts zum Geist der Antike und der poetischen Empfindungsweise des Altertums, über die Möglichkeit einer beinahe gleich liebevollen Ausbildung beider Richtungen in einem und demselben Subjekte. Ich gestand dir eine hohe und seltne Universalität zu, wie denn hierüber auch nur eine Stimme sein kann. Ich überzeugte mich, es sei für deine Kunst von seiten deines christlichen Gefühlslebens, das immerhin doch überwiegend bleibt, nichts zu befürchten, selbst wenn zuletzt der Argwohn gewisser Zeloten sich noch rechtfertigen sollte, die einen heimlichen Anhänger der katholischen Kirche und den künftigen Apostaten in dir wittern. Du hast, so dacht ich, ein für allemal die Blume der Alten rein vom schön schlanken Stengel abgepflückt, sie blüht dir unverwelklich am Busen und mischt ihren stärkenden Geruch in deine Phantasie, du magst nun malen was du willst; nichts Enges, nichts Verzwicktes wird jemals von dir ausgehn. Siehst du, das war mir längst so klar geworden! und seh ich nun all den glücklichen Zusammenklang deiner Kräfte, und wie willig sich deine Natur finden ließ, jeden herben Gegensatz in dir zu schmelzen, denk ich das unschätzbare einzige Glück, daß dir die Kunst so frühe, fast ohne [205] dein Zutun, als reife Frucht aus den Händen gütiger Götter zufiel, die sich es vorgesetzt zu haben scheinen, in dir ein Beispiel des glücklichsten Menschen aufzustellen – sag mir, soll mich's nicht kränken, toller Junge, soll mir's die Galle nicht schütteln, wenn du, vom seltsamsten Wahne getrieben, mit Gewalt Einseitigkeit erzwingen willst, wo keine ist, keine sein darf! Ich rede nicht von deiner Stellung zur allgemeinen Welt, darüber kann ja, wie gesagt, kein Streit mehr sein, aber daß du der freundlichsten Seite des Lebens absterben und einem Glück entsagen willst, das dir doch so natürlich wäre, als irgendeinem braven Kerl, das ist's, was mich empört. Zwar geb ich gerne zu, dir hat die Liebe nicht ganz zum besten mitgespielt, ich leugne nicht, daß du seit Agnes –«

»Ach, so?« rief Nolten auf einmal, wie aus den Wolken gefallen, »dahinaus? das war die Absicht, die du bisher mit soviel schmeichelhafter Beredsamkeit glaubtest vorbereiten zu müssen?«

»Sei nicht unbillig, guter Freund! Was ich bisher zu deinem Ruhm gesprochen haben mag, war mein aufrichtiger barer Ernst, und es bedarf wohl der Beteurung nicht erst zwischen uns. Übrigens magst du immerhin den Kuppler in mir sehen, ich halte dies Geschäft im gegenwärtigen Falle für ein sehr löbliches und ehrenwertes. – Wo dich eigentlich der Schuh drückt, ist mir ganz wohlbekannt. Deine Liebeskalamitäten haben dich auf den Punkt ein wenig revoltiert, nun ziehst du dich schmerzhaft und gekränkt ins Schneckenhaus zurück und sagst dir unterwegs zum Troste: du bringest deiner Kunst ein Opfer. Du fürchtest den Schmerz der Leidenschaft, sowie das Überschwengliche in ihren Freuden. Zum Teufel aber! was soll man von dem Künstler halten, der zu feige ist, dies beides in seinem höchsten Maß auf sich zu laden? Wie? du, ein Maler, willst eine Welt hinstellen mit all ihrer tausendfachen Wonne und Pein, und steckst dir vorsichtig die Grenzen aus, wie weit du wolltest dich mitfreun und leiden? Ich sage dir, das heißt die See befahren und sein Schiff nicht wollen vom Wasser netzen lassen!«

»Wie du dich übertreibst!« rief Nolten, »wie du mir Unrecht tust! eben als ob ich mir eine Diätetik des Enthusiasmus erfunden hätte, als ob ich den Künstler und den Menschen in zwei Stücke schnitte! Der letztere, glaub mir, er mag sich drehen, wie er will, wird immerhin entbehren müssen, und [206] ohne das – – wer triebe da die Kunst? Ist sie denn was anders als ein Versuch, das zu ersetzen, zu ergänzen, was uns die Wirklichkeit versagt, zum wenigsten dasjenige doppelt und gereinigt zu genießen, was jene in der Tat gewährt? Muß demnach Sehnsucht nun einmal das Element des Künstlers sein, warum bin ich zu tadeln, wenn ich drauf denke, mir dies Gefühl so ungetrübt und jung als möglich zu bewahren, indem ich freiwillig verzichte, eh ich verliere, eh ich's zum zweiten und zum dritten Male dahin kommen lasse, daß die gemeine Erfahrung mir mein blühend Ideal zerpflückt, daß ich, ersättigt und enttäuscht am Gegenstande meiner Liebe, zuletzt dastehe – arm – mit welkem Herzen? Du merkst, ich rede hier zunächst von dem gepriesenen Glück der Ehe: denn dies ist's doch, um was deine ganze Demonstration sich dreht.«

»Und was gilt es, ich bringe dich noch zurechte wenn ich nur erst deine tollen Prätensionen herabgestimmt habe! Wer heißt dich Ideale im Kopf tragen, wo von Liebe die Rede ist? Bei allen Grazien und Musen! ein gutes natürliches Geschöpf, das dir einen Himmel voll Zärtlichkeit, voll aufopfernder Treu entgegenbringt, dir den gesunden Mut erhält, den frischen Blick in die Welt, dich freundlich losspannt von der wühlenden Begier einer geschäftigen Einbildung und dich zur rechten Zeit herauslockt in die helle Alltagssonne, die doch dem Weisen wie dem Toren gleich unentbehrlich ist – was willst du weiter?«

Nolten sah schweigend vor sich nieder und sagte endlich: »Es gab eine Zeit, wo ich ebenso dachte.« Er wandte sich erschüttert auf die Seite, ging mit lebhaften Schritten durch den Saal und ließ sich dann erschöpft auf einen entfernten Stuhl nieder.

Der Schauspieler, nachdem er die Erörterung des ihm über alles wichtigen Gegenstands nicht ohne Klugheit und Nachdruck bis hieher geführt, war voll Begierde, den Augenblick zu nutzen, und jetzt mit dem Gedanken an Agnes entschiedener hervorzutreten, mußte jedoch von diesem Wagnis ganz abstehen, da er bemerkte, wie heftig Nolten angegriffen war; er suchte deshalb das Gespräch zu wenden, allein es wollte nichts mehr weiterrücken, man war verstimmt, man mußte zuletzt höchst unbefriedigt scheiden.


Seit seiner Haftsentlassung hatte Larkens einen Entschluß gefaßt, wovon er bis jetzt noch gegen Nolten nichts laut werden [207] ließ. Er wollte auf unbestimmte Zeit die Stadt verlassen und ins Ausland gehen. In mehr als einer Hinsicht schien dies wünschenswert und notwendig. Sein Schauspielkontrakt war seit kurzem zu Ende, der hiesige Aufenthalt war ihm durch die öffentlichen Vorfälle verbittert, der Hof selber schien seine Entfernung, auf eine Zeit wenigstens, nicht ungerne zu sehen. Aber dringender als dieses alles empfand er das eigene Bedürfnis, durch Zerstreuung, ja durch völlige Entäußerung von seiner bisherigen Lebensweise sich innerlich auszubessern und auszuheilen. Er entdeckte Theobalden seine Absicht, soweit er vorderhand für rätlich fand, und dieser, obgleich höchst unangenehm dadurch überrascht und fast gekränkt, konnte bei genauerer Betrachtung nichts dagegen sagen.

Wie man aber, ehe an die Zukunft gedacht wird, vor allen Dingen der Gegenwart und der Vergangenheit ihr Recht erzeigen muß, so hatte Larkens im stillen einen Abend ausersehen an dem man die Erlösung von so mancherlei Unlust und Fährlichkeit recht fröhlich miteinander feiern wollte. Er besorgte ein ausgewähltes Abendessen und machte sich's besonders zum Vergnügen, die kleine, für ein Dutzend Gäste berechnete Tafel auf alle Art mit den frühesten Blumen und Treibhauspflanzen, sowie mit den verschiedenen Geschenken aufzuputzen, deren sich eine ziemlich bunte Sammlung von teilnehmenden Freunden und Gratulanten eingefunden. Was unter diesen hübschen und zum Teil kostbaren Dingen am meisten figurierte, war eine große Alabastervase von höchst zierlicher Arbeit, welche für Nolten bestimmt, in der Mitte des Tisches mit üppigen Gewächsen prangte. Sie war eine Gabe des Malers Tillsen, der sich heute überhaupt als einen der herzlichsten und redseligsten erwies. Der wunderliche Hofrat hatte nach seiner Weise die Einladung nicht angenommen und sich entschuldigt, doch zum Beweis, daß er an anderer Wohlsein Anteil nehme, einen Korb mit frischen Austern eingeschickt. Die übrige Gesellschaft bestand meist aus Künstlern.

Unser Maler, von soviel ehrenden Beweisen der Freundschaft gleich anfangs überrascht und bewegt, hatte gegen eine wehmütige Empfindung anzukämpfen, die er, eingedenk der heitern Forderung des Augenblicks, für jetzt abweisen mußte. Die Unterhaltung im ganzen war mehr munter und scherzhaft abspringend, als ernst und bedeutend; ja es nahmen die Späße eines gewissen Akteurs und Sängers dergestalt überhand, daß jeder [208] eine Weile lang vergaß, selbst etwas Weiteres zur allgemeinen Ergötzlichkeit beizutragen, als daß er aus voller Brust mitlachte. Larkens, der Laune seines theatralischen Kollegen zuerst nur von weitem die Hand bietend, wiegte sich lächelnd auf seinem Stuhle, während er zuweilen ein Wort als neuen Zündstoff zuwarf; bald aber kam auch er in den Zug, und indem er nach seiner Gewohnheit einen paradoxen Satz aufstellte, der jedermann zum Angriff reizte, wußte er durch den lustigen Scharfsinn, womit er ihn verfocht, die lebendigste Bewegung unter den sämtlichen Gästen zu bewirken, und immer das Beste, was in der Natur des einzelnen verborgen lag, war es Gemüt, Erfahrung oder Witz, mit Leichtigkeit hervorzulocken, wodurch denn unvermerkt das Interesse des Gesprächs sich auf das höchste vermannigfaltigen mußte. Zuletzt als man dem Frohsinn ein äußerstes Genüge geleistet, ward Larkens zusehends stiller und trüber; er nahm, da man ihn damit aufzog, keinen Anstand, zu erklären, daß er der glücklichen Bedeutung dieses Abends im stillen noch eine andere für sich gegeben habe, und daß er sich die Bitte vorbehalten, es möge nun auch die Gesellschaft in ebendem besondern Sinne die letzten Gläser mit ihm leeren; er werde auf längere oder kürzere Zeit aus der Gegend scheiden, um einige lang nicht gesehene Verwandte aufzusuchen. – Der Vorsatz, so natürlich er unter den bekannten Umständen war, erregte gleichwohl großes, beinahe stürmisches Bedauern, und um so mehr, als einige vermuteten, man werde den geschätzten Künstler, den sich die ganze Stadt seit kurzem erst gleichsam aufs neue wiedergeschenkt glaubte, bei dieser Gelegenheit wohl gar für immerdar verlieren, aber Nolten verbürgte sich für die treuen Gesinnungen des Flüchtlings. So wurden denn die Kelche nochmals angefüllt, und unter mancherlei glückwünschenden Toasten beschloß man endlich spät in der Nacht das muntere Fest.


Die Ungeduld, mit welcher von jetzt an Larkens seinen Abgang betrieb, verhinderte ihn nicht, das fernere Schicksal seines Freundes zu bedenken, vielmehr wenn er sich bisher zur ernstlichsten Aufgabe gemacht hatte, die Neigung Noltens wieder auf die Braut zurückzulenken, wenn er sich vermittelst jenes fromm täuschenden Verkehrs mit Agnesen fortwährend von der Liebenswürdigkeit des Mädchens, von ihrem reinen und schönen Verstande, aber auch von dem natürlichen Verlangen [209] überzeugte, womit, wie billig, ein zärtliches Kind sich den Geliebten bald für immer in die Arme wünscht, wenn er Theobalds ganze Verfassung, die noch immer drohende Nähe Constanzens bedachte, so konnte ihm nichts angelegener sein, als diesem zweifelhaften Schwanken einen raschen und kräftigen Ausschlag zu geben. Sein Plan deshalb stand fest, aber er sollte erst nach seiner Abreise in Wirkung treten, ja es war der günstige Erfolg, dessen er sich vollkommen versichert hielt, gewissermaßen auf seine Entfernung berechnet.

Nun schrieb er an Agnesen, und wirklich, er dachte nur ungerne daran, daß es zum letzten Male sei. »Was für ein Tor man doch ist!« rief er aus, indem er nachdenklich die Feder weglegte. »Mitunter hat es mich ergötzt, von der innersten Seele dieses lieblichen Wesens gleichsam Besitz zu nehmen, und um so größer war mein Glück, je mehr ich's unerkannt und wie ein Dieb genießen konnte. Ich bilde mir ein, das Mädchen wolle mir wohl, während ich ihr in der Tat soviel wie nichts bedeute; ich schütte unter angenommener Firma die ganze Glut, die letzte, mühsam angefachte Kohle meines abgelebten Herzens auf dies Papier und schmeichle mir was Rechts bei dem Gedanken, daß dieses Blatt sie wiederum für mich erwärme. O närrischer Teufel du! kannst du nicht morgen verschollen, gestorben, begraben sein, und wächst der Schönen drum auch nur ein Härchen anders? Bei alledem hat mir die Täuschung wohlgetan, sie half mir in hundert schwülen Augenblicken den Glauben an mich selbst aufrechterhalten. Es fragt sich, ob es nicht ähnliche Täuschungen gibt, eben in bezug auf unsre herrlichsten Gefühle? Und doch, es scheint in allen etwas zu liegen, das ihnen einen ewigen Wert verleiht. Gesetzt, ich werde diesem wackern Kinde an keinem Orte der Welt von Angesicht zu Angesicht begegnen, gesetzt, es bliebe ihr all meine warme Teilnahme für immerdar verborgen, soll das der Höhe meines glücklichen Gefühls das mindeste benehmen können? Wird denn die Freude reiner Zuneigung, wird das Bewußtsein einer braven Tat nicht dann erst ein wahrhaft Unendliches und Unveräußerliches, wenn du damit ganz auf dich selbst zurückgewiesen bist?«

Er nahm jetzt in Gedanken den herzlichsten Abschied von dem Mädchen, und weil nach seiner Berechnung schon ihr nächster Brief wieder unmittelbar an Nolten kommen sollte, so gab er ihr deshalb die nötige Weisung, jedoch so, daß sie dabei nichts weiter denken konnte.

[210] Verriet nun das Benehmen des Schauspielers in diesen letzten Tagen überhaupt eine gewisse Unruhe und Beklommenheit, so war er bei dem Abschied von Theobald noch weniger imstande, eine heftige Bewegung zu verbergen, welche, zusammengehalten mit einigen seiner Äußerungen, auf ein geheimes Vorhaben hinzudeuten schien und unserm Maler wirklich auf Augenblicke ein unheimliches Gefühl gab, das denn Larkens nach seiner Art, wobei man oft nicht sagen konnte, ob es Ernst oder Spaß sei, schnell wieder zu zerstreuen wußte.

Übrigens fühlte Nolten die große Lücke, welche durch des Schauspielers Entfernung notwendig nach innen und außen bei ihm entstehen mußte, nur allzu bald, und die vielfachen Nachfragen der Leute zeigten ihm genugsam, daß er nicht als der einzige bei dieser Veränderung entbehre. Die beiden Freunde Leopold und Ferdinand reisten indessen auch ab, und doppelt und dreifach ward jetzt des Malers Verlangen geschärft, das Gleichgewicht seines Wesens vollkommen herzustellen. Der Entwurf eines neuen Werkes, wozu die erste Idee während der Gefangenschaft bei ihm entstanden war, lag auf dem Papier, und nun ging es an die Ausführung mit einer Lust, mit einem Selbstvertrauen, dergleichen er nur in den glücklichsten Jahren seines ersten Strebens gehabt zu haben sich erinnerte. Dennoch mußte er nach und nach bemerken, daß ihm zu einer völligen Freiheit der Seele noch vieles fehlte; er ward verdrießlich, er stellte die Arbeit unwillig zurück, er wußte nicht, was ihn hindere.

Eines Morgens bringt man ihm die Schlüssel zu den Zimmern des Schauspielers. Dieser hatte sie bei seiner Abreise einem dritten Freunde mit dem ausdrücklichen Wunsche hinterlassen, daß er sie erst nach Verfluß einiger Tage an den Maler ausliefere, welcher dann nicht säumen möge, die Zimmer aufzuschließen und was darin sich vorfinde, teils in Empfang zu nehmen, teils zu besorgen Zugleich erhielt Nolten ein Verzeichnis der sämtlichen Effekten, nebst Angabe ihrer Bestimmung. Er stutzte nicht wenig über diese sonderbare Kommission und befragte jene Mittelsperson mit einiger Ängstlichkeit: Was denn das alles zu bedeuten hätte? Der junge Mensch aber wußte nicht viel weiter Bescheid zu geben und entfernte sich bald. Sogleich öffnete Nolten die Zimmer, wo er Mobilien, Bücher, Kupferstiche, Uhren und dergleichen wie sonst in der besten Ordnung fand. Alsbald aber zogen einige an ihn überschriebene [211] Pakete, die auf einem Tischchen besonders hingerüstet waren, seine Augen auf sich. Hastig riß er den Brief auf, welcher obenan lag. Gleich bei den ersten Linien geriet Nolten in die größte Bewegung, es zitterte das Blatt in seiner Hand er mußte innehalten, er las aufs neue, bald von vorne, bald aus der Mitte, bald von hinten herein, als müßte er die ganze bittere Ladung auf einmal in sich schlingen. Inzwischen fiel sein Blick auf die übrigen Pakete, deren eines die Überschriften hatte: »Briefe von Agnes. Von deren Vater. Meine Briefkonzepte an Agnes.« Ein anderes zeigte den Titel: »Fragmente meines Tagebuchs.« Ohne recht zu wissen was er tat, griff er nochmals nach dem einzelnen Schreiben, er durchlief es ohne Besinnung, indem er sich von einem Zimmer, von einem Fenster zum andern rastlos bewegte; er wollte sich fassen, wollte begreifen, nachdem er schon alles begriffen, alles erraten hatte. Er warf sich aufs Sofa nieder, die Ellbogen auf die Kniee gestützt, das Gesicht in beide Hände gedrückt, sprang wieder auf und stürzte wie ein Unsinniger umher.

Sein Bedienter hatte soeben das Pferd zum Spazierritt vorgeführt und meldete es ihm. Er befahl, es wegzuführen, er befahl, noch zu warten, er widersprach sich zehnmal in einem Atem. Der Bursche ging, ohne seinen Herrn verstanden zu haben. Nach einer halben Stunde, während welcher Nolten, weder die übrigen Papiere anzusehen, noch sich einigermaßen zu beruhigen vermocht hatte, wiederholte der Diener seine Anfrage. Rasch nahm der Maler Hut und Gerte, steckte die nötigsten Papiere zu sich und entkam wie betrunken der Stadt. Wir wenden uns auf kurze Zeit von ihm und seinem traurigen Zustande weg und sehen inzwischen nach jenem wichtigen Schreiben.


Larkens an Nolten


»Indem Du diese Zeilen liesest, ist der, der sie geschrieben, schon viele Meilen weit von Dir entfernt, und wenn er Dir denn die Absicht gesteht, daß er sich fortgestohlen, um so bald nicht wiederzukehren, daß er seinen bisherigen Verhältnissen auf immer und auch Dir, dem einzigen Freunde, vielleicht auf Jahre sich entziehen will, so soll folgendes wenige diesen Schritt, so gut es kann, rechtfertigen.

Gewiß klingt es Dir selber bald nicht mehr wie ein hohles und frevelhaft übertriebenes Wort, was Du wohl sonst manchmal [212] von mir hast hören müssen: mein Leben hat ausgespielt, ich habe angefangen, mich selber zu überleben. Das ist mir so klar geworden in der letzten Zeit, wo ja unsereiner wahrhaftig schöne Gelegenheit hatte, die Resultate von dreißig Jahren wie Fäden mit den Fingern auszuziehn. Ich mag Dir die alte Litanei nicht vorsingen; genug, mir ist in meiner eigenen Haut nimmer wohl. Ich will mir weismachen, daß ich sie abstreife, indem ich von mir tue, was bisher unzertrennlich von meinem Wesen schien, vor allem den Theaterrock, und dann noch das eine und andere, was ich nicht zu sagen brauche. Mancher grillenhafte Heilige ging in die Wüste und bildete sich ein, dort seine Tagedieberei gottgefälliger zu treiben Ich habe noch immer etwas Besseres wie das im Sinn. Am End ist's freilich nur eine neue Fratze, worin ich mich selber hintergehen möchte; und fruchtet's nicht, nun so geruht vielleicht der Himmel, der armen Seele den letzten Dienst zu erweisen, davor mir denn auch gar nicht bang sein soll.

Den Abschied, Lieber, erlaß mir! O ich darf nicht denken was ich mit Dir verliere, herrlicher Junge! Aber still; Du weißt, wie ich Dich am Herzen gehegt habe, und so ist auch mir Deine Liebe wohlbewußt. Das ist kein geringer Trost auf meinen Weg. Auch kann es ja gar wohl werden, daß wir uns an irgendeinem Fleck der Erde die Hände wieder reichen. Aber wir tun auf alle Fälle gut, diese Möglichkeit als keine zu betrachten. Übrigens forsche nicht nach mir, es würde gewiß vergeblich sein.

Und nun die Hauptsache.

Mit den Paketen übergeb ich Dir ein wichtiges, ich darf sagen, ein heiliges Vermächtnis. Es betrifft Deine Sache mit Agnesen, die mich diese letzten zehn Monate fast einzig beschäftigte. Mein Lieber! ich bitte dich, höre mich ruhig und vernünftig an.

In der gewissesten Überzeugung, daß die Zeit kommen müsse, wo Dein heißestes Gebet sein werde, mit diesem Mädchen verbunden zu sein, ergriff ich ein gewagtes Mittel, Dir den Weg zu diesem Heiligtume offenzuhalten. Vergib den Betrug! nur meine Hand war falsch, mein Herz gewißlich nicht: ich glaubte das Deine treulich abzuschreiben; straf mich nicht Lügen! Laßt mich den Propheten eurer Liebe gewesen sein! Ihr Märtyrer war ich ohnehin; denn indem ich Deiner Liebe Rosenkränze flocht, meinst du, es habe sich nicht manchmal ein Dorn in [213] mein eigen Fleisch gedrückt? Doch das gehört ja nicht hieher genug, wenn meine Episteln ihren Dienst getan. Fahre Du nun mit der Wahrheit fort, wo ich die Täuschung ließ. O Theobald – wenn ich jemals etwas über Dich vermochte, wenn je der Name Larkens den Klang der lautern Freundschaft für Dich hatte, wenn Dir irgend das Urteil eines Menschen richtiger, besser scheinen konnte als Dein eignes, so folge mir diesmal! Hätt ich Worte von durchdringendem Feuer, hätt ich die goldne Rede eines Gottes, jetzt würd ich sie gebrauchen, um Dein Innerstes zu rühren, Freund, Liebling meiner Seele! – So aber kann ich's nicht; mein Kiel ist stumpf, mein Ausdruck matt Du weißt ja, es ist alle Schönheit von mir gewichen; die dürre nackte Wahrheit blieb mir allein, sie und – die Reue. Vor dieser möcht ich Dich bewahren. Ich bin Dein guter Genius, und indem ich von Dir scheide, sei Dir ein andrer, besserer, empfohlen. Ich meine Agnesen. Setze das Mädchen in seine alten Rechte wieder ein. Du findest auf der Welt nichts Himmlischers, als die Seele dieses Kindes ist. Glaub mir das, Nolten, so gewiß als schwür ich's auf dem Totenbette. – Du hast Dich in Deinem Argwohn garstig geirrt. Lies diese Briefe, namentlich des Vaters, und es wird Dir wie Schuppen von den Augen fallen. Dann aber zaudre auch nicht länger; fasse Dich! Eile zu ihr, tritt sorglos unter ihre Augen, sie wird nichts Fremdes an Dir wittern, sie weiß nichts von einer Zeit, da Theobald ihr minder angehört als sonst; das Feld ist durchaus frei und rein zwischen euch.

Es steht bei Dir, ob der gute Tropf das Intermezzo erfahren soll oder nicht; bevor ein paar Jahre vorüber, würd ich kaum dazu raten. Dann aber wird euch sein, als hättet ihr einmal in einem Sommernachtstraum mitgespielt, und Puck, der täuschende Elfe, lacht noch ins Fäustchen über dem wohlgelungenen Zauberspaß. Dann gedenket auch meiner mit Liebe, so wie man ruhig eines Abgeschiednen denkt, nach welchem man sich wohl zuweilen sehnen mag, doch dessen Schicksal wir nicht beklagen dürfen.«


*


Auf einem besondern Zettel befand sich noch folgende

Nachschrift


»Schon war mein Brief geschlossen, als es mir nachgerade gewaltigen Skrupel machte, Dir einen Umstand verschwiegen zu haben, der Dich vielleicht verdrießen mag, mir aber ad [214] inclinandam rem nicht wenig dienen konnte. Ein Winkelzug gegen die Gräfin. So höre denn, und fluche mir die ganze Hölle auf den Hals und heiß mich einen Schurken, wenn Du das Herz hast – ich weiß doch, was ich zu tun hatte. Constanze wurde durch mich, oder vielmehr durch einen angelegten Zufall(hinter welchem sie weder mich noch sonst jemand vermuten kann) avertiert, daß ein gewisser Freund bereits irgendwo auf der Liste der glücklichen Bräutigame stehe. – Ich hoffe nicht, Dich durch den Coup zu stark kompromittiert zu haben, und ein weniges war schon zu wagen. Wenn ihr die Neuigkeit nicht schmeckte, so ist das in der Regel; nicht, weil sie in Dich verliebt, sondern weil sie ein Weib ist. Wir haben die Ungnade, worein sie uns gleich auf jenes Possenspiel hat fallen lassen, einer elenden Konvenienz gegen die Hofsippschaft zugeschrieben, und einesteils bin ich noch jetzt der Meinung; gesteh ich Dir nun aber zugleich, daß sie um die nämliche Zeit auch die Agnesiana zu schlucken bekam, so seh ich schon im Geist voraus, an was für neuen verzweifelten Hypothesen nun plötzlich Dein armer Kopf anrennen wird. Wie, wenn Madam sich mit ganz andern Gründen zum Zorne hinters allgemeine Zeter ihrer Schranzen versteckt hätte? Holla! das läuft dem guten Jungen heiß und kalt über die Leber! Auch will ich ein Rhinozeros von Propheten sein, wenn sich Dir nicht in diesem Augenblick die rührende Gestalt von der Ferne zeigt, den schwarzen Lockenkopf in Trauer hingesenkt, weinend um Deine Liebe. Ein verführerisch Bild, fürwahr, dem schon Dein Herz entgegenzuckt, Doch halt, ich weise Dir ein anderes. – In dem sonnigen Gärtchen hinter des Vaters Haus betrachte mir das schlichte Kind, wie es ein fröhlich Liedchen summt, seine Veilchen, seine Myrten begießt. Man sieht ihr an, sie hat den Strauß im Sinne, den ihr heimkehrender Verlobter bald unter tausend tausend Küssen zum Willkomm haben soll; jeden Tag, jede Stunde erwartet sie ihn – –

Was nun? wohin, Kamerade? Nicht wahr, ein bittrer Scheideweg! Hier wollt ich Dich haben! so weit muß ich's führen. Der Rückweg zu Constanzen – vielleicht er steht noch offen, ich zeig ihn Dir, nachdem Du ihn schon für immer verschlossen geglaubt. Du solltest freie Wahl haben; das war ich Dir schuldig. Inzwischen hast Du gelernt, es sei auch möglich, ohne eine Constanze zu leben, und damit mein ich, ist unendlich viel gewonnen.

[215] Theobald! noch einmal: denk an den Garten! Neulich hat sie die Laube zurechtgeputzt, die Bank, wo der Liebste bei ihr sitzen soll. Wirst Du bald kommen? wirst Du nicht? – Wag es sie zu betrügen! Den hellen süßen Sommertag dieser schuldlosen Seele miteinem verzweifelten Streiche hinzustürzen in eine dumpfe Nacht, wehe! das wimmernde Geschöpf! Tu's, und erlebe, daß ich in wenigen Monden, ein einsamer Wallfahrer, auf des Mädchens Grabhügel die kraftlose Posse, das Nichts unsrer Freundschaft, und die zerschlagene Hoffnung beweine daß mein elendes Leben, kurz eh ich's ende, doch wenigstens noch so viel nutz sein möchte, zwei gute Menschen glücklich zu machen.«


*


Wer war unglücklicher als der Maler? und wer hätte glücklicher sein können als er, wäre er sogleich fähig gewesen, seinem Geiste nur so viel Schwung zu geben, als nötig, um einigermaßen sich über die Umstände, deren Forderungen ihm furchtbar über das Haupt hinauswuchsen, zu erheben und eine klare Übersicht seiner Lage zu erhalten. Doch dazu hatte er noch weit. In einer ihm selbst verwundersamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langsam, bald hitzig einen einsamen Feldweg, und statt daß er, wie er einigemal versuchte, wenigstens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken können, sah er sich, wie eigen! immer nur von einer monotonen, lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgendein Kobold zur höchsten Unzeit neckisch in den Ohren lag. Mochte er sich Gewalt antun so viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und schnurrte, vom Takte des Reitens unterstützt, unbarmherzig in ihm fort. Weder im Zusammenhange zu denken, noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zustand. »Um Gottes willen, was ist doch das?« rief er zähneknirschend, indem er seinem Pferde die Sporen heftig in die Seiten drückte, daß es schmerzhaft auffuhr und unaufhaltsam dahinsprengte. »Bin ich's denn noch? kann ich diesen Krampf nicht abschütteln, der mich so schnürt? Und was ist's denn weiter? wie, darf diese Entdeckung so ganz mich vernichten? was ist mir denn verloren, seit ich das alles weiß? genau besehen – nichts, gewonnen – nichts – ei ja doch, ein Mädchen, von dem mir jemand schreibt, sie sei ein wahres Gotteslamm, ein Sanspareil, ein Angelus!« Er lachte herzlich über sich selbst, [216] er jauchzte hell auf und lachte über seine eignen Töne, die ganz ein andres Ich aus ihm herauszustoßen schien.

Indem er noch so schwindelt und schwärmt, stellt sich statt jener musikalischen Spukerei eine andere Sucht bei ihm ein, die wenigstens keine Plage war. Seine aufgeregte Einbildungskraft führte ihm mit unbegreiflicher Schnelligkeit eine ganze Schar malerischer Situationen zu, die er sich in fragmentarisch – dramatischer Form, von dichterischen Worten lebhaft begleitet, vorstellen und in großen Konturen hastig ausmalen mußte. Das Wunderlichste dabei war, daß diese Bilder nicht die mindeste Beziehung auf seine eigene Lage hatten, es waren vielmehr, wenn man so will, reine Vorarbeiten für den Maler, als solchen. Er glaubte niemals geistreichere Konzeptionen gehabt zu haben, und noch in der Folge erinnerte er sich mit Vergnügen an diese sonderbar inspirierte Stunde. Wir selbst preisen es mit Recht als einen himmlischen Vorzug, welchen die Muse vor allen andern Menschen dem Künstler dadurch gewährt daß sie ihn bei ungeheuren Übergängen des Geschickes mit einem holden energischen Wahnsinn umwickelt und ihm die Wirklichkeit so lange mit einer Zaubertapete bedeckt, bis der erste gefährliche Augenblick vorüber ist.

Auf diese Weise hat sich unser Freund beträchtlich von der Stadt entfernt, und ehe er ihr von einer andern Seite wieder näher kommt, sieht er unfern in einer anmutigen Kluft die sogenannte Heermühle liegen, einen ihm wohlbekannten, durch manchen Spaziergang wert gewordenen Ort. Er war ein stets gerne gesehener Gast bei dem Müller, welcher zu derjenigen Gattung von Pietisten gehörte, mit denen jedermann gut auskommt. In gewisser Art konnte der Mann für unterrichtet gelten, nur hatte er Ursache, manche Eigenheiten zu verbergen deren er sich mitunter schämte; so hatte er, da er anfänglich zur Schreiberei bestimmt, in alten Sprachen nicht ganz unwissend war, sich noch bei vorgerücktem Alter in den Kopf gesetzt die heiligen Schriften alten und neuen Testaments im Urtexte zu lesen, wobei es hauptsächlich auf chiliastische Zwecke mochte abgesehen sein. Nach einem sehr mühsamen und wenig geordneten Studium von mehreren Jahren sah er sich ungern überzeugt, daß alles eitel Stückwerk bei ihm sei und das ganze schöne Unternehmen auf nichts hinauslaufe. Aus Verdruß über die verlorene Zeit warf er sich in kecke ökonomische Spekulationen, dabei er denn zwar keinen Schaden, doch auch nicht [217] ganz seine Rechnung fand. Seine Frau, eine kluge und stille Haushälterin, wußte ihn mit guter Art zu lenken und zu leiten, niemals rückte sie ihm seinen Irrtum ausdrücklich vor, auch wenn sie ihn denselben fühlen ließ, und da ihm nichts Unangenehmeres begegnen konnte, als wenn er irgendwie an die Nichtigkeit jenes wissenschaftlichen Treibens erinnert ward, ja da er, um nur kein Unrecht einzugestehen, sich auch wohl die Miene gab, als würden ihm jene Forschungen seinerzeit noch die reichlichsten Zinsen abwerfen, so schonte das Weib diese Schwachheit gerne und war heimlich zufrieden, wenn sie ihm eine neue falsche Idee vergessen machen konnte. Übrigens kannte man ihn als einen muntern, redseligen Gesellschafter, als den besten Gatten und Vater seiner größtenteils schon wohlversorgten Familie.

Nolten sehnte sich nach der harmlosen Gegenwart eines menschlichen Wesens ebensosehr, als er sich ungeschickt fühlte, an irgend einer Gesellschaft teilzunehmen; er überlegte deshalb soeben, ob er den Pfad nach der Mühle hinunter einschlagen oder nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein Müllerknecht begegnet, der ihm sagt, Herr und Frau wären über Feld und kämen vor Abend nicht nach Hause. Wie erwünscht war dem Maler die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur sein trauliches Plätzchen in des Müllers Wohnstube aufsuchen: es schien ihm dies der einzige Ort der Welt, der seiner gegenwärtigen Verfassung tauge. Und er hatte recht; denn wer machte nicht schon die Erfahrung, daß man einen verwickelten Gemütszustand, gewisse Schmerzen, Überraschungen und Verlegenheiten weit leichter in irgendeiner fremden ungestörten Umgebung, als innerhalb der eignen Wände bei sich verarbeite? Nolten gab sein Pferd in den Stall, wo man ihn schon kannte, und trat in die reinliche braungetäfelte Stube, wo er niemanden traf, nur in der Kammer neben saß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen, das ein kleineres Brüderchen im Schoße hatte. Eine ältere Tochter Justine, eine Prachtdirne, schlank und rotwangig mit kohlschwarzen Augen, trat herein unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte, daß die Eltern abwesend seien, lief gleich nach den Kellerschlüsseln und freute sich, als Nolten ihr erlaubte, weil man im Hause schon gegessen hatte, ihm wenigstens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen. Er nahm sogleich seine alte Bank und das Fenster ein, von wo man unmittelbar auf die Wassersperre hinunter und weiter hinaus [218] auf das erquickendste Wiesengrün und runde Hügel sah. Um wieviel lieblicher, eigener kam ihm an dieser beschränkten Stelle Frühling und Sonnenschein vor, als da ihn dieser noch im Freien und Weiten umgab! Lange blickte er so auf den Spiegel des Wassers, er fühlte sich sonderbar beklommen, bange vor der Zukunft, und zugleich sicher in dieser eingeschloßnen Gegenwart. Auf einmal zog er die Papiere aus der Tasche, das nächste, was ihm in die Hände kam, wollte er ohne Wahl zuerst öffnen: es waren Briefe seiner Braut, vermeintlich an Theobald geschrieben. Er sieht hinein und augenblicklich hat ihn eine Stelle gefesselt, bei der sein Inneres von einer ihm längst fremd gewordnen Empfindung anzuschwellen beginnt; er will zu lesen fortfahren, als er Justinen mit Gläsern kommen hört; ganz unnötigerweise verbirgt er schnell den Schatz, aber ihm ist wie einem Diebe zumut, der eine Beute vom höchsten, ihm selber noch nicht ganz bekannten Wert, bei jedem Geräusche erschrocken zu verstecken eilt. Das Mädchen kam und fing lebhaft und heiter zu schwatzen an, in dessen Erwiderung Nolten sein möglichstes tat. Sie mochte merken, daß sie überflüssig sei, genug, sie entfernte sich geschäftig und ließ den Gast allein. Er ist zufällig vor einen kleinen schlechten Kupferstich getreten, der unter dem Spiegel hängt und eine kniende Figur vorstellt; unten stehn ein paar fromme Verse, die er in frühester Jugend manchmal im Munde seiner verstorbenen Mutter gehört zu haben sich sogleich erinnert. Wie es nun zu geschehen pflegt, daß oft der geringste Gegenstand, daß die leichteste Erschütterung dazugehört, um eine ganze Masse von Gefühlen, die im Grunde des Gemüts gefesselt lagen, plötzlich gewaltsam zu entbinden, so war Noltens Innerstes auf einmal aufgebrochen und schmolz und strömte in einer unbeschreiblich süßen Flut von Schmerz dahin. Er saß, die Arme auf den Tisch gelegt, den Kopf darauf herabgelassen. Es war, als wühlten Messer in seiner Brust mit tausendfachem Wohl und Weh. Er weinte heftiger und wußte nicht, wem diese Tränen galten. Die Vergangenheit steht vor ihm, Agnes schwebt heran, ein Schauer ihres Wesens berührt ihn, er fühlt, daß das Unmögliche möglich, daß Altes neu werden könne.

Dies sind die Augenblicke, wo der Mensch willig darauf verzichtet, sich selber zu begreifen, sich mit den bekannten Gesetzen seines bisherigen Seins und Empfindens übereinstimmend zu vergleichen; man überläßt sich getrost dem göttlichen Elemente, [219] das uns trägt, und ist gewiß, man werde wohlbehalten an ein bestimmtes Ziel gelangen.

Nolten hatte keine Ruhe mehr an diesem Ort, er nahm schnell Abschied und ritt gedankenvoll im Schritt nach Hause.

Wie er den Rest des Tages hingebracht, was alles in ihm sich hin und wieder bewegte, was er dachte, fürchtete, hoffte, wie er sich im ganzen empfunden, dies zu bezeichnen wäre ihm vielleicht so unmöglich gewesen als uns, zumal er die ganze Zeit von sich selbst wie abgeschnitten war durch einen unausweichlichen Besuch, den er zwar endlich an einen öffentlichen Ort, wo man viele Gesellschaft traf, glücklich abzuleiten wußte, ohne sich jedoch ganz entziehen zu dürfen.

Entschieden war er nun freilich so weit, daß er Agnesen aufsuchen müsse und wolle. Noch hatte er die schriftliche Darstellung der Tatsachen, welche so sehr zur Rechtfertigung des teuren Kindes dienten, gar nicht angesehn; ein stiller Glaube, der das Wunderbarste voraussetzte und keinen Zweifel mehr zuließ, war diese letzten Stunden in ihm erzeugt worden, er wußte selbst nicht wie. Doch als er in der Nacht die merkwürdigen Berichte des Försters las, als ihm Larkens' Tagebuch so manchen erklärenden Wink hiezu gab, wie sehr mußte er staunen! wie graute ihm, jener schrecklichen Elisabeth überall zu begegnen! mit welcher Rührung, welchem Schmerz durchlief er die Krankheitsgeschichte des ärmsten der Mädchen, dem die Liebe zu ihm den bittern Leidenskelch mischte! Und ihre Briefe nun selbst, in denen das schöne Gemüt sich wie verjüngt darstellte! – Der ganz unfaßliche Gedanke, dies einzige Geschöpf, wann und sobald es ihm beliebe, als Eigentum an seinen Busen schließen zu können, durchschütterte wechselnd alle Nerven Theobalds. Auf einmal überschattete ein unbekanntes Etwas die Seligkeit seines Herzens. Diese zärtlichen Worte Agnesens, wem anders galten sie, als ihm? und doch will ihm auf Augenblicke dünken, er sei es nicht: ein Luftbild habe sich zwischen ihn und die Schreiberin gedrungen, habe den Geist dieser Worte voraus sich zugeeignet, ihm nur die toten Buchstaben zurücklassend. Ja, wie es nicht selten im Traume begegnet, daß uns eine Person bekannt und nicht bekannt, zugleich entfernt und nahe scheint, so sah er die Gestalt des lieben Mädchens gleichsam immer einige Schritte vor sich, aber leider nur vom Rücken; der Anblick ihrer Augen, die ihm das treueste Zeugnis geben sollten, war ihm versagt; von allen Seiten sucht er sie zu umgehn, umsonst, [220] sie weicht ihm aus: ihres eigentlichen Selbsts kann er nicht habhaft werden.

Zu diesen Gefühlen von ängstlicher Halbheit, wovon ihn, wie er wohl voraussah, nur die unmittelbare Nähe Agnesens lossprechen konnte, gesellten sich noch Sorgen andrer Art. Das unbegreifliche Verhängnis, daß die rätselhafte Person der Zigeunerin aufs neue die Bahn seines Lebens, und auf so absichtlich gefahrdrohende Weise durchkreuzen mußte, der Gedanke, wie nahe er selbst ihr, ohn es zu wissen, neuerdings wieder gekommen (denn des Schauspielers Tagebuch entdeckte ihm ihre zweimalige Anwesenheit), dies alles gab ihm mancherlei zu sinnen und weckte die Besorgnis, es möchte die Verrückte über kurz oder lang ihm in den Weg treten, oder hinter seinem Rücken, vielleicht in diesem Augenblick, zu Neuburg wiederholte Verwirrung anstiften. Ein weiterer Gegenstand seiner Unruhe war Larkens, er wußte die treffliche Absicht des Freundes wenn er gleich die einzelnen Schritte nicht billigen konnte, ja zum Teil sie bitter zu schelten geneigt war, doch von der rechten Seite zu nehmen und dankbar zu schätzen; er erkannte auch darin eine kluge Vorsicht desselben, wenn er durch seine eigene Entfernung alles weitere Unterhandeln über die Pflicht, über Neigung oder Abneigung Noltens in dieser zweifelhaften Sache völlig zwischen sich und ihm abschneiden und den Maler, indem er ihn ganz auf sich selber stellte, zwingen wollte, das Gute, Notwendige frisch zu ergreifen – Aber was sollte man überhaupt von der eiligen Flucht des Schauspielers denken? welchem Schicksal ging der unfaßliche Mann entgegen? Beinahe seiner sämtlichen häuslichen Habe hat er sich entäußert, ein großer Teil war ohne Zweifel ins Geld gesetzt, ein anderer, der hier zurückblieb, entweder zu Geschenken bestimmt, oder sollte er durch Nolten verwertet und zu Befriedigung der Gläubiger verwendet werden. Mangel für Larkens selber war nicht zu fürchten. Aber wenn aus allem hervorging, daß eine tiefe Erschöpfung, ein verjährter Schmerz ihn in die Weite trieb, wenn sogar einige Stellen seines Briefs auf eine freiwillig gewaltsame Erfüllung seines Schicksals gedeutet werden konnten – so frage man, wie Nolten dabei zumute gewesen! Eine dritte und nicht die kleinste Sorge war ihm die schlimme und selbst verächtliche Meinung, womit die Gräfin, seit sie durch Larkens einseitig und falsch von dem Verhältnis zu Agnesen unterrichtet worden, ihn notwendig ansehen mußte Nicht als ob er fürchtete, es hätte sie [221] eine solche Entdeckung irgend unglücklich gemacht, denn in der Tat war seine Vorstellung von der Leidenschaft Constanzens bedeutend herabgestimmt, und höchstens wollte er glauben, daß ihr seine Liebe einigermaßen habe schmeicheln können, aber da er ihr doch seine Absicht damals so dringend, so entschieden bekannt hatte, wie elend, wie verrucht mußte er als Verlobter vor ihr erscheinen, wie tückisch und planvoll sein Schweigen über diese Verbindung! Mußte sie sich, abgesehn von jedem eignen leidenschaftlichen Interesse, nicht insofern persönlich für beleidigt halten, als schon der Versuch, sie mit zum Gegenstande eines so zweideutigen Spieles zu machen, einen Mangel der Achtung bewies, deren sie sich von Nolten hätte versichert halten dürfen? Schien in diesem Sinne der Zorn und die Kälte, womit sie ihn seit jenem Abende keines Blicks mehr würdigte, nicht sehr verzeihlich und gerecht? Unser Maler fühlte das Beschämende, die ganze Pein dieses Verdachts: keine Stunde mehr konnte er ruhen, der Boden brannte unter seinen Füßen, er wollte eilen, wollte sich reinigen, es koste was es wolle Aber das ging so schnell nicht an. Wie sollte er an Constanzen gelangen? wie war es möglich, sich zu rechtfertigen und doch zugleich die höchste Delikatesse zu beobachten? Denn gar leicht konnte die Gräfin ihn dergestalt mißverstehn, als wenn er gekränkte Liebe bei ihr voraussetzte, ein Irrtum, der ihn, wie er meinte, zum lächerlichsten Menschen in den Augen der schönen Frau machen müßte. Er überlegte sich die Sache fleißig, und wollte warten, bis ihm ein glücklicher Weg erschiene.


Am folgenden Tage fiel ihm ein, von dem Hofrat, dem er ohnehin einen Besuch schuldig war, die Stimmung der Zarlinschen zu erlauschen, und sogleich machte er sich auf den Weg.

Bei der Wohnung des Hofrats angelangt, fand er zufällig die Haustüre nur angelehnt, was ihn sehr wundernahm, da es einen der ersten Grundsätze in der Hausordnung dieses Mannes ausmachte, die Eingänge jederzeit geschlossen zu halten. Außer dem Briefträger und einer alten Magd, welche auswärts wohnte, und zu gesetzten Stunden mit dem Essen erschien, betrat nur selten ein Besuch die Schwelle, und wenn jemals, so mußte die Glocke gezogen werden, worauf ein grauer Diener, das einzige lebende Wesen, das den Hofrat umgab, bedächtig aus dem Fenster schaute und öffnete. Im untern Hausflur, wo sich sogleich der Geschmack und die Kunstliebhaberei des Hausherrn[222] in gut aufgestellten Gipsfiguren ankündigte, findet Theobald einen unscheinbar gekleideten Knaben auf der Treppe sitzen und Zuckerwerk aus seiner Mütze naschen, der übrigens ganz hier zu Hause zu sein scheint. Eine unglaublich angenehme Gesichtsbildung, die hellsten Augen, sehr mutwillig, lachen dem Maler entgegen, dem besonders die zierlich gelockten Haare auffallen. Der Knabe, nachdem er unsern Freund ruhig vom Kopf bis zum Fuße gemessen, stand auf und gab der Türe einen tüchtigen Tritt, daß sie schmetternd zuschlug. »Kannst du sagen, artiger Junge, ob der Herr Hofrat daheim ist?« Der Kleine antwortete nicht, sondern indem er die Treppe hinaufging, winkte er Theobalden, zu folgen. Oben öffnet er leis eine schmale Türe und deutet schalkhaft hinein. Nolten befand sich allein in einem kleinen Vorzimmer, wollte eben an einem zweiten Eingang klopfen, als ihm ein kleines Seitenfenster, dessen Vorhang von innen schlecht zugezogen ist, die wunderbarste stumme Szene im Nebenzimmer zeigt. In einer gespannten Beleuchtung, fast nur im Dämmerlichte, sitzt weiß gekleidet ein Frauenzimmer, bis an den Gürtel entblößt. Ihre Stellung ist sinnend, das Haupt etwas zur Seite geneigt, eine Hand oder vielmehr nur den Zeigefinger hat sie unterm Kinne, dies kaum damit berührend. Ihr Sessel steht auf einem dunkelroten Teppich, auf welchen herab die reichen Falten des Gewandes und der Tücher sich prächtig ergießen. Ein Bein, das über das andre geschlagen ist, läßt den Fuß nur bis über die Knöchel blicken, wo ihn die andre Hand bequem zu halten scheint. Aber welch ein herrlicher Kopf! mußte Theobald unwillkürlich für sich ausrufen; die römische Kraß im Schwunge des Hinterhaupts vom starken Nacken an kontrastierte so rührend gegen das Kindliche des Angesichts, dessen Ausdruck nur lautre Scham verriete, wenn sich die letztere nicht soeben zur liebevollsten Ergebung in die Notwendigkeit des Augenblicks zu neigen schiene. Offenbar war das Frauenzimmer nicht gewohnt, als Modell zu dienen. Und in des Hofrats Hause? Sollte der alte Narr etwa selbst den Pfuscher machen? Leider war es unmöglich, eine zweite Person, die sich gewiß im Zimmer befinden mußte, zu entdecken auch hörte man keinen Laut: die Schöne verharrte wie ein Marmor in derselben Stellung, nur die leisen Bebungen der Brust verrieten, daß sie atme, auch schien es einmal, als ob sie einen müden Blick gegen das Fenster hinüber wagte, von wo das Licht hereinfiel. Nolten hätte geschworen, dort sitze der Hofrat [223] Sagte nicht ein Gerücht, daß der alte Herr früher wirklich die Kunst getrieben? und wollten nicht einige behaupten, er habe den Meißel noch in seinem Alter insgeheim ergriffen? Wie überraschte es daher unsern Maler, als auf ein Geräusch, das in der Ecke entstand, die Jungfrau sich erhob und ein schlanker, schwarzbärtiger Mann anständig auf sie zutrat, ihr mit einem Kusse auf die Lippen dankte, so herzlich und unbefangen, als wenn es eine Schwester wäre. Theobald erkannte in dem Krauskopf auf der Stelle einen Bildhauer, Raymund, den er öfters und namentlich bei dem Larkensschen Abschiedsschmause gesehen, ohne ihm irgend nähergekommen zu sein. Doch es war endlich Zeit zum Rückzuge, so schwer er sich von diesem Anblick trennen konnte, der ihm ebenso rührend und schuldlos deuchte, als er reizend und erhebend war. Kaum hat er die Tür hinter sich zugezogen und sich gefreut, daß der verräterische kleine Schelm nicht etwa wieder um den Weg war, um Zeuge seiner gestillten Neugierde zu sein – so streckt der Hofrat den Kopf aus dem Saale, und beide begrüßen sich mit merklicher Verlegenheit, die denn auch noch eine Weile fortdauerte, nachdem das Gespräch bereits in Gang gekommen. Theobald war durchaus zerstreut von seinem schönen Abenteuer; auf seinem Gesicht, in seinen Augen lag eine ungewöhnliche Glut, deren Grunde der Alte schlau genug nachkam. »Ich merke, merke was!« schmunzelte er und klopfte dem Freund auf die Achsel; »nur lassen Sie ja sich sonst nichts anmerken! es ist ein wilder Eber, der Raymund, und nicht mit ihm zu spaßen.« Nolten gestand offenherzig den sonderbaren Zufall. »Unter uns«, sagte der Hofrat, »Sie sollen wissen, wie alles zusammenhängt. Der junge Mann, furios in seiner Kunst so wie im Leben, verlangte von seiner Braut, an der er außer einem hübschen Wuchs lange keinen Vorzug mochte gekannt haben, daß sie ihm sitze, stehe, wie er's als Künstler brauche. Das Mädchen konnte sich nicht überwinden, es kam zum Verdruß, der bald so ernstlich wurde, daß Raymund das störrige Ding gar nicht mehr ansah. So dauert es ein halb Jahr und das Mädchen, sonst ein sanftes, verständiges Geschöpf, das ihn unbändig liebt, überdies armer Leute Kind ist, fängt an im stillen zu verzweifeln. Überdem bekömmt sie einen vorteilhaften Antrag, sich fürs Theater zu bilden, da sie sehr gut singen soll. Sie schlägt es standhaft aus, und diese wackere Resignation bringt den Trotzkopf von Bräutigam plötzlich auf ganz andere Gedanken von dem Werte des [224] Mädchens, so daß er sie vor etlichen Tagen zum erstenmal wieder besuchte. Auf beiden Seiten soll die Freude des Wiedersehens ohne Grenzen gewesen sein, und gleich in der ersten Viertelstunde, so erzählt er mir, habe sie ihm die Gewährung seiner artistischen Grille freiwillig zugesagt. Da nun Raymund durch sein Zusammenwohnen mit einem andern Künstler um ein Lokal verlegen war, so fand er bei mir, der ich ihm auch sonst zuweilen nützlich zu sein suche, gerne den erforderlichen Raum. Heut ist die zweite Sitzung. Das Närrische dabei ist, daß er sich nicht entschließen kann, was er eigentlich machen soll. Er behauptet, wenn man eine Weile ins Blaue hinein versuche und den Zufall mitunter walten lasse, so gerate man häufig auf die besten Ideen.«

»Er hat recht!« sagte Theobald.

»Er hat nicht unrecht«, versetzte der Alte; »wenn mir aber solch ein Verfahren am Ende nur nicht gar zu dilettantisch würde! So fängt er neulich einen Amor in Ton zu formen an, wozu er das Muster auf der Gasse unter den Betteljungen aufgriff, wirklich ein delikates Füllen, schmutzig, jedoch zum Küssen die Gestalt. Seitdem nun aber die Geliebte sich eingestellt, durfte der Liebesgott springen; jetzt liegt ihm die aufdringliche Kröte, die sich gar gut bei dem Handel gestanden, tagtäglich auf dem Hals, und daß der Bursche nicht schon im Hemdchen unters Haus kömmt, ist alles; neulich ward er gar boshaft und paßte der Braut mit einem Prügel auf; recht ein Cupido dirus!«

»Ein Anteros!« rief Theobald lachend.

»Suchen Sie doch einiges Verhältnis zu Raymund«, fuhr der Hofrat fort, »es wird Ihnen leicht werden: er respektiert Sie höchlich, und das will bei dem stolzen Menschen schon etwas heißen. Sie finden das ehrlichste Blut in ihm und ein eminentes, leider noch wildes Talent. Es ärgert manches an ihm, Kleinigkeiten vielleicht, die indessen doch einen Mangel an Bildung verraten, genug, mich indignieren sie; nur ein Beispiel und Sie werden mir beistimmen. Man traut mir billig zu, daß ich kein Pedant bin mit archäologischer Vielwisserei, insofern sie dem Künstler nichts hilft. Stellt mir einer eine lobenswerte Ariadne hin, so frag ich den Henker darnach, ob er wisse, daß die Gemahlin des Bacchus auch Libera heißt. Macht es einen Mann aber nicht lächerlich, wenn er von Göttern und Halbgöttern nur eben wie ein Dragoner spricht? Werden es ihm diejenigen [225] vergeben, die auf den ersten Blick unmöglich wissen können, daß dieser Mensch, so gut als einer, Charakteristik der Mythen versteht und plastischen Sinn genug in Aug und Fingern sitzen hat? Nun stellen Sie sich vor, neulich abends im ›Spanischen Hofe‹, es waren lauter gründliche Leute da, kömmt auf ein paar Kunstwerke die Rede, Raymund fällt in seinen begeisterten Schuß und sagt wirklich vortreffliche Dinge, aber er spricht statt von Panen und Satyrn, mir nichts dir nichts, und in vollem Ernste immer von Waldteufeln! Ist so was auch erhört? Ich saß wie auf Nadeln, schämte mich in sein Herz hinein, trat ihm fast die Zehen weg und wollt ihm helfen; nichts da! ein Waldteufel um den andern! und merkte das Lächeln nicht einmal, das hie und da auf die Gesichter schlich. Nachher verwies ich ihm die Unschicklichkeit, und was ist seine Antwort? Er lacht; ›nun, alter Papa‹, rief er, ›es muß mir doch erlaubt sein, mitunter so zu sprechen, wie die Niederländermalen durften!‹« Der Hofrat lachte selber aufs herzlichste, und man sah ihm an, wie lieb er den hatte, den er soeben schalt. »Ein stupender Eigensinn! Mich dauert nur die Braut.«

»Wer ist sie denn eigentlich?« fragte Nolten.

»Des Schloßwärters F. Tochter.«

»Was? hör ich recht?« rief Nolten voll Verwunderung aus. »O gute Henriette! Wie manchmal hat dein wehmütiger Gesang unter meinen Gittern mich getröstet!«

»Ja ja«, versetzte der Hofrat, »das war noch zur Zeit der liebekranken Nachtigall!«

Der Maler fiel auf einige Augenblicke in süße Gedanken. Die glückliche Vereinigung dieser Liebenden war ihm von guter Vorbedeutung für sich; denn hatte nicht jene Verlassene in seiner kranken Einbildung einigemal die Stimme Agnesens geborgt? und war er nicht auf dem Wege, der letztern auch den Bräutigam zurückzugeben?

Nun aber fand er erst Zeit, den Hofrat in der Angelegenheit zu befragen, um derentwillen er eigentlich gekommen war. Der alte Herr bedachte sich und zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, an Ihrer Stelle ging' ich geradezu selbst hin – die Gräfin zwar soll unpaß sein, den Grafen können Sie immer sprechen. Mein Gott, was sollten denn diese Leute eigentlich gegen Sie haben?« Soviel indessen Theobald aus dem weitern Gespräch entnehmen konnte, war es geratener, sich nicht persönlich auszusetzen. Der beste Ausweg fiel ihm aber ein. Eine Frau von Niethelm, die [226] intimste Freundin Constanzens, eine feine hochbegabte Dame, deren Zeit und Talent vorzüglich der Bildung zweier Prinzessen gewidmet war, hatte sich ihm von jeher gewogen gezeigt; ihrer hoffte er sich nun als Mittelsperson zu bedienen, und der glückliche Gedanke erfüllte ihn augenblicklich dergestalt, daß er den Hofrat eilends verlassen wollte, als eben Raymund hereintrat. Der feurige Mann umarmte ihn alsbald mit Enthusiasmus, und suchte ihm seine Achtung auf jede Art zu bezeugen Um nicht unfreundlich zu erscheinen, verweilte Nolten noch eine Viertelstunde, worauf er sich bestens empfahl.

Gegen Abend trat er den Gang zur Gouvernantin an, nachdem er auf sein Anmelden eine höfliche Einladung erhalten hatte. Unterwegs erst fiel ihm auf, wie wenig er auf das, was zu sagen und wie es zu sagen war, vorbereitet sei; er nahm sich schnell zusammen; eh er sich's versah, stand er im Zimmer der Gouvernantin.

Die zarte Dame empfing ihn im ganzen freundlich genug, und wenn dennoch etwas von Zurückhaltung fühlbar war, So schien es, als ob sie nur ungerne und mit Rücksicht auf Constanzen sich einigen Zwang auflegte.

»Ich bin«, begann Nolten, als er der liebenswürdigen Frau gegenüber Platz genommen hatte, »ich bin veranlaßt, in kurzem dieser Stadt und Gegend Lebewohl zu sagen; Pflicht und Neigung führen mich auswärts; aber wie sehr muß ich wünschen, mit vollkommen beruhigtem Sinne scheiden zu können! Es ist so schön und tröstlich, sich im Andenken seiner Freunde gesichert wissen! Die Liebe, die Neigung, die wir an einem Orte zurücklassen, gibt uns eine stille Gewähr, daß uns auch anderswo ein guter Stern erwarte. Möchte denn auch ich diesen Trost mit mir nehmen dürfen! möchten Sie, meine Gnädige, mich in dieser frohen Zuversicht bestärken können! – Indem sich mir in diesen Tagen eine Reihe ausgezeichneter Personen, deren Bekanntschaft ich mich im Laufe dreier Jahre vielfach zu erfreuen hatte, doppelt lebendig vor dem Geiste aufstellt, und indem ich mich anschicke, den einzelnen noch ein herzliches Wort zu sagen, muß ich vor allen jenes verehrten Hauses gedenken, dessen Gastfreundschaft mir unvergeßlich bleibt, das mit den Edelsten dieser Stadt, und, wie freudig spreche ich es aus! auch mit Ihnen, gnädige Frau, mich in freundliche Verbindung setzte. Leider hat das schöne Verhältnis zuletzt eine Störung erlitten, die mir das ganze Glück einer dankbaren Erinnerung für alle [227] Zukunft trüben muß, und um so schmerzlicher, da man mir aus den Gründen meines Mißgeschicks, insofern ich dieses selbst verschuldet haben soll, ein Geheimnis macht. Sollte nun auch Ihnen, Verehrteste, nicht erlaubt sein, meine Zweifel zu lösen, so gestatten Sie doch, daß ich die Versicherung bei Ihnen niederlege, ich sei mir, Ihrer teuren Freundin, sowie dem Herrn Grafen gegenüber, eines solchen Vergehens nicht bewußt; vergönnen Sie, daß ich den Freunden, die mich nicht mehr zu sehen wünschen, die Aufrichtigkeit meiner Gesinnungen durch Ihren Mund beteure.«

Die Gouvernantin, die in den Mienen des Malers, solange er sprach, mit Aufmerksamkeit zu lesen gesucht hatte, schien keineswegs ungerührt; zwar erwiderte sie nur das Allgemeinste, doch sah man ihr an, sie hätte herzlich gerne mehr gesagt. Nolten gewann nun Mut, folgendergestalt fortzufahren: »Wie wäre Ihnen zu verargen, gnädige Frau, wenn sich Ihnen, so wie wir uns jetzt einander gegenüber befinden, und nach dem, was indessen alles zur Sprache gekommen sein mag, ein unüberwindliches Mißtrauen gegen mich im Herzen aufwerfen sollte! Ich fühle wohl, und Sie selber verbergen sich's nicht, wie fremde in ganz kurzer Zeit Ihnen ein Mann geworden sei, der Ihnen früher nicht ganz unwert gewesen. Sonst war es uns willkommener Genuß, Erfahrung und Empfindung in heiteren Gesprächen auszuwechseln, Entferntes und Nächstgelegenes lebendig durcheinanderzumischen; stets schenkten Sie mir nachsichtsvolles Gehör, wenn, wie es wohl dem jüngeren Manne, der eben erst in eine völlig neue Welt eintrat und vielfach Ursache findet, unzufrieden mit sich selbst zu sein, natürlich zu geschehen pflegt, sich auch bei mir ein inniges Bedürfnis regte, mich einer gemütvollen, geistreichen Frau bescheiden mitzuteilen, Ihnen meine Verehrung für jenes edle Haus im ersten glücklichen Erstaunen auszudrücken. Nun heute wieder, wie gerne möcht ich den Zustand meines Innern offen und gläubig vor Ihnen enthüllen, doch Ihr Verstummen verschüchtert mir das Wort auf meinen Lippen! wie gerne würden Sie meiner Unruhe hülfreich entgegenkommen, doch wird es schwer, den Faden des Vertrauens so schnell wiederaufzunehmen. Wohlan, meine teure, meine hochverehrte Freundin, lassen Sie mich wenigstens einige Augenblicke der schönen Täuschung leben, als säßen wir noch so wie ehmals gegeneinander über! Erlauben Sie, daß ich erzähle, was in der Zwischenzeit sich mit mir begeben, in mir verändert hat. [228] Lassen Sie mich keine Absicht nennen, wozu dies Bekenntnis dienen soll. Es soll nur sein, als spräche ich zu einer Dame, von der ich weiß, sie nehme an meinem Schicksale allgemeinen heitern Anteil, und aus deren Munde eine günstige Divination meines künftigen Geschickes zu vernehmen mich hoch beglücken würde.«

Mit sanftem Lächeln forderte sie den Maler zu reden auf indem sie sagte: »Sie sollen eine emsige Zuhörerin haben, und was ihr an Prophetengabe mangelt, werden die redlichsten Wünsche für Ihr Wohl ergänzen.« Somit war Theobald im Begriff, seine Sache mit Agnesen, und wie sie sich durch Larkens' Tätigkeit neuerdings umgestaltet, weitläufig darzulegen, und ebendamit auf indirekte Weise sich gegen Constanze zu rechtfertigen. Aber in dem Augenblick, da er beginnen will, überrascht ihn die ganze Schwierigkeit seiner Aufgabe und es tat wahrlich not, daß ihm der gute Geist noch schnell genug ein bequemes Mittel, sich aus dieser Verlegenheit zu retten, eingab, worauf er sagte: »So vermessen es sein würde, in Rätseln zu Ihnen reden zu wollen, so wenig kann es schaden, wenn ich zuvörderst, um die Kluft, welche sich zwischen uns gelegt hat, erst nach und nach und nur von weitem auszufüllen, dasjenige, was nun zu sagen ist, mit veränderten Namen in eine allgemeine Darstellung einkleide; so werde ich unbefangner reden, ohne deshalb unverständlicher oder der Wahrheit ungetreu zu sein.« Sofort wurde denn das Verlobtenverhältnis eines Antonio zu Clementinen, von seiner ersten Entstehung bis zu dem drohenden Zerfall, es wurde das ungeheure Irrsal, wozu Elisabeth Veranlassung gegeben, in allen seinen Wendungen entwickelt. Einer Cornelia ward gedacht, Antonios Leidenschaft für diese nicht verhehlt, jedoch nur als einseitig zugegeben. Ein Mime Hippolyt löst heimlich den fatalen Knoten, doch daß er dies und wie er es auch bei Cornelien tat, davon schweigt Nolten mit Bedacht, als wenn er selbst nicht darum wüßte. Er hatte sich Zeit zu seiner Erzählung genommen, um so mehr, als er das gespannteste Interesse bei seiner Nebensitzerin wahrnahm; auch wurde er, wie wohl zu merken war, vollkommen gut verstanden. Die ganze Geschichte, an sich abenteuerlich und unglaublich, gewann durch einen gewandten und lebhaften Vortrag die höchste Wahrheit. Endlich war er fertig, und nach einigem Stillschweigen versetzte die Gouvernantin (während sie ihn mit einem Blick ansah, worin er ihren Dank für die zarte [229] Schonung lesen sollte, die er gegen ihre Freundin und gewissermaßen gegen sie selbst mit seiner Fabel beobachtet hatte): »Meint man doch wahrlich ein Märchen zu hören, so bunt ist alles hier gewoben!«

»Es stehen Beweise für die Wahrheit zu Dienste«, erwiderte Theobald; »ja ich erbitte mir ausdrücklich die Erlaubnis, Ihnen dieser Tage einige Papiere vorlegen zu dürfen, welche Sie jedenfalls mit Interesse durchlaufen werden.«

»Vielleicht«, antwortete die Gouvernantin, »kann ich anderwärts Gebrauch davon machen, der Ihnen wünschenswert sein dürfte.«

»Was Sie tun werden, Gnädigste, habe meinen innigsten Dank voraus!« versetzte Nolten mit einiger Hast, indem er ihr die Hand mit Ehrfurcht küßte. Sie war indessen nachdenklich geworden. Unvermerkt lenkte sie das Gespräch auf die Gräfin und es traten ihr Tränen in die Augen. »Leider muß ich Ihnen sagen, lieber Nolten«, fuhr sie fort, »es ist bei Zarlins seit einiger Zeit gar viel anders geworden; auch unsre Kränzchen haben aufgehört. Constanze ist nicht mehr die sie war, ein seltsamer Gram wirft sie nieder. Lange wußte niemand die Ursache, selbst ich nicht, und mit Unrecht schrieb man alles körperlichem Leiden zu, denn freilich leidet ihre Gesundheit mehr als je. Aber Gott weiß, wie alles zusammenhängt. Vorgestern nachts, als ich allein vor ihrem Bette saß, sprach sie halb in der Hitze des Fiebers, halb mit Bewußtsein dasjenige aus, wovon ich glauben muß, daß es wo nicht der einzige, doch immer ein Grund ihres angstvollen Zustandes sei.«

Nolten, den diese Worte eine rasche und voreilige Ahnung erweckten, tat sehr wohl, noch an sich zu halten, denn sogleich kam es ganz anders, als er erwartet haben mochte.

»Ich bin überzeugt«, fuhr die Gouvernantin fort, »es handelt sich bloß um einen wunderlichen Zufall, um eine Kleinigkeit, worüber mancher lächeln würde; gleichwohl ist jetzt sehr viel daran gelegen, und – werden mich völlig darüber aufklären können. – Sie haben ein Gemälde, worauf eine Frau abgebildet sein soll, welche die Orgel spielt?«

»Ganz recht.«

»Sagen Sie doch, welche Bewandtnis hat es mit dem Bilde?

Kennen Sie eine solche Person? Ist sie in der Wirklichkeit vorhanden?«

Nolten war durch die Frage natürlich frappiert. Er hatte, wie [230] der Leser weiß, in der Skizze, die bei dem Gemälde zugrunde gelegen, jene Wahnsinnige kenntlich genug gezeichnet, ja er hatte noch auf Tillsens ausgeführtem Tableau dem merkwürdigen Kopfe durch wenig beigefügte Striche die äußerste Ähnlichkeit gegeben. Constanzen war das Bild immer sehr wichtig gewesen und Nolten erinnerte sich jetzt plötzlich des Traumes, den sie ihm damals mit so großer Bewegung entdeckt. Er sagte nun der Gouvernantin: daß, wenn er vorhin in seiner Erzählung von einer Zigeunerin gesprochen, ebendiese das Original zum Bilde des weiblichen Gespenstes sei.

»Sonderbar!« sagte die Gouvernantin, »sehr sonderbar! – Wissen Sie nicht, ob die Person sich neuerdings in hiesiger Stadt gezeigt hat?«

»Vor etwa einem Monat wollen meine Freunde sie hier gesehen haben.«

»Nun, Gott sei Dank!« rief die Gouvernantin aus, »so ist es doch wie zu vermuten war; so darf mir doch nun die Arme Trost und Vernunft nicht länger bestreiten!«

»Wer?« fragte Theobald, »wer sah denn –? doch nicht die Gräfin?«

»Nun ja!«

»Himmel, und wo?«

»In der Kirche.«

Jetzt rief der Maler sich auf einmal einen Umstand ins Gedächtnis, den man sich vor mehreren Wochen in der Stadt erzählte und woraus er damals nicht eben sonderlich viel zu machen wußte. Constanze hatte nämlich, bei nicht völligem Wohlsein, sonntags die Frühkirche besucht und während des Gottesdienstes den sonderbaren Zufall gehabt, daß sie plötzlich mit einem für die Zunächstsitzenden sehr vernehmlichen Laut des heftigsten Schreckens bewußtlos niedersank. Sie mußte nach Hause getragen werden, wo sie sich in kurzem zu erholen schien. Die wahre Ursache des Unfalls blieb durchaus Geheimnis. In der Kirche selbst wollten einige bemerkt haben, daß die Gräfin unmittelbar, bevor sie ohnmächtig geworden, den Blick starr nach dem offenstehenden Haupteingang gerichtet, wo sich mehreres gemeine Gassenvolk unter die Türen gepflanzt hatte. Niemand aber gewahrte unter dieser bunten Gruppe den Gegenstand einer so außerordentlichen Apprehension, niemand war versucht, denselben in der gleichwohl stark genug hervorragenden Gestalt einer Zigeunerin zu suchen.

[231] Es war bei Theobald nun gar kein Zweifel mehr, daß jenes ungeheure Wesen, so wie einst bei Agnesen mit Absicht, so nun hier bei der Gräfin unwillkürlich ihn abermals verfolgte. Es fing dieser Eigensinn des Schicksals ihm nachgerade ängstlich zu werden an. Er hatte Mühe, seine Gedanken davon loszumachen, und auf die Gegenwart, auf Constanzen zurückzulenken. Ihr Zustand bekümmerte ihn sehr; denn aus allem, was die Gouvernantin von eigenen Äußerungen Constanzens wiederholte, ging hervor, daß das Entsetzen über die Erscheinung in der Kirche unmittelbar mit jenem Traume zusammenhing, und daß die Gräfin seit diesem Auftritte mit heimlichen Gedanken an einen frühen Tod umgehe. Der Maler versank in stilles Nachdenken, und ein tiefer Seufzer entwand sich seiner Brust. Wie vieles, dachte er, muß hier zusammengewirkt haben, um den hellen und festen Geist dieses Weibes zu betören! Wie sehr ist nicht zu glauben, daß dies Gemüt lange zuvor mit sich selbst uneins gewesen sein müsse, eh solche Träume es gefangennehmen konnten! Er enthielt sich nicht, dergleichen gegen die Gouvernantin zu äußern, die ihm mit traurigem Kopfnicken beistimmte. Sie sah ihn an, und sagte: »Vergessen wir nicht, unsre Freundin ist krank, und – krank in mehr als einem Sinne.«

Ein Besuch, welcher in dem Augenblick angesagt wurde, nötigte Theobalden zum Aufbruch. Er empfahl sich mit der Bitte, in diesen Tagen nochmals erscheinen zu dürfen. Die versprochenen Papiere sandte er noch denselben Abend nach, jedoch mit Auswahl, und namentlich ward jene Nachschrift zu Larkens' Brief mit schonendem Bedacht zurückbehalten.


Obgleich er sich die Unterredung mit der Gouvernantin in gewissem Betracht nicht besser hätte wünschen können, denn eine vollständige Ausgleichung des widerwärtigsten Mißverständnisses war damit auf das sicherste eingeleitet, so war er doch seitdem von einer unbegreiflichen Unruhe umgetrieben. Er konnte den Tag nicht erwarten, an dem er endlich die Stadt würde verlassen können. Unverzüglich fing er daher an, seine Anstalten zur Abreise zu treffen, besorgte die Angelegenheiten seines Freundes, und machte nur die notwendigsten Besuche ab, da ihm ein ungehöriges, obwohl aufrichtiges Mitleid, womit man überall den Scheidenden betrachten zu müssen glaubte, allzu verdrießlich fiel. An den Herzog richtete er ein allgemein verbindliches Billett, das er nicht ohne ein Lächeln zusammenfalten [232] konnte, weil es ihm diesmal gelungen war, mit mehreren Worten so viel wie nichts zu sagen. Am herzlichsten entließ ihn Tillsen und der Hofrat, welch letzterer ihm in den wunderbarsten Ausdrücken eine nie genugsam ausgesprochene Neigung auf einmal verraten zu wollen schien, indem er zugleich auf ein besonderes Verhältnis anspielte, das längst zwischen ihnen beiden bestünde, und welches zu entdecken er sich bis auf diese Stunde nicht habe entschließen können; auch jetzt überrasche ihn der Abschied des Malers dergestalt, daß er notwendig eine andere Zeit abwarten müsse. Theobald, welcher den Alten von jeher im Verdacht gehabt, als ob er mit einiger Schalkheit gerne den Geheimnisvollen spiele, achtete wenig auf diese dunkeln Winke, obgleich dem guten Manne die Rührung sichtlich aus den Augen sprach.

Sein letzter Ausgang am Schluß der vielgeschäftigen Woche war zu der Gouvernantin. Unglücklicherweise war eben Gesellschaft dort und die liebenswürdige Frau konnte ihm nur wenige Augenblicke allein auf ihrem Zimmer schenken. Sie zog einen versiegelten Brief hervor und sagte: »Ihre neulichen Mitteilungen haben der Gräfin ein unerwartetes Licht gegeben, von dessen erster erschütternder Wirkung ich jetzt nichts sage. Ich danke Gott, daß dieser Kampf vorüber ist. Empfangen Sie hier das letzte Wort von unsrer Freundin. Seitdem sie den Entschluß gefaßt, sich Ihnen zu offenbaren, ist endlich ein Schimmer von Frieden bei ihr eingetreten, den zu befestigen ich mir nach Kräften angelegen sein lasse. Nur was dies Blatt betrifft, so darf ich nicht verschweigen, daß es im ersten Schmerz geschrieben wurde, wo es schien, als ob sie nur im ungemessensten Ausdrucke ihrer Schuld einige Erhebung und ein willkommenes Mittel gegen völlige Verzweiflung habe finden können. Schließen Sie also aus diesem Briefe nicht auf ihren Zustand überhaupt, den sicherlich die Zeit auch heilen wird. Vielleicht erkennen Sie in diesen Linien, deren Inhalt ich wohl ahnen kann, noch jetzt das schöne Herz, das sein Vergehn mehr als genug empfindet. Gewiß, ich darf das sagen, ohne eben entschuldigen zu wollen – ach leider, daß ich es nicht kann! Aber wie gerne wollen wir der Armen alles vergessen, wenn sie nur erst ihre Ruhe wiedergewonnen hätte! O wüßten Sie, Nolten, welche traurige Besorgnisse mir die Richtung einflößte, der sich ihr Geist starrsinnig hinzugeben drohte. Und noch bin ich nicht aller Sorge los. Zu oft noch seh ich ihren Blick nach jener trüben [233] Seite hingekehrt, von wo sie sich ein frühes Grab verkündigt glaubte. Denn selbst durch Ihre freundschaftlichen Aufschlüsse, sosehr sie uns zustatten kamen, konnte diese Vorstellung nicht ganz zerstört werden. Freilich sieht sie nun alles bis auf einen gewissen Grad natürlich an, weil aber doch etwas Außerordentliches an dem Zusammentreffen der Begebenheiten nicht zu leugnen und jener frühere Eindruck auch nicht so schnell auszutilgen ist, so kann sie den Gedanken an eine solche Vorbedeutung nicht von sich wegbringen. Aber lassen Sie mich abbrechen, eh ich weich werde, und ins Klagen falle. Wie sehr bedaure ich, daß Sie eben jetzt so eilig von uns müssen – und doch, es wird auch wieder gut für beide Teile sein. Und nun« (sie ging an einen Schrank und holte ein schönes Futteral hervor, das sie ihm in die Hand drückte), »zwei Freundinnen bitten, dies zu dem Hochzeitsschmuck der lieben Braut zu legen und ihr zu sagen, wie sehr sie in der Ferne gekannt, wie schwesterlich geliebt sie sei. Leben Sie wohl, und denken gerne mein.«

Ehe Theobald noch recht zu danken wußte, hatte sie sich bereits, ihre steigende Bewegung zu verbergen, leise zurückgezogen. Eilig ging er nach seiner Wohnung, aufs höchste erstaunt über die rätselhaften Dinge, die er soeben gehört. War es denn nicht, als sollte ihm ein Verbrechen Constanzens entdeckt werden? Sprach nicht die Gouvernantin so, als wüßte er bereits darum? – Auf seinem Zimmer angekommen, verschloß er hinter sich die Tür und las wie folgt:

»Nicht einen letzten Blick der Neigung, kein Auge des Mitleids sollen Sie diesem Blatte gönnen, das von dem jammervollsten, ach zugleich von dem unwürdigsten Weibe kommt; denn (davon hatten Sie bis diesen Augenblick noch keine Ahnung) so wie mein Unglück, ist auch meine Schuld ohne Grenzen. Nie kann ich hoffen, Sie mir zu versöhnen, ja wäre das möglich, ich kann keine Vergebung, auf ewig keine, vonmir erhalten. Aber die Strafe, die ich schrecklich genug im eigenen Bewußtsein trage, bin ich im Begriff aufs höchste zu schärfen, indem ich meinen Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre ganze Verachtung, Ihren gerechtesten Haß auf mich ziehe. Was hält mich ab vom entehrendsten Bekenntnis? Ist man noch eitel, ist man noch klug, sucht man ängstlich noch einigen Schein für sich zu bewahren, wenn man einmal sich selbst zu verachten einen verzweifelten Anfang gemacht hat? Gleichgültig verzicht ich auf die kleinen Künste, womit wir [234] Armen sonst in solchen Fällen der Bedrängnis uns vor uns selbst und vor Ihrem Geschlechte beschönigen. Hinweg damit! Dem besten, dem edelsten Manne zeige sich, ganz wie es ist, das elende Geschöpf, das ihn so unerhört betrogen. – Erfahren Sie's also, Constanze war's, durch deren Tücke Ihnen Ihr harmloser Anteil an jener letzten Abendunterhaltung in unserem Hause so schwer zu stehen kam, und – so wollte es die Wut eines Weibes, dessen entschiedene Liebe sich beispiellos hintergangen wähnte – ich hätte vielleicht, o ich hätte gewiß, wär es in meiner Macht gestanden, die Grausamkeit aufs äußerste getrieben. Der Himmel fand noch zeitig ein wunderbares Mittel, mich einzuschrecken, mich zu züchtigen. Nun auf einmal zum törichten Kinde verwandelt, von Göttern und Geistern verfolgt, eilt ich in meiner Herzensnot, Sie zu befreien. Es gelang, und durch dieselbe Hand zwar, an die ich Sie zuerst verraten. O Schande, Schande mein kurz gemeßnes Leben reicht nicht hin, sie zu beweinen, wie sie es verdient, und – nein ich schweige; daß Sie nicht etwa denken, ich gehe darauf aus, durch übertriebne Selbstanklagen mir einen Funken gerührter Teilnahme zu erschleichen, so entsag ich der Wollust, mich jetzt im Staube vor Ihnen zu winden. Aber hassen Sie, verdammen Sie mich keck, ja dürft ich mein ganzes Geschlecht wider mich aufrufen, möchten die Besten desselben mich fremd aus ihrer Mitte weisen! das härteste Gericht, dürft ich's erdulden, damit ich doch den einzigen Trost genösse, meine Buße vollendet zu sehen, eh mein beflecktes Dasein sein Ende erreicht! Gott, du Gerechter, weißt, ob ich mich solcher Missetat je fähig halten konnte, bevor du mir diese Versuchung bereitet! Doch daß ich sie so schlecht bestand, das öffnet mir schaudernd die Augen über mich selbst, über mein gesamtes Wesen. Die schönen Stunden auch, wo mich die Liebe mit Hoffnungen der glücklichsten Zukunft täuschte und eine fromme Weihe über mein kommendes Leben harmonisch zu verbreiten schien – mit Tränen sag ich mir, daß selbst der Wert so reiner Augenblicke, so himmlischer Entschlüsse, nichtswürdig in jenem ungeheuern Abgrunde verschwindet, den dieses Herz, sein selbst unkundig, mir bis daher verbarg. Nun ich mich aber kenne, nun, Gott sei gepriesen, weiß ich auch, wohin mein Trachten gehen muß. Doch davon red ich Ihnen nicht, ich habe das mit einem Höhern.

Nehmen Sie meinen Dank für die Mitteilungen an die Niethelm; sie sind mir treulich zugekommen. Ich wäre verloren [235] gewesen ohne sie; drum tausend, tausend Dank für die Barmherzigkeit!

Aber mit welchen Empfindungen hab ich zugleich in die Wege blicken müssen, in denen Ihr Geschick Sie führte! Nur eine Heilige wie Agnes, wird mit Kinderhänden den wunderbaren Schieier lüpfen, der über Ihrem Schicksal liegt. In diesem herrlichen Geschöpf fürwahr ist Ihnen die Befriedigung Ihres höchsten Strebens aufbehalten. – Leben Sie wohl! wohl! Ach aus dem tiefsten Grund der Seele wünsch ich, fleh ich, es möge Ihnen wohl ergehen. Welch einen Trost ich darin für mich suche, ahnet Ihnen kaum. Und dürft ich nur einmal im Leben Agnesen umarmen, den Engel, den ich preise! Sie ist die Glücklichste auf Erden, ich aber bin die erste, die dieses Glück ihr gönnt. Lebt beide wohl, Ihr Teuren, und laßt mich; Ärmste für Euch beten.«


Wir lassen nun über dem bisherigen Schauplatze von Noltens Leben den Vorhang fallen, und wenn er jetzt sich aufs neue hebt, so treffen wir den Maler bereits seit zweien Tagen auf der Reise begriffen. Wohin er seinen Weg nehme, fragen wir nicht erst. Wir denken uns übrigens wohl, daß eben nicht die leidenschaftliche Wonne des Liebhabers, wie man sie sonst bei solchen Fahrten zu schildern gewohnt ist, auch nicht die bloße kühle Pflicht es sei, was ihn nach Neuburg führt; es ist vielmehr eine stille Notwendigkeit, die ihn ein Glück nur leise hoffen heißt, welches leider jetzt noch ein sehr ungewisses für ihn ist. Denn eigentlich weiß er selbst nicht, wie alles werden und sich fügen soll. Beharrlich schweigt sein Herz, ohne irgend etwas zu begehren, und nur augenblicklich, wenn er sich das Ziel seiner Reise vergegenwärtigt, kann ein süßes Erschrecken ihn befallen.

Er hat mit seinem muntern Pferde schon in der vierten Tagreise das Ende des Gebirgs erreicht, das die Landesgrenze bezeichnet und von dessen Höhe aus man eine weite Fläche vor sich verbreitet sieht. Es war ein warmer Nachmittag. Gemächlich ritt er die lange Steige hinunter und machte am Fuß derselben Halt. Er führte sein Pferd seitwärts von der Straße, band es an eine der letzten Buchen des Waldes, wo zwischen kleinem Felsgestein ein frisches Wasser vorquoll. Er selber setzte sich auf eine erhöhte, mit jungem Moos bewachsene Stelle und schaute auf die reiche Ebene, welche in größerer und kleinerer [236] Entfernung verschiedene Ortschaften und die glänzende Krümmung eines ansehnlichen Flusses zeigte. Ein Schäfer zog pfeifend unten über die Flur, überall wirbelten Lerchen, und Schlüsselblumen dufteten in nächster Nähe.

Den Maler übernahm eine mächtige Sehnsucht, worein sich, wie ihm deuchte, weder Neuburg, noch irgendeine bekannte Persönlichkeit mischte, ein süßer Drang nach einem namenlosen Gute, das ihn allenthalben aus den rührenden Gestalten der Natur so zärtlich anzulocken und doch wieder in eine unendliche Ferne sich ihm zu entziehen schien. So hing er seinen Träumen nach und wir wollen ihnen, da sie sich von selbst in Melodieen auflösen würden, mit einem liebevollen Klang zu Hülfe kommen.


Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel,
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
– Ach sag mir, alleinzige Liebe,
Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte haben kein Haus.
Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen,
Sehnend
Sich dehnend
In Lieben und in Hoffen.
Frühling, was bist du gewillt?
Wann werd ich gestillt?
Die Wolke seh ich wandeln und den Fluß,
Es dringt der Sonne goldner Kuß
Mir tief bis ins Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.
Ich denke dies und denke das,
Ich sehne mich, und weiß nicht recht, nach was;
Halb ist es Lust, halb ist es Klage.
Mein Herz, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
Alte, unnennbare Tage!

[237] Aber nicht allzulange konnte sich das Gefühl unseres Freundes in so allgemeinem Zuge halten. Er nahm eine alte Locke Agnesens vor sich, es lag neben ihm im Grase blitzend das kostbare Kollier der Gräfin (denn dies war der Inhalt jenes zierlichen Futterals), der Brief des Schauspielers ruhte auf seiner Brust. Zärtlich drückte er alle diese Gegenstände an seinen Mund, als hätten sie sämtlich gleiches Recht an ihn.

Ein leichter Regen begann zu fallen und Theobald erhob sich. Wir lassen ihn seine Straße ungestört fortziehn und sehen ihn nicht eher wieder, bis er mit dem vierten Sonnenuntergang im letzten Dorfe angelangt ist, wo man ihn versichert, daß er von hier nur noch drei kleine Stündchen nach Neuburg habe. Auf dieser letzten Station wollte er übernachten, sich zu stärken, sich zu sammeln. Er tat dies nach seiner Art mit der Feder in der Hand und legte sich sodann beruhigt nieder. Der Morgen graute kaum und der Mond schien noch kräftig wie um Mitternacht, als Theobald den Ort verließ. So wie der Tag nun unaufhaltsam vordrang, zog sich die Brust des Freundes enger und enger zusammen; aber der erste Blitz der Sonne zuckt jetzt im roten Osten auf und entschlossen wirft er allen Kleinmut von sich. Mit einer unvermuteten Wendung des Wegs öffnet sich ein stilles Tal, das gar kein Ende nehmen will, aus ihm entwickelt sich ein zweites und drittes, so daß der Maler zweifelt, ob er das rechte wähle; doch ritt er zu, und die Berge traten endlich ein wenig auseinander. »Herz, halte fest!« ruft er laut aus, da er auf einmal den Rauch von Häusern zu entdecken glaubt. Er irrte nicht, schon konnte man des Försters heitere einstockige Wohnung mit ihren grünen Läden, einzeln an die Seite des Bergs hinauf gerückt, unweit der Kirche, liegen sehn. »Herz, halte fest!« klingt es zum zweitenmal in seinem Innern nach, da ihn die Gassen endlich aufnahmen. Er gab sein Pferd im Gasthof ab, er eilte zum Forsthaus.

»Herein!« rief eine männliche Stimme aufs Klopfen an der Tür. Der Alte saß, die Füße in Kissen gewickelt, im Lehnstuhl und konnte vor Freudeschrecken nicht aufstehn, selbst wenn das Podagra es erlaubt hätte. Wir sagen nichts vom hellen Tränenjubel dieses ersten Empfangs und fragen mit Nolten sogleich nach der Tochter.

»Sie wird wohl«, ist die Antwort, »ein Stückchen Tuch drüben auf den Kirchhof zur Bleiche getragen haben; die Sonne ist gar herrlich außen; gehn Sie ihr nach und machen ihr gleich [238] die köstliche Überraschung! Ich kann nicht erwarten, euch beieinander zu sehn! Ach mein Sohn! mein lieber trefflicher Herr Sohn! sind Sie denn auch noch ganz der alte? Wie so gar stattlich und vornehm Sie mir aussehen! Agnes wird Augen machen! Gehn Sie, gehn Sie! Das Kind hat keine Ahnung. Diesen Morgen beim Frühstück sprachen wir zusammen davon, daß heute wohl ein Brief kommen würde, und nun!« – Theobald umarmte den guten Mann wiederholt und so entließ ihn der Alte. Im Vorbeigehn fiel sein Blick zufällig in die Kammer der Geliebten, er sah ein schlichtes Kleid von ihr, das er sogleich wiedererkannte, übern Sessel hängen; der Anblick durchzückte ihn mit stechender Wehmut, und schaudernd mußte sein Geist über die ganze Kluft der Zeiten hinwegsetzen.

Der Weg zum Kirchhof hinter dem Pfarrhaus zwischen den Haselhecken hin, wie bekannt und fremd war ihm alles! Das kleine Pförtchen in der Mauer stand offen; er trat in den stille grünenden Raum, der mit seinen ländlichen Gräbern und Kreuzen die bescheidene Kirche umgab. Begierig und schüchtern sucht er die Gestalt Agnesens; hinter jedem Baum und Busch glaubt er sie zu erspähen; umsonst; seine Ungeduld wächst mit jedem Atemzug; ermüdet setzt er sich auf eine hölzerne Bank unter den breiten Nußbaum und überschaut den friedsamen Platz. Die Turmuhr läßt ihren festen Perpendikeltakt vernehmen, einsame Bienen summen um die jungen Kräuter, die Turteltaube gurret hie und da, und, wie es immer keinen unerfreulichen Eindruck macht, wenn sich unmittelbar an die traurigen Bilder des Todes und der Zerstörung die heitere Vorstellung eines tätig regsamen Lebens anknüpft, so war es auch hier wohltuend für den Beschauer, mitten auf dem Felde der Verwesung einzelne Spuren des alltäglichen lebendigen Daseins anzutreffen. Dort hatte der benachbarte Tischler ein paar frisch aufgefärbte Bretter an einen verwitterten Grabstein zum Trocknen angelehnt, weiter oben blähten sich ein paar Streifen Leinwand in der lustigen Frühlingsluft auf dem Grasboden, und von ganz eigener Rührung mußte Theobald ergriffen werden, wenn er dachte, welche Hände dieses Garn gesponnen und sorglich es hieher getragen, wie manche Stunde des langen Tages und der langen Nacht das treuste der Mädchen unter wechselnden Gedanken an den Entfernten, in hoffnungsreichem Fleiße, mit dieser Arbeit hingebracht, während er, in übereiltem Wahne, mit sündiger Glut eine fremde Neigung pflegte.

[239] Jetzt hatte er kein Bleibens mehr an diesem Ort, und doch konnte er den Mut auch nicht finden, Agnesen geradezu aufzusuchen; er trat unschlüssig in den Eingang der Kirche, wo ihn eine angenehme Kühle und, trotz der armseligen Ausstattung, ein feierlicher Geist empfing. Haftete doch an diesen braunen abgenützten Stühlen, an diesen Pfeilern und Bildern eine unendliche Reihe frommer Jugendeindrücke, hatte doch diese kleine Orgel mit ihren einfachen Tönen einst den ganzen Umfang seines Gemüts erfüllt und es ahnungsvoll zum Höchsten aufgehoben, war doch dort, der Kanzel gegenüber, noch derselbe Stuhl, wo Agnes als ein Kind gesessen, ja den schmalen Goldstreifen Sonne, der soeben die Rücklehne beschien, erinnerte er sich wohl an manchen Sonntagmorgen gerade so gesehen zu haben; in jedem Winkel schien ein holdes Gespenst der Vergangenheit neugierig dem Halbfremden aufzulauschen und ihm zuzuflüstern: Siehe, hier ist sich am Ende alles gleichgeblieben, wie ist's indessen mit dir gegangen?

Zur Emporkirche stieg er nun auf; er sah ein altes Bleistiftzeichen wieder, das er einst in einem bedeutenden Zeitpunkt, abergläubisch, gleichsam als Frage an die Zukunft, hingekritzelt hatte – aber wie schnell bestürzt wendet seine Aufmerksamkeit sich ab, als ihm durch die bestäubten Glasscheiben außen eine weibliche Figur auffällt, über die er keinen Augenblick im Zweifel bleiben kann. Agnes ist es wirklich. Sein Busen zieht sich atemlos zusammen, er vermag sich nicht von der Stelle zu bewegen, und um so weniger, je treffender, je rührender die Stellung ist, worin eben jetzt ihm das Mädchen erscheint. Er öffnet behutsam den Fensterflügel um etwas und steht wie eingewurzelt.

Die den Kirchhof umschließende Mauer bildet etwa in der Hälfte ihrer Höhe ein breites fortlaufendes Gesimse, worauf sich ein Kreuz von alter Steinhauerarbeit freistehend erhebt; an dessen Fuße auf dem Gesimse sitzt, noch immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, das liebliche Geschöpf mit dem Strickzeug und im Hauskleide, so daß dem Freunde das Profil des Gesichts vollkommen gegönnt ist; an einem Arm des Kreuzes über dem Kopfe der Sitzenden hängt ein frischer Kranz von Immergrün, sie selber bückt sich soeben aufmerksam, die Nadel leise an die Lippen haltend, gegen eine Staude vorwärts, worauf ein Papillon die glänzenden Flügel wählig auf- und zuzieht; jetzt, indem er auffliegt, gleitet ihr Blick flüchtig am [240] Fenster Theobalds hin, daß diesem vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf entfahren wäre; aber das Köpfchen hing schon wieder ruhig über dem geschäftigen Spiele der Finger. Schichtweise kam einigemal der süßeste Blumengeruch gegen den Lauscher herübergeweht, um den geistigen Nerv seiner Erinnerung nur immer reizender, betäubender zu spannen, denn diese eigentümliche Würze, meint er, habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt ausgehaucht, als hier, wo sich sein Duft mit den frühen Gefühlen einer reinen Liebe vermischte.

Er dachte jetzt ernstlich darauf, wie er am schicklichsten aus seinem Versteck hervortreten, und sich dem ahnungslosen Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er bisher in schönem Vorgenuß die Gestalt und alle das Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobachten, so wollte ein artiger Zufall ihn auch den langentbehrten Ton ihrer Stimme noch hören lassen. Der Storch, der seit uralter Zeit sein Nest auf dem Kirchdache gehabt, spazierte mit sehr vieler Gravität erst unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als gälte es eine Morgenvisite bei Agnes. »Hast schon gefrühstückt, Alter? komm, geh her!« rief sie und schnalzte mit dem Finger; der langbeinige Bursche aber nahm wenig Notiz von dem herzlichen Gruße und marschierte gelassen hinten vorüber. Jetzt streckte plötzlich der alte Förster den Kopf schalkhaft durchs Pförtchen: »Muß doch auch ein bißchen nach dem verliebten Paare schauen, das seine Freude so ganz aparte haben will – Nun, mein Herzchen? dein Besuch? was läuft er denn wieder weg?« Agnes, diese Worte auf den Storch ziehend, deutet mit Lachen seitwärts nach dem fortstolzierenden Vogel: allein bevor der Förster sich näher mit ihr erklärt und ehe das Mädchen die Mauerstufen ganz herunter ist, erscheint Nolten unter der Kirchtür: Agnes, ihn erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zunächststehenden Vater um den Hals, wo sie ihr glühendes Gesicht verbirgt, während unser Freund, der sich diese erschüttert abgewandte Bewegung blitzschnell durch sein böses Gewissen erklären läßt mit einiger Verlegenheit sich heranschmiegt, bis ein verstohlener, halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Alten Schulter hinweg ihm sagte, daß Freude, nicht Abscheu oder Schmerz es sei, was hier am Vaterherzen schluchze. Aber als das herrliche Kind sich nun plötzlich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt leidenschaftlicher Liebe sich um den Leib warf und nur die Worte vorbrachte: »Mein! Mein!« da hätte auch [241] er laut ausbrechen mögen, wenn die Übermacht solcher Augenblicke nicht die Lust selbst der glücklichsten Tränen erstarren machte.


Indem man nach dem Hause zurückging, bedauerte man sehr, daß Theobald den guten Baron vor einigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er seit einer Woche verreist sei.

»Ich bin noch ganz freudewirr und dumm«, sagte Agnes, wie sie in die Stube traten, »laß mich erst zu mir selber kommen!« Und so standen sie einander in glücklicher Verwunderung gegenüber, sahen sich an, lächelten, und zogen aufs neue sich lebhaft in die Arme.

»Und was es schön geworden ist, mein Kind, Papa!« rief Theobald, als er sie recht eigens um ihre Gestalt betrachtete; »was es zugenommen hat! Vergib, und laß mich immer nur staunen!«

Wirklich war ihre ganze Figur entschiedener, mächtiger, ja wie Theobald meinte, selbst größer geworden. Aber auch alle die Reize, die der Bräutigam ihr von jeher so hoch angerechnet hatte, erkannte er wieder. Jenes tiefe Dunkelblau der Augen, jene eigene Form der Augbraunen, die von allen übrigen sich dadurch unterschieden, daß sie gegen die Schläfe hin in einem kleinen Winkel absprangen, der in der Tat etwas Bezauberndes hatte. Dann stellten sich noch immer, besonders beim Lachen, die vollkommensten Zahnreihen dar, wodurch das Gesicht ungemein viel kräftige Anmut gewann.

»Indessen das Wundersamste, und worauf ich mir selber etwas einbilden möchte, das will der Herr, scheint's, absichtlich gar nicht entdecken!« sagte Agnes, indem eine köstliche Röte sich über ihre Wangen zog. Wohl wußte er, was sie meine. Ihre Haare, die er bei seiner letzten Anwesenheit noch beinah blond gesehen hatte, waren durchaus in ein schönes glänzendes Kastanienbraun übergegangen. Theobalden war es beim ersten Blicke aufgefallen, aber auch sogleich hatte sich ihm die sonderbare Ahnung aufgedrungen, Krankheit und dunkler Kummer hätten Teil an diesem schönen Wunder. Agnes selber schien nicht im entfernten dergleichen zu denken, vielmehr sie fuhr ganz heiter fort: »Und meinst du wohl, es habe sonderlich viel Zeit dazu gebraucht? Nicht doch! fast zusehends, in weniger als zwanzig Wochen war ich so umgefärbt. Die Pastorstöchter und ich, wir haben heut noch unsern Scherz darüber.«

[242] Am Abend sollte Nolten erzählen. Allein dabei konnte wenig Ordentliches herauskommen; denn wenn er sich gleich aus Larkens' Konzepten überzeugt hatte, wie treulich ihm der Freund bereits in bezug auf gewisse Verlegenheitspunkte, so namentlich auch wegen der Verhaftsgeschichte, zur Beruhigung der guten Leutchen vorgearbeitet, so fand er sich nun doch durch die Erinnerung an jene gefährliche Epoche dem unvergleichlichen Mädchen gegenüber im Herzen beengt und verlegen; er verfuhr deshalb in seinen Erzählungen nur sehr fragmentarisch und willkürlich, und übrigens, wie es bei Liebenden, die sich nach langer wechselvoller Zeit zum ersten Male wieder Aug in Auge besitzen, natürlich zu geschehen pflegt, verschlang die reine Lust der Gegenwart mit Ernst und Scherz und Lachen es verschlang ein stummes Entzücken, wenn eins das andere ansah, jedes übrige Interesse und alle folgerechte Betrachtung. Wenn nun das junge Paar nichts, gar nichts in der Welt vermißte, ja wenn zuweilen ein herzlicher Seufzer bekannte, man habe des Glückes auf einmal zu viel, man werde, da die ersten Stunden so reich und überschwenglich seien, die Wonne der folgenden Zeit gar nicht erschwingen können, so war der Alte an seinem Teil nicht eben ganz so zufrieden. Er saß nach aufgehobenem Abendessen (Tischtuch und Gläser mußten bleiben) geruhig zu einer Pfeife Tabak im Sorgensessel, er erwartete mancherlei Neues von der Reise, vom Ausland und namentlich von Bekanntschaften des Schwiegersohns dies und jenes Angenehme oder Ruhmvolle behaglich zu vernehmen. Agnes, den Fehler wohl bemerkend, stieß deshalb den Bräutigam ein paarmal heimlich an, der denn nach Kräften schwatzend, gar bald den Vater in den besten Humor zu versetzen und einigemal zum herzlichsten Gelächter anzuregen wußte. Es fiel dem ganz jugendlich auflebenden Greise noch ein, eine Flasche echten Kapweins, welche der Baron verehrt, vom Keller bringen zu lassen, und immer wurde man munterer.

Von dem Vater, den wir im allgemeinen schon kennen, sagen wir bei dieser Gelegenheit nur soviel: Es war ein Mann von gutem geraden Verstande, sein ganzes Wesen vom besten Korn, und während die eigensinnige Strenge seines Charakters durch die äußerste Zärtlichkeit für seine Tochter auf eine liebenswürdige Weise gemildert schien, so war dagegen der Schwiegersohn beinahe der einzige Mensch, vor dem er einen unbegrenzten Respekt fühlte. Denn eigentlich pflegte der Alte etwas auf sich [243] zu halten, und da er als Forstmann, zumal in frühern Zeiten, mit einem hohen Jagdpersonal in vielfache Berührung kam, als erfahrner und gründlicher Mann gesucht und geschätzt war so durfte er sich zu einer solchen Meinung gar wohl berechtigt glauben.

Als man nach eilf Uhr sich endlich erhob, versicherten alle drei, es werde vor freudiger Bewegung keins schlafen können. »Kann ich's doch ohne das nicht!« seufzte der Förster, »hab ich doch in jungen Jahren bei Tag und Nacht in Nässe und Kälte hantierend, mich um den wohlverdienten Schlaf meines Alters bestohlen! nun hab ich's an den Füßen. Doch mag's! Es denkt und lernt sich manches so von Mitternacht bis an den lieben hellen Tag. Und wenn man sich dann so im guten Bette sagen kann, daß Haus und Eigentum von allen Seiten wohl gesichert und geriegelt, kein heimlich Feuer nirgend ist, und so weit all das Ding wohl steht, und dann der Mond in meine Scheiben fällt, so stell ich mir dann Tausenderlei vor, stelle das Wild mir vor, wie's draußen im Dämmerschein aufm Waldwasen wandelt und Fried und Freud auch hat von seinem Schöpfer ich denke der alten Zeit, der vorigen Jahre – sagt der Psalmist –, ich denke des Nachts an mein Saitenspiel (denn das ist dem Weidmann seine Büchse), und rede mit meinem Herzen, mein Geist muß forschen. Ja ja, Herr Sohn, lächeln Sie nur, ich kann auch sentimentalisch sein, wie ihr das so nennt, ihr junges Volk. Nun, schlafen Sie wohl!« Er lüpfte freundlich seine Zipfelmütze und Agnes durfte dem Bräutigam leuchten.


Es glänzte wieder die herrlichste Sonne in die Fenster des Forsthauses, um die Bewohner zeitig zu versammeln.

Agnes, seit lange gewohnt, die Stelle der Hausfrau zu behaupten, war am ersten rege. Und aufs neue wie trat sie den Augen des Liebsten entgegen! Ein ander Kleid als gestern, eher noch ein einfacheres, hatte sie angelegt, aber wie alle das auch paßte, sich innig schmiegte an ihr wahrstes Wesen, ja völlig eines mit demselben ward! Gleich diesem neuen Tag war sie für Nolten durchaus eine Neue; gewiß, wir sagen nicht zuviel, sie war der goldne Morgen selber. Soeben hatte sie den Stöcken Wasser gegeben, und es hing ihr ein heller Tropfen an der Stirn; mit welcher Wollust küßt' er ihn weg, küßt' er die glatt und rein an beiden Seiten heruntergescheitelten Haare!

Er machte eine Bemerkung, die ihm das Mädchen nach einigem [244] Widerspruch doch endlich gelten lassen mußte. Bräute, deren Väter vom Forstwesen sind, haben vor andern in der Einbildung des Liebenden immer einen Reiz voraus, entweder durch den Gegensatz von zarter Weiblichkeit mit einem mutigen, nicht selten gefahrbringenden Leben, oder weil selbst an den Töchtern noch der frische freie Hauch des Waldes zu haften scheint; es sucht überdies die gemeinschaftliche Farbe Grün solche Ideen gar gefällig zu vermitteln. Nur das letztere litt eine Ausnahme bei Agnesen, welche die Eigenheit hatte, daß sie diese muntre Farbe in der Regel nicht, und nur sehr sparsam an sich leiden mochte.

Sie ging, das Frühstück zu besorgen, und Nolten unterhielt sich mit dem Förster. Das Gespräch kam auf Agnesens Krankheit und weil kein Teil dabei verweilen mochte, sehr bald auf einen Gegenstand, wovon der Alte mit Begeisterung, der Sohn mit einem stillen, fast scheuen Vergnügen sprach – seine Hochzeit. Man dürfe nun damit nicht lange mehr zögern, meinte der Vater, meinte auch Nolten, selbst Agnes hatte sich mit dem ernsten Gedanken mehr vertraut gemacht. Eine Haupt frage war noch unentschieden: wo der Herr Sohn sich niederlassen werde? Nun eben sprachen die Männer darüber. Auf einmal fragt Nolten, den Kopf aufrichtend und horchend: »Wer ist so musikalisch in der Küche? wer pfeift denn?« »Sie tut's, die Agnes«, antwortete der Alte gleichgültig, indem er die Tür einen Augenblick öffnet, und fährt gelassen in seiner Rede fort. Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln, Geschirre hin und her stellen und dazwischen wohlgemut, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen. Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die unbedeutendste Sache von der Welt hat ihn überrascht. Es gibt unschuldige Kleinigkeiten, die mit unserm Begriffe von einer Person, wenn er nur einigermaßen etwas Idealisches hat, schlechterdings zu streiten scheinen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nolten von dieser Empfindung berührt, von einer unangenehmen, wenn man will, und sogleich fühlte er dieselbe in eine ganz entgegengesetzte, oder vielmehr in eine gemischte, umschlagen, wobei ein pikanter Reiz unwiderstehlich war. Er hätte aufspringen mögen, die gespitzten Lippen zu küssen und zu beißen, doch verharrte er auf seinem Sitz, bis das Kind unbefangen hereintrat, da er denn nicht umhinkonnte, ihr den Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte nicht, was es ihm verbot) den närrischen [245] Grund seiner verliebten Laune zu verraten. »Ei«, rief der Vater dazwischen, »bis wir trinken, hole doch die Mandoline! das ist dir, glaub ich, noch gar nicht eingefallen.« Wie Feuer so rot wurde das schöne Kind bei diesem Wort. Es gibt einen Grad von Verlegenheit, der wirklich furchtbar ist und das höchste Mitleid fordert; er kam bei Agnes selten vor, war es aber der Fall, so wurden ihre Augen, ohne eigentlich zu tränen, plötzlich schwimmend und öffneten sich mächtig weit, wie man etwa bei Somnambülen dies bemerkt; es war unmöglich, sie dann anzusehn, denn man ward innig bange, sie stehe auf dem Punkt, wie durch ein Wunder zu zerfließen, wie eine leichte Wolke sich völlig aufzulösen. Sie trat ängstlich hinter Theobalds Stuhl und ihr Finger spielte hastig in seinem Haar. Niemand wagte weiter etwas zu sagen und so entstand eine drückende Pause. »Ein andermal!« sagte sie kleinlaut und eilte in die Küche.

»Der Vetter, der Lehrmeister, irrt sie, merk ich wohl, Ihnen gegenüber. Doch hätt ich das nicht mehr erwartet, aufrichtig zu sagen.«

»Wir wollen sie ja nicht stören!« versetzte Theobald, »lassen Sie uns ja vorsichtig sein. Ich denke mich recht gut in ihr Gefühl. Des Mädchens Anblick aber hat mich erstaunt, erschreckt beinah! Merkten Sie nicht, wie sie beim Wegen die Farbe zum zweitenmal wechselte und schneebleich wurde?«

»Sonderbar!« sagte der Vater, mehr unmutig als besorgt, »in jener schwermütigen Periode konnte man dasselbe manchmal an ihr sehn und inzwischen nie wieder, bis diesen Augenblick.« Beide Männer wollten nachdenklich werden, aber Agnes brachte die Tassen.

Beim Frühstück hielt man Rat, was heute begonnen werden sollte. »Eh ich an irgend etwas weiter denken kann, eh wir den Papa zum Wort kommen lassen mit Besuchen, die zu machen, mit Rücksichten, die zu nehmen sind, erlauben Sie uns das Vergnügen, daß Agnes mir zuvörderst das Haus vom Giebel bis zum Keller, von der Scheune bis zum Garten, und alles nach der Reihe wieder zeige, was mich als Knaben glücklich machte. Was waren das doch schöne Zeiten! Sie hatten ihrer vier Jungen im Hause, lieber Vater, die beiden Z., diese wilden Brüder, mich und Amandus, der ja nun Pfarrer drüben ist in Halmedorf. Wie freu ich mich, ihn wiederzusehn! wir müssen hinüber gleich in den nächsten Tagen, hörst du mein Schatz? hört Ihr Papa? da muß dann jedes sein Häufchen Erinnerung herzubringen, [246] und es wird ein groß Stück Vergangenheit zusammen geben.« »Leider«, sagte Agnes, »kann aus dieser Zeit von mir noch nicht die Rede sein; ich hatte nur erst sieben Jahre, wie du zu uns kamst.« »Was? nicht die Rede? meinst du, der Tag, der verhängnisvolle, schwarze Unglücks-Sonntagnachmittag werde nicht aufgeführt in unsern Schulannalen, wo du mein Exerzitienheft zur Hand kriegtest, es auf dem Schemel hinter den Ofen nahmst und unmittelbar hinter das rote Pessime des Rektors hin mit ungelenker Feder, in bester Meinung, eine ganze Front langer hakiger P's und V's maltest? Welch ein Jammer, da ich das Skandal gewahr wurde! Ich nahm dich, Gott verzeih mir's, bei den Ohren, und die andern auch über dich her, wie ein ergrimmter Bienentrupp wenn ein Feind einbrechen will! – Ach, und was das immer ein saurer Gang war morgens mit dem Bücherriemen nach der Stadt ins Lyzeum! denn der gute Rektor lag mir besonders scharf an. Aber, kam dann der Samstag heran, der ersehnte Wochenschluß! wir sagten: im Himmel müßte es immer Samstagabend sein, denn selbst der Sonntag sei so lieblich nicht mehr. O ich muß den Boden wiedersehn, wo wir das Heu durchwühlten, das Garbenseil, an welchem wir uns schaukelten, den Teich im Hofe, wo man Fische großzog!« »Kirch und Kirchhof«, lachte der Vater, »diese Herrlichkeiten haben Sie schon in Augenschein genommen; zu den Glocken hinauf wird auch wohl noch der Steg zu finden sein.« »Ei, und«, warf Agnes dazwischen, »deinen alten Günstling, deinen Geschaggien hast du auch schon gehört!« Theo bald begriff nicht gleich, was sie damit wollte, plötzlich fiel ihm mit hellem Lachen bei, sie meine einen alten Nachtwächter, über den sie sich lustig zu machen pflegten, weil er die letzten Silben seines Stundenrufs auf eine eigne, besonders schön sein sollende Manier entstellte.

Soeben brachte der Bote von der Stadt die neuesten Zeitungen, die der Vater schon eine Weile zu erwarten schien, denn er sparte seinen Kaffee und die zweite Pfeife lag nur zum Anzünden parat. Höflich, nach seiner Art, gab er dem Sohn die Hälfte der Blätter hin, der sie indessen neben sich ruhen ließ. »Nein«, sagte er, wieder heimlich zu Agnesen gewendet, während der Alte schon in Politik vertieft saß, »ich habe Käsperchen die Nacht nicht gehört.« »Ich habe!« versetzte sie, »um drei Uhr, es war noch dunkel, rief er den Tag an; und«, setzte sie leise hinzu, »an dich hab ich gedacht! aber wie! eben war ich [247] erwache, mich überfiel's auf einmal, du wärst hier, wirst mit mir untereinem Dache! ich mußte die Hände falten, ein Krampf der Freude drückte sie mir ineinander, so dankbar, froh und leicht hab ich mein Tage nicht gebetet.« – »Gebt mal acht, Kinder«, hub der Vater an: »das ist ein Einfall vom russischen Kaiser! superb, ganz excellent! Da hört nur.« Und nun ward ein langer Artikel vorgelesen, wobei der Alte seine Wölkchen heftiger vom Mund abstieß. Nolten vernahm kaum den Anfang des Edikts, er ist noch hingerissen von den letzten Worten Agnesens, woraus ihm alles Gold ihrer Seele entgegenschimmert durchdringend ruht sein Blick auf ihr und zugleich ergreift ihn das Andenken an Larkens auf das lebhafteste. »Oh«, hätte er ausrufen mögen, »warum muß er mir jetzo fehlen? Er, dem ich diese Seligkeit verdanke, warum verschmäht er, selbst Zeuge zu sein, wie herrlich die Saat aufgegangen ist, die seine treue Hand im stillen ausgestreut! Und ich soll hier genießen, indes ein freudelos Geschick, ach, das eigne unersättliche Herz, ihn in die Ferne irren heißt, verlechzend in sich selber, ohn eine hülfreiche teilnehmende Seele, die seine heimlichen Schmerzen bespräche, in die Tiefe seines Elends bescheidnen Trost hinunterleiten könnte! Ihn so zu denken! und keine Spur, keine Ahnung, welcher Winkel der Erde mir ihn verbirgt. Und wenn ich ihn nimmer fände? Gott! wenn er bereits, wenn er in diesem Augenblick dasjenige verzweifelt ausgeführt hätte, womit er sich und mich so oft bedrohte –!« Eine Sorge, die nur erst als schwacher Punkt zuweilen vor uns aufgestiegen und immer glücklich wieder verscheucht worden war, pflegt tückischerweise gerade in solchen Momenten uns am hartnäckigsten zu verfolgen, wo alles übrige sich zur freundlichen Stimmung um uns vereinigen will. Im heftigen Zugwinde einer aufgescheuchten Einbildungskraft drängt sich schnell Wolke auf Wolke, bis es vollkommen Nacht um uns wird. So ballte mitten in der lieblichsten Umgebung das riesenhafte Gespenst eines abwesenden Geschickes seine drohende Faust vor Theobalds Stirn, und so war plötzlich eine sonderbare Gewißheit in ihm aufgegangen, daß Larkens für ihn verloren sei, daß er auf eine schreckliche Art geendigt habe. Er ertrug's nicht mehr, stand auf von seinem Sitze, und ging im Zimmer umher. Die süße Nähe Agnesens beklemmt ihn wunderbar, eine unerklärliche Angst befällt ihn, ihm ist, als wenn ihn diese reine Gegenwart mit stillem Vorwurf wie einen Fremden, Unwürdigen, ausstieße. Dies Zimmer, der Alte mit seiner [248] Tochter, die ganze Szene, die ihm ein Blitz des Gedankens im vollen überraschenden Kontraste mit der Vergangenheit aufreißt und erhellt, dünkt ihm auf einmal Duft und Traum zu sein, ja, wäre das, was er hier um sich her mit Augen sah, durch einen mächtigen Zauber urplötzlich vor ihm versunken und verschwunden, er hätte darin nur die natürliche Auflösung einer ungeheuren Illusion gesehen.

Glücklicherweise war die Aufmerksamkeit Agnesens während dieser heftigen Bewegung Theobalds völlig auf den Vater gespannt, der es liebte, mit seiner Tochter über politische Begebenheiten zu räsonieren und ihr Urteil daran zu prüfen und zu üben.

Unser Freund kam sich ganz verstoßen und verlassen vor, und wenn sein Blick auf das liebe Mädchen fiel, so schien sie ihm gar nicht mehr anzugehören, ihn niemals etwas angegangen zu haben.

Wie nun aber unser Herz, durch die Dazwischenkunft eines kleinen Umstandes sich von einem Äußersten zur natürlichen Empfindung geschwind umschwenken zu lassen, eine wohltätige Fertigkeit besitzt, so war, als nun die Türe aufging und unerwartet der gute alte Baron eintrat, unser Freund alsbald sich selbst zurückgegeben, und nicht die Erscheinung einer Gottheit hätte ihm wohler tun können. Mit ausgestreckten Armen eilt er auf ihn zu und liegt schluchzend, als ein Kind, am Halse des ehrwürdigen Mannes, dessen weißgelockten Scheitel er mit Küssen deckt. Auch bei den übrigen war Freude und Verwunderung groß; sie hatten den gnädigen Herrn noch hinter Berg und Tal gedacht, und er erzählte nun, wie ein Ungefähr ihn früher heimgeführt, wie man ihm gestern abend spät bei seiner Ankunft gesagt, daß der Maler angekommen, und wie er denn kaum habe erwarten können, denselben zu begrüßen.

Es macht bei solchen Veranlassungen eine besonders angenehme Empfindung, zu bemerken, wie Freunde, zumal ältere Personen, welche man geraume Zeit nicht gesehn, gewisse äußerliche Eigentümlichkeiten, gewohnte Liebhabereien, unverändert beibehielten; dies Beharren gewährt uns eine Art von Versicherung für unser eignes Dasein, denn indem wir in den Alten das Leben, das diese so eifrig festhalten, doppelt liebgewinnen, finden wir Jüngere uns zugleich in unsern Ansprüchen darauf und in einem herzhaften Genusse desselben bestärkt. So hatte der Baron bei diesem Besuche seinen gewohnten Morgenspaziergang, [249] den er seit vielen Jahren immer zur selben Stunde machte, im Aug, so stellte er sein Rohr noch wie sonst in die Ecke zwischen den Ofen und den Gewehrschrank, noch immer hatte er die unmodisch steifen Halsbinden, die an seine frühere militärische Haltung erinnerten, nicht abgeschafft. Aber zum peinlichen Mitleiden wird unsre frohe Rührung umgestimmt, wenn man wahrnehmen muß, daß dergleichen alles nur noch der Schein des frühern Zustandes ist, daß Alter und Gebrechlichkeit diesen überbliebenen Zeichen einer bessern Zeit widersprechen. Und so betrübte auch Nolten sich im stillen, da er den guten Mann genauer betrachtete. Er ging um vieles gebückter, sein faltiges Gesicht war bedeutend blässer und schmaler geworden, nur die wohlwollende Freundlichkeit seines Mundes und das geistreiche Feuer seiner Augen konnte diese Betrachtungen vergessen machen.

Während nun zwischen den vier Personen das Gespräch heiter und gefällig hin und her spielt, kann es bei aller äußern Unbefangenheit nicht fehlen, daß Nolten und der Baron durch Blick und Miene, noch mehr aber durch gewisse zufällige, unbeschreibliche Merkmale des Ideengangs sich einander unwillkürlich verraten, was jeder von beiden bei diesem Zusammentreffen besonders denken und empfinden mochte, und unser Freund glaubte den Baron vollkommen zu verstehen, als dieser mit ganz eignem Wohlgefallen und einer Art von Feierlichkeit seine Hand auf das schöne Haupt Agnesens legte, indem er einen Blick auf den Bräutigam hinüberlaufen ließ. Nolten fand einen Trost darin, daß er den heimlichen Vorwurf, das teure Geschöpf so tief verkannt zu haben, mit einem Manne teilen durfte, den er so sehr verehrte; ja es war diese Idee, wiewohl vielleicht nur dunkel, eben dasjenige gewesen, was ihm gleich bei des Barons Eintritt ins Zimmer die größte Last vom Herzen weggenommen. Der feine Greis mochte übrigens recht haben, jene verdeckte Zwiesprache der Gedanken sogleich abzuschneiden, indem er in allgemeinen heitern Umrissen von Theobalds Glück, wie es von unten herauf mit ihm verfahren, eine Darstellung machte, und man so auf die Jugendzeit Theobalds zu sprechen kam. Agnes inzwischen hatte sich in Geschäften entfernt.

»Man sagt mir noch auf den heutigen Tag ins Gesicht«, begann der Maler, »und selbst mein wertester Herr Papa gibt zuweilen zu verstehen, ich sei länger als billig ein Knabe geblieben. [250] Zu leugnen ist nun nicht, meine Streiche als Bursche von sechzehn Jahren sind um kein Haar besser gewesen, als eines Eilfjährigen, ja meine Liebhabereien sahen vielleicht bornierter aus, wenigstens hatten sie die praktische Bedeutung nicht, um derentwillen man diesem Alter manche Spiele, wären sie auch leidenschaftlich und zeitvergeudend, noch allenfalls verzeihen kann. Bei meiner Art sich zu unterhalten, wurde der Körper wenig geübt; Klettern, Springen, Voltigieren, Reiten und Schwimmen reizten mich kaum; meine Neigung ging auf die stilleren Beschäftigungen, öfters auf gewisse Kuriositäten und Sonderbarkeiten. Ich gab mich an irgendeinem beschränkten Winkel, wo ich gewiß sein konnte, von niemanden gefunden zu werden, an der Kirchhofmauer, oder auf dem obersten Boden des Hauses zwischen aufgeschütteten Saatfrüchten, oder im Freien unter einem herbstlichen Baume, gerne einer Beschaulichkeit hin, die man fromm hätte nennen können, wenn eine innige Richtung der Seele auf die Natur und die nächste Außenwelt in ihren kleinsten Erscheinungen diese Benennung verdiente denn daß ausdrücklich religiöse Gefühle dabei wirkten, wüßte ich nicht, ausgeschlossen waren sie auf keinen Fall. Ich unterhielt zuzeiten eine unbestimmte Wehmut bei mir, welche der Freude verwandt ist, und deren eigentümlichen Kreis, Geruchskreis möcht ich sagen, ich, wie den Ort, woran sie sich knüpfte, willkürlich betreten oder lassen konnte. Mit welchem unaussprechlichen Vergnügen konnte ich, wenn die andern im Hofe sich tummelten, oben an einer Dachlücke sitzen, mein Vesperbrot verzehren, eine neue Zeichnung ohne Musterblatt vornehmen! Dort nämlich ist ein Verschlag von Brettern, schmal und niedrig, wo mir die Sonne immer einen besondern Glanz, überhaupt ein ganz ander Wesen zu haben schien, auch konnte ich völlig Nacht machen, und (dies war die höchste Lust), während außen heller Tag, eine Kerze anzünden, die ich mir heimlich zu verschaffen und wohl zu verstecken wußte.« »Herr Gott, du namenlose Güte!« rief der Förster aus, »hätt ich und meine selige Frau damals gewußt, was für ein gefährlich Feuerspiel –« »So verging eine Stunde«, fuhr Nolten fort, der ungern unterbrochen war, »bis mich doch auch die Gesellschaft reizte, da ich denn ein Räuberfangspiel, das mich unter allen am meisten anzog, so lebhaft wie nur irgendeiner, mitmachte. Jüngere Kinder, darunter auch Agnes, hörten des Abends gern meine Märchen von dienstbaren Geistern, die mir mit Hülfe und Schrecken [251] jederzeit zu Gebote standen. Sie durften dabei an einer hölzernen Treppenwand zwei Astlöcher sehen, wo jene zarten Gesellen eingesperrt waren; das eine, vor das ich ein dunkles Läppchen genagelt hatte, verwahrte die bösen, ein anderes (oder das vielmehr keines war, denn der runde Knoten stak noch natürlich ins Holz geschlossen) die freundlichen Geister; wenn nun zu gewissen Tageszeiten eben die Sonne dahinter schien, so war der Pfropf vom schönsten Purpur brennend rot erleuchtet; diesen Eingang, solange die Rundung noch so glühend durchsichtig schien, konnten die luftigen Wesen gar leicht aus und ein durchschweben; unmittelbar dahinter dachte man sich in sehr verjüngtem Maßstab eine ziemlich weit verbreitete See mit lieblichen, duftigen Inseln. Nun war das eine Freude, die Kinder, die andächtig um mich herstanden, ein Köpfchen ums andre hinaufzulüpfen, um all die Pracht so nahe wie möglich zu sehn, und jedes glaubte in der schönen Glut die wunderbarsten Dinge zu entdecken; natürlich! hab ich's doch beinah selbst geglaubt! – Jedoch, es ist nicht schicklich, so lange von sich selbst zu reden, nur wenn Sie das Bekenntnis belustigen kann, Papa, so will ich gern gestehn, daß der alte Theobald noch jetzt zuweilen sich über einer Spur von diesen Kindereien ertappt.«

Der Förster schüttelte den Kopf und ließ nach seiner Gewohnheit, wenn ihn etwas sehr wunderte, ein langes »sss – t!« vernehmen. Der Baron dagegen hatte mit einem ununterbrochenen lieben Lächeln zugehört und sagte jetzt: »Ähnliche Dinge habe ich von andern teils gehört, teils gelesen, und alles, was Sie sagten, trifft mit der Vorstellung überein, die ich von Ihrer Individualität seit früh gehabt. Oberhaupt preis ich den jungen Menschen glücklich, der, ohne träge oder dumm zu sein, hinter seinen Jahren, wie man so spricht, weit zurückbleibt; er trägt gewöhnlich einen ungemeinen Keim in sich, der nur durch die Umstände glücklich entwickelt werden muß. Hier ist jede Absurdität Anfang und Äußerung einer edeln Kraft, und dieses Brüten, wobei man nichts herauskommen sieht, das kein Stück gibt, ist die rechte Sammelzeit des eigentlichen innern Menschen, der freilich eben nicht viel in die Welt ist. Ich kann es mir nicht reizend und rührend genug vorstellen, das stille gedämpfte Licht, worin dem Knaben dann die Welt noch schwebt, wo man geneigt ist, den gewöhnlichsten Gegenständen ein fremdes, oft unheimliches Gepräge aufzudrücken, und ein Geheimnis damit [252] zu verbinden, nur damit sie der Phantasie etwas bedeuten, wo hinter jedem sichtbaren Dinge, es sei dies, was es wolle – ein Holz, ein Stein, oder der Hahn und Knopf auf dem Turme – ein Unsichtbares, hinter jeder toten Sache ein geistig Etwas steckt, das sein eignes, in sich verborgnes Leben andächtig abgeschlossen hegt, wo alles Ausdruck, alles Physiognomie annimmt.«

»Nur werden Sie mir zugeben«, versetzte Nolten, »daß dergleichen Eigenheiten auch gefährlich werden können, wenn ich Ihnen den freilich nur sehr schwachen Anfang einer fixen Idee in einem Kindergemüt vortrage, einen Fall, den Sie wenigstens bei diesem Alter nicht gesucht haben würden. Ich rede von meiner Braut, von Agnesen. Da das gute Kind es nicht hört, so können wir offen davon sprechen; es ist zugleich ein Beweis, wie ein unheimlicher Hang bei ihrer übrigens so reinen und schönen Natur doch frühzeitig vorhanden war, und wie sehr man seit den Vorfällen vom vorigen Jahre Ursache haben mag, sich bei ihr in acht zu nehmen. Erzählen Sie's dem Herrn Baron, Vater, da ich's ja auch nur von Ihnen erfuhr, wissen Sie, die frühere Grille des Mädchens bei Gelegenheit als vom Auslande, von fremden Städten, die Rede war.«

»Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforstmeister, von Ihren Reisen zurückkamen, und die Gnade hatten, manchmal in meinem Hause davon zu erzählen. Dieser Herr, nachdenklich und ernsthaft, aber freundlich und gut gegen Kinder, machte auf das Mädchen einen besondern Eindruck, der ihr lange geblieben ist. Nun kommt sie einmal (die Gesellschaft war gerade weggegangen) von ihrem Sitz hinter dem Ofen, wo sie eine Zeitlang ganz still gesessen und gestrickt hatte, hervor, stellt sich vor mich hin, sieht mir scharf ins Gesicht und lacht mich an, wie über etwas das mir schon bewußt sein müßte, und dabei fährt sie mir mit der Stricknadel schalkhaft über die Stirn. Auf meine Frage, was dies zu bedeuten habe, gibt sie keine deutliche Antwort und geht wieder an ihren Platz. So treibt sie's zu verschiedenen Zeiten ein paarmal. Zuletzt ward ich doch ungeduldig und fuhr sie etwas hart an, da fiel sie in ein Weinen, indem sie sagte: ›Gesteht es nur Papa, daß es die Länder und Städte gar nicht gibt, von denen Ihr alls redet mit dem Herrn; ich merke wohl, man tut nur so, wenn ich um den Weg bin, ich soll wunder glauben, was alles vorgehe draußen in der Welt, und was doch [253] nicht ist; deswegen laßt Ihr mich auch nie weiter als bis nach Weil, nach Grebenheim und Neitze. Zwar daß unsers Königs Land sehr groß ist, und daß die Welt noch viel viel weiter geht auch noch andre Völker sind, weiß ich wohl, aber Paris, das ist gewiß kein Wort, und London, so gibt es keine Stadt; Ihr habt es nur erdacht und tut so bekannt damit, daß ich mir alles vorstellen soll.‹ – So ungefähr schwatzte das einfältige Ding; halb ärgert's mich, halb mußt ich lachen. Ich gab mir Mühe, ihr alles klar auseinanderzusetzen, wies ihr auch die Karten, die sie übrigens schon oft gesehen hatte; dabei lauschte sie immer auf meine Miene, und der kleinste Zug von Lachen brachte sie fast zur Verzweiflung. Nun, die Kaprice verlor sich bald, und als ich sie vor etlichen Jahren wieder dran erinnerte, lachte sie sich herzlich selber drüber aus, erklärte deutlicher, wie's ihr gewesen, und sagte – ich weiß nicht was alles.« »Kurz«, nahm Theobald das Wort, »es läuft darauf hinaus, daß sie sich als Mittelpunkt und Zweck einer großen Erziehungsanstalt betrachtete, die auf jene Weise allerlei lebhafte Ideen in des Kindes Kopfe habe in Umlauf setzen und seinen Gesichtskreis durch eine Täuschung erweitern wollen, deren Nutzen sie zu ahnen glaubte, doch nicht begriff. Sie vermutete, man wisse überall, wohin sie komme, wer ihr da und dort begegnen werde, und da seien alle Worte abgekartet, alles auf das sorgfältigste hinterlegt, damit sie auf keinen Widerspruch stoße. Übrigens hatte sich die Grille durchaus nicht so festgesetzt, daß sie nicht dazwischen hinein wieder längere Zeit ganz frei davon gewesen wäre, sie schien sich selbst nicht recht dabei zu trauen. Ich habe sie nie darüber fragen mögen.«

»Indessen«, sagte der Baron nach einigem Besinnen, »bei näherer Betrachtung zeigt sich doch, es gehört dieser skeptische Kasus, der allerdings höchst merkwürdig bleibt, nicht ganz in unser voriges Kapitel. Lassen Sie uns noch einen Augenblick zu jenem glücklichen Mystizism des Knabenalters zurückkehren! denn eigentlich sind es doch nur die Knaben, nicht aber die Mädchen, bei denen er sich findet. Das wollt ich noch sagen: denken Sie wohl, daß Subjekte von dieser angenehm phantastischen Komplexion – wozu ich überdies, was nicht notwendig dabeisein muß und bei den wenigsten ist, eine größere Portion Geist überhaupt zusetze – daß, sag ich, solche Individuen jedesmal zu Dichtern und Künstlern geboren sind? ich sollte nicht meinen.«

[254] »Keineswegs!« versetzte Nolten. »Ich habe mir bei einem Manne, der scheinbar nicht hieher gehört, bei Napoleon, einige geheime Eigenschaften gemerkt, welche sich sehr gut an gewisse Fädchen von Lichtenbergs eigenster Natur anknüpfen lassen; sie berühren zwar nicht eben das, wovon wir jetzo reden, aber sie hängen mit einer Gattung Aberglauben zusammen, der ein Grenznachbar aller Idiosynkrasien ist.«

»Napoleon!« rief der Baron aus, »als wenn nicht auch sein Aberglaube nur angenommene Maske wäre!«

»Machen Sie mir ihn nicht vollends zum seichten Verbrecher!« entgegnete Nolten. »Er war nüchtern überall, nur nicht in dem tiefsten Schachte seines Busens. Nehmen Sie ihm nicht vollends die einzige Religion, die er hatte, die Anbetung seiner selbst oder des Schicksals, das mit göttlicher Hand ihm einen Spiegel vorzuhalten schien, worin er sich und die Notwendigkeit seiner Taten erblickte.«

»Wir lassen das gut sein«, versetzte der Baron, »soweit ich Sie aber verstehe, haben Sie vollkommen recht. Das Schicksal verwendet die Kräfte, welche verschränkt in einem Menschen liegen können, gar mannigfaltig, und aus einer Mischung von Poesie, bald mit politischem Verstand, bald mit philosophischem Talent, mit mathematischem Sinn u.s.f., in einem und demselben Subjekte springen die wunderbarsten, die größten Resultate hervor, vor denen die Gelehrten gaffend und kopfschüttelnd stehn und wodurch das lahme Rad der Welt auf lange hinein wieder einen tüchtigen Schwung erhält. Da scheint denn die Natur vor unsern eingeschränkten Augen sich auf einmal selbst zu widersprechen, oder wenigstens zu übertreffen, sie tut aber keines von beiden. Zwei heterogen scheinende Kräfte können sich wunderbar einander stärken, und das Trefflichste hervorbringen. Doch ich verirre mich. – Ich wollte von Ihren kindischen Geständnissen aus nur auf den Punkt kommen, wo der Philister und der Künstler sich scheiden. Wenn dem letztern als Kind die Welt zur schönen Fabel ward, so wird sie's ihm in seinen glücklichsten Stunden auch noch als Mann sein, darum bleibt sie ihm von allen Seiten so neu, so lieblich befremdend.

Am meisten als Enthusiast hat Novalis (der mir übrigens dabei nicht ganz wohl macht) dieses ausgesprochen, soweit es den Dichter angeht –«

»Ganz recht!« fiel Nolten ein; »aber wenn dem wahren Dichter bei dieser besondern Anschauungsweise der Außenwelt jene [255] holde Befremdung durchaus eigen sein muß, selbst im Falle sie sich in seinen Produktionen nicht ausdrücklich verraten sollte so kann dagegen die Vorstellungsart des bildenden Künstlers ganz entfernt davon sein, ja sie ist es notwendig. Auch der Geist, in welchem die Griechen alles personifizierten, scheint mir völlig verschieden von demjenigen zu sein, was wir soeben besprechen. Ihre Phantasie ist mir hiefür viel zu frei, zu schön und, möcht ich sagen, viel zu wenig hypochondrisch. Ein Totes, Abgestorbenes, Fragmentarisches konnte in seiner Naturwesenheit nichts Inniges mehr für sie haben. Ich müßte mich sehr irren, oder man stößt hier wiederum auf den Unterschied von Antikem und Romantischem.«

Nun kam das Gespräch auf Theobalds neuste Arbeiten, und da es hierauf abermals eine gewisse allgemeine Wendung nehmen wollte, sagte der Baron, indem er auf die Uhr sahe: »Damit wir nun aber nicht unversehens in den unfruchtbarsten aller Dispute hineingeraten, denn wir sind auf dem Wege, was nämlich stärkender sei, ionische Luft einzuatmen, oder den süßesten Himmel, wo er den Umriß einer Madonnawange berührt, so entlassen Sie mich, damit ich meinen gewohnten Marsch antrete. Auf den Abend hoffe ich Sie bei mir zu sehn, und Sie sagen mir dann mehr von Ihrem angefangenen Narziß.« Da Nolten wußte, daß der alte Herr morgens gerne allein auf seinen Gütern herumging, so drang er seine Begleitung nicht auf. Er bat Agnesen zu einem Gang ins Gärtchen; sie befahl der Magd einige Geschäfte, ging in ihre Kammer, ein Halstuch zu holen, und Theobald folgte ihr dahin.

»Hier sieh auch einen Mädchenkram!« sagt sie, indem sie die Schublade herauszieht, wo eine Menge Kästchen, Schächtelchen, allerlei bescheidner Schmuck bunt und nett beieinanderlag. Sie nahm ein rotes Schatullchen auf, drückte es an die Brust, legte die Wange darauf und sah Theobalden zärtlich an: »Deine Briefe sind's! mein bestes Gut! Einmal hast du mich diesen Trost lange entbehren lassen, und dann, als du gefangen warst, wieder; aber gewiß, ich habe mich nicht zu beklagen.« Unserm Freund ging ein Stich durchs Herz und er erwiderte nichts.

»Dein neuestes Geschenk« (es war eine kleine Uhr), »siehst du«, fuhr sie fort, indem sie eine zweite Schublade zog, »soll hier seinen Platz nehmen, es gehört ihm eine vornehme Nachbarschaft. Aber, Seele! was hast du damals gedacht? Das ist der Putz für eine Gräfin, nicht für unsereine!« (Sie zeigte einen [256] geschmackvollen Spenzer von dunkelgrünem Sammet, reich mit goldnen Knöpfchen und zarten Ketten, statt der Litzen, besetzt; Larkens hatte ihr das Maß auf eine feine Weise abzulisten gewußt, und so das Kleidungsstück ganz fertig gesendet.) Theobald stand geblendet, vernichtet von der Großmut seines Freundes. Er spielte in Gedanken mit einem Strauß italienischer Blumen, ohne zu merken, wie jämmerlich seine Finger ihn zerknitterten; Agnes zog ihm das Bouquet sachte aus der Hand: er lächelte, die Tränen standen ihm näher. Das Kollier der Gräfin fiel ihm ein; er wagte immer noch nicht, damit hervorzurücken. Wie alles, alles ihn verletzte, quälte, entzückte! ja selbst der reizende Duft, der den Putzschränken der Mädchen so eigen zu sein pflegt, schien ihm auf einmal den Atem zu erschweren; es war Zeit, daß er sich losmachte und auf sein Zimmer ging, wo er sich elend auf den Boden warf, und allen verdrungenen Schmerzen Tür und Tor willig eröffnete.

In kurzem klopft Agnes außen: er kann nicht aufschließen, er darf sich in diesem Zustand nicht vor ihr sehen lassen. »Ich kleide mich an, mein Kind!« ruft er, und leise geht sie wieder den Gang zurück.

Nach einer Weile, da er sich gefaßt hatte, kam der Vater. »Auf ein Wort!« sagte er, als sie allein waren, »das wunderliche Ding, das Mädchen, jetzt geht es ihr im Kopf herum, sie hätte Ihnen vorhin spielen sollen; sie fürchtet sich davor und wird sich fürchten, bis es einmal überwunden ist; nun fiel's ihr ein, sie wolle sich geschwinde entschließen« – »Nur jetzt nicht!« rief Nolten, »ich bitte Sie um Gottes willen, Papa, nur diesen Morgen nicht!« »Warum denn?« versetzte der Alte, in der Meinung, Theobald wolle nur das Mädchen geschont wissen, »wir müssen den Augenblick ergreifen, sonst machen wir sie stutzig; sie ist ganz guten Muts: ich riet ihr, zugleich in dem neuen Anzug zu erscheinen und Sie zu überraschen, das schien ihr die Aufgabe zu erleichtern, denn sie kann sich einbilden, das wäre nun die Hauptsache. Lassen Sie's zu diesmal! Sie wird gleich fertig sein und Sie kommen dann hinüber.« So mußte Nolten nachgeben, der Alte ging und rief ihn in kurzem.

Da stand sie nun wirklich! glänzend, schön, einer jungen Fürstin zu vergleichen. Innig verwundert und erfreut ward Theobald durch den Anblick. Es war ihm so fremd, sie so geschmückt zu sehen, und doch schien ein solcher Anzug ihrer einzig würdig zu sein. Ein weißes Kleid stand gar gut zu dem prächtigen[257] Spenzer und einige Blumen zierten das Haar. Wie lebhaft empfängt er die Verschämte in seinen Arm! wie selig blickt sie ihm in die Augen!

»Nun aber lache mich nicht aus!« sprach sie, während sie sich nach der Mandoline umsah und man sich setzte. »Ich will dir erzählen, wie es eigentlich zuging, daß ich's lernte. Ich habe dich einmal, weißt du noch? an dem Abend, wo wir die Johanniskäfer in das gläserne Körbchen sammelten, da hab ich dich von ungefähr gefragt, ob es dir nicht leid wäre, daß ich so gar nichts von den hübschen Künsten verstehe, die dir so wert und wichtig sind, nicht auch ein bißchen von Musik oder eine Blume hübsch zu malen oder dergleichen, was wohl andre Mädchen können. Du sagtest: das vermissest du an deiner Braut gar nicht. Ich glaubt's auch, wie ich dir denn alles glaube, und dankte dir im Herzen für deine Liebe. Weiter sagtest du dann: die paar Jägerliedchen, die ich zuweilen sänge, die wären dir lieber als alles. Zwei Tage darauf kamen wir nach Tisch ins Pfarrhaus zu Besuch. Die älteste Tochter spielte den Flügel, und so schön, daß wir uns kaum satt hörten, du besonders. Aber eins hat mich damals verdrossen, an der jüngern, an Augusten. Du mußt dich erinnern. Lisette war kaum aufgestanden vom Klavier, so fordert die Schwester mich auf, meine Stimme auch hören zu lassen, ich ahnte nichts Unfeins von dem Mädchen und fing das nächste beste an. Aber auf einmal werd ich befangen und rot, denn Auguste hält sich ein Notenpapier vor den Mund, ihr Lachen zu verbergen; der Ton zitterte mir in der Kehle, und wie ich mich wenigstens zum letzten Verse noch ermannen will, guckt Auguste spottend durch die Rolle wie durch ein Fernrohr auf mich, daß ich vollends konfus ward und mit kleiner Stimme kaum noch zum Ende schwankte. Indes ihr andern weiter spieltet und sangt, hatt ich am Fenster genug zu tun und zu wischen mit Weinen. Später, du warst schon fort, fing mich der Vorfall an zu wurmen; ich hätte gern auch etwas gegolten, ich grämte mich innig um deinetwillen; überdem kam meine Krankheit; ich glaube noch bis auf die Stunde, ich wäre schneller genesen, hätt ich mir mit Musik manchmal die Zeit vertreiben können; indessen ging's gottlob auch so vorüber. Um diese Zeit besuchte uns der Vetter zuweilen aus der Stadt und« – (sie stockte und streifte verlegen über das Instrument hin) »nun, also dieser lehrte mich's.«

»Eins von den lustigen zuerst!« fiel der Vater, schnell zu [258] Hülfe kommend, ein. Rasch und herzhaft fing sie nun an, mit einer Stimme, die kräftig und zart, sich doch stets lieber in die Tiefe als in die Höhe bewegte. Ihr Gesang wurde nach und nach immer einschmeichelnder, immer kecker. »Der Herr darf mich wohl ansehn!« sagte sie einmal dazwischen zu Theobald hinüber, der ihren Anblick bisher vermieden hatte. Er zeigte, als das Lied geendigt war, auf ein anderes in ihrem Notenhefte, »der Jäger« überschrieben, dessen Text ihm gefiel, und obwohl es Agnesen nicht ebenso ging, stimmte sie doch sogleich damit an.


»Drei Tage Regen fort und fort,
Kein Sonnenschein zur Stunde,
Drei Tage lang kein gutes Wort
Aus meiner Liebsten Munde!
Sie trutzt mit mir und ich mit ihr,
So hat sie's haben wollen;
Mir aber nagt's am Herzen hier,
Das Schmollen und das Grollen.
Willkommen denn, des Jägers Lust,
Gewittersturm und Regen!
Fest zugeknöpft die heiße Brust,
Und jauchzend euch entgegen!
Nun sitzt sie wohl daheim und lacht,
Und scherzt mit den Geschwistern;
Ich höre in des Waldes Nacht
Die alten Blätter flüstern.
Nun sitzt sie wohl und weinet laut
Im Kämmerlein, in Sorgen;
Mir ist es wie dem Wilde traut,
In Finsternis geborgen.
Kein Hirsch und Rehlein überall!
Ein Schuß zum Zeitvertreibe!
Gesunder Knall und Widerhall
Erfrischt das Mark im Leibe –
[259]
Doch wie der Donner nun verhallt
In Tälern in die Runde,
Ein plötzlich Weh mich überwallt,
Mir sinkt das Herz zugrunde.
Sie trutzt mit mir und ich mit ihr,
So hat sie's haben wollen,
Mir aber frißt's das Herze schier
Das Schmollen und das Grollen.
– Und auf! und nach der Liebsten Haus!
Und sie gefaßt ums Mieder!
Drück mir die nassen Locken aus,
Und küß und hab mich wieder!«

Beide Männer klatschten lauten Beifall. Sie wollte aufstehn. »Aller guten Dinge – weißt du?« rief der Alte, »noch eines!« Also blätterte sie abermals im Heft, unschlüssig, keines war ihr recht; über dem Suchen und Wählen war der Vater aus der Stube gegangen; sie klappte das Buch zu und sprach mit Theobalden, während sie hin und wieder einen Akkord griff. Auf einmal fiel sie in ein Vorspiel ein, bedeutender als alle frühern; es drückte die tiefste rührendste Klage aus. Agnesens Blick ruhte ernst, wie unter abwesenden Gedanken, auf Nolten, bis sie sanft anhob zu singen.

Wir teilen das kleine Lied noch mit, und denken, der Leser werde sich aus den einfachen Versen vielleicht einen entfernten Begriff von der Musik machen können, besonders aus dem zweiten Refrain, bei welchem die Melodie jedesmal eine unbeschreibliche Wendung nahm, die alles herauszusagen schien, was irgend von Schmerz und Wehmut sich in dem Busen eines unglücklichen Geschöpfs verbergen kann.


Rosenzeit! wie schnell vorbei,
Schnell vorbei,
Bist du doch gegangen!
Wär mein Lieb nur blieben treu,
Blieben treu,
Sollte mir nicht bangen.
In der Ernte wohlgemut
Wohlgemut,
[260]
Schnitterinnen singen;
Aber ach, mir kranken Blut,
Mir kranken Blut,
Will nichts mehr gelingen.
Schleiche so durchs Wiesental,
So durchs Tal,
Als im Traum verloren
Nach dem Berg, da tausendmal,
Tausendmal,
Er mir Treu geschworen.
Oben auf des Hügels Rand,
Abgewandt
Wein ich bei der Linde:
An dem Hut mein Rosenband,
Von seiner Hand,
Spielet in dem Winde.

Agnesen hatte der Ton zuletzt vor Bewegung fast versagt; jetzt warf sie das Instrument weg und stürzte heftig an die Brust des Geliebten. »Treu! Treu!« stammelte sie unter unendlichen Tränen, indem ihr ganzer Leib zuckte und zitterte, »du bist mir's, ich bin dir's geblieben!« – »Ich bleibe dir's!« mehr konnte Theobald, mehr durfte er nicht sagen.


An einem der folgenden schönen Tage wollte man den schon mehrmals zur Sprache gekommenen Ausflug nach Halmedorf zu den jungen Pfarrleutchen machen, denen man sich bereits hatte ansagen lassen. Die beiden alten Herren, der Förster und der Baron, versprachen im Wagen des letztern zu fahren; denn immerhin war es drei Stunden dahin. Die Jugend, nämlich unser Paar, ein Sohn und zwei Töchter des Pastors, welche man trotz einigen Einwendungen Noltens zuletzt auf Agnesens beharrliche Vorstellungen hinzubitten müssen, diese wollten zu Fuße gehn; die eine Partie sollte morgens bei guter Tageszeit sich auf den Weg machen, die Fahrenden erst nach Tische. Leider aber war der Baron indessen bedeutend unpaß geworden, er mußte, was in langer Zeit nicht erhört worden, das Bett hüten, die Reise hatte ihm zugesetzt, wie er nun selber eingestand. Also beschloß auch der Förster zurückzubleiben, dem verehrten Freunde zur Gesellschaft.

[261] So wanderte denn der kleine Zug und gelangte bald aus dem Tälchen auf die fruchtbare höher gelegene Ebene, die sich abermals um ein weniges senkte, wo ihnen denn der reinliche, etwas steil heraufgebaute Ort entgegensah. Lange zuvor hatte man den Hügel vor sich, der unter dem Namen Geigenspiel bekannt, an seinem Fuße unbedeutend anzusehn, oben mit einer außerordentlichen Aussicht überrascht.

»Schön! schön! das heiß ich doch die Stunde eingehalten!« rief der Pfarrer, der sie hatte kommen sehen und bis an die nächsten Äcker entgegengegangen war. »Seht da, mein Dachs will den Gruß vor mir wegschnappen! Der Narre kennt dich noch von vier Jahren her; aber sein Herr fürwahr hätte dich bald nicht wiedererkannt – Komm an mein Herz, alter Kamerad! Ad pectus manum, sagte der Rektor, wenn wir gelogen hatten: manum ad pectus, ich liebe dich und habe nicht gelogen. O ich möchte schreien, daß die Berge aufhüpften, möcht alle Glocken zusammenläuten lassen, durchs ganze Ort möcht ich posaunen und duten, wäre ich just nicht der Seelenhirt, der sich im Respekt erhalten muß, sondern ein anderer.«

In diesem Tone fuhr Amandus fort, eins nach dem andern zu salutieren, und noch als man bereits vor dem Pfarrhause stand, war er nicht fertig. Jetzt sprang, so leicht und zierlich wie ein achtzehnjähriges Mädchen unter der Haube, die Pastorin entgegen, aber auch sie konnte über dem Mutwillen ihres Manns nicht zum Worte kommen. Mit Jubel betritt man endlich die Stube, die hell und neu, recht eigentlich ein Bild ihrer Bewohner darstellte. Kaum über die Schwelle getreten, kann man sogleich bemerken, wie der Pfarrer in eiliger Verlegenheit einen grünen Uniformrock, der an der Wand hing, zu entfernen sucht; er bleibt jedoch, da er seine Absicht verraten sieht, mitten auf dem Wege stehn: »Daß dich!« rief er, gegen Nolten gewendet – »nun Freundchen, ist mir's herzlich leid, da du eine Heimlichkeit doch einmal gewittert hast, so will ich lieber gar mit der sonderbaren Geschichte herausrücken.« (Er zupfte heimlich seine Frau und fuhr mit verstelltem Ernst und vieler Gutmütigkeit fort.) »Seit gestern haben wir einen fremden Offizier einen Obrist, im Hause, der eigentlich bloßdich hier erwartet, er ist nur eben ausgeritten, wird aber nicht bis Abend ausbleiben. Er langte gestern spät hier an, und weil wir kein anständiges Wirtshaus im Dorf haben, lud er sich auf das höflichste bei mir zu Gaste, das mir denn um so größere Ehre war, als ich [262] einen Freund von dir in ihm vermutete. Allein ich merkte bald, daß es mit der Freundschaft nicht so recht sein müsse; er nannte deinen Namen kaum, und verstummte nachdenklich, beinahe finster, wenn ich von dir anfing; im übrigen zeigte sein Gespräch viel Welterfahrung und alle die Anmut, die man bei gebildeten Militärs zuweilen findet. Meine Frau zwar gab mir gleich bei seinem Empfang nicht undeutlich zu verstehen, er habe ihr so ein visage de contrebande, und in der Tat, ich weiß nicht – das Geheimnisvolle in Beziehung auf dich – er könnte – wenn er dir nur nichts anhaben will –«

»Wie heißt er denn?«

»Ja, gehorsamer Diener, das hat er mir nicht gesagt.«

»Woher denn? in welchen Diensten?« fragte Nolten dringender und nicht ohne einige Bewegung, denn augenblicklich, er wußte nicht warum, fiel ihm ein Bruder Constanzens ein, der noch in der letzten Zeit von des Malers Aufenthalt in jener Residenz, bei der Gräfin zu Besuch gewesen sein sollte. Er selbst hatte ihn nicht gesehn und konnte die Schilderung, welche Amandus von dem Fremden machte, auch sonst mit niemandem vergleichen. Die Heimat des Gastes indessen, wie der Pfarrer sie zufällig angab, widersprach jener besorglichen Vermutung nicht. – »Gern«, fuhr Amandus fort, »hätt ich dir das Abenteuer noch verschwiegen, das einmal doch nichts Angenehmes verspricht; es wäre Nachmittag noch Zeit gewesen, und die Delikatesse des Fremden, daß er uns unser erstes Beisammensein über Tisch nicht stören wollte, war in der Tat zu loben, er gab mir diese freundliche Absicht beim Wegreiten sehr deutlich zu verstehn. Nun freilich wär's fast besser, er wäre gleich zugegen und du dieser verteufelten Ungewißheit überhoben. Höre, wenn es am Ende nur keine odiöse Ehrensache ist! Du weißt, die Herren Offiziers – Du hast doch keine Händel gehabt?« »Ich wüßte doch nicht«, sagte Nolten und ging einigemal still die Stube auf und ab.

Indessen war die Pfarrerin sachte mit der Uniform in die Kammer gegangen. Auf einmal tat sich die Tür weit auf, ein hoher schöner Mann trat heraus und lag blitzschnell in Theobalds Armen. Es war kein anderer Mensch, als sein getreuer Schwager S., der Gatte Adelheids, die wir ja schon als Mädchen kennenlernten. »Der Tausend!« rief der Pfarrer, während alles der herzlichsten Umarmung zusah, »so ganz feindselig, wie ich dachte, so auf Leben und Tod ist die Rencontre nun doch nicht, [263] es wäre denn, sie brächen sich einander vor Liebe die Hälse. Nun! hab ich es nicht schön gemacht? Sorge voraus, Freud gleich hinterdrein, wird erst ein wahrer Jubel sein. – Also« (brummte er für sich in den Bart) »das wäre Numero 1.« Seine Schalkheit ward jetzt wacker gescholten. Doppelt und dreifach mußte Nolten erstaunen, denn S. war, seitdem sie sich nicht mehr gesehen, zum Obristen avanciert, deswegen jener auch aus der Uniform nicht klug werden konnte. Triumphierend erzählte der Pfarrer, wie er, nachdem die Nachricht von Theobalds Ankunft in Neuburg bei ihm eingelaufen, sogleich den herrlichen Einfall gehabt, den Schwager, den er in Geschäften für sein Regiment nur auf fünf Stunden in der Nähe gewußt, durch eine Staffette herbeizukriegen.

Aufs fröhlichste speiste man gleich zu Mittag. Es war eine ansehnliche Tafel. Sohn und Töchter des Neuburger Pastors saßen halb bänglich, halb entzückt in einem für sie so neuen Freudenkreise trefflicher Menschen. Unser Maler, zwischen Agnes und den Schwager gesetzt, wollte die Hände der beiden gar nicht aus den seinigen lassen, er fühlte seit langer Zeit einmal wieder alles Drückende und Schwere rein von sich abgetan und ein übers andre Mal traten ihm die Augen über.

An dem Pfarrer wurde nach und nach eine prickelnde Unmüßigkeit sichtbar; er entfernte sich öfters, gab vor der Tür geheime Befehle und sah mit Vergnügen die letzte Schüssel auftragen. Eh man zum Nachtisch kam, stand er auf und sagte: »Es beginne nun die Symphonie zum zweiten Aktus, mit etwelchem Gläsergeklingel, wenn's beliebt. Sofort erhebe sich eine werte Gesellschaft, greife nach Hüten und Sonnenschirmen und verfüge sich allgemach aus meinem Hause, woselbst für jetzt nichts mehr abgereicht wird. Zuvor aber richten Sie gefälligst noch die Blicke hier nach dem Fenster und bemerken dort drüben den sonnigen Gipfel.« Man erblickte auf einem vor dem Walde gelegenen Hügel, den wir schon als das Geigenspiel bezeichnet haben, ein großes linnenes Schirmdach mit bunter Flagge aufgerichtet, das einen runden weißgedeckten Tisch zu beschatten schien. Die dichten Laubgewinde, die an fünf Seiten des Schirms herunterliefen, gaben dem Ganzen das Ansehn eines leichten Pavillons. Amandus hatte diese bewegliche Einrichtung schon seit einiger Zeit für die jährlichen Kinderfeste sowie zur Bequemlichkeit der Fremden machen lassen, weil die daneben stehende Linde dem Platze mehr Zierde als Kühlung [264] verlieh. – Die Gesellschaft kam außer sich vor Freude; man machte sich auch unverzüglich auf den Weg, denn jedes sehnte sich, sein glückliches Gefühl in freiester Weite noch leichter auszulassen. Die Jüngern waren schon vorausgegangen.

Unterwegs wurden Nolten und die Braut nicht satt, sich von Adelheiden erzählen zu lassen. Wir wissen die fast mehr als brüderliche Neigung, welche den Maler an die Schwester band, deren stille Tiefe sich, wie behauptet wird und wir gern glauben mögen, in zwischen zu einem höchst liebenswerten und seltenen Charakter entwickelt und befestigt hatte; zum wenigsten fand Agnes nach ihrer demütig liebevollen Weise sogleich im stillen ein Musterbild der echten Frauen in dieser Schwägerin für sich aus, obgleich sich beide nur erst einmal gesehen hatten. Jetzt gedachte man der Entfernten mit desto innigerer Rührung, da man gleich anfangs gehört, sie sei vor kurzem zum ersten Male Mutter, und eine höchst beglückte, geworden. – Noch sagen wir bei dieser Gelegenheit, daß eine ältere Schwester, Ernestine, auch längst verheiratet war, jedoch, soviel man wissen wollte, nicht sehr zufrieden, da sie auch in der Tat nicht geschaffen schien, einen Mann für immer zu fesseln. Die Jüngste, Nantchen, stand eben in der schönsten Jugendblüte und lebte bei einer Tante.

Man kam an einem Tannengehölze vorüber, das Reiherwäldchen genannt, dessen Echo berühmt war. Der Pfarrer rief, mit den gehörigen Pausen, hinein:


»Frau Adelheid,
Zu dieser Zeit
In ihrem Bettlein reine,
Muß ferne sein,
Muß ferne sein,
Doch ist sie nicht alleine.
Herr Storch hat ihr Besuch gemacht,
Darob ihr süßes Herze lacht,
Ob auch das Bürschlein greine.
– Frau Echo, sprich,
Noch weiß ich nicht:
Was herzet denn das Liebchen,
Ein Mädchen oder Bübchen?«
»Büb;gsl;chen!«

[265] In kurzem befand man sich auf dem Berg, tief atemholend und erstaunt über die unbegrenzte Aussicht. »Bei Frauenzimmern«, fing Amandus an, »wenn sie den letzten herben Schritt überwunden haben und jetzt sich umsehn, unterscheide ich jedesmal zweierlei Gattungen Seufzer. Der eine ist ganz gemein materieller Natur, kein Lüftchen ist imstand, ihn von der Rosenlippe aufzunehmen und über die glänzende Gegend selig hinwegzutragen, sondern sogleich fällt er plump, schwer zu Boden, prosaisch wie das Schnupftuch, womit man sich die Stirn abtrocknet. Billig sollten die Schönen sich seiner ganz enthalten, ihn wenigstens unterdrücken, denn gewissermaßen muß er den Wirt beleidigen, den Cicerone der Gesellschaft, der alle diese Herrlichkeit mit Enthusiasmus wie sein Eigentum vorzeigt und nicht begreifen kann, wie man in solchem Augenblicke nur noch das mindeste Gefühl von der armseligen Mühe haben kann, womit man sich so einen Anblick erkaufte. Ja, Damen hab ich gesehen, die gaben sich Mühe, diesen Seufzer recht reizend schwindsüchtig und ätherisch hervorzubringen, und ein mitleidflehendes Gesicht zu machen, als würde gleich die Ohnmacht kommen. Man enthält sich kaum dabei recht schmachtend zu fragen: Ist Ihnen nicht ein Schluck Affenthaler gefällig, Fräulein, oder dergleichen? Kurz also, wenn jene erste Gattung nichts weiter sagen will als: Gottlob, dies wäre überstanden! so ist dagegen die zweite« – Er hatte noch nicht ausgeredet, so kam erst Agnes, bis jetzt von niemand eigentlich vermißt, mit einem Kinde des Pfarrers, das nicht mehr hatte fortquackeln können und das sie sich auf den Rücken geladen, den steilen Rand von der Seite heraufgeklommen; sie setzte atemlos das Kind auf die Erde und ein »Gottlob!« entfuhr ihr halblaut. Bei diesem Wort sah man sich um, ein allgemeines Gelächter war unwiderstehlich, aber auch rührender konnte nichts sein, als die erschrocken fragende Miene des lieben Mädchens. Herzlich umarmte und küßte sie Amandus, indem er rief: »Diesmal, wahrhaftig, ist Marthas Mühe schöner als selbst das eine, das hier oben not ist.«

Welch ein Genuß nun aber, sich mit durstigem Auge in dieses Glanzmeer der Landschaft hinunterzustürzen, das Violett der fernsten Berge einzuschlürfen, dann wieder über die nächsten Ortschaften, Wälder und Felder, Landstraßen und Wasser, in unerschöpflichen Wechsel von Linien und Farben, hinzugleiten!

Hier schaute, gar nicht allzuweit entfernt, eine langgedehnte [266] Albtraufe ernsthaft und groß herüber 2; sie verschloß beinah die ganze Ostseite, Berg hinter Berg verschiebend und ineinanderwickelnd, so doch, daß man zuweilen ein ganz entlegnes Tal, wie es stellenweise von der Sonne beschienen war, mit oder ohne Fernrohr erspähen und sich einander freudig zeigen konnte. Besonders lang verweilte Agnes auf den Falten der vorderen Gebirgsseite, worein der schwüle Dunst des Mittags sich so reizend lagerte, die ahnungsvolle Beleuchtung mit vorrückendem Abend immer verändernd, bald dunkel, bald stahlblau, bald licht, bald schwarzlich anzusehn. Es schienen Nebelgeister in jenen feuchtwarmen Gründen irgendein goldenes Geheimnis zu hüten. Eine bedeutende Ruine krönte die lange Kette des Gebirgs und selbst durch einen schwächern Tubus glaubte man ihre Mauern mit Händen greifen zu können, dagegen ganz hinten in der Ferne vom Rehstock nur der Abfall des Waldrückens sichtbar war, auf dem er ruhen mußte.

Indes war von gar muntern Händen ein Feuer zwischen Steinen angemacht worden, der Kaffee fing an zu sieden, die Tassen klirrten, und der Pfarrer gebot ein allgemeines Niedersitzen; niemand aber wollte sich noch des schönen Zeltes bedienen, welches bis jetzt nur für eine Art Speiseküche galt; man saß in willkürlichen Gruppen auf dem Boden umher, ein jedes ließ sich schmecken was ihm beliebte, nur rückte man etwas näher zusammen, als Amandus folgendermaßen das Wort nahm:

»Es darf, meine Lieben, der schöne Platz, worauf wir gegenwärtig ruhen, nicht leicht besucht werden, ohne daß man das Andenken des Helden erneuert, dem er seinen Namen verdankt. Gewiß ist keines von Ihnen völlig unbekannt mit der merkwürdigen Sage, aber die wenigsten hatten wohl Gelegenheit sich aus den verschiedenen, zum Teil einander scheinbar widersprechenden Erzählungen des Volks, ein vollständiges Bild von dem Charakter des wundersamen Wesens zu machen, von welchem hier die Rede ist; es kann also niemanden unangenehm sein, jetzt eine genauere Schilderung zu hören, wobei ich mir weniger angelegen sein lassen will, alle einzelnen Geschichten und Anekdoten anzubringen, als vielmehr nur die Hauptzüge anschaulich [267] zu machen. Vielleicht kann ich dadurch Freund Nolten veranlassen, meinen seltsamen Geiger zum Gegenstand einer malerischen Komposition zu nehmen, ein lang von mir gehegter Wunsch, den er mir einmal feierlich zugesagt und noch bis heut nicht erfüllt hat. Sie, lieber Oberst, werden mich in meiner Bitte gewiß kräftig unterstützen, da Sie sich selbst für die poetische Figur des Spielmanus so lebhaft interessieren und noch heute sich emsig um die Vervollständigung seiner Geschichte bekümmert haben. Ei, eben recht, daß mir das beifällt; Sie sollen auch jetzt zuerst die Ehre haben und die Ergebnisse Ihrer staubigen Forschungen uns in einem lebendigen und heiteren Gemälde vorlegen, ich aber will etwa nachhelfen, wo Sie eine Lücke lassen sollten.« Der Oberst ließ sich nicht lang bitten und die Gesellschaft merkte wacker auf.

»In dieser Gegend soll vor alters gar häufig ein Räuber, Marmetin, sein Wesen getrieben haben, den jedermann unter dem Namen Jung Volker kannte. Räuber sag ich? Behüte Gott, daß ich ihm diesen abscheulichen Namen gebe, dem Lieblinge des Glücks, dem lustigsten aller Waghälse, Abenteurer und Schelme, die sich jemals von fremder Leute Hab und Gut gefüttert haben. Wahr ist's, er stand an der Spitze von etwa siebenzehn bis zwanzig Kerls, die der Schrecken aller reichen Knicker waren. Aber, beim Himmel, die pedantische Göttin der Gerechtigkeit selbst mußte, dünkt mich, mit wohlgefälligem Lächeln zusehn, wie das verrufenste Gewerbe unter dieses Volkers Händen einen Schein von Liebenswürdigkeit gewann. Der Prasser, der übermütige Edelmann und ehrlose Vasallen waren nicht sicher vor meinem Helden und seiner verwegenen Bande, aber dem Bauern füllte er Küchen und Ställe. Voll körperlicher Anmut, tapfer, besonnen, leutselig und doch rätselhaft in allen Stücken, galt er bei seinen Gesellen fast für ein überirdisches Wesen, und sein durchdringender Blick mäßigte ihr Benehmen bis zur Bescheidenheit herunter. Wär ich damals im Lande Herzog gewesen, wer weiß, ob ich ihn nicht geduldet, nicht ein Auge zugedrückt hätte gegen seine Hantierung. Es war, als führte er seine Leute nur zu fröhlichen Kampfspielen an. Seht, hier dieser herrliche Hügel war sein Lieblingsplatz, wo er ausruhte, wenn er einen guten Fang getan hatte; und wie er denn immer eine besondere Passion für gewisse Gegenden hegte, so gängelt' er seine Truppe richtig alle Jahr, wenn's Frühling ward, in dies Revier, damit er den ferndigen Gukuk wieder höre an demselben [268] Ort. Ein Spielmann war er wie keiner, und zwar nicht etwa auf der Zither oder dergleichen, nein, eine alte abgemagerte Geige war sein Instrument. Da saß er nun, indes die andern sich im Wald, in der Schenke des Dorfs zerstreuten, allein auf dieser Höhe unterm lieben Firmament, musizierte den vier Winden vor und drehte sich wie eine Wetterfahne aufm Absatz herum, die Welt und ihren Segen musternd. Der Hügel heißt daher noch heutzutag das Geigenspiel, auch wohl des Geigers Bühl. – Und dann, wenn er zu Pferde saß, mit den hundertfarbigen Bändern auf dem Hute und an der Brust, immer geputzt wie eine Schäfersbraut, wie reizend mag er ausgesehn haben! Ein Paradiesvogel unter einer Herde wilder Raben. Etwas eitel denk ich mir ihn gern, aber auf die Mädchen wenigstens ging sein Absehn nicht; diese Leidenschaft blieb ihm fremd sein ganzes Leben; er sah die schönen Kinder nur so wie märchenhafte Wesen an, im Vorübergehn, wie man ausländische Vögel sieht im Käfig. Keine Art von Sorge kam ihm bei; es war, als spielt' er mit den Stunden seines Tages wie er wohl zuweilen gerne mit bunten Bällen spielte, die er, mit flachen Händen schlagend, nach der Musik harmonisch in der Luft auf und nieder steigen ließ. Sein Inneres bespiegelte die Welt wie die Sonne einen Becher goldnen Weines. Mitten selbst in der Gefahr pflegte er zu scherzen und hatte doch sein Auge allerorten; ja, wäre er bei einem Löwenhetzen gewesen, wo es drunter und drüber geht, ich glaube, er hätte mit der einen Faust das reißende Tier bekämpft und mit der Linken den Sperling geschossen, der ihm just überm Haupt wegflog. Hundert Geschichtchen hat man von seiner Freigebigkeit. So begegnet er einmal einem armen Bäuerlein, das, ihn erblickend, plötzlich Reif aus nimmt. Den Hauptmann jammert des Mannes, ihn verdrießt die schlimme Meinung, die man von ihm zu haben scheint, er holt den Fliehenden alsbald mit seinem schnellen Rosse ein, bringt ihn mit freundlichen Worten zum Stehen und wundert sich, daß der Alte in der strengsten Kälte mit unbedecktem Kahlkopf ging. Dann sprach er: ›Vor dem Kaiser nimmt Volker den Hut nicht ab, jedoch dem Armen kann er ihn schenken!‹ Damit reicht er ihm den reichbebänderten Filz vom Pferde herunter, nur eine hohe Reiherfeder machte er zuvor los und steckte sie in den Koller, weil er diese um alles nicht missen wollte; man sagt, sie habe eine zauberische Eigenschaft besessen, den der sie trug in allerlei Fährlichkeit zu schützen.[269] – Jetzt käme ich auf Volkers Frömmigkeit und wunderliche Bekehrung, da dies aber eine Art von Legende ist, so wird sie sich am besten im Munde Seiner Hochehrwürden geziemen.«

»Ich zweifle nur«, erwiderte Amandus, »ob ich meine Aufgabe so zierlich lösen werde, wie mein beredter Vorgänger sich aus der seinigen zog. Aber ich rufe den Schatten des Helden an und sage treulich was ich weiß, und auch nicht weiß. Also: in den Gehölzen, die da vor uns liegen, kam man einsmals einem seltenen Wilde auf die Spur, einem Hirsch mit milchweißem Felle. Kein Weidmann konnte seiner habhaft werden. Des Hauptmanns Ehrgeiz ward erregt, eine unwiderstehliche Lust, sich dieses edlen Tieres zu bemächtigen, trieb ihn an, ganze Nächte mit der Büchse durch den Forst zu streifen. Endlich an einem Morgen vor Sonnenaufgang erscheint ihm der Gegenstand seiner Wünsche. Nur auf ein funfzig Schritte steht das prächtige Geschöpf vor seinen Augen. Ihm klopft das Herz; noch hält Mitleid und Bewunderung seine Hand, aber die Hitze des Jägers überwiegt, er drückt los und triff. Kaum hat er das Opfer von nahem betrachtet, so ist er untröstlich, dies muntere Leben, das schönste Bild der Freiheit zerstört zu haben. Nun stand an der Ecke des Waldes eine Kapelle, dort überließ er sich den wehmütigsten Gedanken. Zum erstenmal fühlt er eine große Unzufriedenheit über sein ungebundenes Leben überhaupt, und indes die Morgenröte hinter den Bergen anbrach und nun die Sonne in aller stillen Pracht aufging, schien es, als flüstere die Mutter Gottes vernehmliche Worte an sein Herz. Ein Entschluß entstand in ihm, und nach wenig Tagen las man auf einer Tafel, die in der Kapelle aufgehängt war, mit zierlicher Schrift folgendes Bekenntnis (ich habe es der Merkwürdigkeit Wort für Wort auswendig gelernt):


Dieß täflein weihe 3

unserer lieben frauen

ich

Marmetin, gennent Jung Volker


[270] zum daurenden gedächtnuß eines gelübds. und wer da solches lieset mög nur erfahren und inne werden was wunderbaren maßen Gott der Herr ein menschlich gemüethe mit gar geringem dinge rühren mag. denn als ich hier ohn allen fug und recht im wald die weiße hirschkuh gejaget auch selbige sehr wohl troffen mit meiner gueten Büchs da hat der Herr es also gefüget daß mir ein sonderlich verbarmen kam mit so fein sanftem thierlin, ein rechte angst für einer großen sünden da dacht ich: itzund trauret ringsumbher der ganz wald mich an und ist als wie ein ring daraus ein dieb die perl hat brochen. ein seiden bette so noch warm vom süeßen leib der erst gestolenen braut. zu meinen füeßen sank das lieblich wunderwerk. verhauchend sank es ein als wie ein flocken schnee am boden hinschmilzt und lag als wie ein mägdlin so vom liechten mond gefallen.

Aber zu deme allen hab ich noch müeßen mit großem schrecken merken ein seltsamlichs zeichen auf des arm thierlins seim rucken. nemlich ein schön akkurat kreuzlin von schwarz haar. also daß ich kunt erkennen ich hab mich freventlich vergriffen an eim eigenthumb der muetter Gottes selbs. nunmehr mein herze so erweichet gewesen nahm Gott der stunden wahr und dacht wohl er muß das eisen schmieden weil es glühend und zeigete mir im geist all mein frech unchristlich treiben und lose hantierung dieser ganzer sechs Jahr und redete zu mir die muetter Jesu in gar holdseliger weiß und das ich nit nachsagen kann noch will. verständige bitten als wie ein muetterlin in schmerzen mahnet ihr verloren kind. da hab ich beuget meine knie allhier auf diesen stäfflin und hab betet und gelobet daß ich ein frumm leben wöllt anfangen. und wunderte mich schier ob einem gnadenreichen schein und klarheit so ringsumbher ausgossen war. stand ich nach einer gueten weil auf, mich zu bergen im tiefen wald mit himmlischem betrachten den ganzen Tag bis daß es nacht worden und kamen die stern. sammlete dann meine knecht auf dem hügel und hielte ihne alles für, was mit dem volker geschehen sagt auch daß ich müeß von ihne lassen. da huben sie mit wehklagen an und mit geschrey und ihrer etlich weineten. ich aber hab ihne den eyd abnommen sie wöllten auseinander gehn und ein sittsam leben fürder führen. wo ich denn selbs mein bleibens haben werd deß soll sich niemand kümmern noch grämen oder gelüsten lassen daß er mich fahe. ich steh in eins andern handen als derer menschen. dieß täflein aber gebe von dem volker ein frumm bescheidentlich zeugnuß [271] und sage dank auf immerdar der himmlischen huldreichen jungfrauen Marien als deren segen frisch mög bleiben an mir und allen gläubigen kindern. so gestift am 3. des brachmonds im jahr nach unsers Herren geburt 1591.

Leider«, fuhr der Pfarrer gegen die Gesellschaft fort, welche mit sichtbarer Teilnahme zuhörte, »leider ist das Original dieser Votivtafel verlorengegangen; eine alte Kopie auf Pergament liegt auf dem Halmedorfer Rathause. Auch die Kapelle ist längst ver schwunden; die ältesten Leute erzählen, ihre Urgroßväter hätten sie noch gesehn. Wo aber Volker damals sich hingewendet, blieb unbekannt. Einige vermuten einen Pilgerzug nach dem gelobten Land, wo er dann in ein Kloster gegangen sein soll.«

»Eine andere Sage«, nahm der Obrist wieder das Wort, »läßt ihn auf dem Wege nach Jerusalem von seiner Mutter, einer Zauberin, entführt werden und ich gedenke hier nur noch einiger alten Verse, weiche wahrscheinlich den Schluß eines größern Lieds ausmachten. Sie weisen auf die fabelhafte Geburt Volkers hin und machen ihn, wie mich deucht, gar charakteristisch für den freien kräftigen Mann, zu einem Sohne des Windes. Er selber soll das Lied zuweilen gesungen haben.


Und die mich trug in Mutterleib,
Die durft ich niemals schauen,
Sie war ein schön, frech, braunes Weib,
Wollt keinem Manne trauen.
Und lachte hell und scherzte laut:
Ei, laß mich gehn und stehen!
Möcht lieber sein des Windes Braut,
Denn in die Ehe gehen.
Da kam der Wind, da nahm der Wind
Als Buhle sie gefangen,
Von dem hat sie ein lustig Kind
In ihren Schoß empfangen.«

»Wird mir doch in diesem Augenblick«, sagte die Pfarrerin, indem sie ein heimliches Auge an der Linde hinauflaufen ließ, »mir wird von all dem Zauberwesen so kurios zumute, daß ich mich eben nicht sehr entsetzen würde, wenn jetzt noch die Fabel [272] vom singenden Baum wahr würde, ja wenn Herr Volker leibhaftig als lustiges Gespenst in unsre Mitte träte.«

»Noch ein anderes Lied«, sagte der Obrist, »ist mir im Gedächtnis geblieben, das man sich im Munde von Volkers Bande denken muß. Ich will, wenn die Frauenzimmer nicht schon durch das vorige – –«

Plötzlich wurde der Erzähler von den Tönen eines Saiteninstruments unterbrochen, welche ganz nahe aus dem Gipfel der dichtbelaubten Linde hervorzukommen schienen. Die Anwesenden erschraken und aller Augen waren nach dem Baume gerichtet. Niemand bewegte sich vom Platze; tiefe Stille herrschte, während die Musik in den Zweigen von neuem begann und der unsichtbare Spielmann mit lebhafter Stimme Folgendes sang:


Jung Volker das ist der Räuberhauptmann
Mit Fiedel und mit Flinte,
Damit er geigen und schießen kann
Nachdem just Wetter und Winde,
Ja Winde!
Fiedel oder Flint,
Fiedel oder Flint,
Volker spielt auf!
Ich sah ihn hoch im Sonnenschein
Auf seinem Hügel sitzen;
Da spielt er die Geig und schluckt roten Wein,
Seine blauen Augen ihm blitzen,
Ja blitzen!
Fiedel oder Flint,
Fiedel oder Flint,
Volker spielt auf!
Ich sah ihn schleudern die Geig in die Luft,
Ich sah ihn sich werfen zu Pferde,
Da hörten wir alle wie er ruft:
Brecht los wie der Wolf in die Herde!
Ja Herde!
Fiedel oder Flint,
Fiedel oder Flint,
Volker spielt auf!

[273] Die Saiten klangen aus. Es war ein allgemeines Schweigen. Die Gesellschaft sah sich lächelnd an, und schon während des Gesangs verkündigten einige schlaue Gesichter eine angenehme Überraschung, wobei es mit ganz natürlichen Dingen zugehen dürfte. Es rauschte jetzt und knackte in den Zweigen, zwischen denen jemand behutsam herunterzusteigen schien. Ein Fuß stand bereits auf dem letzten Aste; ein kecker Sprung noch, und, wen man am wenigsten erwartete, den auch die wenigsten kannten – Raymund, der Bildhauer, stand mit der Zither, sich tief verneigend, vor der verblüfft-erfreuten Versammlung. Amandus und der Obrist klatschten, Bravo rufend, in die Hände. Raymund sprang auf den Maler zu, der wie aus den Wolken gefallen dastand; die übrigen hörten inzwischen von der Pfarrerin, wer der Herr wäre. Agnes hatte den Schauspieler Larkens vermutet, ja Nolten selbst, als die Musik anfing, bebte das Herz bei dem gleichen Gedanken, und es dauerte eine ganze Zeit, bis er sich wieder fassen konnte.

Man nahm nun ordentlich am runden Tisch unter dem Schirme Platz; mit dem bester Weine füllten die Gläser sich frisch, und während die Frauenzimmer das Strickzeug vornahmen, begann der Bildhauer: »Zuvörderst ist es meine Pflicht, mit wenig Worten den Schein des Greulichen und Ungeheuren von meiner Hieherkunft zu entfernen, besonders um der Damen willen, denen der Schreck noch nicht ganz aus den Gliedern gewichen sein muß, weil bis jetzt keine sich getraute, mich auch ein wenig freundlich anzuschauen. Nun also: zwei Tage, bevor Sie, lieber Nolten, die Rückkehr in ihr Vaterland antraten, die ich mir so nahe gar nicht vermutend sein konnte, war ich genötigt, in nicht sehr erfreulichen Angelegenheiten eines Bruders nach K* zu reisen, was kaum sechs Meilen von hier liegt. Ich wußte damals noch nichts von Ihren Verbindungen in dieser Gegend, und weder ein Neuburg noch ein Halmedorf existierte für mich in der Welt, sonst hätt ich wohl um Aufträge bei Ihnen angefragt und wäre vielleicht nicht so schmählich um Ihren Abschied gekommen Doch wider Hoffen und Vermuten sollt ich um vieles glücklicher werden. Ich war bereits acht Tage in K*, so kommt ein Brief, pressant, an mich dorthin – (von wem? das raten Sie wohl nicht!) mit dem dringenden Auftrage, im Rückweg einen kleinen Abstecher zu Ihnen zu machen und ein beigelegtes Schreiben eigens in Ihre Hände zu überliefern.« (Er gab Theobalden den Brief und wandte sich gegen die andern.) [274] »Dem schönen Zufall muß ich noch besonders lobpreisende Gerechtigkeit widerfahren lassen, der mich zwei Stunden von hier mit dem Herrn Obrist zusammenführte; wir gesellten uns als fremde Passagiere zueinander und wären beinahe ebenso wieder geschieden, als kaum noch zu rechter Zeit sich entdeckte, daß wir die gleiche Absicht hätten. Wer weiß mir eine artigere Fügung? Ich war's zufrieden, sogleich nach Halmedorf mitzureiten. Dort hieß man mich denn freundlich bleiben, und Herr Pastor war ganz glückselig, eine doppelte Überraschung veranstalten zu können. Der Plan zu diesen Späßen ward heute früh entworfen, und gerne ließ ich mir's gefallen, mein Mittagsmahl hier unter freiem Himmel zu verzehren, von Volkers rotem Wein zu trinken und meine Rolle einzuüben. Auch hab ich, wenn man Lust hätte, den Geiger zu malen, diesem Hügel vorläufig eine Ansicht abgemerkt, wo er sich als ein Hintergrund ganz unvergleichlich ausnehmen müßte.«

Indessen spiegelte sich auf Noltens Angesicht die erhaltene Botschaft mit leserlicher Freude: ja so mächtig ergriffen war er, daß er Agnesen das Blatt nur still hinbieten und Raymunden die Hand nur mit einem leuchtenden Blicke des Dankes über den Tisch reichen konnte. »Nun«, sagte jener, »ich darf der erste sein, der Ihnen Glück wünscht.« »So sind wir nicht die letzten!« rief der Obrist mit dem Pfarrer, indem man die Gläser erhob. Agnesen stürzte eine Träne aus den schönen Augen und auch sie hob ihr Glas. Es wurde sofort erklärt: daß Nolten und Raymund einen sehr vorteilhaften Ruf in die Dienste eines hochgebildeten und verehrten Fürsten des nördlichen Deutschlands erhalten haben, zunächst um bei einer gewissen Privatunternehmung des kunstliebenden Regenten verwendet zu werden, doch sollte die Anstellung auf zeitlebens sein. Die Sache ging durch den Maler Tillsen und den alten Hofrat, deren Empfehlung man, wie es schien, das Ganze eigentlich zu danken hatte. Etwas Geheimnisvolles war immer dabei, und Nolten hatte Ursache zu glauben, daß noch ganz andere Hebel gewirkt haben müßten. Jenes Schreiben selbst war von dem Hofrat. Er gibt sich alle Mühe, dem Freunde dies Offert so einleuchtend als möglich zu schildern, er hatte zum Überfluß Raymundens mündliche Beredsamkeit noch in Reserve gestellt, wenn Nolten je Bedenken tragen sollte, die Stelle anzunehmen, ein Zweifel, dessen nur der Hofrat fähig sein konnte, weil er immer von seiner eignen Seltsamkeit ausging. [275] Was übrigens die Sendung Raymunds anbelangt, so verhielt sich's wirklich so, wie er vorhin erklärte; er selber hatte beim Antritt seiner Reise noch keine Ahnung von den Dingen, die im Werke waren.

Die beiden Künstler schlossen jetzt in der Aussicht auf ihr gemeinschaftliches Ziel sogleich Brüderschaft, und wer hätte nicht Teil an ihrem Glücke nehmen sollen? Alle sprachen durcheinander aufs lebhafteste von der Sache hin und her.

»Ja«, fragte die Pfarrerin, »und der Zug geht wohl bald vor sich?«

»Bald oder nicht! wie man's nimmt; jeder Tag später macht mir Langeweile!« rief Raymund, indem er sich ungeduldig auf dem Absatz herumwarf. »In zwei Monaten ist der Termin.«

»Da wird man erst ein Pärchen aus euch machen müssen?« sagte der Pfarrer zu Agnes hin.

»Dacht ich es doch!« rief Raymund, »bleibt mir nur, ihr schwarzen Herrn, mit euren Weitläufigkeiten fort! Soviel ihr aus den beiden machen könnt, sind sie ja schon.« Er sprach dies halb im Scherz, doch hätte der Pfarrer nicht wissen dürfen, daß er die Geistlichen für etwas Überflüssiges hielt und nie recht hatte leiden mögen.

»Wie?« rief Amandus, »Sie sind, wie ich höre, auch Bräutigam: Sie lassen sich wohl gar nicht kopulieren?«

»Bewahre Gott mich davor!« antwortete der Bildhauer. »Die Kopula ist schon gefunden.«

»So sind Sie ein Heide?«

»Und zwar ein frommer!«

»Doch was sagt Ihre Braut zu Ihrem Vorsatz?«

»Ich habe sie noch nicht gefragt.«

»Und«, sagte der Pfarrer, leicht abbrechend, »was spricht lieb Agneschen?« Sie schaute auf, sie hatte nicht gehört, wovon die Rede war, da sie sich angelegentlich mit Nolten unterhielt. Nach der sonderbaren, beinahe verdrießlichen Wendung, welche das Gespräch der beiden Männer genommen, war es natürlich, daß die Frauen im stillen schon das arme Mädchen bedauerten, das an einen so närrischen und wilden Menschen geraten müssen, und dies Mitleiden verbarg sich endlich gar nicht mehr, als Theobald sich eifriger nach Henrietten erkundigte, und Raymund anfing, mit aller ihm eigenen treuherzigen Lebhaftigkeit zu erzählen, auf welchem guten Fuß er mit ihr lebe, wie sie sich unterhielten, welche Untugenden und »Dummheiten« er [276] ihr schon abgewöhnt, was für Talente an ihr entwickelt habe. Da er zum Beispiel ein leidenschaftlicher Freund vom Kegelschieben sei und es für die gesundeste Motion halte, so habe er sich in den Kopf gesetzt, seine Braut müsse es aus dem Fundamente lernen. Er habe den Unterricht, auf einer unbesuchten Bahn, auch sogleich mit ihr begonnen; es geschehe ihr zwar einigermaßen sauer, doch zeige sie den besten Willen und werde es mit der Zeit sehr weit bringen. Ferner, weil er wahrgenommen, daß sie mit einer törichten Furcht vor allem Feuergewehr und Schießen gestraft sei, und ihm solche übertriebene Alterationen in den Tod zuwider seien, so habe er sie von dem Lächerlichen dieses Benehmens zuerst theoretisch überzeugt, ihr den Mechanismus einer Flinte, die Wirkung des Pulvers ruhig und ordentlich erklärt und endlich einen praktischen Anfang im Schloßgraben bei der Scheibe gemacht, der aber leider bis jetzt den gehofften Erfolg noch nicht bewiesen. Im Fall es nun, wie das ungeschickte Ding ihn mit Tränen versichert habe, er aber noch nicht glaube, wirkliche Nervenschwäche wäre, so würde er freilich davon abstehen müssen, doch hoffe er es noch durchzusetzen.

Die Frauenzimmer, sowie die Männer, konnten nicht umhin, ihr Mißfallen auszudrücken, es gab einen allgemeinen Streit, und Agnes fing an dem Bildhauer im Herzen recht gram zu werden, sie kannte ihn nicht genug und hielt ihn für boshaft; wie nun ihr ganzes Wesen seit jener Botschaft gewaltsam aufgeregt war, so nahm sie auch den gegenwärtigen Fall heftiger auf als sie sonst getan haben würde, sie glaubte eine ihrer Schwestern von einem Barbaren mißhandelt, die Wange glühte ihr vor Unwillen und ihre Stimme zitterte, so daß Theobald, der diese Ausbrüche an ihr fürchtete, sie sanft bei der Hand nahm und beiseite führte.

Raymund hatte, wie ernst es mit den Vorwürfen besonders der Frauenzimmer gemeint sei, gar nicht bemerkt, weil es ihm in der Gesellschaft durchaus an allem Takte gebrach. Sein unruhiger von einem aufs andere springender Sinn war schon ganz anderswo mit den Gedanken, während man ihn über seinen Fehler nachdenklich gemacht und fast verletzt zu haben meinte. Er blickte durch den Tubus in die Ferne und schüttelte zuweilen mit dem Kopf; auf einmal stampft er heftig auf den Boden. »Ums Himmels willen, was ist Ihnen?« fragte der Oberst. »Nichts!« lachte Raymund, aus seinem Traum erwachend, [277] »es ist nur so verflucht, daß ich die Jette jetzt nicht da haben soll! sie nicht am Schopfe fassen kann und recht derb abküssen! Sehn Sie, lieber Oberst, eigentlich ist's nur die Unmöglichkeit, was mich foltert, die plumpe, physische Unmöglichkeit, daß der einfältige Raum, der zwischen zweien Menschen liegt, nicht urplötzlich verschwindet, wenn einer den Willen recht gründlich hat, daß dies Gesetz nicht fällt, wenn auch mein Geist mit allem Verlangen sich dagegen stemmt! Ist so was nicht, um sich die Haare auszuraufen und mit beiden Füßen wider sich selber zu rennen? Wie dort der Berg, der Mollkopf, glotzt und prahlt, recht dreist die Fäuste in die Wampen preßt, daß er so breit sei!« Hier schlug Raymund ein schallendes Gelächter auf, machte einen Satz in die Höhe und sprang wie toll den Abhang hinunter.

»Nun ja, Gott steh uns bei! so etwas ist noch nicht erhört!« hieß es mit einem Munde. Aber Nolten nahm sich des Bildhauers mit Wärme an; er schilderte ihn als einen unverbesserlichen Naturmenschen, als einen Mann, der seine Kräfte fühle, und übrigens von aller Tücke, wie von Affektation gleich weit entfernt sei, und wirklich gelang es ihm durch einige auffallende Anekdoten von der Herzensgüte seiner Sansfaçon die Gesellschaft so weit auszusöhnen, daß man zuletzt nur noch lächelnd die Köpfe schüttelte. Alle gesellige Lust flammte noch einmal auf; man sprach nun erst recht kordial von Noltens und Agnesens Zukunft; der Bildhauer hatte sich auch wiedereingefunden, unvermerkt verflossen ein paar Stunden und einige Stimmen erinnerten endlich nur leise an den Heimweg. Die Sonne neigte sich zum Untergang. Das herrlichste Abendrot entbrannte am Himmel und das Gespräch verstummte nach und nach in der Betrachtung dieses Schauspiels. Agnes lehnt mit dem Haupt an der Brust des Geliebten, und wie die Blicke beider beruhigt in der Glut des Horizonts versinken, ist ihm, als feire die Natur die endliche Verklärung seines Schicksals. Er drückt Agnesen fester an sein Herz; er sieht sich mit ihr auf eine Höhe des Lebens gehoben, über welche hinaus ihm kein Glück weiter möglich scheint. Wie nun in solche Momente sich gern ein leichter Aberglaube spielend mischt, so geschah es auch hier, als der helle Doppelstrahl, der von dem Mittelpunkt des roten Luftgewebes ausging, sich nach und nach in vier zerteilte. Was lag, wenn man hier deuten wollte, der Hoffnung unseres Freundes näher, als einen Teil des wonnevoll gespaltnen Lichts auf zwei [278] geliebte, weit entfernte Gestalten fallen zu lassen, deren wehmütige Erinnerung sich jeden Abend einige Male bei ihm gemeldet hatte. Allein wie sonderbar, wie schmerzlich muß er es eben jetzt empfinden, daß er dem treusten Kinde, das hier in seinen Armen geschmiegt mit leisen Küssen seine Hand bedeckte, und dann ein Auge aller Himmel voll, gegen ihn aufrichtete – nunmehr nicht seinen ganzen Busen öffnen durfte! Er mußte den Kreis seines Glücks, seiner Wünsche im stillen für sich abschließen und segnen, doch in die Mitte desselben darf er Agnesen als schützenden Engel aufstellen.

Die übrigen waren aufgestanden, man wollte gehen. Theobald trennte sich schwer von diesem glücklichen Orte, noch einmal überblickt' er die Runde der Landschaft und schied dann mit völlig befriedigter Seele.

Alsbald bewegte sich der Zug munter den Hügel hinab. Am Wäldchen wurde nicht versäumt, das Echo wieder anzurufen Raymund brachte allerlei wilde Tierstimmen hervor und stellte mit Hussa-Ruf und Hundegekläff das Toben einer Jagd vollkommen dar; die Frauenzimmer sangen manches Lied, und gemächlich erreicht man das Pfarrhaus, wo die von Neuburg sich sogleich zum Abschied wenden wollen, trotz den Vorstellungen des Pfarrers, der einen Plan, die sämtlichen Gäste diese Nacht in Halmedorf unterzubringen, komisch genug vorlegte. Raymund schloß sich der Partie des Malers an, um morgen von Neuburg aus weiterzureisen. Wenigstens müsse man den Mond noch abwarten, meinte Amandus, und er wollte seine Kalesche, ein uraltes aber höchst bequemes Familienerbstück, inzwischen parat halten lassen. So verweilte man sich aufs neue; den Männern schien erst jetzt der Wein recht zu schmecken, und Nolten selbst überschritt sein gewöhnliches Ziel. Währenddem hat der Himmel sich umzogen, es wurde völlig Nacht, und Agnes, von seltsamer Unruhe befallen, ließ mit Bitten und Treiben nicht nach, bis man endlich zum letzten Wort gekommen war und die beschwerte Kutsche vom Haus wegrollte. Raymund ritt vor den Pferden her und kaum hatten sie das Dorf im Rücken, so fing er herzhaft an zu singen. Er nahm in seinem frohen Übermut dem Bauernburschen, der nebenher leuchtete, die beiden Fackeln ab und schwang sie rechts und links in weiten Kreisen, indem er sich an den wunderlichen Schatten höchlich ergötzte, die er durch verschiedene Bewegung der Brände in eine riesenhafte Länge, bald vor-, bald rückwärts, schleudern konnte. Sooft es [279] anging kam er an den Schlag und brachte die Gesellschaft durch allerlei phantastische Vergleichungen über seine Reiterfigur zum innigen Lachen. Er war wirklich höchst liebenswürdig in dieser Laune, selbst Agnes ließ ihm Gerechtigkeit widerfahren. Der Maler wetteiferte mit ihm, teils schauerliche, teils liebliche Märchen aus dem Stegreife zu erzählen, wobei sich Theobald ganz unerschöpflich zeigte. Als sie im Wald an einer öden Strecke Ried vorüberkamen, hieß es, hier sei vor vielen hundert Jahren das Herz eines Zauberers nach dessen Tode in die Erde gegraben worden, das dann, zum schwarzen Moos verwachsen, als ein unendliches Gespinst rings unterm Boden fortgewuchert habe. Daraus wäre von dem Riesen Flömer eine unermeßliche Strickleiter gemacht worden, die er gegen den halben Mond geworfen; das eine Ende sei mit der Schleife am silbernen Horne hängen blieben und nun sei der Riese triumphierend zum Himmel hinaufgeklettert. Agnes erinnerte, im Gegensatz zu solchen Ungeheuern, an eine kleine anmutige Elfengeschichte, die Nolten als Knabe ihr vorgemacht hatte, und so gab jedes einen Beitrag her; auch die drei andern jungen Leute blieben nicht zurück, vielmehr diese trauliche Dunkelheit schien sie nun erst mehr aufzuwecken. Der Bildhauer fand den Gedanken Noltens, daß, um die romantische Fahrt vollkommen zu machen, Raymund notwendig Henrietten auf seinem Rappen hinter sich haben sollte, ganz zum Entzücken, und sogleich fing er an, die sämtlichen Balladen, welche von nächtlichen Entführungen, Gespensterbräuten usw. handeln, mit Pathos zu rezitieren. Nun war es aber für unsre beiden Liebenden der süßeste Genuß, zwischen alle diesen Spielen einer unstet umherflackernden Einbildung auf Augenblicke heimlich im stilleren Herzen einzukehren und die Gedanken auf das Bild der nächsten reizenden Zukunft zu richten, sich einander mit einem halben Wort ins Ohr, mit einem Händedruck zu sagen, wie man sich fühle, was eines am andern besitze, wieviel man sich erst künftig noch zu werden hoffe.

Schon eine Zeitlang hatte Raymund von ferne ein Fuhrwerk zu hören geglaubt; es kam jetzt näher und eine Laterne lief mit. Es war der Wagen des Barons. Der Herr Förster schicke ihn entgegen, sagte der Knecht mit einem Tone, der eine schlimme Nachricht fürchten ließ. Der gnädige Herr, hieß es, sei schnell dahingefallen, von einem Nervenschlag spreche der Arzt, vor zwei Stunden habe man ihm auf das Ende gewartet, [280] sie möchten eilen, um ihn noch am Leben zu sehn. Welche Bestürzung! welche Verwandlung der frohen Gemüter! Schnell wurden die Wagen gewechselt, der eine fuhr zurück, der andre eilte Neuburg zu.

Der Baron erkannte bereits den Maler nicht mehr, er lag wie schlummernd mit hastigem Atem. Theobald kam nicht von seinem Bette, er und die einzige Schwester des Sterbenden, eine achtungswürdige Matrone, und ein alter Kammerdiener waren zugegen, als der verehrte Greis gegen Morgen verschied.


So hatte Nolten einen andern Vater, es hatte der Förster den würdigsten Freund verloren; ja dieser durch und durch erschütterte Mann, da ihm zugleich ein neues Glück in seinen Kindern tröstlich aufgegangen war, gewann doch seinem ersten Schmerzgefühl kaum so viel ab, als billig schien, um, wie es sonst in seiner frommen Art gewesen wäre, dankbar und laut eine Wohltat zu preisen, die ihm der Himmel mit der einen Hand als reichlichen Ersatz nicht minder unerwartet schenkte, als er ihm unerwartet mit der andern ein teures Gut entrissen hatte.

Was Theobald betrifft, so war ein solcher Verlust für ihn noch von besonderer Bedeutung. Wenn uns unvermutet eine Person wegstirbt, deren innige und verständige Teilnahme uns von Jugend an begleitete, deren ununterbrochene Neigung uns gleichsam eine stille Bürgschaft für ein dauerndes Wohlergehn geworden war, so ist es immer, als stockte plötzlich unser eignes Leben, als sei im Gangwerk unseres Schicksals ein Rad gebrochen, das, ob es gleich auf seinem Platze beinah entbehrlich scheinen konnte, nun durch den Stillestand des Ganzen erst seine wahre Bedeutung verriete. Wenn aber gar der Fall eintritt, daß sich ein solches Auge schließt, indem uns eben die wichtigste Lebensepoche sich öffnet, und ehe den Freund die frohe Nachricht noch erreichen konnte, so will der Mut uns gänzlich fehlen, eine Bahn zu beschreiten, welche des besten Segens zu ermangeln, uns fremd und traurig anzublicken scheint.

Wer dieser trüben Stimmung Theobalds am wenigsten aufhelfen konnte, war Agnes selbst, deren Benehmen in der Tat den sonderbarsten Anblick darbot. Sie war seit gestern wie verstummt, sie ließ die andern reden, klagen oder trösten, ließ um sich her geschehen was da wollte, eben als ginge sie's am wenigsten an, als werde sie nicht von dieser allgemeinen Trauer,[281] sondern von etwas ganz anderem bewegt. Sie kämpfte mit Erhebung gegen ein Gefühl, das sie mit niemand teilen zu können schien. Dann wieder war ihr Wesen auf einmal feierlich gehoben; sie griff die gewöhnlichen häuslichen Geschäfte mit aller äußern Ruhe an, wie sonst, aber nur der Körper, nicht der Geist, schien gegenwärtig zu sein. Auf mitleidiges Zudringen des Bräutigams und Vaters bekannte sie zuletzt, daß eine unerklärliche Angst seit gestern an ihr sei, ein unbekannter Drang, der ihr Brust und Kehle zuschnüre. »Ich seh euch alle weinen«, rief sie aus, »und mir ist es nicht möglich. Ach Theobald, ach Vater, was für ein Zustand ist doch das! Mir ist, als würde jede andere Empfindung von dieser einzigen, von dieser Feuerpein der Angst verzehrt. O wenn es wahr wäre, daß ich meine Tränen auf größeres Unglück aufsparen soll, das erst im Anzug ist!« Sie hatte dieses noch nicht ausgesagt, als sie in das fürchterlichste Weinen ausbrach, worauf sie sich auch bald erleichtert fühlte. Sie ging allein ins Gärtchen, und als Theobald nach einer Weile sie dort aufsuchte, kam sie ihm mit einer weichen Heiterkeit auf dem Gesicht, nur ungewöhnlich blaß, entgegen. Der Maler im stillen war über ihre Schönheit verwundert, die er vollkommener nie gesehen hatte. Sie fing gleich an, jene traurigen Ahnungen zu widerrufen, und nannte es sündhafte Schwäche, dergleichen bösen Zweifeln nachzugeben, die man durch aufrichtiges Gebet jederzeit am sichersten loswerde, und es sei auch gewiß das letzte Mal, daß Nolten sie so kindisch gesehen. Mit der natürlichen Beredsamkeit eines frommen Gemüts empfahl sie ihm Vertrauen auf Gottes Macht und Liebe, von welcher sie nach solcher Anfechtung nur um so freudigeres Zeugnis in ihrem Innersten empfangen habe. – So wahr ihr auch dies alles aus dem Herzen floß, so wich sie Noltens Fragen, was denn eigentlich der Grund jenes Verzagens gewesen sei, mit einiger Unruhe aus. Sie glaubte ihn mit dem Bekenntnisse verschonen zu müssen, daß, als sie gestern den Brief des Hofrats gelesen, ihre Freude hierüber auf der Stelle mit einer dunkeln Furcht vor diesem Glück, vielleicht gerade weil es ihr zu groß gedeucht, seltsam gemischt gewesen war.

Den folgenden Tag war die Beisetzung des Barons. Alle, auch Agnes, die ihm die Totenkrone flocht, hatten ihn noch im Sarge gesehen, und einen durchaus reinen und erhebenden Eindruck von seinem Liebe-Bild zurückbehalten. Raymund, mit einem dankbaren Schreiben Theobalds an den Hofrat, war zeitig [282] weiter gegangen. Zur festgesetzten Zeit wollten beide Künstler sich an dem neuen Orte ihrer Bestimmung fröhlicher wieder begrüßen, als sie sich jetzo trennten.

Zunächst nun folgte in dem Forsthaus eine stille, doch wohltätige Trauerwoche. In traulichen, öfters bis tief in die Nacht fortgesetzten Gesprächen vergegenwärtigte man sich die eigentümliche Sinnesart des Verstorbenen auf alle Weise. Erinnerungen aus frühester und neuester Zeit traten hervor. Entwürfe eines Denkmals, das Grab des Toten einfach und edel zu zieren wurden verschiedentlich versucht, Umrisse der freundlichen Gesichtsbildung wurden gezeichnet, nach Ansicht eines jeden sorgfältig verändert und wieder gezeichnet. Jetzt langten Noltens Effekten an. Er fand unter seinen Papieren eine Sammlung älterer Briefe des Barons (denn in dem letzten Jahre schrieb er fast nichts mehr, und alle Verbindung zwischen ihm und dem Maler war nur gelegentlich durch das Forsthaus). Meistens fiel diese Korrespondenz in die Zeit da sich Theobald in Rom aufhielt, man bekam die Gegenblätter vollständig aus dem Nachlasse des Barons zusammen und sie gewährten jetzt eine ebenso lehrreiche als erbauliche Unterhaltung.

Von einem solchen, dem teuren Abgeschiedenen mit frommer Neigung gewidmeten Andenken war dann der Übergang zum lebendigen Genusse der Gegenwart in jedem Augenblicke leicht gefunden. Größere und kleinere Spaziergänge, Besuche aus der Nachbarschaft erwidert, hundert kleine Beschäftigungen in Haus und Feld und Garten wechselten ab, die Tage schnell und harmlos abzuspinnen. Nolten versäumte dabei nicht, wenn von der großen Veränderung die Rede war, die ihm und den Seinigen bevorstand, gelegentlich einen Plan erst nur entfernterweise und wie im Scherze blicken zu lassen, womit er aber eines Abends, als alle drei beim traulichen Lichte versammelt saßen, ernsthaft hervortrat und den Vater wie Agnesen nicht wenig überraschte. Er sei entschlossen, sagte er, seinen künftigen Wohnort auf einem kleinen Umweg über einige sehenswerte Städte Deutschlands zu erreichen, und nicht nur die Geliebte werde ihn begleiten, sondern, wie er halb hoffe, auch der Vater, den er auf jeden Fall als bleibenden Genossen seines künftigen Hauses schon längst im stillen angesehn und nunmehr, von Agnesen unterstützt, um seine Einwilligung herzlich und kindlich bitte. Gerührt versprach der Alte, der Sache nachzudenken; »was aber«, setzte er hinzu, »diese nächste Reise betrifft, so taugt ein alter [283] gebrechlicher Kamerade wie ich zu dergleichen Seitensprüngen nicht mehr. Und überdies« (er hatte die Landkarte auf dem Tisch ausgebreitet) »so ganz unbeträchtlich find ich den Umweg des Herrn Sohns eben nicht. Sehn Sie, dies Dreieck, man mag es nehmen wie man will, macht immer einen ziemlich spitzen Winkel hier bei P*, wo Sie dann gegen Norden lenken wollten. Nein, liebe Kinder, vorderhand bleib ich hier. Euch so lange hinzusperren, bis ich Haus und Hof beschickt und abgegeben hätte, wäre unsinnig, und doch muß man sich zu so etwas Zeit nehmen können; daß ich aber für jetzt nur abbräche, um wiederzukommen und dann die Sachen in Ordnung zu bringen, wäre womöglich noch ungeschickter. Kommt ihr nur erst an Ort und Stelle an, wir wollen sehen, was sich dann weiter schickt und ob es Gottes Wille ist, daß ich euch folge.«

Agnes konnte dem Vater nicht Unrecht geben; am liebsten freilich hätte sie Theobalden jenen Nebenplan ausreden mögen, der ihr und, wie sie wohl bemerkte, noch mehr dem Vater, der bedeutenden Kosten wegen, bedenklich vorkam. Sie hielt auch diese Einwendung nicht ganz zurück, doch da man sah, wie vielen Wert der Maler auf die Sache legte, so dachte man sie ihm nicht zu verkümmern. Man fing also zu rechnen an, und Theobald erklärte, daß er, so günstig wie nunmehr die Dinge für ihn lägen, eine Schuld ohne Gefahr aufnehmen könne, ja er gestand, er habe dies Geschäft schon abgetan und bereits die Wechsel in Händen. Dies gab ihm einen kleinen Zank, doch mußte man es ihm wohl gelten lassen.

Nun aber kam ganz unvermeidlich die Hochzeit zur Sprache. Es war ein Punkt, der diese letzten Tage her Agnesen im stillen vieles mochte zu schaffen gemacht haben; sie faßte sich daher ein Herz und fing von selbst davon zu reden an, jedoch nur um zu bitten, daß man damit nicht eilen, daß man diesen und den nächsten Monat noch abwarten möge. »Was soll das heißen?« rief der Vater und traute seinen Ohren kaum. »Wir reisen ja die nächste Woche schon, mein Kind!« rief Nolten. Das hindere nichts, behauptete Agnes; sie müßten sich ja nicht notwendig im Lande trauen lassen, was ihr freilich, an sich betrachtet, ungleich lieber wäre, es könne aber auch in W* geschehn (dies war der Ort, wo sie sich niederlassen sollten), und noch besser in H* (hier lebte ein naher Verwandter des Försters und die Reisenden mußten das Städtchen passieren, das nur wenige Meilen von W* gelegen war); dort würden sie [284] in einer festzusetzenden Woche mit dem Vater zusammentreffen, und so alle miteinander aufziehn. – Der Alte hielt seinen Verdruß noch an sich, um erst die Gründe der Tochter zu hören, allein da diese rein innerlich, dem guten Mädchen selber nicht ganz klar und überhaupt gar nicht geeignet waren, eine gemein verständige Prüfung auszuhalten, so geriet der Vater in Hitze und es kam zu einem Auftritt, den wir dem Leser gern ersparen. Genug, der Förster, nachdem er seine Meinung über solchen Eigensinn mit Bitterkeit von sich geschüttet hatte, verließ ganz außer sich das Zimmer. Die Arme warf sich voller Schmerz aufs Bette, und Theobald, dem sie nur rückwärts ihre Hand hinlieh, saß lange schweigend neben ihr. Sie wurde ruhiger, sie rührte sich nicht mehr, ein leiser Schlaf umdämmerte ihre Sinne.

Unserem Freunde drangen sich in dieser stummen sonderbaren Lage verschiedene Betrachtungen auf, die er seit jenem Morgen, an dem er die Geliebte von neuem an sein Herz empfing, nimmermehr für möglich gehalten hätte, doch jetzt, wer möchte ihm verargen, wenn ihn der Zweifel überschlich, ob denn das Rätselwesen, das hier trostlos vor seinen Augen lag, dazu bestimmt sein könne, durch ihn glücklich zu werden, oder ihm ein dauerndes Glück zu gründen, ob er es für ein wünschenswertes und nicht vielmehr für ein höchst gewagtes Bündnis halten müsse, wodurch er sich fürs ganze Leben an dies wunderbare Geschöpf gefesselt sähe? Aber zu fragen brauchte er sich wenigstens das eine nicht: ob er sie wirklich liebe, ob seine Neigung nicht etwa nur eine künstlich übertragene sei? vielmehr durchdrang ihn das Gefühl derselben nie so vollglühend als eben jetzt. Er dachte weiter nach und mußte finden, daß eben jene dunkle Klippe, woran Agnesens sonst so gleichgewiegtes Leben zum erstenmal sich brach, dieselbe sei, nach der auch sein Magnet von früh an unablässig strebte, ja daß (man gönne uns immer das Gleichnis) die schlimme Zauberblume, worin des Mädchens Geist zuerst mit unheilvollen Ahnungen sich berauschte, nur auf dem Grund und Boden seines eignen Schicksals aufgeschossen war. Notwendig daher und auf ewig ist er mit ihr verbunden, Böses oder Gutes kann für sie beide nur in einer Schale gewogen sein.

Seine Gedanken verschwammen nach und nach in einer grundlosen Tiefe, doch ohne Ängstlichkeit; mit einer Art von frommer Todeswollust, mit überschwenglichem Vertrauen küßt er den Saum am Kleide der Gottheit, deren geweihtes Kind [285] er sich empfindet. Er hätte eine Ewigkeit so sitzen können, nur diese Schlafende neben sich, nur diese ruhige Kerze vor Augen. – Er neigt sich über Agnes her und rührt mit leisen Lippen ihre Wange; sie schrickt zusammen und starrt ihm lange ins Gesicht, bis sie sich endlich findet. Stillschweigend treten beide ans offene Fenster, eine balsamische Luft haucht ihnen entgegen; der volle Mond war eben aufgegangen und setzte die Gegend, das Gärtchen, ins Licht. Sie deutet hinab, ob er noch einen Gang zu machen Lust hätte. Man zauderte nicht. Der Vater war zu Bette gegangen, das ganze Dorf in Ruhe. Sie wandelten den mittlern Weg vom Haus zur Laube, zwischen aufblühenden Rosengehegen, Hand in Hand auf und nieder. Keins konnte die ersten Worte recht finden. Er fing endlich damit an, den Vater zu entschuldigen, und rückte so dem Gegenstand des Streites näher, um zu erfahren, woher ihr diese Scheu, dies Widerstreben gegen ein so natürliches als erfreuliches Vorhaben kam, von dem sie noch vor wenig Wochen mit aller Unbefangenheit, ja ganz im Sinn des echten Mädchens gesprochen hatte, dem auch die äußeren Erfordernisse eines solchen Tags, die Musterung und Wahl des Putzes, ein reizender Gegenstand der Sorgfalt und der Mühe sind. Mit welcher Rührung hatte sie neulich (wir versäumten bis jetzt, es zu erwähnen), mit welcher Bewunderung das schöne Angebinde der unbekannten Freundinnen aus Theobalds Händen empfangen und gegen das schwarze Festkleid gehalten! »Sieh«, sagte der Bräutigam jetzt, und streichelte ihr freundlich Kinn und Wangen, indem sein Ton zwischen Wehmut und einer ermutigenden Munterkeit wechselte, »dort schaut das Kirchlein her und tut wie traurig daß es die Freude deines Tags nicht sehen soll! kannst du ihm seinen Willen denn nicht tun? – Gewiß, Agnes, ich will dich nicht bestürmen: hier meine Hand darauf, daß du mit keinem Wort, mit keiner unfreundlichen Miene, auch vom Vater nicht, es künftig entgelten sollst, wenn du, was wir verlangen, nun einmal nicht über dich vermöchtest, nur überleg es noch einmal. Ich will alles beiseite setzen, was der Vater hauptsächlich für seine Absicht anführt, ich will davon nichts sagen, daß es jedermann auffallen müßte, Stoff zu Vermutungen gäbe, und dergleichen. Aber ob du der Heimat, in deren Schoß du deine frohe Jugend lebtest, von der du nun für immer Abschied nimmst, ob du ihr dies Fest nicht schuldig bist, worauf sie so gerne stolz sein möchte? Der Ort, das Haus, das Tal, wo man erzogen[286] wurde, dünkt uns von einem eigenen Engel behütet, der hier zurückbleibt, indem wir uns in die weite Welt zerstreuen: es ist dies wenigstens das liebste Bild für ein natürliches Gefühl in uns; bedenke nun, ob dieser fromme Wächter deiner Kindheit dir's je verzeihen könnte, wenn du ihm nicht vergönnen wolltest, dir noch den Kranz aufs Haupt zu setzen, dich auf der Schwelle deines elterlichen Hauses mit seinem schönsten Segen zu entlassen. Es hoffen alle deine Gespielen, jung und alt hofft dich vor dem Altar zu sehen, das ganze Dorf hat die Augen auf dich gerichtet. Und darf ich noch mehr sagen? Zweier Personen muß ich gedenken, die diesen Tag nicht mehr mit uns begehen sollten, deine teure Mutter und unser kürzlich vollendeter Freund: ihr Gruß wird uns an jenem Morgen schmerzlich fehlen, aber doch eine Spur ihres Wesens wird uns an der Stätte begegnen, wo sie einst mit uns waren, von ihrer Ruhestätte wird –«

»Um Jesu willen, Theobald, nicht weiter!« ruft Agnes, ihrer nicht mehr mächtig, und wirft sich schluchzend vor ihm auf die Kniee – »Du bringst mich um – Es kann nicht sein – Erlasset mir's!« Bestürzt hebt er sie auf, liebkost, beschwichtigt, tröstet sie: man sei ja weit entfernt, sagt er, ihrem Herzen Gewalt anzutun, er habe sich nun überzeugt, wie unmöglich es ihr sei, auch liege ja so sehr viel nicht an der Sache, er werde es dem Vater vorstellen, es werde alles gut gehn. Sie kamen vor die Laube, sie mußte sich setzen, ein schmaler Streif des Mondes fiel durchs Gezweige auf ihr Gesicht und Theobald sah ihre Tränen in hellen Tropfen fallen. Er solle die Reise allein machen, verlangte sie, er solle wieder zurückkommen, indessen sei die Zeit vorüber, vor welcher sie sich fürchte, dann wolle sie gern alles tun, was man wünsche und wo man es wünsche. Auf die Frage, ob es also nicht die Reise selbst sei, was sie beängstige, erwiderte sie: nein, sie könne nur das Gefühl nicht überwinden, als ob ihr überhaupt in der nächsten Zeit etwas Besonderes bevorstünde – es warne sie unaufhörlich etwas vor dieser schnellen Hochzeit. »Was aber dies Besondere sei, das wüßtest du mir nicht zu sagen, liebes Herz?« Sie schwieg ein Weilchen und gab dann zurück: »Wenn der Zeitpunkt vorüber ist, sollst du es erfahren.« Nolten vermied nun, weiter davon zu reden. Er war weniger wegen irgend eines bevorstehenden äußern Übels, als um das Gemüt des Mädchens besorgt; er nahm sich vor, sie auf alle Art zu schonen und zu hüten. Was ihm [287] aber eine solche Vorsicht noch besonders nahelegte, war eine Äußerung Agnesens selbst. Nachdem nämlich das Gespräch bereits wieder einen ruhigen und durch Theobalds leise, verständige Behandlung, selbst einen heitern Ton angenommen hatte, gingen beide, da es schon gegen Mitternacht war, ins Haus zurück. Sie zündete Licht für ihn an, und man hatte sich schon gute Nacht gesagt, als sie seine Hand noch festhielt, ihr Gesicht an seinem Halse verbarg und kaum hörbar sagte: »Nicht wahr, das Weib wird nimmer kommen?« »Welches?« fragt er betroffen. »Du weißt es«, erwiderte sie, als getraue sie sich nicht, das Wort in den Mund zu nehmen. Es war das erstemal, daß sie ihm gegenüber die Zigeunerin berührte. Er beruhigte sie mit wenigen aber entschiedenen Worten.

Auf seinem Zimmer angekommen untersucht er eifrig den Verschlag, worin unter andern Malereien auch das fatale Bild vergraben war; eine augenblickliche Besorgnis, die Kiste möchte aus Irrtum geöffnet worden sein, war durch Agnesens Worte in ihm aufgestiegen; doch fand sich alles unversehrt.

Den andern Morgen, noch ehe Agnes aufgestanden war, erzählte er die gestrige Szene dem Vater, den er schon wider Erwarten milde gestimmt fand. Der Alte gestand ihm, daß bald nachdem er die beiden verlassen, er etwas Ähnliches, wo nicht noch Schlimmeres, zu befürchten angefangen habe, und seine Heftigkeit bereue. Es bleibe nichts übrig, als man gebe nach; daß sie aber am Ende nicht auch die Reise verweigere, müsse man ja vorbauen. – »Laß uns Frieden schließen!« sagte er beim Frühstück zu der Tochter und bot ihr die Wange zum Kuß; »ich habe mir den Handel überschlafen, und es soll dir noch so hingehn; man muß eben auf einen Vorwand denken, wegen der Leute. Aber soviel merk ich schon«, setzte er scherzhaft gegen den Schwiegersohn hinzu, »der Pantoffel steht Ihnen gut an, von der Bösen da.« Die Böse schämte sich ein wenig, und der Zwist war vergessen. Zu der Reise ließ sie sich willig finden und mit den Vorbereitungen ward noch heute der Anfang gemacht. Zur erheiternden Begleitung wollte man unterwegs Nannetten, Theobalds jüngste Schwester, aufnehmen, die er ohnedies vorderhand zu sich zu nehmen entschlossen war.


Nunmehr überspringen wir einen Zeitraum von wenigen Wochen, in denen der Wagen unsrer beiden Liebenden schon eine gute Strecke weit auf landfremden Wegen fortgerollt sein [288] mag. Man war um zwei muntere Augen vermehre und in der Tat um so viel reicher geworden. Denn wenn das Glück eines Paares, welchem vergönnt ist, auf unabhängige und bequeme Weise ein größeres Stück Welt miteinander zu sehen, schon an sich für den seligsten Gipfel des mit zarten Sorgen und Freuden so vielfach durchflochtenen Brautstandes mit Recht gehalten wird, so gewinnt diese glückliche Zweiheit gar sehr an herzinnigem Reiz durch das Hinzutreten einer engbefreundeten jüngern Person, deren lebendige, mehr nach außen gerichtete Aufmerksamkeit den beiden die vorüberfliegende Welt in erhöhter Wirklichkeit zuführt, und jene wortlose Beschaulichkeit, worein Liebende in solcher Lage sich sonst so gerne einwiegen lassen, immer wieder wohltätig aufschüttelt. Eine solche Ableitung nun war unserm Paare um so nötiger, als gewisse schwere Stoffe auf dem Grunde der Gemüter, sowenig man es einander eingestand, sich anfangs nicht sogleich zerteilen wollten. Diesen Vorteil aber gewährte Nannettens Gegenwart vollkommen. Sowohl im Gefährte, wo sie sich mit Konrad, dem Kutscher einem treuherzigen Burschen aus Neuburg, gleich auf den lustigsten Fuß zu setzen wußte, als in den Gasthöfen, wo sie die Eigenheiten der Fremden genau zu beobachten, auf alle Gespräche zu horchen und die Merkwürdigkeiten einer Stadt immer zuerst auszukundschaften pflegte – überall zeigte sie eine rasche und praktische Beweglichkeit, und wo man hinkam, erwarb sie sich durch ein ansprechendes Äußere, durch ihren naiven und schnellen Verstand die charmantesten Lobsprüche. – Das Wetter, das in den ersten Tagen meist Regen brachte, hatte sich gefaßt und versprach beständig zu bleiben. So langte man eines Abends ganz wohlgemut in einer ehemaligen Reichsstadt an, wo übernachtet werden mußte. Unsere Gesellschaft war in dem besten Gasthofe untergebracht, und während diese sich auf ihre Weise gütlich tut, möge der Leser es nicht verschmähen, auf kurze Zeit an einer entfernten Trinkgesellschaft aus der niedern Volksklasse teilzunehmen. Konrad hofft seine Rechnung dort besser als an jedem andern Orte zu finden; man hat ihn auf ein großes Brauereigebäude, den Kapuzinerkeller, neugierig gemacht und er wird uns den Weg dahin zeigen.

Es lag der genannte Keller in einem ziemlich düstern und schmutzigen Winkel der Altstadt und bildete den Schluß einer Sackgasse, die meist von Küfern, Gerbern und dergleichen bewohnt ward. Konrad sitzt in dem vordern allgemeinen Trinkzimmer, [289] hart an der offnen Tür einer Nebenstube, der er seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Dort hat nämlich ein Zirkel von fünf bis sechs regelmäßigen Gästen seinen Tisch, dessen schmale Seite von einem breitschultrigen Manne mit pockennarbigem Gesicht besetzt ist, einem aufgeweckten und, wie es scheint, etwas verwilderten Burschen. Aus seinen kleinen schwarzen Augen blitzte die helle Spottlustigkeit, eine zu allerlei Sprüngen und Possen aufgelegte Einbildungskraft. Er trug seine Scherze übrigens mit trockener Miene vor, und machte die Seele der Gesellschaft aus. Man nannte ihn den Büchsenmacher, auch wohl Stelzfuß, denn er hatte ein hölzernes Bein. Zwei Mann unter ihm saß ein Mensch von etwa sechsunddreißig Jahren. Es war keine besonders feine Beobachtungsgabe nötig, um in dieser Gestalt, diesem Kopfe etwas Bedeutenderes und durchaus Edleres zu entdecken, als man sonst in einem solchen Kreis erwarten würde. Ein schmales, ziemlich verwittertes und tiefgefurchtes Gesicht, das unstete feurige Auge, eine leidenschaftliche Hast in den anständigen Bewegungen zeugten offenbar von ungewöhnlichen Stürmen, die der Mann im Leben mochte erfahren haben. Er sprach wenig, sah meist zerstreut vor sich nieder, und doch, je nachdem ihm die Laune ankam, konnte er an Einfällen den Stelzfuß sogar überbieten, nur daß dies immer auf eine feinere Weise geschah, und ohne sich das geringste zu vergeben. Alle betrachteten ihn mit auffallender Distinktion, ja mit einer gewissen Scheu, obgleich er nur Joseph, der Tischler, hieß. Ihm gegenüber hatte ein jüngerer Geselle, namens Perse, ein Goldarbeiter, sein Glas stehen. Es war der einzige, mit dem Joseph auch außerhalb dem Wirtshaus einigen Umgang pflegen mochte. Von den übrigen wüßten wir nichts weiter zu sagen, als daß es aufgeweckte Leute und ehrbare Handwerker waren.

»Mir fehlt heut etwas«, sagte der Büchsenmacher, »ich weiß nicht was. Ich hab das Licht nun schon viermal hintereinander geputzt, in der Meinung, der weil ein frisches Trumm in meinem Kopf zu finden, denn euer einerlei Geschwätz da von Meistern, Kunden, Herrschaften ist mir ganz und gar zum Ekel, ich weiß von diesem Quark lange nichts mehr und will vorderhand auch nichts davon hören. Die Lichtputze noch einmal! und jetzt was Neues, ihr Herrn! Mir schnurrt eine Grille im Oberhaus. Es wäre nicht übel, der Mensch hätte für seinen Kopf, wenn der Docht zu lang wird, auch so eine Gattung Instrumente oder[290] Vorrichtung am Ohr, um sich wieder einen frischen Gedankenansatz zu geben. Zwar hat man mir schon in der Schule versichert, daß seit Erfindung der Ohrfeigen in diesem Punkte nichts mehr zu wünschen übrig sei; das mag vielleicht für junge Köpfe gelten, aber ich bin bald vierzig; nur in diesem köstlichen Öl, ich meine diesen goldnen Trank aus Malz und Hopfen, find ich ein kleines Surrogat für –«

»Spaß beiseit!« rief Perse ihn unterbrechend, »ich kann mir überhaupt nicht denken, Lörmer, wie dir's nur eine Stunde wohl sein mag bei dem unnützen Leben, das du in den zwei Monaten führst, seit du Hamburg verlassen hast. Bei Gott, ich wollt dich schon mehrmals auf dies Kapitel bringen und dir zureden, denn mich dauert's in der Seele, wenn sie davon erzählen, wie du ein geschickter Arbeiter gewesen, wie du Grütz und Gaben hättest, dich den ersten Meistern in deinem Fache gleichzustellen und dein Glück zu machen auf Zeitlebens – und nun! sich hier auf die faule Haut legen, höchstens um Taglohn für Hungersterben da und dort ein Stück Arbeit annehmen in einer fremden Werkstatt und dich schlecht bezahlen lassen für gute Ware, wie sie dem Geübtesten nicht aus der Hand geht! Heißt das aber nicht gesündigt an dir selber? ist das nicht himmelschreiend?«

Der Angeredete schaute verwundert auf über diese unerwartete Lektion und lauerte einigermaßen beschämt nach Joseph hinüber, als wollte er dessen Gedanken belauschen; aber dieser traf ihn mit einem finstern, bedeutungsvollen Blick, wobei sich die übrigen allerlei zu denken schienen.

»Was?« nahm Perse wieder das Wort, »will dem Kerl niemand die Wahrheit sagen? hat keiner das Herz, ihm den Leviten zu lesen, wie's recht ist? Redet doch auch ihr andern!«

»Redet nicht ihr andern!« entgegnete ernsthaft der Büchsenmacher; »das ist, hol mich der Teufel, kein Text für diesen Abend und für die Schenke, wo man Fried haben will. Ich sag euch, und das ist mein letzt Wort in der Sache: gar gut weiß ich, woran ich bin mit mir selber, und soviel ist auch gewiß, wenn ichwill hat dies tolle Leben ein End über Nacht. Der Lörmer wird sich vom Kopf bis zum Fuß das alte Fell abziehen mit einemmal, wie man einen Handschuh abreißt. Ihr sollt sehen. Laßt mich aber indes mit eurer Predigt in Ruh, sie richtet in zwei Jahren nicht aus, was der ungefähre Windstoß eines frischen Augenblicks bei mir aufjagt. – Muß aber heut ja von Lumperei [291] die Rede sein, so will ich euch und« – hiemit nahm der Sprecher plötzlich seine wohlbehagliche, muntere Haltung wieder an – »will ich euch ein Rätsel vorlegen in betreff eines Lumpen, der sich auf unbegreifliche Weise innerhalb vierundzwanzig Stunden zum flotten Mann poussiert hat, und zwar ist es einer aus unserer Gesellschaft.« »Wie? Was?« riefen einige. »Ohne Zweifel«, erwiderte der Büchsenmacher; »er befindet sich zwar gegenwärtig nicht unter uns und schon mehrere Tage nicht, aber er rechnet sich zur Kompanie, er versprach heute zu kommen, und es wäre unbarmherzig, wenn ihr ihn nicht wenigstens als Anhängsel, als ein Schwänzchen von mir wolltet mitzählen lassen.« »Ah!« rief man lachend, »die Figur! die Figur! er meint die Figur!«

»Allerdings«, fuhr der andere fort, »ich meine das spindeldünne bleichsüchtige Wesen, das mir von Hamburg an, ungebetenerweise und ohne vorausgegangene genauere Bekanntschaft hieher folgte, um, wie er sagte, in meinen Armen den Tod seines unvergeßlichen Freundes und Bruders, des Buchdruckers Murschel, zu beweinen. Nun wißt ihr, ich bewohne seit einiger Zeit mit diesem zärtlichen Barbier, Sigismund Wispeln, eine Stube, er ißt mit mir und ich teile aus christlicher Milde alles mit ihm bis auf das Bett, das ich mir aus billigen Gründen allein vorbehalten. Man hat aber keinen Begriff, was ich für ein Leiden mit dieser Gesellschaft habe. Schon sein bloßer Anblick kann einen alterieren. Eine Menge kurioser Angewohnheiten, eine unermüdliche Sorgfalt, seine Milbenhaut zu reiben und zu hätscheln, seine rötlichen Haare mit allerlei gemeinem Fette zu beträufeln, seine Nägel bis aufs Blut zu schneiden und zu schaben – ich bekomme Gichter beim bloßen Gedanken! und wenn er nun die Lippen so süß zuspitzt und mit den Augen blinzt, weil er, wie er zu sagen pflegt, an der Wimper kränkelt, oder wenn er sich mit den tausend Liebkosungen und Gesten an mich anschmiegt, da dreht sich der Magen in mir um und ich hab ihn wegen dieser Freundschaftsbezeugungen mehr als einmal wie einen Flederwisch an die Wand fliegen lassen. Nun ging ich neulich damit um, mir das Geschöpf mit guter Art vom Hals zu schaffen. Vielleicht ist euch nicht unbekannt, daß der Kerl an Händ und Füßen, besonders aber zwischen den Zehen, wirkliche Schwimmhäute hat, auch lebe ich der festen Überzeugung, man würde aus seinen Gliedmaßen lauter schmale Stäbe von Fischbein, statt der Knochen, ziehen und überhaupt die wunderbarsten [292] Dinge bei ihm entdecken. Mein Rat war also, sich zuvörderst von einem Professor besichtigen und dann dem Fürsten empfehlen zu lassen, vor allen Dingen aber sich aus meinem Logis zu verlegen. Dieser mein Vorschlag kam freilich etwas unerwartet, und ich mußte ihm schon einige Tage Zeit gönnen, um sich zu fassen. Gestern morgen aber stand er ungewöhnlich früh vom Bette auf; ich lag noch halbschlafend mit geschlossenen Augen, mußte aber im Geist jede Gebärde verfolgen, die der Widerwart während des Ankleidens machte, jede Miene, nein, ich sage passender, jeden Gesichtsschnörkel, der sich während des Waschens zwanzig- und dreißigfältig bei ihm formierte Jetzt griff er nach seinem ordinären Frühstück, einem vollen Glas mit kaltem Brunnenwasser, jetzt hört ich ihn seine beinernen Finger auf den Tisch setzen und knackend abdrucken, daß die Wände gellten, das gewöhnliche Manöver, wodurch er mich zum Erwachen, zum Gespräch zu bringen sucht, und ›Guten Morgen, Bruder! wie schlief sich's‹ lispelt er, aber ich rühre mich nicht. Er wiederholt den Gruß noch einigemal, ohne Erfolg; endlich fühle ich meine Nase zärtlich von zwei eiskalten Fingerspitzen gehalten, ich fahre auf und der Freund hat eben noch Zeit, sich meinem Zorn durch eine schnelle Ausbeugung zu entziehen. Allein wie groß war mein Erstaunen, als ich den Hundsfott im neuen schwarzen Frack, mit neumodisch hoher Halsbinde und süperbem Hemdstrich in der Ecke stehen sah. Die mir wohlbekannte verblichene Hose aus Nanking und die abgenutzten Schuhe zeugten zwar noch von gestern und ehegestern, aber die übrige Pracht, woher kam sie an solchen Schuft? Gestohlen oder entlehnt waren wenigstens die Kleider nicht, denn bald fand ich die quittierten Rechnungen von Tuchhändler und Schneider mit Stecknadeln wie Schmetterlinge an das bekannte armselige Hütchen gesteckt, das naseweis von dem hohen Bettstollen auf seinen veränderten Herrn blickte. Vergebens waren alle meine Fragen über diese glücklich begonnene Besserung der Umstände meines Tropfen; ich erhielt nur ein geheimnisvolles Lächeln und noch heute ist mir das Rätsel nicht gelöst. Der Schuft muß auch bare Münze haben; er sprach von einer Schadloshaltung, von einem Kostgeld und dergleichen. Übrigens speist er, wie ich höre, jetzt regelmäßig im Goldenen Schwan. Nun! sagt mir, ist einer unter euch, der mir beweist, es gehe so was mit natürlichen, oder doch ehrlichen Dingen zu? Sagt, muß man den Menschen nicht in ein freundschaftliches [293] Verhör nehmen, ehe die Obrigkeit Verdacht schöpft und unsern Bruder einsteckt?«

Man sprach, man riet, man lachte herüber und hinüber. Endlich nahm der Stelzfuß das Wort wieder, indem er sagte: »Weil wir ohnedem jetzt an dem Kapitel von den Mirakeln sind, so sollt ihr noch eine kleine Geschichte hören. Sie hat sich erst heute zugetragen, steht aber hoffentlich in keinem Zusammenhang mit der vorigen. Diesen Morgen kommt ein Jude zu mir, hat einen Sack unterm Arm und fragt, ob ich nichts zu schachern hätte, er habe da einen guten Rock zu verhandeln. Der Kerl muß die schwache Seite an dem meinigen entdeckt haben; das verdroß mich und ich war dem Spitzbuben ohnedies spinnefeind. Während ich also im stillen überlege, auf was Art ich den Sünder am zweckmäßigsten die Treppe hinunterwerfe, fällt mir zufällig meine Taschenuhr ins Aug. Nun weiß ich nicht, war es ein weichherziger Gedanke an meinen seligen Vater, von welchem mir das Erbstück kam, oder was war es, daß ich plötzlich in mitleidige Gesinnungen überging. Ich dachte, ein Jud ist doch gleichsam auch eine Kreatur Gottes und dergleichen; kurz, ich nahm die Uhr höchst gerührt vom Nagel an meinem Bette, besah sie noch einmal und fragte: was sie gelten soll? Der Schurke schlug sie nun für ein wahres Spottgeld an und ich gab ihm einen Backenstreich, den schlug er aber gar nicht an, und endlich wurden wir doch handelseinig.«

Alles lachte über diese sonderbare Erzählung, nur dem Joseph schien sie im stillen weh getan zu haben.

»Wartet doch«, fuhr der Stelzfuß fort, »das Beste kommt noch. Ich ging mit meinen zwei Talern, die ich ungesehn, wie Sündengeld in die Tasche steckte, aus dem Haus, ohne recht zu wissen wohin. Soviel ist sicher, ich langte endlich vor dem besten Weinhaus an und nahm dort ein mäßiges Frühstück zu mir. Da mir aber, wie gesagt, ein Jude meinen Zeitweiser gestohlen, so wußt ich schlechterdings nicht, woran ich eigentlich mit dem Tag sei; kurz, es wurde Abend, eh mir der Kellner die letzte Flasche brachte. Ich gehe endlich heim, ich komme auf meiner Kammer an und spaziere in der Dämmerung auf und ab; zuweilen blinzl' ich nach dem leeren Nagel hinüber und pfeife dazu, wie einer, der kein gut Gewissen hat. Auf einmal ist mir, es lasse sich etwas hören wie das Picken eines solchen Dings, dergleichen ich heute eins verlor; ganz erschrocken spitz ich die Ohren. Das tut wohl der Holzwurm in meinem Stelzfuß, [294] denk ich, und stoße den Stelzen gegen die Wand, wie immer geschieht, wenn mir's die Bestie drin zu arg macht. Aber Pinke Pink, Pinke Pink, immerfort und zwar nur etliche Schritte von mir weg. Bei meiner armen Seele, ich dacht einen Augenblick an den Geist meines guten Vaters. Indessen kommt mir ein Päckel unter die Hand, ich reiß es auf und, daß ich's kurz mache, da lag meine alte Genferin drin! Weiß nicht, wie mir dabei zumut wurde; ich war ein veritabler Narr für Freuden, sprach französisch und kalmukisch untereinander mit meiner Genferin, mir war, als hätten wir uns zehn Jahre nicht gesehn. Jetzt fiel mir ein Zettel in die Finger, der – nun, das gehört nicht zur Sache. Schaut, hier ist das gute Tier!« und hiemit legte er die Uhr auf den Tisch.

»Aber der Zettel?« fragte einer, »was stand darauf? wer schickte das Paket?« – Der Büchsenmacher griff stillschweigend nach dem vollen Glas, drückte nach einem guten Schluck martialisch die Lippen zusammen und sagte kopfschüttelnd: »Weiß nicht, will's auch nicht wissen.« »Aber dein ist die Uhr wieder?« »Und bleibt mein«, war die Antwort, »bis ins Grab, das schwör ich euch.«

Während dieser Erzählung hatte Perse etlichemal einen pfiffigen Blick gegen den Tischler hinüberlaufen lassen, und er und alle merkten wohl, daß Joseph der unbekannte Wohltäter gewesen war.

Jetzt hob der Büchsenmacher sachte seinen hölzernen Fuß in die Höhe und legte ihn mitten auf den Tisch Dabei sagte er mit angenommenem Ernst: »Seht, meine Herren, da drinne haust ein Wurm; es ist meine Totenuhr hat der Bursche das Holz durchgefressen und das Bein knackt einmal, eben wenn ich zum Exempel über den Stadtgraben zu einem Schoppen Roten spaziere, so schlägt mein letztes Stündlein. Das ist nun nicht anders zu machen, Freunde. Ich denke gar häufig an meinen Stelzen, d.h. an den Tod, wie einem guten Christen ziemt. Er ist mein Memento mori, wie der Lateiner zu sagen pflegt. So werden einst die Würmer auch an euren fleischernen Stötzchen sich erlustigen. Prosit Mahlzeit, und euch ein selig Ende! Aber wir gedenken bis dahin noch manchen Gang nach dem Kapuzinerkeller zu tun und beim Heimgang über manchen Stein wegzustolpern,


bis das Stelzlein bricht, juhe!
bricht, juhe!
bis das Stelzlein bricht!«

[295] So sang der Büchsenmacher mit einer Anwandlung von Roheit, die ihm sonst nicht eigen war, und von einer desperaten Lustigkeit begeistert, womit er sich selbst, noch mehr aber dem Joseph wehe tat. – Auf einmal schlug Lörmer den Fuß dreimal so heftig auf das Tischblatt, daß alle Gläser zusammenfuhren, und zugleich entstand ein helles Gelächter, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine Figur trat ein, in welcher der elegante Barbier Wispel keineswegs zu verkennen war.

Er schwebte einigemal vornehm hüstelnd in der vordern Stube auf und ab, strich sich den Titus vor dem Spiegel und schielte im Vorübergehen nach unserer Gesellschaft.

»O Span der Menschheit!« brummte Joseph leise in den Bart, denn Lörmer hatte den andern gleich anfangs ein Zeichen gegeben, man müsse tun, als bemerke man Sigismund gar nicht. Dieser ließ sich in dessen mit vieler Grazie an Konrads Tisch nieder, wo er die Freunde auf vier Schritte im Aug hatte. Er nippte zimpferlich aus einem Kelche Schnaps, warf wichtige Blicke umher, klimperte mit dem Messer auf dem Teller und suchte sich auf alle Art bemerklich zu machen.

»Habt ihr«, fing der Büchsenmacher gegen die andern gewendet an, »ei, habt ihr von dem Joko, dem brasilianischen Affen, auch schon gehört, von dem wirklich in allen Zeitungen steht?«

»Ja«, erwiderte Joseph, »aber er soll sich flüchtig gemacht haben; man vermutet, daß er einer Theatergarderobe ein und anderes entwendet, sich Gesicht und Hände rasiert und so gänzlich unkennbar, beschlossen habe, sich die Welt ein wenig zu mustern.«

Diese Rede gab Wispeln Gelegenheit, über das bekannte Ballett ein kunstverständiges Gespräch mit seinem nächsten Nachbar, dem Kutscher unserer drei Reisenden, anzubinden. Konrad, die hochtrabenden Floskeln des Windbeutels keineswegs zu erwidern imstande, nahm seinen ganzen Witz zusammen, ihn seinerseits zum besten zu haben, woran denn die Gesellschaft ihren köstlichen Spaß hatte. Je länger aber der Kutscher sich seinen Mann betrachtet, desto mehr kommt ihm vor, als hätte er den Menschen schon irgendwo gesehen, ja zuletzt geht ihm wirklich ein Licht auf: zu Neuburg selbst war es gewesen, wo Nolten vor drei Jahren diesen Wicht als dienendes Subjekt bei sich gehabt. Kaum hat ihm Konrad seinen Gedanken zugeraunt und etwas von der Anwesenheit seines [296] ehemaligen Herrn fallenlassen, so springt Wispel wie besessen auf, nimmt Hut und Stock, und fliegt, über Stühle und Bänke wegsetzend, davon, indem der Kutscher ihm ebenso flugfertig auf dem Fuße nachfolgt, eh die verblüffte Gesellschaft nur fragen kann, was der tolle Auftritt bedeute.

Eben kommt Konrad noch zu der erstaunlichen Szene, wo Wispel sich dem Maler zu erkennen gegeben hat. Dieser saß eben mit den beiden Mädchen auf seinem Zimmer beim Nachtessen und jedes ergötzte sich nun von ganzem Herzen an dieser lächerlichen Erscheinung. »Aber«, fängt der Barbier nach einer Weile mit geheimnisvoller Preziosität zu lispeln an, »wenn mich nicht alles trügt, so war Ihnen, mein Wertester, bis jetzt noch völlig unbewußt, welche seltene Connaissancen Sie in hiesiger Stadt zu erneuern Gelegenheit finden würden.«

»Wirklich?« antwortete der Maler; »es fiel mir nicht im Traume ein, daß mir dein edles Angesicht hier wieder begegnen sollte, aber Berg und Tal kommen zusammen und das nächste Mal seh ich dich, so Gott will, am Galgen.«

»Aye! je vous rends mille graces! Sie scherzen, mein Bester. Doch ich sprach soeben nicht sowohl von meiner Wenigkeit, als vielmehr von einer gewissen Person, die früher sehr an Sie attachiert, gegenwärtig in unsern Mauern habitiert, freilich unter so prekären Umständen, daß ich zweifle, ob ein Mann wie Sie, es anständig findet, sich einer solchen liaison auch nur zu erinnern. Auch muß ich gestehn, das Individuum, wovon ich eben rede, machte es mir gewissermaßen zur Pflicht, sein Inkognito unter allen Umständen –«

»Ei so packe dich doch zum Henker, du heilloser, unerträglicher Schwätzer!«

»Aha, da haben wir's ja! Sie merken, aus welcher Hecke der Vogel pfeift, und mögen nichts davon hören. O amitié, oh fille d'Avril – so heißt ein altes Lied. Waren Sie beide doch einst wie Kastor und Pollux! Aber – loin des yeux, loin du cœur!«

Jetzt wird Nolten plötzlich aufmerksam, eine schnelle Ahnung schauert in ihm auf, er schüttelt den Barbier wie außer sich an der Brust, und nach hundert unausstehlichen Umschweifen flüstert der Mensch endlich Theobalden einen Namen ins Ohr, worauf dieser sich entfärbt und mit Heftigkeit ausruft: »Ist das möglich? Lügst du mir nicht, Elender? Wo – – wo ist er? Kann ich ihn sehen, kann ich ihn sprechen? jetzt? um Gottes willen, jetzt im Augenblick?«

[297] »Quelle émotion Monsieur!« krächzt Wispel, »tout-beau! Ecoutez moi!« Jetzt nimmt er eine seriöse Stellung an, räuspert sich ganz zart und sagt: »Kennen Sie vielleicht, mein Wertester, den sogenannten Kapuzinerkeller? le caveau des capucins, ein Gebäude, das seines klösterlichen Ursprungs wegen in der Tat historisches Moment hat; es soll nämlich bereits zu Anfange des neunten Siècle –«

»Schweig mir, du Teufel, und führ mich zu ihm«, schreit Nolten, indem er den Burschen mit sich fortreißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift nichts von allem und fleht mit Nannetten vergebens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie von Sinnen einige unverständliche Worte zu und stürmt mit Wispeln die Treppe hinunter.

Sie kommen vor den erwähnten Gasthof und treten in die große Wirtsstube vorn, die sich unterdessen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl und Geschwirre der Gäste ist so unmäßig, daß niemand die Eintretenden bemerkt. Jetzt klopft Wispel unserm Maler sachte auf die Schulter und deutet zwischen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den wir vorhin als Joseph, den Tischler, bezeichneten. Nolten, wie er hinschaut, wie er das Gesicht des Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu sinken, seine Brust krampft sich zusammen im entsetzlichsten Drang der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum zweitenmal hinzusehn, und doch, er wagt's und – ja! es ist sein Larkens! er ist's, aber Gott! in welcher unseligen Verwandlung! Wie mit umstrickten Füßen bleibt Theobald an eine Säule gelehnt stehen, die Hände vors Auge gedeckt und glühende Tränen entstürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm ist, als wenn er, von einer Riesenhand im Flug einer Sekunde durch den Raum der tosenden Hölle getragen, die Gestalt des teuersten Freunds erblickt hätte, mitten im Kreis der Verworfenen sitzend. Noch schwankt das fürchterliche Bild vor seiner Seele, und sinkt und sinkt, und will doch nicht versinken – da klopft ihn wieder jemand auf den Arm und Wispel flüstert ihm hastig die Worte zu: »Sacre-bleu, mein Herr, er muß Sie gesehen haben, soeben steht er blaß wie die Wand von seinem Sitz auf, und wie ich meine, er will auf Sie zugehen, reißt er die Seitentür auf und – weg ist er, als hätt ihn der Leibhaftige gejagt. Kommen Sie plötzlich ihm nach – er kann nicht weit sein, ich weiß seine Gänge, fassen Sie sich!«

Nolten, wie taub, starrt nach dem leeren Stuhle hin, indessen [298] Wispel immer schwatzt und lacht und treibt. Jetzt eilt der Maler in ein Kabinett, läßt sich Papier und Schreibzeug bringen, wirft drei Linien auf ein Blatt, das Wispel um jeden Preis dem Schauspieler zustellen soll. Wie ein Pfeil schießt der Barbier davon. Nolten kehrt in sein Quartier zurück, wo er die Frauenzimmer aus der schrecklichsten Ungewißheit erlöst und ihnen, freilich verwirrt und abgebrochen genug, die Hauptsache erklärt.

Es dauert eine Stunde, bis der Abgesandte endlich kommt, und was das schlimmste war, ganz unverrichteter Dinge. Er habe, sagte er, den Flüchtling allerorten gesucht, wo nur irgendeine Möglichkeit gedenkbar gewesen; in seiner Wohnung wisse man nichts von ihm, doch wäre zu vermuten, daß er sich eingeriegelt hätte, denn ein Nachbar wolle ihn haben in das Haus gehen sehn.

Da es schon sehr spät war, mußte man für heute jeden weitern Versuch aufgeben. Man verabredete das Nötige für den folgenden Tag und die auf morgen früh festgesetzte Abreise ward verschoben. Unsere Reisenden begaben sich zur Ruhe; alle verbrachten eine schlaflose Nacht.

Des andern Morgens, die Sonne war eben herrlich aufgegangen, erhob sich unser Freund in aller Stille und suchte sein erhitztes Blut im Freien abzukühlen. Erst durchstrich er einige Straßen der noch wenig belebten Stadt, wo er die fremden Häuser, die Plätze, das Pflaster, jeden unbedeutenden Gegenstand mit stiller Aufmerksamkeit betrachten mußte, weil sich alles mit dem Bilde seines Freundes in eine wehmütige Verbindung zu setzen schien. Sooft er wieder um eine Ecke beugte, sollte ihm, wie er meinte, der Zufall Larkens in die Hände führen. Aber da war keine bekannte Seele weit und breit. Die Schwalben zwitscherten und schwirrten fröhlich durch den Morgenduft, und Theobald konnte nicht umhin, diese glücklichen Geschöpfe zu beneiden. Wie hätte er so gerne die Erscheinung von gestern als einen schwülen, wüsten Traum auf einmal vor dem Gehirn wegstäuben mögen! In einer der hohen Straßenlaternen brannte das nächtliche Lämpchen, seine gemessene Zeit überlebend, mit sonderbarem Zwitterlichte noch in den hellen Tag hinein: so und nicht anders spukte in Theobalds Erinnerung ein düsterer Rest jener schrecklichen Nachtszene, die ihm mit jedem Augenblick unglaublicher vorkam.

[299] Ungeduld und Furcht trieben ihn endlich zu seinem Gasthof zurück. Wie rührend kam ihm Agnes schon auf der Schwelle mit schüchternem Gruß und Kuß entgegen! wie leise forschte sie an ihm, nach seiner Hoffnung, seiner Sorge, die zu zerstreuen sie nicht wagen durfte! So verging eine bange, leere Stunde, es vergingen zwei und drei, ohne daß ein Mensch erschien, der auch nur eine Nachricht überbracht hätte. Sooft jemand die Treppe herankam, schlug Nolten das Herz bis an die Kehle; unbegreiflich war es, daß selbst Wispel nichts von sich sehen ließ; die Unruhe, worin die drei Reisenden einsilbig, untätig, verdrießlich umeinander standen, saßen und gingen, wäre nicht zu beschreiben.

Nannette hatte soeben ein Buch ergriffen und sich erboten, etwas vorzulesen, als man plötzlich durch einen immer näher kommenden Tumult auf dem Gange zusammengeschreckt von den Stühlen auffuhr, zu sehen was es gibt. Der Barbier, außer Atem mit kreischender Stimme, stürzt in das Zimmer und während er vergeblich nach Worten sucht, um etwas Entsetzliches anzukündigen, ist der Ausdruck von unverstelltem Schmerz und Abscheu auf dem verzerrten Gesichte dieses Menschen wahrhaft schauerlich für alle Anwesenden.

»Wissen Sie's denn noch nicht?« stottert er – »heiliger barmherziger Gott! es ist zu gräßlich – der Joseph da – der Larkens, werden Sie's glauben – er hat sich einen Tod angetan – heute nacht – wer hätte das auch denken können – Gift! Gift hat er genommen – Gehn Sie, mein Herr, gehn Sie nur und sehen mit eignen Augen, wenn Sie noch zweifeln! Die Polizei und die Doktoren und was weiß ich? sind schon dort, es ist ein Zusammenrennen vor dem Haus und ein Geschrei, daß mir ganz übel ward. Bald hätt ich Sie vergessen über dem Schreck, da lief ich denn, soviel die Füße vermochten, und –«

Nolten war stumm auf den Sessel niedergesunken. Agnes schloß sich tröstend an ihn, während Nannette die eingetretene Totenstille mit der Frage unterbrach: ob denn keine Rettung möglich sei?

»Ach nein, Mademoiselle!« ist die stockende Antwort, »die Ärzte sagen, zum wenigsten sei er seit vier Stunden verschieden Ich kann's nicht alles wiederholen, was sie schwatzten. – O liebster, bester Herr, vergeben Sie, was ich gestern in der Torheit sprach Sie waren sein Freund, Ihnen geht sein Schicksal so sehr zu Herzen, so entreißen Sie ihn den Blicken, den Händen [300] der Doktoren, eh diese seinen armen Leib verletzen! Ich bin ein elender, nichtswürdiger, hündischer Schuft, hab Ihren Freund so schändlich mißbraucht und verdiene nicht, hier vor Ihnen zu stehen, aber möge Gott mich ewig verdammen, wenn ich jetzt fühllos bin, wenn ich nicht hundertfach den Tod ausstehen könnte für diesen Mann, der seinesgleichen auf der Welt nimmer hat. Und nun soll man ihn traktieren dürfen wie einen gemeinen Sünder! Hätten Sie gehört, was für unchristliche Reden der Medikus führte, der S. –, ich hätt ihn zerreißen mögen als er mit dem Finger auf das Gläschen hinwies, worin das Operment gewesen, und er mit lachender Miene zu einem andern sagte: ›Der Narr wollte recht sichergehen, daß ihn ja der Teufel nicht auf halbem Weg wieder zurückschicke, ich wette die Phiole da war voll, aber solche Lümmel rechnen alles nach der Maßkalme! – nicht wahr Herr Hofrat, wer par force tot sein will, kann doch wohl weder im comparativo noch superlativo tot sein wollen?‹ Und dabei nahm der dicke, hochweise Perückenkopf eine Prise aus seiner goldenen Tabatiere, so kaltblütig, so vornehm, daß ich – ja glauben Sie, das hat Wispeln weh getan, weher als alles – Wispel hat auch Gefühl, daß Sie's nur wissen, ich habe auch noch ein Herz!« Hier weinte der Barbier wirklich wie ein Kind. Aber da er nun mit geläufiger Zunge fortfahren wollte, das Aussehen des Toten zu beschreiben, wehrte der Maler heftig mit der Hand, schlang die Arme wütend um den Leib Agnesens und schluchzte laut. »O Allmächtiger!« rief er vom Stuhle aufstehend und mit gerungenen Händen durchs Zimmer stürmend, »also dazu mußt ich hieher kommen! Mein armer, armer, teurer Freund! Ich, ja ich habe seinen fürchterlichen Entschluß befördert, mein Erscheinen war ihm das Zeichen zum tödlichen Aufbruch. Aber welch unglückseliger Wahn gab ihm ein, daß er vor mir fliehen müsse? und so auf ewig, so ohne ein liebevolles Wort des Abschieds, der Versöhnung! Sah ich denn darnach aus, als ob ich käme, ihn zur Verzweiflung zu bringen? Und wenn auf meiner Stirn die Jammerfrage stand, warum mein Larkens doch so tief gefallen sei, gerechter Gott! war's nicht natürlich? konnt ich mit lachendem Gesicht, mit offnen Armen, als wäre nichts geschehen ihn begrüßen? konnt ich gefaßt sein auf ein solches Wiedersehen? Und doch, war ich es denn nicht längst gewohnt, das Unerhörte für bekannt anzunehmen, wenn er es tat? das Unerlaubte zu entschuldigen, wenn es von ihm ausging? Es hat [301] mich überrascht, auf Augenblicke stieg ein arger Zweifel in mir auf, und in der nächsten Minute straft' ich mich selber Lügen: gewiß, mein Larkens ist sich selber treu und gleich geblieben, sein großes Herz, der tiefverborgene edle Demant seines Wesens blieb unberührt vom Schlamme, worein der Arme sich verlor!«

Schon zu Anfang dieser heftigen Selbstanklage hatte sich sachte die Tür geöffnet, kleinmütig und mit stummem Gruße, einen gesiegelten Brief in der Hand, war der Büchsenmacher eingetreten, ohne daß der Maler ihn wahrgenommen hätte. Starr vor sich hinschauend stand der Stelzfuß an der Seite des Ofens und jedermann fiel es auf, wie er bei den letzten Worten Theobalds zuweilen die buschigen Augbraunen finster bewegte und zornglühende Funken nach dem Manne hinüberschickte, der mitten im Jammer beinahe ehrenrührig von dem Verstorbenen und dessen gewohnter Umgebung zu sprechen schien.

Kaum hatte Nolten geendigt, so trat der Büchsenmacher gelassen hervor mit den Worten: »Lieber Herr! es ist für uns beide recht gut, daß Sie gerade selber aufhören, denn ich stand auf heißen Kohlen im Winkel dort, weil's fast aussehen konnte, als wollt ich horchen; das ist aber meine Sache nicht, sonderlich wenn es mein eigenes oder meiner Kameraden Lob oder Schande gilt, und davon war just eben die Rede. Ihre Worte in Ehren, Herr, Sie müssen ein genauer Freund von meinem wackern Joseph gewesen sein, also sei's Ihnen zugut gehalten. Werden späterhin wohl selbsten innewerden, daß Sie dato nicht so ganz recht berichtet sind, was für eine Bewandtnis es mit dem Joseph und seiner Genossenschaft habe. Ich sollte meinen, er hatte sich seiner Leute nicht eben zu schämen. Nun, das mag ruhen vorderhand; zuvörderst ist es meine Pflicht und Schuldigkeit, daß ich Ihnen gegenwärtiges Schreiben übermache, denn es wird wohl für Sie gehören; man fand es, wie es ist, auf dem Tisch in Josephs Stube liegen.«

Begierig nahm Theobald den dargebotenen Brief und eilte damit in ein anderes Zimmer. Als er nach einer ziemlichen Weile wieder zurückkam, konnte man auf seinem Gesicht eine gewisse feierliche Ruhe bemerken, er sprach gelassener, gefaßter, und wußte namentlich den gekränkten Handwerker bald wieder zu beruhigen. Übrigens entließ er für jetzt die beiden Kameraden, um mit Agnesen und der Schwester allein zu sein und ihnen das Wesentlichste vom Zusammenhang der Sache zu eröffnen. [302] Oft unterbrach ihn der Schmerz, er stockte, und seine Blicke wühlten verworren am Boden.

Von dem Inhalt jenes hinterlassenen Schreibens wissen wir nur das Allgemeinste, da Nolten selbst ein Geheimnis daraus machte. Soviel wir darüber erfahren konnten, war es eine kurze, nüchterne, ja für das Gefühl der Hinterbliebenen gewissermaßen versöhnende Rechtfertigung der schauderhaften Tat, welche seit längerer Zeit im stillen vorbereitet gewesen sein mußte, und deren Ausführung allerdings durch Noltens Erscheinen beschleunigt worden war, wiewohl in einem Sinne, der für Nolten selbst keinen Vorwurf enthielt. Auch wäre die Meinung irrig, daß nur das Beschämende der Überraschung den Schauspieler blindlings zu einem übereilten Entschluß hingerissen habe, denn wirklich hat sich nachher zur Genüge gezeigt, wie wenig ihm seine neuerliche Lebensweise, so seltsam sie auch gewählt sein mochte, zu eigentlicher Unehre gereichen konnte. Begreiflich aber wird man es finden, wenn bei der Begegnung des geliebtesten Freundes der Gedanke an eine zerrissene Vergangenheit mit überwältigender Schwere auf das Gemüt des Unglücklichen hereinstürzte, wenn er sich ein für allemal von demjenigen abwenden wollte, mit dem er in keinem Betracht mehr gleichen Schritt zu halten hoffen durfte, und aus dessen reiner Glücksnähe ihn der Fluch seines eigenen Schicksals für immer zu verbannen schien.

(Einige Jahre nachher hörten wir von Bekannten des Malers die Behauptung geltend machen, daß den Schauspieler eine geheime Leidenschaft für die Braut seines Freundes zu dem verzweifelten Entschlusse gebracht habe. Wir wären weit entfernt, diese Sage, wozu eine Äußerung Noltens selbst Veranlassung gegeben haben soll, schlechthin zu verwerfen, wenn wirklich zu erweisen wäre, daß Larkens, wie allerdings vorgegeben wird, kurz nachdem er seine Laufbahn geändert, Agnesen bei einer öffentlichen Gelegenheit, und unerkannt von ihr, zu Neuburg gesehen habe. – Getraut man sich also nicht, hierin eine sichere Entscheidung zu geben, so müssen wir das harte Urteil derjenigen, welche dem Unglücklichen selbst im Tode noch eine eitle Bizarrerie schuld geben möchten, desto entschiedener abweisen.)

»O wenn du wüßtest«, rief Theobald Agnesen zu, »was dieser Mann mir gewesen, hätt ich dir nur erst entdeckt, was auch du ihm schuldig bist, du würdest mich fürwahr nicht schelten, wenn mein Schmerz ohne Grenzen ist!« Agnes wagte gegenwärtig [303] nicht zu fragen, was mit diesen Worten gemeint sei, und sie konnte ihm nicht widersprechen, als er das unruhigste Verlangen bezeigte, den Verstorbenen selber zu sehen. Zugleich ward ihm die Sorge für den Nachlaß, für die Bestattung seines Freundes zur wichtigsten Pflicht. Larkens selbst hatte ihm diesfalls schriftlich mehreres angedeutet und empfohlen, und Theobald mußte auf einen sehr wohlgeordneten Zustand seiner Vermögensangelegenheiten schließen. Vor allen Dingen nahm er Rücksprache mit der obrigkeitlichen Behörde, und einiger Papiere glaubte er sich ohne weiteres versichern zu müssen.

Indessen war es bereits spät am Tage und so trat er in einer Art von Betäubung den Weg nach der Stätte an, wo der traurigste Anblick seiner wartete.

Ein Knabe führte ihn durch eine Menge enger Gäßchen vor das Haus eines Tischlers, bei welchem sich Larkens seit einigen Monaten förmlich in die Arbeit gegeben hatte. Der Meister, ein würdig aussehender, stiller Mann, empfing ihn mit vielem Anteil, beantwortete gutmütig die eine und andere Frage und wies ihn sodann einige steinerne Stufen zum unteren Geschoß hinab, indem er auf eine Tür hinzeigte. Hier stand unser Freund eine Zeitlang mit klopfendem Herzen allein, ohne zu öffnen. Jetzt nahm er sich plötzlich zusammen und trat in eine sauber aufgeräumte, übrigens armselige Kammer. Niemand war zugegen. In einer Ecke befand sich ein niedriges Bett, worauf die Leiche mit einem Tuch völlig überdeckt lag. Theobald, in ziemlicher Entfernung, getraute sich kaum von der Seite hinzusehen, Gedanken und Gefühle verstockten ihm zu Eis und seine einzige Empfindung in diesem Augenblicke war, daß er sich selber haßte über die unbegreiflichste innere Kälte, die in solchen Fällen peinlicher zu sein pflegt, als das lebhafteste Gefühl unseres Elends. Er ertrug diesen Zustand nicht länger, eilte auf das Bette zu, riß die Hülle weg und sank laut weinend über den Leichnam hin.

Endlich, da es schon dunkel geworden, trat Perse, der Goldarbeiter, mit Licht herein. Nur ungern sah Theobald sich durch ein fremdes Gesicht gestört, aber das bescheidene Benehmen des Menschen fiel ihm sogleich auf und hielt ihn um so fester, da derselbe mit der edelsten Art zu erkennen gab, daß auch er einiges Recht habe mit den Freunden des Toten zu trauern, daß ihm derselbe, besonders in der letzten Zeit, viel Vertrauen geschenkt. »Ich sah«, fuhr er fort, »daß an diesem wundersamen [304] Manne ein tiefer Kummer nagen müsse, dessen Grund er jedoch sorgfältig verbarg; nur konnte man aus manchem eine übertriebene Furche für seine Gesundheit erkennen, so wie er mir auch selbst gestand, daß er eine so anstrengende Handarbeit, wie das Tischlerwesen, außer einer gewissen Liebhaberei, die er etwa für dies Geschäft haben mochte, hauptsächlich nur zur Stärkung seines Körpers unternommen. Auch begriff ich gar wohl, wie wenig ihn Mangel und Not zu dergleichen bestimmt hatte, denn er war ja gewiß ein Mann von den schönsten Gaben und Kenntnissen; desto größer war mein Mitleiden, als ich sah, wie sauer ihm ein so ungewohntes Leben ankam, wie unwohl es ihm in unserer Gesellschaft war und daß er körperlich zusehends abnahm. Das konnte auch kaum anders sein, denn nach dem Zeugnis des Meisters tat er immer weit über seine Kräfte und man mußte ihn oft mit Gewalt abhalten.« Hier decke er die Hände des Toten auf, wie sie von grober Arbeit gehärtet und zerrissen waren. – Jetzt öffnete sich die Türe und ein hagerer Mann mit edlem Anstande trat herein, vor welchem sich der Goldarbeiter ehrerbietig zurückzog und dessen stille Verbeugung Nolten ebenso schweigend erwiderte. Er hielt den Fremden für eine offizielle Person, bis Perse ihm beiseite den Präsidenten von K* nannte, den keine amtliche Verrichtung hieher geführt haben könne. So stand man eine Zeitlang ohne weitere Erklärung umeinander und jeder schien die Leiche nur in seinem eignen Sinne zu betrachten.

»Ihr Schmerz sagt mir«, nahm der Präsident das Wort, nachdem Perse sich entferne hatte, »wie nahe Ihnen dieser teure Mann im Leben müsse gestanden haben. Ich kann mich eines näheren Verhältnisses zu ihm nicht rühmen, doch ist meine Teilnahme an diesem ungeheuren Fall so wahr und innig, daß ich nicht fürchten darf, es möchte Ihnen meine Gegenware –« »O seien Sie mir willkommen!« rief der Maler, durch eine so unverhoffte Annäherung in tiefster Seele erquicke, »ich bin hier fremd, ich suche Mitgefühl – und ach, wie rühre, wie überrascht es mich, solch eine Stimme und aus solchem Munde hier in diesem Winkel zu vernehmen, den der Unglückliche nicht dunkel genug wählen konnte, um sich und seinen ganzen Wert und alle Lieb und Treue, die er andern schuldig war, auf immer zu vergraben.«

Des Präsidenten Auge hing einige Sekunden schweigend an Theobalds Gesicht und kehrte dann nachdenklich zu dem Toten zurück.

[305] »Ist's möglich?« sprach er endlich, »seh ich hier die Reste eines Mannes, der eine Welt voll Scherz und Lust in sich bewegte und zauberhelle Frühlingsgärten der Phantasie sinnvoll vor uns entfaltete! Ach, wenn ein Geist, den doch der Genius der Kunst mit treuem Flügel über all die kleine Not des Lebens wegzuheben schien, so frühe schon ein ekles Auge auf dieses Treiben werfen kann, was bleibt alsdann so manchem andern zum Troste übrig, der ungleich ärmer ausgestattet, sich in der Niederung des Erdenlebens hinschleppt? Und wenn das vortreffliche Talent selbst, womit Ihr Freund die Welt entzückte, so harmlos nicht war, als es schien, wenn die heitere Geistesflamme sich vielleicht vom besten Öl des innerlichen Menschen schmerzhaft nährte, wer sagt mir dann, warum jenes namenlose Weh, das alle Mannheit, alle Lust und Kraft der Seele, bald bänglich schmelzend untergräbt, bald zornig aus den Grenzen treibt, warum doch jene Heimatlosigkeit des Geistes, dies Fort- und Nirgendhin-Verlangen, inmitten eines reichen, menschlich schönen Daseins, so oft das Erbteil herrlicher Naturen sein muß? – Das Rätsel eines solchen Unglücks aber völlig zu machen, muß noch der Körper helfen, um, wenn die wahre Krankheit fehlt, mit einem nur um desto gräßlicheren Schein die arme Seele abzuängstigen und vollends irre an sich selber zu machen!«

Auf diese Weise wechselten nun beide Männer, beinahe mehr den Toten als einander selbst anredend und oft von einer längern Pause unterbrochen, ihre Klagen und Betrachtungen. Erst ganz zuletzt, bevor sie auseinandergingen, veranlaßte der Fremde, indem er seinen Namen nannte, den Maler, ein Gleiches zu tun, sowie den Gasthof zu bezeichnen, wo jener ihn morgen aufsuchen wollte. »Denn es ist billig«, sagte er, »daß wir nach einer solchen Begegnung uns näher kennenlernen. Sie sollen alsdann hören, welcher Zufall mir noch erst vor wenigen Wochen die wunderbare Existenz Ihres Freundes verriet, den bis auf diesen Tag, soviel ich weiß, noch keine Seele hier erkannte. Meine Sorge bleibt es indessen, daß ihm die letzte Ehre, die wir den Toten geben können, ohne zu großes Aufsehn bei der Menge, von einer Gesellschaft würdiger Kunstverwandten morgen abend erwiesen werden könne. Ich habe die Sache vorläufig eingeleitet. Aber nun noch eine Bitte um Ihrer selbst willen: verweilen Sie nicht allzulange an diesem traurigen Orte mehr. Es ist das schönste Vorrecht und der edelste Stolz des Mannes, daß er das Unabänderliche mit festem Sinn zu tragen [306] weiß. Schlafen Sie wohl. Lieben Sie mich! Wir sehn uns wieder.« Der Maler konnte nicht sprechen, und drückte stammelnd beide Hände des Präsidenten.

Als er sich wieder allein sah, flossen seine Tränen reichlicher, jedoch auch sanfter und zum erstenmal wohltuend. Er fühlte sich mit dieser Last von Schmerz nicht mehr so einsam, so entsetzlich fremd in diesen Wänden, dieser Stadt, ja Larkens' Anblick selber deuchte ihm so jämmerlich nicht mehr; eben als wenn der Schatte des Entschlafenen mit ihm die ehrenvolle Anerkennung fühlen müßte, die er noch jetzt erfuhr.

Nun aber drang es Theobalden mächtig, am Busen der Geliebten auszuruhen. Er steckte ein Nachtlicht an, welches für die Leichenwache bereitlag, er sagte unwillkürlich seinem Freund halblaut eine gute Nacht, und war schon auf der Schwelle, als Lörmer, der Büchsenmacher, ihm den Weg vertrat. Der Mensch bot einen Anblick dar, der Ekel, Grauen und Mitleid zugleich erwecken mußte. Von Wein furchtbar erhitzt, mit stieren Augen, einen gräßlichen Zug von Lächeln um den herabhängenden Mund, so war er im Begriff, das Heiligtum des Todes zu betreten. Nolten, ganz außer sich vor Schmerz und Zorn, stößt ihn zurück und reißt den Schlüssel aus der Tür, Lörmer wird wütend, der Maler braucht Gewalt und kann nicht verhüten, daß das Scheusal vor ihm niederstürzt und mit dem Kopf am Boden aufschlägt. »Ich bitte Sie«, lallt er, indem er sich vergebens aufzurichten sucht, und nicht bemerkt, daß Nolten schon verschwunden ist, um die Hausleute von dem Skandal zu benachrichtigen, »um Gottes Barmherzigkeit willen! lassen Sie mich hinein! mich! ich bin noch allein der Mann, ihm zu helfen – Sie müssen wissen, Herr, er pflegte gelegentlich auf den Lörmer was zu halten, Herr – Sehn Sie, diese Uhr hab ich von ihm – aber sie ist stehengeblieben – Wir standen du und du, mein guter Herr, ich und der Komödiant – Hieß er mich nicht immerdar sein liebes Vieh? hat er je einen andern so geheißen? und – – Hol euch der Teufel alle zusammen – Sehn muß ich ihn, da hilfe kein Gott und keine Polizei – Ihr wißt den Henker zu distinguieren, ob ein Mensch in der Tat und Wahrheit k...iert ist oder nicht – Soll ich dir etwas im Vertrauen sagen? Da drinne liegt er munter und gesund und hat euch alle am Narrenseil. Denn das ist einer, sag ich euch, der weiß wie man den Mäusen pfeift. Und – aber – – wenn es je wahr wäre –« (hier fing er an zu heulen)[307] »wenn er mir das Herzeleid antun wollte, und aufpacken und seinen Stelzer verlassen – wenn das – Jesu Maria! Auf! auf! schlag die Tür ein! ich muß ihm noch beichten – Jagt Papst und Pfaff und Bischöf, die ganze Klerisei zum Teufel! ich will dem Komödianten beichten, trotzdem daß er ein Ketzer ist – Er muß alles wissen, was ich seit meiner Firmelung an Gott und Welt gesündigt! Auf! hört ihr nicht? Ich will die ganze Baracke in Trümmer schmeißen, ich will ein solches Jüngstes Gericht antrommeln, daß es eine Art hat! – Alter! lieber Schreiner, laß mich hinein –« Das Schloß sprang auf, und Lörmer stürzte einige Stufen hinab in das Zimmer, wo man ihn, als die Leute kamen, bewußtlos am Fuß des Bettes liegen fand.


Am Morgen kam ein Billett des Präsidenten und lud den Maler mit den Frauenzimmern zu einem einfachen Mittagmahl. Nolten war diese Ableitung besonders um der Mädchen willen sehr erwünscht, mit deren verlassenem Zustande, weil er jeden Augenblick veranlaßt ward, bald aus dem Hause zu gehen, bald sich mit Schreibereien zu befassen, man in der Tat Bedauern haben mußte. Agnes und ihr Benehmen war indes zu loben. Bei allen Zeichen des aufrichtigsten Anteils bewies sie durchaus eine schöne, vernünftige Ruhe, sogar schien sie natürlicher, und sicherer in sich selbst, als es auf der ganzen Reise der Fall gewesen sein mochte; nicht nur dem Maler, auch Nannetten fiel das auf. Es hatte aber diese sonderbare Verwandlung ihren guten Grund, nur daß das Mädchen zu bescheiden war, ihn zu entdecken, oder zu schüchtern vielmehr, um an ihre alten »Wunderlichkeiten« (wie Theobald zuweilen sagte) in dem Augenblicke zu mahnen, wo es sich um eine ernste und schaudervolle Wirklichkeit handelte. Allein auch ihr war es ein hoher Ernst mit dem, was sie für jetzt zurückzuhalten ratsam fand. Denn in der ganzen schrecklichen Begebenheit mit Larkens erblickte sie nichts anderes als die gewisse Erfüllung eines ungewissen Vorgefühls, und so vermochte sie ein offenbares und geschehenes Übel mit leichterem Herzen zu beweinen, als ein gedrohtes zu erwarten.

Nolten erkundigte sich bei dem Wirt nach den Verhältnissen des Präsidenten, und erfuhr, daß derselbe, obgleich seit Jahr und Tag mit seiner Frau gespannt, eines der angesehensten Häuser hier bilde, sich aber als ein leidenschaftlicher Mann vor kurzem [308] auch mit der Regierung entzweit habe, und bis auf weiteres von seinem Amte abgetreten sei. Er wohnte selten in der Stadt und neuerdings fast einzig auf seinen Gütern in der Nähe.

Perse, der Goldarbeiter, kam einiger Bestellungen wegen, welche die Leiche betrafen. Beiläufig erzählte er, daß der Barbier, als mehrerer Diebstähle verdächtig, seit heute früh im Turme sitze. Er habe gestern in der öffentlichen Wirtsstube sich aus Alteration und Reue wegen ähnlicher an Larkens verübter Schändlichkeiten selber verschwatzt. Die größte Niederträchtigkeit an dem Schauspieler habe der Taugenichts da durch begangen, daß er sich von jenem das Stillschweigen über seinen wahren Charakter mit schwerem Gelde habe bezahlen lassen, indem er ihm täglich gedroht, alles auszuplaudern. – Theobald fragte bei dieser Gelegenheit nach dem Büchsenmacher, und konnte aus Perses umständlichem Berichte soviel entnehmen, daß Larkens dem Menschen, weil es ein gescheiter Kopf, einiges Interesse geschenkt, das übrigens so gut als weggeworfen gewesen, da die deutliche Absicht des Schauspielers, ihn zu korrigieren bloß dem Übermut des Burschen geschmeichelt habe, zumal die Art, wie Larkens zu Werke gegangen, bei weitem zu delikat gewesen. Übrigens habe sich Larkens nicht nur dem Zirkel, sondern besonders auch vielen Armen als unbekannter Wohltäter unvergeßlich gemacht.

Mittagszeit war da, die Mädchen angekleidet und Nolten bereit, mit ihnen zu gehen. Eine Tochter des Präsidenten empfing sie auf das artigste, und nach einiger Zeit erschien der Vater; außerdem kam niemand von der Familie zum Vorschein. Die Frau, mit dreien andern Kindern, einem ältern Sohne und zwei Töchtern, wurde erst heute abend vom Lande erwartet, und zwar, wie man überall wußte, nur um ihren Aufenthalt wieder auf einige Monate mit dem Gemahl zu wechseln.

Während der Präsident sich, bis man zu Tische ging, eifrig mit dem Maler unterhielt, gesellte sich Margot zu den beiden Frauenzimmern. Sie war immer der Liebling des Vaters gewesen und bildete, weil es ihrer innersten Natur widersprach, ausschließende Partei zu nehmen, eine Art von leichtem Mittelglied zwischen den zwei getrennten Teilen.

Es war serviert, man setzte sich. Für jetzt betraf die Unterhaltung nur Dinge von allgemeinerem Interesse. Ein zartes Einverständnis der Gemüter schloß von selbst den Gegenstand geweihter Trauer für diese Stunde aus. Dagegen war der Augenblick, [309] wo endlich das Gefühl sein Recht erhielt, einem jeden desto inniger willkommen. Wir sind genötigt, hier so manches bemerkenswerte Wort der wechselseitigen Aufklärung über die Eigentümlichkeit und allmähliche Verkümmerung von Larkens' Wesen zu übergehen, und erzählen dafür mit den eignen Worten des Präsidenten, auf welche Art er zur Bekanntschaft des Schauspielers gelangte.

»Vor einem Vierteljahr machte die hiesige Bühne den bis daher in Deutschland noch nicht erhörten Versuch, Ludwig Tiecks Lustspiele aufzuführen. Die Idee war von dem berühmten S** – ausgegangen, welcher als Gast hier einige Monate spielte und für jenes enthusiastische Projekt weniger die Intendanz, als vielmehr die höheren Privatzirkel des gebildeten Publikums, denen er Vorlesungen hielt, zu elektrisieren wußte. Nach einer sehr gründlichen Vorbereitung unserer Akteurs, und nachdem er durch eine Reihe anderer, gewohnter Vorstellungen sich vorweg das Zutrauen sämtlicher Theaterliebhaber im höchsten Grade gewonnen hatte, ward endlich ›Die verkehrte Welt‹ angekündigt. Die wenigen, welche diese geistvolle Dichtung kannten und schätzten, wollten freilich voraussehn, daß bei der Stumpfsinnigkeit, nicht nur der Menge, auf die man im voraus verzichtete, sondern der sogenannten Gebildeten die schöne Absicht im ganzen verunglücken müsse; ja S** selbst soll dies vorhergesehen haben, und man glaubt, er habe diesmal teils auf Kosten des großen Publikums, teils seines eigenen Rufs, einer Privatvorliebe zu viel nachgegeben. Auf der andern Seite ist seine Uneigennützigkeit zu bewundern, da ihm offenbar mehr daran lag, das Genie des Dichters vor den Einsichtsvollen zu verherrlichen, als ihn zur Folie seiner persönlichen Kunst zu gebrauchen. Da inzwischen auch die Eingeweihten das mögliche raten, um eine allgemeine Erwartung zu erregen, den Philistern eins anzuhängen und ihnen die Köpfe im voraus zu verrücken, so versprachen sich diese, vom Titel des Stückes verführt, ein recht handgreifliches Spektakelstück und alles ging glücklich in die Falle. Die Aufführung, ich darf es sagen, war meisterhaft. Aber, Gott verzeihe mir, noch heute, wenn ich an den Eindruck denke, weiß ich mich nicht zu fassen. Diese Gesichter, unten und auf den Galerien, hätten Sie sehen müssen! Tieck selbst würde die Physiognomie des Haufens, als mitspielender Person, neben den unter die Zuschauer verteilten Rollen, sich nicht köstlicher haben denken können. Diese unwillkürliche [310] Selbstpersiflage, dies fünf- und zehnfach reflektierte Spiegelbild der Ironie beschreibt kein Mensch. In meiner Loge befand sich der Legitationsrat U., einer der wärmsten Verehrer Tiecks wir sprachen und lachten nach Herzenslust während eines langen Zwischenakts (denn eine ganze Viertelstunde lang war der Direktor in Verzweiflung, ob er weiterspielen lasse oder aufhöre). Während dieses tollen Tumultes nun, während dieses Summens, Zischens, Bravorufens und Pochens hörten wir neben uns, nur durch ein dünnes Drahtgitter getrennt, eine Stimme ungemein lebhaft auf jemanden losschwatzen: ›O sehn Sie doch nur um Gottes willen da aufs Parterre hinunter! und dort! und hier! der Spott hüpft wie aus einem Sieb ein Heer von Flöhen an allen Ecken und Enden hin und her – Jeder reibt sich die Augen, klar zu sehen, jeder will dem Nachbar den Floh aus dem Ohre ziehen und von der andern Seite springen ihm sechse hinein – Immer ärger! – ein Teufel hat alle Köpfe verdreht – es ist wie ein Traum auf dem Blocksberg – es wandelt alles im Schlaf – Herrn und Damen bekomplimentieren sich, im Hemde voreinander stehend, glauben sich auf der Assemblee, sagen: ›Waren Sie gestern auch in der verkehrten Welt? Gottlob nun wäre man doch wieder bei sich selbst‹ usw. – Der alte Geck dort aus der Kanzlei, o vortrefflich! bietet einer muntern Blondine seine Bonbonniere mit großmächtigen Reichssiegeloblaten an und versichert, sie wären sehr gut gegen Vapeurs und Beängstigungen. Hier – sehn Sie doch, gerade unterm Kronleuchter – steht ein Ladendiener vor einem Fräulein und lispelt ›Gros de Naples-Band? Sogleich. Wieviel Ellen befehlen Sie wohl?‹ Er greift an sein Ohr, zieht es in eine erstaunliche Länge, mißt ein Stück und schneidet's ab. Aber bemerken Sie nicht den Inkroyable am dritten Pfeiler vom Orchester an? wie er sich langsam über die Stirne fährt und auf einmal den Poeten embrassiert ›O Freund! ich habe schön geträumt diese Nacht! Ich habe ein winzig kleines Spieldöschen gehabt, das ich hier, schaun Sie, hier in meinen hohlen Zahn legte, ich durfte nur ein wenig darauf beißen und die ganze Zauberflöte, sag ich Ihnen, die ganze Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, spielte drei Stunden en suite fort. Eine Dame, die neben mir stand, behauptete, es wäre ja Rataplan, der kleine Tambour, was ich spiele – Himmel! sagt ich, ich kenne ja doch die Bären und die Affen und diese heilgen Hallen! O göttlich war's – Nein! – Aber da drüben, ich bitte Sie – –‹ ›Erlauben Sie‹, unterbrach [311] hier eine tiefe Baßstimme die Rede des Schalks mitten im Fluß ›erlauben Sie, mein lustiger, unbekannter Herr, daß ich endlich frage: wollen Sie mich foppen, oder wollen sie andere ehrliche Leute mit diesem Unsinn foppen?‹ ›Ach ganz und gar nicht‹, war die Antwort ›keins von beiden, ich bitte tausendmal um Vergebung – Aber was ist denn unserm Herrn Nachbar da zugestoßen? der weint ja erschrecklich – Mit Erlaubnis haben Sie den Wadenkrampf?‹ – In diesem Augenblick öffnet sich unser Gitter, ein langes weinerliches Gesicht beugt sich herein mit den erbärmlichen Worten ›Ach, liebe Herren, ist es denn nicht möglich, daß ich durch Ihre Loge hinaus, fort aus diesem Narrenhaus, ins Freie kommen könnte? Oder wenn das nicht ist – so sein Sie so gütig – nur eine kleine Bitte – Wie heißt denn das Indigo Perfektum von obstupesco, ich bin betäubt, verwirrt, bin ein Mondskalb geworden? das Perfektum Indikativi wollt ich sagen – O lachen Sie nicht – ich bin der unglückseligste Mann, bin seit einiger Zeit am hiesigen Lyzeo Präzeptor der lateinischen Sprache, habe mir's recht sauer werden lassen – auch hatte es bis jetzt keine Gefahr, man war mit mir zufrieden – allein seit einer halben Stunde, bei dem verkehrten verfluchten Zeug da – ich weiß nicht – mein Gedächtnis – die gemeinsten Wörter – ich mache von Minute zu Minute eine Probe mit mir, examino memoriam meam – es ist mir, wie wenn mein Schulsack ein Löchlein, rimulam, bekommen hätte, zuerst nur ein ganz geringes, aber es wird immer größer, ich kann schon mit der Faust – o entsetzlich! es rinnt mir schockweise alles bei den Stiefeln hinaus, praeceps fertur omnis eruditio, quasi ein Nachlaß der Natur – o himmelschreiend, in einer halben Stunde bin ich rein ausgebeutelt, bin meinem schlechtesten Trivialschüler gleich – Lassen Sie mich hinaus, hinaus! ich sprenge die Verzäunung –‹

Ich und der Legationsrat kamen ganz außer uns. Der Mensch aber, empört durch unser Lachen, schlug uns das Gitter vor der Nase zu und wir sahen ihn eine ganze Weile nicht wieder. Wir glaubten anfangs, es wäre etwa eine komische Figur aus dem Lustspiele, der Legationsrat schwur scherzend, gar Tieck selber müsse es gewesen sein. Indessen ging der letzte Aufzug an und ging gleich den ersten herrlich vorüber. Der Vorhang fiel. Das alterierte Publikum drängte sich murrend und drohend nach den Türen, einige wollten auf der Stelle Rechenschaft haben ›Sieh da!‹ rief der Legationsrat mir zu, ›ein Beispiel, ein [312] erstes und letztes für ganz Deutschland, ein Wahrzeichen für alle Direktionen, welche auf Sinn und guten Geschmack bei uns rechnen!‹ Plötzlich antwortete eine ganz gelassene Stimme am Gitter mit den Worten Cäsars ›Pro ostento non ducendum si pecudi cor defuit.‹ Und zugleich streckte sich wieder jenes Präzeptorsgesicht herein, aber ohne die vorige Grimasse und daher fast kaum mehr zu erkennen ›Glauben Sie mir, meine Herren (denn ich habe mich unterdessen erholt und ein wunderbares Licht ging mir auf) dieses Stück wird vergöttert werden bei unsern Landsleuten, und die Direktionen können für solche Abende das Entree getrost auf das Dreifache steigern, um den Pöbel zu verschmerzen. Denken Sie an mich. Ihr Diener.‹ Während er das sagte, glaubte ich mich dunkel zu erinnern, daß mir dieses Gesicht nicht zum erstenmal begegne, ich wollte ihn schnell anreden, aber wie weggeblasen war er unter dem Gewühl. Ich und mein guter U., nachdem wir von unserm Erstaunen einigermaßen zurückgekommen waren, beschlossen diesen Mann, wenn er sich anders hier aufhalte, was zu bezweifeln war, auszukundschaften, es koste was es wolle. Umsonst sahn wir uns auf den Treppen, an den Ausgängen überall um, fragten die Personen, denen er zunächst gesessen, niemand wußte von ihm. Nach acht Tagen dacht ich nicht mehr an den Vorfall und hielt den Unbekannten für einen Auswärtigen. – Ich befinde mich eines Morgens mit mehreren Bekannten auf dem Kaffeehause. Im Auf- und Abgehen klopf ich meine Zigarre am offenen Fenster aus und werfe zufällig einen Blick auf die Straße; ein Handwerker mit Brettern unterm Arm geht hart am Hause vorüber, meine Asche kann ihn getroffen haben, kurz, er schaut rasch auf und bietet mir das ganze Gesicht entgegen, mit einem Ausdruck mit einer Beugung des Körpers, wie ich das in meinem Leben nur von einem Menschen gesehen hatte, und – genug, in diesem Momente wußt ich auch, wer er sei: der Komiker, den ich vor fünf Jahren im Geizigen des Molière bewunderte, Larkens. Unverzüglich schickt ich ihm nach, ohne mir gegen irgend jemand das geringste merken zu lassen. Er kam, in der Meinung, man verlange seine Dienste als Handwerker, ich ging ihm entgegen und ließ ihn in ein leeres Zimmer treten. Es gab nun, wie man denken kann, eine sehr sonderbare Unterredung, von welcher ich nur sage, daß ich mich ungewisser stellte als ich war, nur entfernt von großer Ähnlichkeit mit einem früheren Bekannten sprach, um ihm auf [313] den Fall er sein Geheimnis lieber bewahren wollte, den Vorteil der Verleugnung ohne weiteres zu lassen. Hier aber erkannte man nun erst den wahren Meister! Eine solche köstliche Zunftmiene, so eine rechtfertige Zähheit – kein Flamänder malt diesen Ausdruck mit solcher Wahrheit. Man glaubte einen Burschen zu sehen, auf dessen Stirne sich bereits die Behaglichkeit zeichne, womit er am ruhigen Abend beim Bierkrug und schlechten Tabak den Auftritt seinen Kameraden auftischen wollte, nachdem er ihre Neugierde durch etwas unnötig längeres Feuerschlagen gehörig zu schärfen für dienlich erachtet. Wie hätte ich nun nach allem diesen es noch übers Herz bringen können, dem unvergleichlichen Mann sein Spiel zu verderben oder länger in ihn zu dringen? Ich entließ ihn also, konnte aber freilich nicht ganz ohne lachenden Mund mein ›Adieu, guter Freund, und nehm Er's nicht übel!‹ hervorbringen. Er sah mir's um die Lippen zucken, kehrte sich unter der Tür noch einmal um und sagte im liebenswürdigsten Ton ›Ich sehe wohl, der Schulmeister von neulich hat mir einen Streich gespielt, ich bitte, Euer Exz. mögen diese meine gegenwärtige Figur noch zur verkehrten Welt schlagen. Dürft ich aber vollends hoffen, daß dieser Auftritt unter uns bliebe, so würde ich Ew. Exz. sehr verpflichtet sein, und Sie haben hiemit mein Ehrenwort, daß mein Geheimnis ohne das mindeste Arge ist; aber für jetzt liegt mir alles dran, das zu scheinen, was ich lieber gar sein möchte.‹ Jetzt nahm ich länger keinen Anstand, ihn bei seinem Namen herzlich willkommen zu heißen. Da er natürlich geniert war, in seinem gegenwärtigen Aufzuge einen Diskurs fortzusetzen, und doch mein Interesse ihm nicht entging, so hieß er mich Zeit und Ort bestimmen, wo wir uns gelegener sprechen könnten, und so verabschiedete er sich mit einem unwillkürlichen Anstande, der ihm selbst in diesen Kleidern trefflich ließ.

Um mir nun die ganze sonderbare Erscheinung einigermaßen zu erklären, lag freilich der Gedanke am nächsten, es habe dem Künstler gefallen, die niedrige Natur eine Zeitlang an der Quelle selbst zu studieren, wiewohl derselbe Zweck gewiß auf andre Art bequemer zu erreichen war. Als wir kurz nachher auf meinem Gute zusammenkamen, schien er mich auch wirklich auf meinem Glauben lassen zu wollen; doch dachte er zu redlich, um nicht die wahre Absicht, deren er sich vielleicht schämen mochte, wenigstens als ein Nebenmotiv bemerklich zu machen, und da überdies eine hypochondrische Seite in seinem [314] Gespräche mehrmals anklang, so erriet ich leicht, daß dies wohl der einzige Beweggrund sein müsse. Ich vermied natürlich von nun an die Materie gerne, aber auffallend war es mir, daß Larkens, wenn ich das Gespräch auf Kunst und dergleichen hinlenkte, nur einen zerstreuten und beinahe erzwungenen Anteil zeigte. Er zog praktische oder ökonomische Gegenstände, auch die unbedeutendsten, jedesmal vor. Mit wahrer Freude untersuchte er meine Baumschule und jede Art von Feldwerkzeug, zugleich suchte er sich beim Gärtner über alle diese Dinge gelegentlich zu unterrichten und gab mitunter die sinnreichsten Vorteile an, die ihm weder Handbuch noch Erfahrung, sondern nur sein glücklicher Blick gezeigt haben kann. Übrigens waren unserer Zusammenkünfte leider nicht mehr als drei; vor sechs Tagen speiste er das letzte Mal bei mir.«

Der Präsident war fertig. Eine tiefe Wehmut war auf alle Gesichter ausgegossen und keines wollte reden. Hatte man während dieser Erzählung, wenigstens in der Mitte derselben, nur das rege Bild eines Mannes vor sich gehabt, welcher, obgleich nicht im reinsten und glücklichsten Sinne, doch durch die feurige Art, wie er die höchsten Glanzerscheinungen des Lebens und der Kunst in sich aufnehmen konnte, mit Leib und Seele dieser Welt anzugehören schien, und konnte man also auf Augenblicke völlig vergessen, es sei hier von einem Verstorbenen die Rede, so überfiel nun der Gedanke, daß man in wenig Stunden werde seinen Sarg in die Erde senken sehen, alle Gemüter mit einer unerträglichen Pein, mit einer ganz eigenen Angst, und unsern Freund durchdrang ein nie gefühlter brennender Schmerz der ungeduldigsten Sehnsucht. Sekundenlang konnte er sich einbilden, sogleich werde die Türe sich auftun, es werde jemand hereinkommen, mit freundlichem Gesicht erklären, es sei alles ein Irrtum, Larkens komme frisch, und gesund unverzüglich hieher. Aber ach! kein Wunder gibt es und keine Allmacht, um Geschehenes ungeschehen zu machen.

Der Präsident trat stille auf Theobald zu, legte die Hand auf seine Schulter und sprach: »Mein Lieber! es ist nun Zeit, daß ich eine Bitte, eine rechte Herzensbitte an Sie bringe, mit der ich seit gestern abend umgehe und welche Sie mir ja nicht abschlagen müssen. Bleiben Sie einige Tage bei uns. Es ist uns beiden unerläßliches Bedürfnis, des teuren Freundes Gedächtnis eine Zeitlang miteinander zu tragen und zu feiern. Wir werden, indem wir uns beruhigen, auch seinen Geist mit sich selber zu [315] versöhnen glauben. Wir müssen, wenn ich so sprechen darf, dem Boden, welchem er seine unglückliche Asche aufdrang, die fromme Weihe erst erteilen, damit diese Erde den Fremdling mütterlich einschließen könne. Wenn Sie uns verlassen haben, so ist hier keine Seele außer mir, die Ihren Larkens kennte und schätzte wie er es verdient, und doch sollen zum wenigsten stets ihrer zwei beisammen sein, um das Andenken eines Abgeschiedenen zu heiligen. Ja, geben Sie meiner Bitte nach, überlegen Sie nicht – Ihre Hand! Morgen reisen wir alle aufs Gut und wollen, traurig und froh, eines dem andern sein was wir können.«

Nolten ließ den in Tränen schimmernden Blick freundlich auf Agnesen hinübergleiten, die denn, zum Zeichen was sie denke, mit Innigkeit die Hand Margots ergriff, welch letztere, diese Meinung liebreich zu erwidern, sich alsbald gegen beide Mädchen hinbeugte und sie küßte.

»Wer könnte hier noch länger widerstehn!« rief Nolten aus. »Ihre Güte, teurer Mann, ist fast zu groß für mich, ich nehme sie aber, wenn auch nur schüchtern, im Namen unseres Toten an. – Unsere Reise, meine guten Kinder«, setzte er gegen die Seinigen hinzu, »insofern sie dem Vergnügen gelten sollte, war ich seit gestern ohnehin entschlossen abzukürzen, ich wollte ungesäumt dem Orte unseres künftigen Bleibens und meiner Pflicht entgegengehn. Unvermutet hat sich uns nun eine dritte Aussicht eröffnet, die selbst mit ihrer schmerzlichen Bedeutung bei weitem den schönsten Genuß und die lieblichste Zuflucht verspricht.«

Ein Bedienter kam und meldete einige Herren, welche der Präsident auf diese Stunde zu sich gebeten hatte. Es war der Regisseur des Theaters und drei andere Künstler, die sich für Nolten nicht weniger, als für den Verstorbenen interessierten, da ihnen der Maler durch Renommee schon längst nicht fremd mehr war. Der Regisseur kam vor Jahren einmal mit Larkens in persönliche Berührung. Er wollte, auf Anregung des Präsidenten und darum ohne Widerspruch von seiten der Geistlichkeit, ein Wort am Grabe reden; Theobald hatte ihm hiezu die nötigen Notizen schon am Morgen zusammengeschrieben. Man beredete noch einiges wegen der Feierlichkeit.

Indessen hatte sich der Tag schon ziemlich geneigt, und seine ahnungsvolle Dämmerung wälzte mit den ersten Trauerschlägen von dem Turme her langsam und feierlich das letzte größte [316] Schmerzgewicht auf die Brust unsrer Freunde. Die Leiche mußte vor dem Hause des Präsidenten vorüberkommen, wo denn die ordentliche Begleitung mit einbrechender Nacht, Punkt neun Uhr sich aufstellen und ein Fackelzug von Künstlern und Schauspielern die Leiche abholen sollte, währenddessen die übrigen Fußgänger und die Wagen hier zu warten angewiesen waren.

Nolten suchte noch einen Augenblick loszukommen, um in aller Stille einen letzten Gang nach des Tischlers Hause zu tun. Dort traf er bereits eine Menge Neugieriger in der engen Gasse versammelt, doch wagte niemand, ihm zu folgen, als der alte Meister ihm den Schlüssel zu der bekannten, weit nach hinten zu gelegenen Kammer reichte. Ein weißer, mit frischen Blumen behängter Sarg stand auf dem Gange. Köstliches Rauchwerk kam ihm aus dem Zimmer entgegen, als er eintrat. Aber aufs schönste ward er überrascht und gerührt durch einen Schmuck, den eine unbekannte Hand dem Toten hatte angedeihen lassen. Nicht nur war der Körper mit einem langen, feinen Sterbekleid und schwarzer Schärpe reinlich umgeben, sondern ein großer, blendend weißer Schleier, mit Silber schwer gestickt, bedeckte das Antlitz und ließ einen grünen Lorbeerkranz, der um die hohe Stirne lag, und selbst die Züge des Gesichts gar milde durchschimmern.

Der Maler blieb nicht länger vor dem Bette stehn, als eben hinreichte, um jenes stumme, langgedehnte Lebewohl – sei es auf Wiedersehn, ach! oder auch auf ewig Nimmersehn – durch das Tiefinnerste der Seele ziehn zu lassen und jeden stillen Winkel seiner Brust mit diesem Liebesecho schmerzlich anzufüllen.

Er hörte Tritte auf dem Gang, schnell riß er sich los, in Eifersucht, daß diesen Ruheanblick, den er auf alle Zeiten mit sich nehmen wollte, kein anderer mit ihm teile.


Wir sehen einen frischen Tag über der Stadt aufgehn, und sagen von dem gestrigen Abende nicht mehr, als daß die ganze Feier schön und würdig vollzogen wurde.

Der heutige Morgen, es war ein Sonntag, ging mit Einpacken, oder mit Besuchen hin, die Nolten in der Stadt zu machen und zu erwidern hatte. Die außerordentliche Begebenheit erwarb ihm eine große Anzahl teils neugieriger, teils aufrichtiger Freunde, es kam nun eine Einladung nach der andern, darunter sehr ehrenvolle, die er nicht ablehnen durfte. Es wurde deshalb [317] beschlossen, daß man nicht heute abend, wie anfangs verabredet gewesen, sondern morgen auf das Landgut fahre. Die Familie des Präsidenten war indessen in aller Frühe schon hier eingetroffen, und Nolten sah die Präsidentin auf kurze Zeit, neben dem Gemahl, doch war es ebendarum bei aller möglichen Artigkeit von ihrer Seite eine ziemlich frostige Bekanntschaft. Nannette, welche auch dabei zugegen, konnte sich nicht genug verwundern über die hohle Zärtlichkeit des vornehmen Ehepaars und sie machte gleich hernach Agnesen die ganze Szene vor, wie sich beide geküßt, wie zierlich die Frau ihr Sprüchlein gelispelt habe.

Als Theobald wegen des dem armen Freunde gewidmeten Ehrenschmucks ein dankbares Wort an das Fräulein richtete – denn er vermutete sonst niemanden darunter – vernahm er, daß zwar der Schleier von ihr, das übrige jedoch von einer edlen Dame gekommen, welche den Schauspieler vor mehreren Jahren in einigen seiner vorzüglichsten Rollen gesehen habe. Margot nannte ihren Namen mit Achtung und erzählte, daß sie dieselbe Frau noch vor ganz kurzer Zeit gelegentlich in einer Gesellschaft sehr munter von jenen Vorstellungen habe erzählen hören.

Montag mittag endlich verließen die Freunde erleichterten Mutes die Stadt. Die Neuburger Chaise mit einem Teil des Gepäcks sollte hier zurückbleiben. Unsre Gesellschaft teilte sich in zwei Gefährte des Präsidenten, so daß die Herren in dem einen, die drei Frauenzimmer in dem andern für sich allein waren.

Nach einer Stunde schon sah man das Schloß vor sich auf der flachen Anhöhe liegen, am Fuße derselben ein kleines Landstädtchen, dessen Marken durch manches Bethaus am Wege, durch manches hölzerne Kreuz die katholische Einwohnerschaft im voraus verkündigen. Das Schloß selber ist ein altertümliches Gebäude, massiv von Stein, in zwei gleich lange Flügel gebaut, welche nach unsrer Seite her in einen stumpfen Winkel zusammenlaufen, so, daß der eine, mehr seitwärts gelegene, sich, je näher man dem Hauptportale kam, hinter den andern zurücklegen mußte. Das ernste und würdige Ansehn des Ganzen verlor nur wenig durch die moderne gelbbraune Verblendung. Überall bemerkte man vorspringende Erker und schmale Altane, ziemlich unregelmäßig, aber bequem und auf die Aussicht ins Weite berechnet. Man fuhr in den Schloßhof ein, der hinten [318] durch eine im Halbkreis gezogene Kastanienallee gar schön geschlossen ist, indem dieselbe rechts und links auf beide Flügelenden zugeht. Die Mitte des Halbzirkels nimmt ein achteckig gefaßter See mit Springbrunnen ein, deren altfränkische Delphine nach vier Seiten hin ihr Wasser strahlen. Die Allee wird durch geradlinige Wege dreimal durchschnitten, um in die zunächst hinterliegenden Anlagen zu gelangen; der mittlere Ausgang führt nach der Schnur auf ein ansehnliches Gartenhaus zu.

Von der Herrschaft wurden im ganzen Schlosse bloß die beiden Etagen des einen Flügels bewohnt, die obern vom Präsidenten, unten befanden sich die Zimmer der Frau, wo nun auch die beiden Mädchen mit dem Fräulein einquartiert werden sollten. Das alles war, wenige Piecen ausgenommen, nach neuerem Geschmacke. An Bedienung, weiblicher sowohl als männlicher, fehlte es nicht.

Nachdem die neuen Gäste einigermaßen eingerichtet waren, trank man den Kaffee in einem der vielen Bosketts im Garten und wandelte sodann, in zwei Partien abermals getrennt, die ganze Anlage durch. Ihr Umfang war, obgleich beträchtlich, doch kleiner als es von innen der Anschein gab, weil Bäume und Gebüsch die Mauer überall verbargen.

Agnes und Nannette, ihre gefällige Freundin in der Mitte, empfanden sich in einem völlig neuen Elemente; jedoch sein Fremdes ward ihnen durch Margots höchst umgängliches und ungeniertes Wesen mit jeder Viertelstunde mehr zu eigen. Überhaupt finden wir nun Zeit von der Tochter zu reden, und sie verdient, daß man sie näher kennenlerne. Das munterste Herz, verbunden mit einem scharfen Verstande, der unter dem unmittelbaren Einflusse des Vaters, verschiedene, sonst nur dem männlichen Geschlecht zukommende Fächer der Wissenschaft, man darf kecklich sagen, mit angeborener Leidenschaft und ohne den geringsten Zug von gelehrter Koketterie ergriffen hatte, schienen hinreichende Eigenschaften, um mit einem Äußern zu versöhnen, das wenigstens für ein gewöhnliches Auge nicht viel Einnehmendes, oder um es recht zu sagen, bei viel Einnehmendem, manches unangenehm Auffallende hatte. Die Figur war außerordentlich schön, obgleich nur mäßig hoch, der Kopf an sich von dem edelsten Umriß, und das ovale Gesicht hätte, ohne den aufgequollenen Mund und die Stumpfnase, nicht zärter geformt sein können; dazu kam eine braune, wenngleich sehr frische Haut, und ein Paar große dunkle Augen. [319] Es gab, freilich nur unter den Männern, immer einige, denen eine so eigene Zusammensetzung gefiel; sie behaupteten, es werden die widersprechenden Teile dieses Gesichts durch den vollen Ausdruck von Seele in ein unzertrennliches Ganzes auf die reizendste Art verschmolzen. Man hatte deshalb den Bewunderern Margots den Spottnamen der afrikanischen Fremd- und Feinschmecker aufgetrieben, und wenn hieran gewisse allgemein verehrte Schönheiten der Stadt sich nicht wenig erbauten, so war es doch verdrießlich, daß eben die geistreichsten Jünglinge sich am liebsten um diese Afrikanerin versammelten. Die Späße der ballgerechten Stutzer waren indes, der Eifersucht zum Troste, unerschöpflich. So hatte ein Lieutenant, der sonst eben nicht im Geruche des witzigsten Kopfes stand, den köstlichen Einfall ausgeheckt: man bemerke an des Präsidenten Tochter, bei genauerer Betrachtung, ein feines Bärtchen um die Lippen, welches wohl daher komme, daß sie als Kind sich schon von den alten Knasterbärten, den Ciceros und Xenophons habe küssen lassen, und vergessen, sich den Mund rein zu wischen. Das Schönste war, daß Margot dergleichen Armseligkeiten, auch wenn sie darum wußte, im geringsten nicht bitter empfand; sie erschien bei den öffentlichen Vergnügungen, wozu freilich mehr die Mutter als das eigene Bedürfnis sie trieb, immer mit gleich unbefangener Heiterkeit, sogar gehörte sie bei Spiel und Tanz zu den eigentlich Lustigen; aber indem sie Wohlgesinnte und Zweideutige ganz auf einerlei Weise behandelte, zeigte sie, ohne es zu wollen, daß sie den einen wie den andern missen könne. Allein auch diese unschuldigste Indifferenz legte man entweder als Herzlosigkeit, oder Stolz aus. Agnes und selbst die leichter gesinnte junge Schwägerin huldigten dem guten Wesen von ganzem Herzen, ohne erst noch seine glänzendste Seite zu kennen.

Die Mädchen saßen im Gespräch auf einer Bank und sahen jetzt einen jungen Menschen von etwa sechszehn Jahren, gewöhnlich aber rein gekleidet und einige Bäumchen im Scherben tragend, den breiten Weg herunterlaufen. Wie er an ihnen vorüberkam, nickte er nur schnell und trocken mit dem Kopfe vor sich hin, ohne sie anzusehn. Die zarte Bildung seines Gesichts, die ganze Haltung des Knaben machte Nannetten aufmerksam, und Margot sagte: »Es ist der blinde Sohn des Gärtners. Sie haben ihn mitleidig angesehn und es geht anfänglich jedermann so, man glaubt ihn leidend, doch ist er es nicht, er hält sich für den glücklichsten Menschen. Wir lieben ihn alle. [320] Er hilft seinem Vater und verrichtet eine Menge Gartengeschäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine Lust ist, ihm zuzusehn, wenn ihm einmal die Sachen hingerüstet und bedeutet sind. Nichts kommt ihm falsch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter den Fingern, eben als wenn die Gegenstände Augen hätten statt seiner und kämen ihm von selbst entgegen. Dies gibt nun einen so rührenden Begriff von der Neigung, dem stillen Einverständnis zwischen der äußern Natur und der Natur dieses sonderbaren Menschen. Da er nicht von Geburt, sondern etwa seit seinem fünften Jahre blind ist, so kann er sich Farben und Gestalten vorstellen, aber wunderlich klingt es, wenn man ihn die Farben gewisser Blumen mit großer Bestimmtheit, aber oft grundfalsch so oder so angeben hört; er läßt sich seine Idee nicht nehmen, da er sie ein für allemal aus einem unerklärlichen Instinkt, hauptsächlich aus dem verschiedenen Geruche, dann auch aus dem eigentümlichen Klange eines Namens vorgefaßt hat. Das erstere kann man ihm noch hingehn lassen, der Zufall tut viel, und wirklich hat er es einigemal bei sehr unbekannten Blumen auffallend getroffen.«

»Wäre aber«, sagte Agnes, »doch etwas Wahres daran, so sollte man auch wohl die Gabe haben können, etwa aus der Stimme eines Menschen auf sein Wesen zu schließen, wenn auch nicht auf den Namen, denn gesetzt, man schöpfte diesen für die Blumen wirklich aus einem bestimmten Gefühl, oder, wie soll ich sagen? aus einer natürlichen Ähnlichkeit, so kämen wir auf jeden Fall zu kurz neben diesen Frühlingskindern, die man doch gewiß erst, nachdem sie vollkommen ausgewachsen waren, getauft hat, um ihnen nicht Unrecht zu tun mit einem unpassenden Namen, während wir den unsrigen erhalten, ehe wir noch den geringsten Ausdruck zeigen.«

Margot war über diese artige Bemerkung erfreut und Nannette erinnerte gelegentlich an die sogenannte Blumensprache, woraus man seit einiger Zeit ordentlich kleine Handbücher mache. »Was mir an dieser Lehre besonders gefällt, das ist, daß wir Mädchen bei all ihrer Willkürlichkeit doch gleich durch die Bedeutung, die dem armen nichtswissenden Ding im Buche beigelegt ist, unser Gefühl bestimmen und umstimmen lassen können, weil wir dem Menschen, der sich untersteht, so was ein für allemal zu stempeln, doch einen Sinn dabei zutrauen müssen, oder weil eine gedruckte Lüge doch immer etwas Unwiderstehlicheres hat als jede andere.«

[321] »Oder«, versetzte Margot, »weil wir ängstlich sind, durch unser vieles Um- und Wiedertaufen eine böse Verwirrung in das hübsche Reich zu bringen, so daß uns die armen Blumen am Ende gar nichts Gewisses mehr sagen möchten.«

»Wie närrisch ich früher über Namen der Menschen gedacht habe und zuweilen noch denken muß, kann ich bei der Gelegenheit nicht verschweigen«, sagte Agnes. »Sollten denn, meint ich, die Namen, welche wir als Kinder bekommen, zumal die weniger verbrauchten, nicht einen kleinen Einfluß darauf haben, wie der Mensch sich später sein innerliches Leben formt, wie er andern gegenüber sich fühlt? ich meine, daß sein Wesen einen besondern Hauch von seinem Namen annähme?«

»Dergleichen angenehmen Selbsttäuschungen«, erwiderte das Fräulein, »entgeht wohl niemand, der tiefern Sinn für Charakter überhaupt hat, und da sie so gefahrlos als lieblich sind, so wollen wir sie uns einander ja nicht ausreden.«

Nannette war beiseite getreten und kam mit einem kleinen Strauß zurück. Während sie ihn in der Stille zurechtfügte, schien ihr ein komischer Gedanke durch den Kopf zu gehn, der sie unwiderstehlich laut lachen machte. »Was hat nun der Schelm?« fragte Margot, »es geht auf eins von uns beiden – nur heraus damit!« »Es geht auf Sie!« lachte das Mädchen, »ist aber nichts zum Übelnehmen. Ich suchte da nach einer Blume, die sich für Ihren Sinn und Namen passen könnte, nun heißt doch wohl Margot nicht weniger noch mehr als Margarete, natürlich fiel mir also ein, wie leichtfertig es lassen müßte, wie dumm und ungeschickt, wenn Ihnen jemand hier dies Gretchen im Busch verehren wollte.« Alle lachten herzlich über diese Zusammenstellung, die freilich nicht abgeschmackter hätte sein können.

»Im Ernst aber«, sagte Nannette und sprach damit wirklich ihres Herzens Meinung aus, »für Sie, bestes Fräulein, könnte ich wohl einen Sommer lang mit dem Katalogen in der Hand durch alle Kaisergärten suchen, eh mir endlich das begegnete, was Ihrer Person, oder weil dies einerlei ist, Ihres Namens vollkommen würdig wäre.« »So?« lachte Margot, »also bleib ich, eben bis auf weiteres brav Gretel im Busch! Zum Beweis aber« (hier stand sie auf und trat vor ein Rondell mit blühenden Stöcken) »daß ich glücklicher bin im Finden als Sie, Böse und Schöne, steck ich Ihnen gleich diese niedliche Rose ins Haar, Agnes hingegen diese blauliche Blüte mit dem würzigen Vanilleduft!«

[322] Man ging nun scherzend weiter und das Fräulein fing wieder an: »Vom guten Henni sind wir ganz abgekommen, so heißt der Blinde, eigentlich Heinrich. Weil seine vorhin genannten Talente einigermaßen zweideutig sind, so muß man ihm bei den andern desto mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat viel mechanisches Geschick und seltne musikalische Anlagen. In einer leeren Kammer des linken Schloßflügels, welche vor nicht sehr langer Zeit noch zur Hauskapelle der frühern Besitzer eingerichtet war, steht eine Orgel, die lange kein Mensch ansah. Sie befand sich im schlechtesten Zustande, bis Henni vor anderthalb Jahren sie entdeckte. Er hatte nun nicht Rast noch Ruhe, das verwahrloste staubige Werk, Klaviatur, Pedal und Blasbälge, samt den fehlenden und zerbrochenen Stäbchen, Klappen und Drähten, deren Zahl beiläufig hundert und eines sein mag, wieder ordentlich herzurichten. Oft hörte man ihn bei Nacht operieren, klopfen und sägen, und es war sonderbar, ihn dann so ohne alles Licht in der einsamen Kammer bei seiner Arbeit zu denken. Was ihm aber kein Mensch geglaubt hätte: nach weniger als vier Wochen war er wirklich mit allem zustande gekommen. Sie müssen ihn einmal, und ohne daß er's weiß, auf der Orgel phantasieren hören; er behandelt sie auf eine eigene Art und nicht leicht würde ein anderes Instrument das eigentliche Wesen dieses Menschen so rein und vollständig ausdrücken können. Ich hätte billig unter seinen Vorzügen zuerst von seiner Frömmigkeit gesprochen, doch wird Ihnen diese nach dem bisher Gesagten um so wahrer und zärter erscheinen, und ich brauche jetzt desto weniger Worte davon zu machen. – Klavierspielen hatte er schon früher ohne Anleitung auf einem schlechten Pantalon gelernt, mein Vater versprach, ihm auf seinen Geburtstag ein ordentliches Instrument zu schenken. Solange wir in der Stadt wohnen, laß ich auch wohl zuweilen den Schlüssel in dem meinigen stecken und mag mir gerne denken, daß er sich ein Stündchen nach Herzenslust darauf ergehe, derweil seine Mutter die Zimmer reinigt. Er lobte mir neulich den Ton des Flügels mit solchem Feuer, daß er sich mit seinem Geheimnis verschnappte, er wurde plötzlich blutrot und ich hätte fürwahr viel gegeben, um einen Augenblick selbst zu erblinden und kein Zeuge dieser Beschämung zu sein. Es blieb nichts übrig, als ihn aufzufordern, sogleich eine Sonate mit mir zu probieren, die er mir und meinem Bruder abgehört hatte. Nichts geht ihm über das Vergnügen, vierhändig zu spielen. Das Stück, wovon[323] ich rede, ist eines von den schwerern, allein es ging durchweg fast ohne Anstoß.«

Der Präsident stand eben mit dem Maler auf der rechten Seite des Schlosses, als die Mädchen gegen den Hof herkamen; sie sprachen dort über eine gewisse Baukuriosität, der wir gelegentlich auch einen Blick schenken müssen. Es endigte sich nämlich jener Flügel mit einer breitstufigen Steintreppe, welche vor den Fenstern des oberen Stocks ein Belvedere ansetzte und, hüben und drüben mit einem Geländer versehen, auf steinernen Bogen herablief. Mit der letzten Stufe an der Erde trat man in ein niedliches Rosengärtchen, welches im Viereck von einer niedern, künstlich ausgehauenen Balustrade umgeben, einerseits auf den Abhang des Schloßbergs hinuntersah, andererseits durch ein eisernes Gatter in die Allee einführte. Alles das fand sich in den gleichen Verhältnissen auch auf der entgegengesetzten Flanke des Gebäudes, jedoch meist nur von Holz und auf den Schein berechnet. Altan und Treppe waren dort verwittert und ohne Gefahr nicht mehr zu betreten.

Die Gesellschaft begab sich ins Innere des Hauses, und bis zum Abendessen trieb ein jedes was ihm beliebte. Der Präsident ließ seinen Gästen Zeit, es sich bequem zu machen. Gleich anfangs hatte er den Grundsatz erklärt, es müsse neben den Stunden der gemeinsamen Unterhaltung und des unmittelbaren Beieinanderseins durchaus auch eine Menge Augenblicke geben, die, sozusagen, den zweiten und indirekten, gewiß nicht minder lieblichen Teil der Geselligkeit ausmachen, wo es erfreulich genug sei, sich miteinander unter einem Dache zu wissen, sich zufällig zu begegnen und ebenso nach Laune festzuhalten. Unseren beiden Frauenzimmern, welche dem Hausherrn gegenüber doch immer etwas von Schüchternheit bei sich verspürten, kam eine solche Freiheit zu ganz besonderm Troste, dem Maler war sie ohnehin Bedürfnis, und sogleich gab der Präsident das Beispiel, indem er sich noch auf ein Stündchen ins Arbeitskabinett zurückzog.

Die Tischzeit versammelte alle aufs neue, und als man sich zuletzt gute Nacht sagte, trat jedem der Gedanke erstaunend vor die Seele, durch was für eine ungeheure Fügung sich die fremdesten Menschen dergestalt haben zusammenfinden können, daß es schon heute schien, als hätte man sich immerdar gekannt, als wäre man zusammengekommen, um niemals wieder Abschied zu nehmen.

[324] Nachdem wir von der Stellung der Personen, sowie von deren häuslicher und ländlicher Umgebung insoweit den Begriff gegeben haben, besorgen wir noch kaum, daß unsre Leser ein vollständiges Journal von den Unterhaltungen der nächsten Tage von uns erwarten möchten.

Was außerhalb des Schloßbezirks nur immer Anlockendes zu Pferd und Wagen zu erreichen war, und was das Eigentum des Präsidenten, zumal eine sehr reichhaltige Bibliothek, zur Unterhaltung darbot, ward abwechselnd genossen und versucht. Der Präsident liebte die Jagd, und obgleich Theobald weder die mindeste Übung, noch auch bis jetzt einigen Geschmack daran hatte, so war ihm in seiner gegenwärtigen Verfassung der Vorteil dieser Art sich zu bewegen, wobei sowohl Leib als Seele in kräftiger Spannung erhalten wird, gar bald sehr fühlbar und bei einigem Glück mit den ersten Versuchen sogar ergötzlich geworden. Er kehrte an so einem Abend auffallend erheitert und lebhaft nach Hause. Auch hatten die Mädchen bereits ihren Scherz mit ihm, indem Margot behauptete: es könnte wohl nicht leicht ein Maler die schönste Galerie der seltensten Kunstwerke mit größerem Interesse durchlaufen, als er die Gewehrkammer ihres Vaters, worin er wirklich stundenlang verweilte. Gewiß aber war auch weit und breit eine solche Sammlung nicht anzutreffen. Gewehre aller Art, vom ersten Anfang dieser Erfindung bis zu den neuesten Formen des englischen und französischen Kunstfleißes, konnte man hier aufs schönste geordnet in fünf hohen Glaskästen sehen. Die Freunde bemerkten mit Lächeln, wie Nolten jedesmal eine andere Flinte für sich aussuchte, denn mit jeder hoffte er glücklicher zu sein, und endlich griff er gar nach einem alten türkischen Geschoß, welches zwar prächtig und gut, doch für den Zweck nicht passend und deshalb von dem schlechtesten Erfolg begleitet war.

Besonders angenehm erschienen immer nach dem Abendessen die ruhigen gemeinschaftlichen Lesestunden. Der Maler hatte anfangs unmaßgeblich eine Lektüre vorgeschlagen, welche man in doppelter Hinsicht willkommen hieß. Unter den schriftlichen Sachen, die er vorläufig aus Larkens' Nachlasse an sich gezogen, befand sich zufälligerweise ein dünner, italienischer Quartband, die »Rosemonde« des Ruccelai enthaltend, wovon ihm der Schauspieler, teils wegen der Seltenheit der alten ursprünglichen Venezianer-Ausgabe, teils weil eine angenehme Erinnerung für ihn dabei war, vormals mit besonderer Liebe gesprochen[325] und gelegentlich erzählt hatte, daß er als fünfzehnjähriger Knabe das Buch aus der Sammlung eines Großonkels nebst einigen andern Werken verschleppt habe, natürlich ohne es zu verstehen, nur weil die schön vergoldete Pergamentdecke ihn gereizt. Einige Zeit hernach habe von ungefähr ein Kenner es bei ihm erblickt und es für einen außerordentlichen Schatz erklärt; hiedurch sei er auf den Inhalt neugierig worden, um so mehr, da seine Neigung zu Schauspielen und Tragödien schon damals bis zur Wut entzündet gewesen. Nun habe er der Rosemonde – der unbekannten Geliebten – zu Gefallen mit wahrhaft ritterlichem Eifer sich stracks dem Italienischen ergeben, und nachdem er die Süßigkeit der Sprache erst verschmeckt, für gar nichts anderes mehr Aug und Ohr gehabt, in kurzem auch, ein zweiter Almachilde (so hieß Rosemondens Liebhaber und Retter), der armen Königstochter sich völlig bemächtigt.

War aber dieses Stück, als ein verehrter Zeuge der schönen Kindheit des tragischen Theaters der Italiener schon an und für sich merkwürdig genug, so setzte sich nun unser Zirkel, des Mannes eingedenk, von dem es herkam, mit einer Art von Andacht zu dem Trauerspiel, wiewohl es während des Lesens und Verdeutschens an munteren Bemerkungen nicht fehlte, entweder weil die Übersetzung zuweilen stocken wollte, oder weil man nicht umhin konnte, die im ganzen herrliche Charakteristik in der Dichtung mitunter etwas hart und holzschnittartig zu finden. Außer Agnes und Nannetten war allen die Sprache bekannt; man übersetzte wechselsweise, am liebsten aber sah man immer das Buch in Margots Hände zurückkehren, welche mit eigener Gewandtheit die Verse in Prosa umlegte und meistens ein paar Szenen im voraus zu Papier gebracht hatte, da denn wirklich der Ausdruck an Kraft, Erhabenheit und Rundung nichts mehr zu wünschen übrig ließ, so daß man, obgleich alles sehr treu gegeben war, etwas ganz Neues zu hören glaubte und den Dichter in seiner ursprünglich grandiosen Natur vollkommen gerechtfertigt sah. Dem in gewisser Hinsicht unbefriedigenden Schlusse der Handlung half das Fräulein, einem glücklichen Fingerzeig ihres Vaters folgend, durch Einschaltung einer kurzen Szene auf, worin die Vereinigung des liebenden Paares, welche der Dichter nur anzudeuten, bei seinem höhern Zwecke kaum für der Mühe wert gehalten, zum Troste jedes zart besorgten Lesers klärlich motiviert war. Man bedauerte nur, mit [326] der Lektüre so schnelle fertig geworden zu sein, und weil jedermanns Ohr nun schon von den südlichen Klängen gereizt und hingerissen war, so brachte der Präsident einen italienischen Novellisten hervor, indessen der Maler gereimte Gedichte gern vorgezogen hätte, aus einem Grunde zwar, den er nicht allzu lebhaft geltend machen wollte: er war entzückt, wie Margot Verse las; er glaubte einen solchen Wohllaut kaum je von Eingeborenen gehört zu haben, und wenn es manchen Personen als ein liebenswürdiger Fehler angerechnet wird, daß sie das R nur gurgelnd aussprechen können, wie denn dies eben bei dem Fräulein der Fall war, so schien diese Eigentümlichkeit der Anmut jenes fremden Idioms noch eine Würze weiter zu verleihen. Agnes entging es nicht, mit welchem Wohlbehagen Freund Theobald am Munde der Leserin hing, allein auch sie vermochte demselben Zauber nicht zu widerstehen.

Überhaupt lernten die Mädchen nach und nach immer neue Talente an dieser Margot kennen; das meiste brachte nur der Zufall an den Tag, und weit entfernt, es auf eine falsche Bescheidenheit anzulegen, oder im Gefühl ihrer Meisterschaft den Unkundigen gegenüber die Unterhaltung über gewisse Gegenstände vornehm abzulehnen, teilte sie vielmehr die Hauptbegriffe sogleich auf die einfachste Weise mit und machte durch die Leichtigkeit, womit sie alles behandelte, den andern wirklich glauben, daß das so schwere Sachen gar nicht wären, als es im Anfang schien; sogar legte sie einmal das liebenswürdige Geständnis ab: »Wir Frauen, wenn uns der Fürwitz mit den Wissenschaften plagt, krebsen mitunter bloß, wenn wir zu fischen meinen, und freilich ist es dann ein Trost, daß es den Herren Philosophen zuweilen auch nicht besser geht. – Sehn Sie aber«, rief sie aus und schob die spanische Wand zurück, die in der Ecke ihres Zimmers einen großmächtigen Globus verbarg, »sehn Sie, das bleibt denn doch eine Lieblingsbeschäftigung, wo man auf sicherem Grund und Boden wandelt. Der Vater hat mich drauf geführt, er ließ die hohle hölzerne Kugel mit Gips und feiner Farbe weiß überziehen, ich zeichne die neuesten Karten darauf ab und mache ohne Schiff und Wagen mit Freuden nach und nach die Reise durch die ganze Welt. Die eine Hälfte wird bald fertig sein, und hier die neue Welt steigt auch schon ein wenig aus dem leeren Ozean.« Agnes bewunderte die Schönheit und Genauigkeit der Zeichnung, die zierliche Schrift bei den Namen, die breit lavierte Schattierung [327] des Meers an den Küsten herunter; Nannette aber rief: »Will man den Weibern einmal nichts anderes lassen, als das beliebte Nähen, Stricken, Bandmalen oder Sticken, und was damit verwandt sein mag, so sollte man mir gegen eine Arbeit wie diese, wenn ich es je bis dahin brächte, die Nase wahrhaftig nicht rümpfen, denn die Strickerin wollt ich doch sehen, die schönere Maschen und künstlichere Filets vorweisen könnte, als Sie, mein Fräulein, hier bei diesen Linien und Graden gemacht haben!«

Sofort erklärte Margot dies und jenes, und wenngleich Nannette immer diejenige war, welche die Sachen am begierigsten auffaßte, am schnellsten begriff, und am besten zu schmeicheln verstand, so blieb doch Margots Aufmerksamkeit, obwohl nicht unmittelbar, denn sie fürchtete durch eine direkte und vorzugsweise Belehrung Agnesen zu verletzen, dennoch am ersten auf diese gerichtet. Überhaupt hatte ihre Neigung zu dem stillen Mädchen etwas Wunderbares, man darf wohl sagen, Leidenschaftliches. Man sah sie, zumal auf dem Spaziergange, nicht leicht neben Agnes, ohne daß sie einen Arm um sie geschlagen, oder die Finger in die ihrigen hätte gefaltet gehabt. Zuweilen machte diese Innigkeit, dies unbegreiflich zuvorkommende Wesen das anspruchlose Kind recht sehr verlegen, wie sie sich zu benehmen, wie sie es zu erwidern habe.

Inzwischen hatte man die Nachbarschaft des Guts ziemlich kennengelernt, die Stadt ohnehin schon mehrmals besucht. Unter anderm rief Theobalden die Publikation des Larkensschen Testaments dahin. Es fand sich ein bedeutendes Vermögen. Ohne alle Rücksicht auf entferntere Familienglieder (nähere aber lebten überall nicht mehr), hatte der Verstorbene vorerst einige öffentliche Benefizien zumal für seinen Geburtsort gestiftet; sodann betrafen einzelne Legate nur eine kleine Zahl von Freunden, darunter eine Dame, deren Name und Charakter außer dem Maler niemand erfuhr. Der letztere selbst und seine Braut waren keineswegs vergessen. Bemerkenswert ist die ausdrückliche Verfügung des Schauspielers, daß niemand sich beigehen lassen solle, sein Grab – gleichgültig übrigens wo es sei – auf irgendeine Weise ehrend auszuzeichnen.

Am Abende desselben Tags, da diese Dinge in der Stadt bereinigt werden mußten, gab ein Konzert, von welchem alle Freunde der Musik lange vorher mit großer Erwartung gesprochen, einen höchst seltenen Genuß. Es war der Händelsche Messias. Der Maler, dem ein hiesiger Aufenthalt oft eine Art [328] von Überwindung kostete, weil er sich eine reine Totentrauer durch unvermeidliche Zerstreuung fast jedes Mal vereitelt und zersplittert sah, fand heute in dem frommen Geist eines der herrlichsten Tonstücke den übervollen Widerklang derjenigen Empfindungen, mit denen er vom Grabe des Geliebten kommend unmittelbar in den Musiksaal eintrat. Er hatte sich etwas verspätet und mußte ganz entfernt von seiner Gesellschaft, in einer der hintersten Ecken sich mit dem bescheidensten Platze begnügen, den er jedoch mit aller Wahl nicht besser hätte treffen können. Denn ihn verlangte herzlich, die süße Wehmut dieser Stunde bis auf den letzten Tropfen rein für sich auszuschöpfen, er sehnte sich, dem Sturme gottgeweihter Schmerzen den ganzen Busen ohne Schonung preiszugeben. – Spät in der Nacht fuhr er mit den drei Frauenzimmern (der Präsident war diesmal nicht dabei) im schönsten Mondenschein nach Hause. Es hatte jenes Meisterwerk dermaßen auf alle gewirkt, daß es in der ersten Viertelstunde, wo sie sich wieder im Gefährt befanden, beinahe aussah, als hätte man ein Gelübde getan, auf alles und jedes Gespräch darüber zu verzichten; und als das Wort endlich gefunden war, galt es dem teuren Larkens fast ausschließlich. Das Fräulein offenbarte sich bei der Gelegenheit zum erstenmal entschiedener von seiten des Gefühls, was wenigstens dem Maler gewissermaßen etwas Neues war, da es ihn manchmal deuchte, als stünde diese Eigenschaft bei ihr unter einer etwas zu strengen und jedenfalls zu sehr bewußten Vormundschaft des mächtigern Verstandes. Das Wahre aber ist: Margot verbot sich, bei aller übrigen Lebendigkeit, von jeher den kecken Ausdruck tieferer Empfindung, vielmehr – er verbot sich von selber bei ihr, da sie ihr Leben lang nie einen Umgang gehabt, wie ihn das Herz bedurfte. Es wäre nicht leicht zu bezeichnen, was es eigentlich war, das einem so trefflichen Wesen von Kindheit an die Gemüter der Men schen, oder doch ihres Geschlechts, entfremden konnte. In der Tat aber, so wenig kannte sie das Glück der Freundschaft, daß sie ihre eigene Armut auch nur dunkel empfand, und daß ihr von dem Augenblick ein durchaus neues Leben, ja ein ganz anderes Verständnis ihrer selbst aufgegangen zu sein schien, da sie in Agnesen vielleicht die erste weibliche Kreatur erblickte, welche sie von Grund des Herzens lieben konnte und von der sie wiedergeliebt zu werden wünschte. Nolten las heute recht in ihrer Seele, obgleich auch jetzt noch ihre Worte etwas Gehaltenes[329] und Ängstliches behielten, so daß sie, was niemals erhört gewesen, mitten in der Rede ein paarmal stockte, oder gar abbrach.

Zu Hause angekommen, glaubten alle aus der lichten Wolke eines frommen und lieblichen Traumes unvermutet wieder auf die platte Erde zu treten, doch fühlte jedes im sanft und freudig bewegten Innern, daß dieser Abend nicht ohne bedeutende Spuren, sowohl in dem Verhältnis zueinander als im Leben des einzelnen werde bleiben können.


Der Präsident nahm dieser Tage eine Reise vor, und in Geschäften, wie er sagte; doch eigentlich war seine Absicht, dem bevorstehenden Geburtsfeste seiner Frau auszuweichen. Der Maler mit den Mädchen war anstandshalber gleichfalls geladen und diese Höflichkeit mußte angenommen werden. Der Präsident war schon fort, als die Botschaft einlief, die Feier unterbleibe wegen Unpäßlichkeit der Frau. Vermutlich lag nur eine Empfindlichkeit gegen den Gatten zugrunde. Margot indes fuhr am Morgen allein nach der Stadt, verhieß jedoch, am Abend wieder hierzusein. So blieben unsre Leute einen vollen Tag sich selbst überlassen, was zur Abwechslung vergnüglich genug schien. Sie konnten sich so lange als die Herren dieser Besitzung denken; Nannettens rosenfarbener Humor erfreute sich einmal wieder des freiesten Spielraums, selbst Agnes behauptete, so behagliche Stunden in langer Zeit nicht mehr gelebt zu haben, Nolten bemühte sich zum wenigsten, einen unzeitig auf ihm lastenden Ernst zu verleugnen. Nach Tische schickten sich die Mädchen an, Briefe nach Haus zu schreiben. Der Maler aber nahm eine Partie hinterlassener Schriften seines Freundes in den Garten.

Es war ein schwüler Nachmittag. Nolten trat in ein sogenanntes Labyrinth. So heißen bekanntlich in der altfranzösischen Gartenkunst gewisse planmäßig, aber scheinbar willkürlich ineinandergeschlungene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang, welcher sich schwer wiederfinden läßt, wenn man erst eine Strecke weit ins Innere gedrungen ist, weil die grünen, meist spiralförmig umeinander laufenden und durch unzählige Zugänge unter sich verbundenen Gemächer fast alle einander gleichen. Die Wege sind sehr reinlich gehalten, die Wände glatt mit der Schere geschnitten, ziemlich hoch und oben gemeiniglich offen. Der Maler schritt in diesen angenehmen Schatten, seinen[330] Gedanken nachhängend, von Zelle zu Zelle, und nachdem er lange vergeblich auf das Zentrum zu treffen gehofft hat, verfolgt er endlich eine bestimmte Richtung und gelangt auch bald in ein größeres rundes Gemach, worauf die verschiedenen Wege von allen Seiten zuführen; es ist oben bis auf eine schmale Öffnung überwölbt, und diese sanfte Dämmerung, die Einsamkeit des Plätzchens, wo kaum das Summen einer Fliege die tiefe süße Mittagstille unterbrach, alles stimmte vollkommen zu den Gefühlen unseres Freundes. Er setzte sich auf eine Bank und schlug die Mappe auf. Verschiedene Aufsätze fanden sich da, meistens persönlichen Inhalts, Poesien, kleine Diarien, abgerissene Gedanken. Sehr viel schien sich auf Theobald selbst zu beziehen, anderes war durchaus unverständlich, auf frühere Lebensepochen hindeutend. Besonders anziehend aber war ein dünnes Heft mit kleinen Gedichten, fast lauter Sonette »an L.«, sehr sauber geschrieben. Nolten erriet, wem sie galten, denn der Verstorbene hatte ihm selbst von einer frühen Liebe zu der Tochter eines Geistlichen gesprochen. Es war allem nach ein höchst vortreffliches Mädchen, das in der schönsten Jugend gestorben. Wahrscheinlich fiel das Verhältnis in den Anfang von Larkens' Universitätsjahren; wie heilig ihm aber noch in der spätesten Zeit ihr Andenken gewesen, erkannte Theobald teils aus der Art, wie Larkens sich darüber äußerte (er sprach ganz selten und auch dann nie ohne Rückhalt von der Sache), teils auch aus andern Zeichen, die er erst jetzt verstand. So lag z.B. in den zierlich geschriebenen Blättern ein hochrotes Band mit schmaler Goldverbrämung, das der Schauspieler von Zeit zu Zeit und, wie Nolten sich bestimmt erinnerte, immer nur an Freitagen, unter der Weste zu tragen pflegte; der Maler legte die Gedichte zurück, um sie später mit Agnes zu genießen. Jetzt aber ward er durch die Aufschrift einiger andern Bogen aufs äußerste frappiert und eigentlich erschreckt. »Peregrinens Vermählung mit *.« Eine Note am Rand sagte deutlich, wer gemeint war; er blätterte und entdeckte im ganzen eine unschuldige Phantasie über seine frühere Berührung mit Elisabeth. – Von jeher war es dem Schauspieler gewohntes Bedürfnis gewesen, alles, was ihn auf länger oder kürzere Zeit interessierte die Eigentümlichkeiten seines nächsten Umgangs, das ganze Leben mancher Freunde, durch Zutat seiner Einbildung mit einem magischen Firnis aufzuhöhen, sich näherzubringen und so alles auf zweifache Art zu genießen. Er trieb diesen idealen [331] Unterschleif nicht leicht in solchem Maße, daß ihm dadurch die natürliche Ansicht von Dingen und Personen verrückt oder unschmackhaft geworden wäre, er beurteilte namentlich Theobalds Wesen bei alledem auf die nüchternste Weise und pflegte jener phantastischen Neigung so wenig auf Kosten der Freundschaft, daß er vielmehr mit ängstlicher Sorgfalt alles und jedes vor ihm versteckte, was auf die Gesundheit seines Gemüts irgend nachteilig von dorther hätte wirken können. So ließ er sich denn insbesondere von seiner Vorliebe für Elisabeth nichts gegen Theobald merken. Er beschäftigte sich lange Zeit mit dem Schicksale dieser Person, doch außer den getreu nach der Wahrheit verfaßten Memoiren, welche der Leser längst kennt, kam Nolten keine Zeile von den dahin einschlagenden Versuchen zu Gesicht. Ohne Zweifel hatte Larkens einmal die Absicht gehabt, die Geschichte mit der Zigeunerin für sich zu erweitern und ins Fabelhafte hinüberzuspielen; dasjenige, was der Maler in Händen hielt, waren teils Fingerzeige zu Gedichten, teils ausgeführte Stücke, welche in loser und schwebender Verknüpfung, wie es der mythischen Komposition angemessen schien, zuletzt einen gewissen Lebenskreis erschöpfen sollten. Freilich geschah diese wunderliche Amplifikation der an sich schon wunderbaren Tatsachen mehr in seiner eignen als Noltens Sinnesweise. Der Maler konnte sich an der Fiktion als solcher ergötzen, doch brachte diese Reihe von seltsamen Bildern alsbald eine solche Beklemmung, Unruhe und Schwere über ihn, daß er die Blätter mehr als einmal ungeduldig wegwarf.

Indem hier einige Stücke ausgehoben werden mögen, ist zum Verständnis des ersten Gedichts einer Randbemerkung zu erwähnen, wodurch auf eine gewisse Zeichnung hingewiesen wird, welche von Nolten zur Zeit, als er die Schule zu ** besuchte, entworfen, Elisabeths Gestalt in asiatischem Kostüm, mit Szenerie im ähnlichen Geschmack, darstellte; später sah Larkens das Blatt und bat sich's aus, doch lag es nicht hier bei.

Die Hochzeit 4

Aufgeschmückt ist der Freudensaal;
Lichterhell, bunt, in laulicher Sommernacht
[332]
Stehet das offene Gartengezelte;
Säulengleich steigen,
Reichlich durchwirket mit Laubwerk,
Die stolzen Leiber
Sechs gezähmter, riesiger Schlangen,
Tragend und stützend das
Leicht gegitterte Dach.
Aber die Braut noch wartet bescheiden
In dem Kämmerlein ihres Hauses.
Endlich bewegt sich der Zug der Hochzeit,
Fackeln tragend, Feierlich stumm.
Und in der Mitte,
Mich an der linken Hand,
Schwarzgekleidet geht einfach die Braut;
Schöngefaltet ein Scharlachtuch
Liegt um den zierlichen Kopf geschlagen,
Lächelnd geht sie dahin;
Das Mahl schon duftet.
Später, im Lärmen des Fests,
Stahlen wir seitwärts uns beide
Weg, nach den Schatten des Gartens wandelnd,
Wo im Gebüsche die Rosen brannten,
Wo der Mondstrahl um Lilien zuckte,
Wo die Bäume vom Nachttau troffen.
Und nun strich sie mir, stillestehend,
Seltsamen Blicks mit dem Finger die Schläfe:
Jählings versank ich in tiefen Schlummer.
Aber gestärkt vom Wunderschlafe
Bin ich erwacht zu glückseligen Tagen,
Führte die seltsame Braut in mein Haus ein.

Warnung

Der Spiegel dieser treuen braunen Augen
Ist wie von innrem Gold ein Widerschein;
Tief aus dem Busen scheint er's anzusaugen,
Dort mag solch Gold in heilgem Gram gedeihn.
[333]
In diese Nacht des Blickes mich zu tauchen,
Unschuldig Kind, du selber lädst mich ein,
Willst, ich soll kecklich dich und mich entzünden –
Reichst lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden!

Scheiden von ihr

Ein Irrsal kam in die Mondscheinsgärten
Einer einst heiligen Liebe,
Schaudernd entdeckt ich verjährten Betrug;
Und mit weinendem Blick, doch grausam
Hieß ich das schlanke,
Zauberhafte Mädchen
Ferne gehen von mir.
Ach, ihre hohe Stirn,
Drin ein schöner, sündhafter Wahnsinn
Aus dem dunkelen Auge blickte,
War gesenkt, denn sie liebte mich.
Aber sie zog mit Schweigen
Fort in die graue,
Stille Welt hinaus.
Von der Zeit an
Kamen mir Träume voll schöner Trübe,
Wie gesponnen auf Nebelgrund,
Wußte nimmer, wie mir geschah,
War nur schmachtend, seliger Krankheit voll.
Oft in den Träumen zog sich ein Vorhang
Finster und groß ins Unendliche,
Zwischen mich und die dunkle Welt.
Hinter ihm ahnt ich ein Heideland,
Hinter ihm hört ich's wie Nachtwind sausen;
Auch die Falten des Vorhangs
Fingen bald an, sich im Sturme zu regen,
Gleich einer Ahnung strich er dahinten,
Ruhig blieb ich und bange doch,
Immer leiser wurde der Heidesturm –
Siehe, da kam's!
[334]
Aus einer Spalte des Vorhangs guckte
Plötzlich der Kopf des Zaubermädchens,
Lieblich war er und doch so beängstend.
Sollt ich die Hand ihr nicht geben
In ihre liebe Hand? Bat denn ihr Auge nicht,
Sagend: da bin ich wieder
Hergekommen aus weiter Welt!

Und wieder

Die treuste Liebe steht am Pfahl gebunden,
Geht endlich arm, verlassen, unbeschuht,
Dies kranke Haupt hat nicht mehr wo es ruht,
Mit ihren Tränen netzt sie bittre Wunden.
Ach, Peregrinen hab ich so gefunden!
Wie Fieber wallte ihrer Wangen Glut,
Sie scherzte mit der Frühlingsstürme Wut,
Verwelkte Kränze in das Haar gewunden.
Wie? Solche Schönheit konnt ich einst verlassen? –
– So kehrt nun doppelt schön das alte Glück!
O komm! in diese Arme dich zu fassen!
Doch wehe! welche Miene, welch ein Blick!
Sie küßt mich zwischen Lieben, zwischen Hassen,
Und wendet sich und – kehrt mir nie zurück.

Wie sonderbar ist Nolten von dieser Schilderung ergriffen! wie lebhaft erkennt er sich und Elisabeth selbst noch in einem so bunt ausschweifenden Gemälde! und diese Wehmut der Vergangenheit, wie vielfach ist sie bei ihm gemischt! – Mechanisch steht er endlich auf und läßt sich von der träumerischen Wirrung der grünen Schattengänge eine Zeitlang willenlos hin und wider ziehen. So lieblich war die schmerzhafte Betäubung seiner Seele, so sehr hat er sich in den Wundergärten der Einbildung vertieft, daß, als er nun ganz unvermutet sich am Ausgange des Labyrinths dem hellen nüchternen Tageslichte zurückgegeben [335] sah, dies ihm das unbehaglichste Erwachen war. Mit verdüstertem Kopfe schleicht er nun da und dort umher, und als endlich Agnes mit untergehender Sonne, vergnügt vom Schreibtische kommend, nach dem Geliebten suchte, fand sie ihn einsam auf dem Kanapee des großen Gartenhauses. Sie sehnte sich nach frischer Abendluft, nach dem erholenden Gespräch. Kaum waren einige Gänge gemacht, so hörten sie in der Entfernung donnern; das Gewitter zog Herberts. Der Gärtner, welcher diese schwülen Tage her immer nach Regen geseufzt, lief jetzt – und Henni hinterdrein – mit schnellen Schritten nach Frühbeet und Gewächshaus, beide bezeugten laut ihren Jubel über den kommenden Segen, dem ein paar Windstöße kräftig vorangingen. Die Liebenden waren unter das hölzerne Dach des Belvedere getreten, Nannette trug einige Stühle hinaus. Sie bemerkten ein zwiefaches Wetter, davon die Hauptmacht vorne nach der Stadt zu lag, ein schwächeres spielte im Rücken des Schlosses. Die ganze Gegend hat sich schnell vernachtet. Da und dort zucken Blitze, der Donner kracht und wälzt seinen Groll mit Majestät fernab und weckt ihn dort aufs neue mit verstärktem Knall. Auf der Ebene unten scheint es schon herzhaft zu regnen. Hier oben herrscht noch eine dumpfe Stille, kaum hört man einzelne Tropfen auf dem nächsten Kastanienbaum aufschlagen, der seine breiten Blätter bis an das Geländer des Altans erhebt. Jetzt aber rauscht auch hier der Segen mächtig los. – Ein solcher Aufruhr der Natur pflegte den Maler sonst wohl zu einer mutigen Fröhlichkeit emporzuspannen; auch jetzt hing er mit Wollust an dem kühnen Anblicke des feurig aufgeregten Elements, doch blieb er stille und in sich gekehrt. Agnes verstand seinen Kummer und leise nannte sie einigemal den Namen Larkens, doch konnte sie dem Schweigenden nicht mehr als ein Seufzen entlocken.

Der Himmel hatte sich erschöpft, der Regen hörte auf, hie und da traten die Sterne hervor. Die angenehme Luft, das Tropfen der erquickten Bäume, ein sanftes Wetterleuchten am dunkeln Horizont machte die Szene nun erst recht einladend. Die junge Schwägerin, nach ihrer unsteten Art, war indes weggelaufen, um mit des Fräuleins Zofe zu kurzweilen, einer muntern Französin, in der sie einen unerschöpflichen Schatz von Geschichten und Späßen, eine wahre Adelschronik entdeckt hatte. Agnes bemühte sich, in Noltens Gedanken einzugehen, sein Schweigen tröstlich aufzulösen. Sie erinnerte sich jener [336] Worte, welche der Maler im ersten Schmerz auf die entsetzliche Todesnachricht im Gasthof etwas vorschnell gegen sie hatte fallenlassen, wornach sie sich dem Toten auf eine besondere Weise persönlich verpflichtet glauben mußte. Ihre Fragen deshalb hatte Nolten nachher nur ausweichend und so allgemein wie möglich beantwortet, auch diesmal ging er schnell darüber hin und sie beharrte nicht darauf. Nun aber sprach sie überhaupt so ruhig, so verständig von dem Gegenstand, aus ihren einfachen Worten leuchtete so ein reines und sicheres Urteil über die innerste Gestalt jenes verunglückten Geistes hervor, daß Theobald ihr mit Verwunderung zuhörte. Zugleich tat sie ihm aber weh, in aller Unschuld. Denn freilich mußte sich in einem weiblichen Gemüt, auch in dem liebevollsten, die Denk- und Handlungsweise eines Mannes wie Larkens, nach ihrem letzten sittlichen Grunde, um gar viel anders spiegeln als in den Augen seines nächsten Freundes, und Nolten konnte im Räsonnement des Mädchens, wie zart und herzlich es auch war, doch leicht etwas entdecken, wodurch er dem Verstorbenen zu nahgetreten sah, ohne daß er Agnesen auf ihrem Standpunkt zu widerlegen hoffen, ja dieses auch nur wagen durfte. »Du kennst, du kennst ihn nicht!« rief er zuletzt mit Eifer aus, »es ist unmöglich! O daß er dir nur einmal so erschienen wäre, wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erschien, du würdest einen andern Maßstab für ihn finden, vielmehr du würdest jedes hergebrachte Maß unwillig auf die Seite werfen. Ja, liebstes Herz« (er stockte, sich besinnend, dann rief er ungeduldig:) »Warum es dir verhalten? was ängstigt mich? O Gott, bin ich es ihm nicht schuldig? Du sollst, Agnes, ich will's, du mußt ihn lieben lernen! dies ist der Augenblick, um dir das rührendste Geheimnis aufzudecken. Du bist gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jetzt, versteh mich Liebste, jetzt, da wir uns ganz – so selig ungeteilt besitzen, nicht mehr erschrecken kann. Wie? hat denn das Gewitter, das mit entsetzlichen Schlägen noch eben jetzt erschütternd ob deinem Haupte stand, uns etwas anderes zurückgelassen, als den erhebenden Nachhall seiner Größe, der noch durch deine erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren göttlicher Fruchtbarkeit? die süße, rein verkühlte Luft? Wir können vom Vergangenen gelassen reden, ohne Furcht, daß es deshalb mit seiner alten Pein aufs neue gegen uns aufstehen werde. Wär es nur Tag, nun würde rings die Gegend vom tausendfachen Glanz der Sonne widerleuchten! Doch, sei es [337] immer Nacht! Mit tiefer Wehmut weihe sie ein jedes meiner Worte, wenn ich nun mehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn ich längst heimgeschickte Stürme vom sichern Hafen der Gegenwart aus anbetend segne, hier an deiner Seite, du Einzige, du Teure, ach schon zum zweitenmal und nun auf ewig Mein-Gewordene! Ja, in den seligen Triumph so schwer geprüfter Liebe mische ich die sanfte Trauer um den Freund, der uns – du wirst es hören – zu diesem schönen Ziel geleitet hat.

Agnes! nimm diesen Kuß! gib ihn mir zurück! Er sei statt eines Schwurs, daß unser Bund ewig und unantastbar, erhaben über jeden Argwohn, in deinem wie in meinem Herzen stehe daß du, was ich auch sagen möge, nicht etwa rückwärts sorgend, dir den rein und hell gekehrten Boden unsrer Liebe verstören und verkümmern wollest.

Ein anderer an meinem Platz würde mit Schweigen und Verhehlen am sichersten zu gehen glauben, mir ist's nicht möglich, ich muß das verachten, o und – nicht wahr? meine Agnes wird mich verstehen! – Was ich von eigner Schuld zu beichten habe, kann in den Augen des gerechten Himmels selbst, ich weiß das sicher, den Namen kaum der Schuld verdienen; und doch, so leicht wird die rechtfertige Vernunft von dem schreckhaften Gewissen angesteckt, daß noch in tausend Augenblicken und eben dann, wenn ich den Himmel deiner Liebe in vollen Zügen in mich trinke, am grausamsten, mich das Gedächtnis meines Irrtums, wie eines Verbrechens befällt. Ja, wenn ich anders mich selbst recht verstehe, so ist's am Ende nur diese sonderbare Herzensnot, was mich zu dem Bekenntnis unwiderstehlich treibt. Ich kann nicht ruhn, bis ich's in deiner liebevollen Brust begraben, bis ich durch deinen Mund mich freudig und auf immer losgesprochen weiß.«

Der Maler wurde nicht gewahr, wie dieser Eingang schon die Arme innig beben machte. In wenigen, nur schnell hervorgestoßenen Sätzen war endlich ein Teil der unseligen Beichte heraus. Aber das Wort erstirbt ihm plötzlich auf der Zunge. »Vollende nur!« sagt sie mit sanftem Schmeichelton, mit künstlicher Gelassenheit, indem sie zitternd seine Hände bald küßt, bald streichelt. Er schwankt und hängt besinnungslos an einem Absturz angstvoll kreisender Gedanken, er kann nicht rückwärts, nicht voran, unwiderstehlich drängt und zerrt es ihn, er hält sich länger nicht, er zuckt und – läßt sich fallen. Nun wird ein jedes Wort zum Dolchstich für Agnesens Herz. Otto – die unterschobenen [338] Briefe – die Verirrung zu der Gräfin – alles ist herausgesagt, nur die Zigeunerin, ist er so klug, völlig zu übergehn.

Er war zu Ende. Sanft drückt er ihre Hand an seinen Mund sie aber, stumm und kalt und versteinert, gibt nicht das kleinste Zeichen von sich.

»Mein Kind! o liebes Kind!« ruft er, »hab ich zu viel gesagt? hab ich? Um Gottes willen, rede nur ein Wort! was ist dir?«

Sie scheint nicht zu hören, wie verschlossen sind all ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen, wie sonderbar ein wiederholtes Grausen durch ihren Körper gießt. Dabei murmelt sie nachdenklich ein unverständliches Wort. Nicht lang, so springt sie heftig auf – »O unglückselig! unglückselig!« ruft sie, die Hände überm Haupt zusammenschlagend, und stürzt, den Maler weit wegstoßend, in das Haus. Vor seinem Geiste wird es Nacht – er folgt ihr langsam nach, sich selbst und diese Stunde verwünschend.


Margot kam erst den andern Vormittag zurück von der Stadt. Sie war verwundert, eine auffallende Verstimmung unter ihren Gästen sogleich wahrnehmen zu müssen. Bescheiden forschte sie bei Nannetten, doch diese selbst war in der bängsten Ungewißheit. Agnes hielt sich auf ihrem Zimmer, blieb taub auf alle Fragen, alle Bitten, und wollte keinen Menschen sehn. Das Fräulein eilt hinüber und findet sie angekleidet auf dem Bett, den Bleistift in der Hand, sinnend und schreibend. Sie ist sehr wortarm, nach allen Teilen wie verwandelt, ihr Aussehn dergestalt verstört, daß Margot im Herzen erschrickt und sich gerne wieder entfernt, nicht wissend, was sie denken soll. – Nannette bestürmt den Bruder mit Fragen, er aber zeigt nur eine still in sich knirschende Verzweiflung. Zu deutlich sieht er die ganze Gefahr seiner Lage; er fühlt, wie in dem Augenblick das Herz des Mädchens aus tausend alten Wunden blutet, die seine Unbesonnenheit aufriß: und nun soll er dastehn, untätig, gefesselt, sie rettungslos dem fürchterlichen Wahne überlassend? er soll die Türe nicht augenblicklich sprengen, die ihn von ihr absperrt! Einmal übers andre schleicht er an ihre Schwelle; ihm wird nicht aufgetan. Zuletzt erhält er ein Billett von ihr durch seine Schwester; der Inhalt gibt ihm zweideutigen Trost; sie bittet vorderhand nur Ruhe und Geduld von ihm. Sie sei, hinterbrachte Nannette, mit einem größeren Briefe beschäftigt, gestehe aber nicht, an wen er gehe.

[339] Dem Maler bleibt nichts übrig, als ebenfalls die Feder zu ergreifen. Er bietet allem auf, was ruhige Vernunft und was die treueste Liebe mit herzgewinnenden Tönen in solchem äußersten Falle nur irgend zu sagen vermag. Dabei spricht er als Mann zum krank verwöhnten Kinde, er rührt mit sanftem Vorwurf an ihr Gewissen und schickt jedwedem leisen Tadel die kräftigsten Schwüre, die rührendsten Klagen verkannter Zärtlichkeit nach.

Am Abend kam der Präsident. Zum Glück traf er schon etwas hellere Gesichter, als er vor wenig Stunden noch gefunden haben würde. Die Mädchen hatten dem Maler berichtet: Agnes sei ruhig, anredsam und freundlich und habe nur gebeten, daß man sie heute noch sich selber überlasse; es sei ihr vor, vielmehr, sie wisse sicher und gewiß, daß diese Nacht sich alles bei ihr lösen werde.

Der Präsident, der manches zu erzählen wußte, bemerkte etwas von Zerstreuung in den Mienen seiner Zuhörer und vermißte Agnesen. »Schon gut«, gab er Nolten mit Lächeln zur Antwort, als dieser ihm nur leichthin von einem kleinen Verdrusse sprach, den er sich zugezogen, »recht so! das ist das unentbehrlichste Ferment der Brautzeit, das macht den süßen Most etwas rezent. Der Wein des Ehestands wird Ihnen dadurch um nichts schlimmer geraten.«

Das Abendessen war vorbei. Man merkte nicht, wie spät es bereits geworden. Die beiden Herren saßen im Diskurs auf dem Sofa. Nannette und Margot lasen zusammen in einem kleinen Kabinett, das nur durch eine Tür von dem Zimmer geschieden war, wo Agnes schlief.

Die Unterhaltung der Männer geriet indes auf einen seltnen Gegenstand. Der Präsident nämlich hatte gelegentlich von einem üblen Streich gesprochen, den ihm der Aberglaube des Volks und die List eines Pachters hätte spielen können. Es handelte sich um ein sehr wohlerhaltenes Wohnhaus auf einem Bauernhofe, den er, als Bestandherr, noch gestern eingesehn. Das Haus war wegen Spukerei verrufen, so daß niemand mehr drin wohnen wollte. Der kluge Pachter sah seinen Vorteil bei dieser Torheit, er hatte dem Gebäude längst eine andere Bestimmung zugedacht, die der Präsident nicht zugeben konnte, und nährte deshalb unter der Hand die Angst der Bewohner. Mit sehr vieler Laune erzählte nun jener, auf welche Art er die Köpfe samt und sonders zurechtgesetzt und wie er die ganze [340] Sache niedergeschlagen. Dies gab sofort Veranlassung, den Glauben an Erscheinungen, inwieweit Vernunft und Erfahrung dafür und dagegen wären, mit Lebhaftigkeit zu besprechen. Der Maler fand es durchaus nicht wider die Natur, vielmehr vollkommen in der Ordnung, daß manche Verstorbene sich auf verschiedentliche sinnliche Weise den Lebenden zu erkennen geben sollten. Der Präsident schien dieser Meinung im Herzen weit weniger abhold zu sein, als er gestehen wollte; vielleicht auch war ihm nur darum zu tun, das Interesse des Gesprächs durch Widerspruch zu steigern.

»Ich will Ihnen doch«, sagt er endlich, »eine kleine Geschichte mitteilen, für deren Wahrheit ich Bürge bin. Noch aber weiß ich selber nicht, für welchen von uns beiden sie am meisten spricht.

Ich wohnte in England bei einer Verwandten, einer Witwe ohne Kinder. Sie war mit ihrem Manne gegen den Willen beider verheiratet worden, sie lebten nur wenige Monate zusammen und er starb nach einigen Jahren im Auslande. Mein Aufenthalt in London fiel eben in die Zeit, als die schöne Frau sich zum zweiten Male, und entschieden nach Neigung mit einem reichen Kaufmann aus Deutschland verlobte. Religiöse Schwärmerei, eben dasjenige, wodurch sie in der ersten Ehe so unglücklich gewesen, machte hier neben einer natürlichen Leidenschaft das wesentliche Band der Herzen aus. Ich erinnere mich seiner noch ganz wohl, als eines Mannes von hoher und zugleich sehr zarter Gestalt, anziehend und geheimnisvoll in seinen Manieren. Er ging lange Zeit im Haus der Witwe aus und ein, sie sollen gemeinschaftlich die heimlichen Versammlungen einer gewissen Sekte besucht haben, deren Grundsätze man eigentlich nicht kannte, kurz, er war erklärter Bräutigam; aber niemand begriff, warum es mit der Hochzeit nicht vorangehn wollte, von der sich die Familie eines der glänzendsten Feste versprach. Indessen ward er veranlaßt eine sehr weit aussehende Reise in Geschäften nach Nordamerika zu tun, und nun zweifelte man gar nicht mehr, daß er die Verbindung in der Stille werde ausgehn lassen; man bemitleidete die Braut, die ihn jedoch ganz ruhig und getrost sich einschiffen sah, und soviel man bemerken konnte, bald einen lebhaften Briefwechsel mit ihm unterhielt. Ich war zugegen, als einsmals eine Kiste mit ausgewählten Geschenken anlangte, welche die Lady mit einem feierlichen Wohlgefallen ausbreitete, wobei sie mir vertraute: es wäre dies [341] die Morgengabe ihres Gatten. Ich verstand sie nicht und sie erklärte sich auch nicht deutlicher. Späterhin erst ward mir das Rätsel gelöst. Das wundersame Paar hatte sich nämlich verpflichtet, die Vermählung auf eine höchst mysteriöse und völlig geistige Weise vollziehen zu lassen. Indem sie so viele hundert Meilen durch Land und Meer geschieden waren, sollte jedes in seinem eignen Hause, zu einer und derselben Stunde, hier zwischen Aufgang, dort zwischen Untergang der Sonne, feierlich von zwei besondern Priestern eingesegnet werden. Nachdem also die Braut ganz im geheimen aufs festlichste gekleidet und mit Blumen geschmückt, welche man gegen die Morgendämmerung im Garten gebrochen, die halbe Nacht sich mit Gebet auf die wichtige Handlung vorbereitet hatte, erschien der Geistliche, von dreien Glaubensbrüdern begleitet. Ein kleiner Saal war sparsam erleuchtet, ein Tisch, worauf zwei Kerzen brannten, zum Altare aufgeputzt. Als nun der Geistliche in seiner Liturgie an die Stelle kam, wo im Namen des Abwesenden mit dem Ja geantwortet werden sollte, verlöschte plötzlich eins der Lichter von selbst, zum Erstaunen der Gegenwärtigen und zum größten Schrecken der Braut, die indessen dadurch getröstet wurde, daß man sie in diesem Zufall ein erfreuliches Zeichen sehen ließ; sie richtete sich beruhigt von ihren Knieen auf und fühlte sich mit dem Geliebten innig und geheimnisvoll verbunden. Als man sie sofort allein gelassen, bestieg sie, der Vorschrift gemäß, ein hochzeitlich verziertes, mit süßen Wohlgerüchen besprengtes Lager, worin sie den Vormittag hinter dicht verschloßnen Fensterladen zubrachte. Mit was für Bildern sich ihre Träume beschäftigten, ob sie mit dem himmlischen Bräutigam oder dem irdischen verkehrt habe, laß ich dahingestellt sein – wahrscheinlich mit beiden zugleich, und keiner hatte somit Ursache zur Eifersucht. Genug von dieser tollen Zeremonie, deren raffiniert sinnliche Heiligkeit jeden empört. Merkwürdig bleibt nur, daß bald nachher die Nachricht vom Tode des Kaufmanns einlief. Er war, nach kurzem Krankenlager, einige Tage vor der Hochzeit gestorben, an welcher er, wenn man der armen Wachskerze glauben will, wenigstens geistweise teilgenommen. Was halten Sie von dieser Manifestation eines Abgeschiedenen, mein lieber Maler?«

Theobald lächelte und war im Begriff, zu antworten, als Margot und Nannette mit großer Bewegung ins Zimmer gelaufen kamen, und hastig ein Fenster öffneten, das gegen die [342] Gartenallee hinaussah. »Um Gottes willen, hören Sie doch«, rief das Fräulein den beiden Männern zu, »was für ein seltsamer Gesang das ist!« Während der Präsident, ganz erstaunt, sich mit den Mädchen stritt, ob die Stimme im Garten oder außerhalb desselben sei, war Nolten in der Mitte des Zimmers sprachlos stehen geblieben: er kannte diese Töne, die Ruine vom Rehstock stand urplötzlich vor seinem Geist, ihm war, als schlüge das Totenlied einer Furie weissagend an sein Ohr, er zog seine Schwester vom Fenster hinweg und mit hastig verworrenen Worten fordert er sie auf, mit ihm nach Agnesen zu sehn. Sie fanden Schlafzimmer und Bett des Mädchens leer. Unter dem Wehruf eines Verzweifelten eilt Nolten hinunter, den Anlagen zu. Bediente mit Laternen waren bereits dort angekommen. Der Präsident vom Fenster aus gab ungefähr die Richtung an, von wo die Stimme hergekommen, denn schon war kein Laut mehr zu hören. Das ganze Schloß war in Bewegung und in dem weitläufigen Garten sah man bald so viele Lichter hin und her schweben, als nur Personen aufzutreiben waren. Der Präsident selbst half jetzt eifrig mitsuchen. Es war eine laue Nacht, der Himmel überzogen, kein Lüftchen bewegte die Zweige. Alle größern und kleinern Wege, Schlangenpfade, Gänge, Lauben, Pavillons und Treibhäuser hat man in kurzem vergeblich durchlaufen, einige steigen über die Mauer, andre eilen ohne Schonung der Gewächse und Beete, das Gebüsch und die tiefern Schatten zu beleuchten. Nicht lange, so winkt der Jäger des Präsidenten diesen mit einem traurigen Blicke hinweg, der Maler und die Frauenzimmer folgen. Wenige Schritte vom Haus, hart unter den Fenstern Agnesens, sehn sie das schöne Kind unter einigen Weimutsfichten, regungslos ausgestreckt, im weißen Nachtkleide liegen, die Füße bloß, die Haare auf dem Boden und über die nackten Schultern zerstreut. Nolten sank neben dem Körper in die Kniee, fühlte nach Atem, den er nicht fand, er brach in lauten Jammer aus, indem er die Hände der Armen an seine heißen Lippen drückte. Die übrigen standen erschrocken umher, nach und nach sammelten die Lichter sich leise um den unglücklichen Platz, ein banges Stillschweigen herrschte, während andere eine Trage herbeizuholen eilten, und Margot die Füße der Erstarrten in ihr Halstuch einhüllte. »Lassen Sie uns«, sagt jetzt der Präsident zu Nolten, welcher noch immer ohne Besinnung an der Erde kauerte, »lassen Sie uns vernünftig und gefaßt schnelle Hülfe anwenden, Ihre Braut [343] wird in kurzem die Augen wieder öffnen!« Also hob man vorsichtig die Scheinleiche auf das Polster und alle setzten sich in Bewegung, als auf einmal eine fremde Weiberstimme, welche ganz in der Nähe aus dichtem Gezweige hervordrang, einen plötzlichen Stillstand veranlaßte. Unwillkürlich ballte sich Theobalds Faust, da er die majestätische Gestalt der Zigeunerin mit keckem Schritt in die Mitte treten sah, aber die Gegenwart einer unnahbaren Macht schien alle seine Kraft in Bande zu schlagen.

Indes man Agnesen, von den Mädchen geschäftig begleitet, hinwegtrug, sagte Elisabeth mit ruhigem Ernst: »Wecket das Töchterchen ja nicht mehr auf! Entlaßt in Frieden ihren Geist, damit er nicht unwillig, gleich dem verscheuchten Vogel, in der unteren Nacht ankomme, verwundert, daß es so balde geschah. Denn sonst kehrt ächzend ihre Seele zurück, mich zu quälen und meinen Freund; es eifert, ich fürchte, die Liebe selber im Tode noch fort. Ich bin die Erwählte! mein ist dieser Mann! Aber er blickt mich nicht an, der Blöde! Laßt uns allein, damit er mich freundlich begrüße!«

Sie tritt auf Theobalden zu, der ihre Hand, wie sie ihn sanft anfassen will, mit Heftigkeit wegwirft. »Aus meinen Augen Verderberin! verhaßtes, freches Gespenst! das mir den Fluch nachschleppt, wohin ich immer trete! Auf ewig verwünscht, in die Hölle beschworen sei der Tag, da du mir zum ersten Male begegnet! Wie muß ich es büßen, daß mich als arglosen Knaben das heiligste Gefühl zu dir, zu deinem Unglück mitleidig hinzog, in welche schändliche Wut hat deine schwesterliche Neigung, in was für teuflische Bosheit hat deine geheuchelte Herzensgüte sich verkehrt! Aber ich konnte wissen, ich kindischer, rasender Tor, mit wem ich handeln ging! – Herr Gott im Himmel! nur diese Strafe ist zu hart – Elend auf Elend, unerhört und unglaublich, stürzt auf mich ein – O ihr, deren Blicke halb mit Erbarmen, halb mit entehrendem Argwohn auf mich, auf dieses Weib gerichtet sind, glaubt nicht, daß meine Schuld dem Jammer gleich sei, der mein Gehirn zerrüttet! Das Elend dieser Heimatlosen lest ihr auf ihrer Stirn – aus dieser Quelle floß mir schon ein übervolles Meer von Kummer und Verwirrung. Keine Verbrecherin darf ich sie nennen – sie verdiente mein Mitleid, ach, nicht meinen Haß! Doch wer kann billig sein, wer bleibt noch Mensch, wenn der barmherzige Himmel sich in Grausamkeiten erschöpft? Was? wär's ein Wunder, wenn hier [344] auf der Stelle mich selbst ein tobender Wahnsinn ergriffe, mich fühllos machte gegen das Äußerste, Letzte, das – o ich seh es unaufhaltsam näher kommen! Was klag ich hier? was stehn wir alle hier? und droben der Engel ringt zwischen Leben und Tod – Sie stirbt! Sie stirbt! Soll ich sie sehn? kann ich sie noch retten? O folgt mir! – Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja – ja – auf ihrer Miene kann ich es lesen – Es ist geschehen – mit Agnes, mit Agnes ist es vorbei! – Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen ans Ende der Welt –« Kraftvoll hält ihn Elisabeth fest, er stößt im ungeheuren Schmerz ein entsetzliches Wort gegen sie aus, aber sie umfaßt mit Geschrei seine Kniee und er kann sich nicht rühren. Der Präsident wendet das Auge von der herzzerreißenden Szene. »Weh! Wehe!« ruft Elisabeth, »wenn mein Geliebter mir flucht, so zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennst du mich denn nicht? Liebster! erkenne mich! Was hat mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege gelehrt? Schau an, diese blutenden Sohlen! Die Liebe, du böser, undankbarer Junge, war allwärts hinter mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht sehnende Liebe, ist unermüdlich, ist unertötlich, das arme Leben! und freut sich so süßer, so wilder Plage, und läuft und erkundet die Spuren des leidigen Flüchtlings von Ort zu Ort, bis sie ihn gefunden – Sie hat ihn gefunden – da steht er und will sie nicht kennen. Weh mir! wie hab ich freudigern Empfang gehofft, da ich dir so lange verloren gewesen, und, Liebster, du mir! – So gar nicht achtest du meines herzlichen Grames, stößest mich von dir wie ein räudiges Tier, – das aber leckt mit der Zunge die Füße des Herrn, das aber will von seinem Herrn nicht lassen. – – Ihr Leute, was soll's? Warum hilft mir niemand zu meinem Recht? Sei Zeuge du Himmel, du frommes Gewölbe, daß dieser Jüngling mir zugehört! Er hat mir's geschworen vorlängst auf der Höhe, da er mich fand. Die herbstlichen Winde ums alte Gemäuer vernahmen den Schwur; alljährlich noch reden die Winde von dem glückseligen Tag. Ich war wieder dort, und sie sagten: Schön war er als Knabe, wär er so fromm auch geblieben! Aber die Kinder allein sind wahrhaftig. – Agnes, was geht sie dich an? Ihr konntest du dein Wort nicht halten, du selbst hast's ihr bekannt, das hat sie krank gemacht, sie klagte mir's den Abend. Warst du ihr ungetreu, ei sieh, dann bist du mir's doppelt gewesen.«

[345] Diese letzten Worte fielen dem Maler wie Donner aufs Herz Er wütete gegen sich selbst, und jammervoll war es zu sehen, wie dieser Mann, taub gegen alle Vernunft, womit der Präsident ihm zusprach, sich im eigentlichen Sinne des Worts, die Haare raufte und Worte ausstieß, die nur der Verzweiflung zu vergeben sind. Endlich stürzt er dem Schlosse zu, der Präsident, voll Teilnahme, eilt nach. Auf seinen Wink wollen einige Leute sich der Verrückten bemächtigen, aber mit einer Schnelligkeit, als hätte sie es aus der Luft gehascht, schwingt sie ein blankes Messer drohend in der Faust, daß niemand sich zu nähern wagt. Dann stand sie eine ganze Weile ruhig, und nach einer unbeschreiblich schmerzvollen Gebärde des Abschieds, indem sie ihre beiden Arme nach der Seite auswarf, wo Nolten sich entfernt hat, wandte sie sich und verschwand zögernden Schritts in der Finsternis.


Die Nacht ging ruhig vorüber. Agnes hatte sich gestern, noch eh der Arzt erschienen war, unter den Bemühungen so vieler zärtlichen Hände sehr bald erholt. Das Fräulein und die Schwägerin wichen die ganze Nacht nicht von ihrem Bette: von Stunde zu Stunde war Nolten an die Tür getreten, zu hören, wie es drinne stand. Gesprochen hatte das Mädchen seit gestern fast nichts, nur in einem wenig unterbrochenen Schlummer hörte man sie einigemal leise wimmern. Am Morgen aber nahm sie das Frühstück mit einer erfreulichen Heiterkeit aus Margots Hand, verlangte, daß diese und Nannette sich niederlegen, und ausruhn, für sich selber wünschte sie nichts, als allein bleiben zu dürfen. Da man ihr dies nicht weigern durfte, so ward eine Person ins Nebenzimmer gesetzt, von welcher sie auf der Stelle gehört und allenfalls beobachtet werden konnte.

Noltens Unruhe und Verzagtheit, solange man in Agnesens Zustand noch nicht klar sehen konnte, ist nicht auszusprechen. Es trieb ihn im Schlosse, es trieb ihn im Freien umher, nicht anders als einen Menschen, der jeden Augenblick sein Todesurteil kommen sieht. Dabei sagt er sich wohl, daß vor allem der Präsident eine befriedigende Erklärung des Vorfalls erwarten könne, daß er diese sich selbst und seiner eigenen Ehre schuldig sei. Jedoch mit der edelsten Schonung verweist ihn jener auf einen ruhigeren Zeitpunkt und gönnt ihm gerne die Wohltat, sich in der Einsamkeit erst selbst zurechte zu finden.

Ach, aber leider überall erstarren ihm Sinn und Gedanke, [346] wo und wie er auch immer das fürchterliche Angstbild in sich zu drehen und zu wenden versucht, er sieht nicht Grund noch Boden dieser Verwirrungen ab; auf sich selbst wälzt er die ganze Schuld, auf jenen Abend, da er die arme Seele so tödlich erschüttert und für die wahnsinnigen Angriffe des Weibs erst empfänglich gemacht.

Unglücklicherweise kam nachmittags Besuch von der Stadt, Herren vom Kollegium des Präsidenten mit Frauen und Kindern. Der Maler ließ sich verleugnen, seine Schwester half Margoten treulich die Hausehre retten.

Gegen Abend fand sich eine günstige Stunde, dem Präsidenten die gedachte Aufklärung zu geben. An ihrem Vater bemerkte Margot, als er und der Maler, nach einer langen Unterredung im Garten, endlich ins Zimmer traten, eine auffallende Bewegung; er mochte nicht reden, man setzte sich schweigend zu Tische und doch wollte man sich nachher nicht sogleich trennen; es war, als bedürften sie alle einander, obgleich keins dem andern etwas zu sagen oder abzufragen Miene machte. Die Mädchen griffen in der Not zu einer gleichgültigen Arbeit. Der Präsident sah ein großes Paket Kupferstiche, noch uneröffnet, an der Seite liegen; es war das prächtige Denonsche Werk zu der französischen Expedition nach Agypten (er hatte es Nolten zuliebe von der Stadt bringen lassen), es wurde ausgepackt, doch niemand hielt sich lange dabei auf.

Noch lasten auf jedem die Schrecken des gestrigen Abends; bald muß man mitleidig die flüchtige Gestalt Elisabeths auf finsteren Pfaden verfolgen, bald stehen die Gedanken wieder vor dem einsamen Bette Agnesens still, welche durch eine wunderbare Scheidewand auf immer von der Gesellschaft abgeschnitten scheint.

Der Präsident kann sich sowenig als der Maler es verbergen, daß das Mädchen auf dem geraden Wege sei, sich durch eine falsche Idee von Grund aus zu zerstören. Das Unerträgliche, das Fürchterliche dabei ist für die Freunde das Gefühl, daß weder Vernunft noch Gewalt, noch Überredung hier irgend etwas tun können, um eine Aussöhnung mit Nolten zu bewirken: denn dies muß entscheiden, und zwar unverzüglich, ein jeder Augenblick früher ist, wie bei tödlicher Vergiftung, mit Gold nicht aufzuwiegen. Aber Agnes verriet den unbezwinglichsten Widerwillen gegen ihren Verlobten; man wußte nicht, war Furcht oder Abscheu größer bei ihr. Wieviel Elisabeth mitgewirkt, [347] stand nicht zu berechnen, vermutlich sehr viel; genug ein zweimaliger, erst bittender, dann stürmischer Versuch, den Theobald heute gemacht, sich Zutritt bei der Braut zu verschaffen, hätte sie eher bis zu Konvulsionen getrieben, als daß sie diesem sehnlichsten Verlangen würde nachgegeben haben. So mußte man der Zeit und dem leidigen Zufall die Entwicklung fast ganz überlassen.

Die sonderbar verlegene Spannung der vier im Zimmer sitzenden Personen isolierte nun ein jedes auf seltsame Weise. Es war, als könnte man gar nicht reden, als müßte jeder Laut, wie in luftleerem Raume, kraftlos und unhörbar an den Lippen verschwinden, ja, als verhindere ein undurchdringlicher Nebel, daß eins das andere recht gewahr werden könne.

Nannette war die Unbefangenste. Sie stellte der Reihe nach ihre Betrachtungen an. Es kam ihr so närrisch vor, daß niemand den Mund öffnen wolle, um der Sache rasch und beherzt auf den Grund zu gehn, daß man nicht Anstalt treffe, so oder so Agnesen beizukommen sie fühlte sich wenigstens Mannes genug, den bösen Geist, welchen Namen er auch haben, in was für einem Winkel er auch stecken möge, kurz und gut auszutreiben, wenn sie nur erst wüßte, wovon es sich handelte, wenn nur der Bruder sie eines Winkes würdigen wollte. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den Präsidenten gerichtet, als dieser anfing, in Beziehung auf Agnesen der Gesellschaft einige Verhaltungsregeln ans Herz zu legen, welche hauptsächlich darauf hinausliefen: man müsse, so schwer es auch falle, durchaus sein Gefühl verleugnen, in allen Stücken tun, als wäre nichts Besonderes vorgefallen, man müsse bei dem Mädchen durch kein Wort, keine Miene den Grund ihres Kummers, ihrer Absonderung anerkennen; man solle Noltens bei jeder schicklichen Gelegenheit und in Verbindung mit den alltäglichsten Dingen bei ihr erwähnen, usw. der gute Mann bedachte nicht, daß die Frauenzimmer zu wenig von dem wahren Standpunkte wußten, um den Sinn dieser Vorschriften ganz einzusehn. – Nannetten war es gewissermaßen behaglich, den Präsidenten unter so bedenklichen Umständen zu beobachten. Wir sprechen, was das Mädchen hiebei empfand, in einer allgemeinen Bemerkung aus.

Es gibt Männer, deren ganze Erscheinung uns sogleich den angenehmen Eindruck vollkommener Sicherheit erweckt. Das Übergewicht einer kräftigen, mehr verneinenden als bejahenden Natur, die Rechtlichkeit eines resoluten Charakters, sogar die [348] eigentümliche Atmosphäre, welche Rang und Vermögen um sie verbreiten, dies alles scheint nicht nur sie selber zu Herren jedes bösen Zufalls zu machen, sondern ihre Gegenwart wirkt auch auf andere, die sich ihres Wohlwollens nur einigermaßen bewußt sind, mit der Magie eines kräftigen Talismans: herzlich gern möchten wir solch einen Glücksmann immer auch ein wenig in unsere Sorge und Gefahr verflochten sehn, denn nicht nur etwas Tröstliches, sondern wirklich Reizendes liegt darin, sich eine Person, die uns in jedem Betracht überlegen und unzugänglich scheint, nun durch gemeinsame Not auf einmal so menschlich nahe zu fühlen. Das kleinste Wort aus diesem Munde, der unbedeutendste Trost tut Wunder; ja einige wollen behaupten, daß selbst die körperliche Berührung durch die weichere Hand, durch das weichere Kleid eines dieser Vornehmen zuweilen etwas Unwiderstehliches habe, und desto mehr, je seltener sie vorkomme. Dies nun empfand Nannette wirklich, als der Präsident vorhin – einer lange still fortgesetzten Gedankenkette gleichsam den letzten Ring anschließend – mit etwas ermuntertem Gesicht von seinem Stuhle aufstand und so im Vorbeigehn mit einer wehmütigen Freundlichkeit das Mädchen unterm Kinn anfaßte; sie war von diesem kleinen Lichtblick so sonderbar gerührt, daß sie eine Sekunde lang meinte, nun sei die ganze Not am Ende und alles wieder gut.

Man ging jetzt auseinander. Eine Person mußte die Nacht wachen; übrigens kam die ganz anfänglich getroffene Einrichtung, daß Nannette mit Agnes ineinem Zimmer schlief, nun freilich sehr zustatten.


Die tiefe Pause, welche wie durch einen furchtbaren Zauberschlag im Leben unserer Gesellschaft eingetreten war, bezeichnete auch die nächstfolgenden Tage. Nannette und Margot waren indes von dem Zusammenhang des Übels unterrichtet worden. Alles hatte einen andern Gang im Schlosse angenommen. Es war nicht anders, als es läge ein Todkrankes im Hause; unwillkürlich vermied man jede Art von Geräusch, auch an Orten, von wo nicht leicht etwas in Agnesens Abgeschiedenheit hätte dringen können; es schien, das müsse nun einmal so sein, und wahrlich, wer auch nur den Maler ansah, das leidende Entsagen, den stumpfen Schmerz in seiner gesunkenen Haltung, der glaubte nicht leise, nicht zart genug auftreten zu können, um durch jede Bewegung, durch jede kleine Zuvorkommenheit [349] das Unglück zu ehren, das uns in solchem Fall eine Art von Ehrfurcht abnötigt. Der Präsident jedoch tadelte mit Ernst diese Ängstlichkeit, welche sich selbst auf die Dienerschaft erstreckte; dergleichen, behauptete er, sei auf die Kranke vom übelsten Einfluß, indem sie sich dadurch in ihrem eingebildeten Elend, in ihrer Mitleidswürdigkeit nur immer mehr müsse bestärkt fühlen.

Inzwischen erreichte man doch mehrere Vorteile über sie. Die Mädchen durften ungehindert bei ihr aus und ein gehn; nur gegen das Fräulein, trotz der schwesterlichsten Liebe, womit diese ihr stets nahe zu sein wünschte, verriet sie ein deutliches Mißtrauen. Sie verließ ihr Zimmer manchmal und ging an die frische Luft, wenn sie versichert sein konnte, Theobalden nicht zu begegnen. Ihn aber hie und da von der Ferne zu beobachten, war ihr offenbar nicht zuwider, ja man wollte bemerken, daß sie sich die Gelegenheit hiezu geflissentlich ersehe. Stundenlang las der Präsident ihr vor; sie bezeugte sich immer sehr ernst, doch gefällig und dankbar. Ein Hinterhalt in ihren Gedanken, ein schlaues Ausweichen, je nachdem ein Gegenstand zur Sprache kam, war unverkennbar; sie führte irgend etwas im Schilde und schien nur den günstigen Zeitpunkt abzuwarten.

Diese geheime Absicht offenbarte sich denn auch gar bald. Der alte Gärtner machte eines Tags dem Präsidenten in aller Stille die Entdeckung: Agnes habe ihn auf das flehentlichste beschworen, daß er ihr Gelegenheit verschaffe, aus dem Schlosse zu entkommen und nach ihrer Heimat zu reisen. Dabei habe sie ihm alles mögliche versprochen, auch selbst die Mittel sehr geschickt angegeben, wie seine Beihülfe völlig verschwiegen bleiben könnte. – Ein solches Verlangen war nun, die Heimlichkeit abgerechnet, so unverzeihlich nicht, der Maler hatte neulich selbst den Gedanken für sie gehabt, man ging jetzt ernstlich darüber zu Rate, verdoppelte indes die Wachsamkeit.

Sowenig es bei diesem allen jemanden im Schlosse einfiel, den armen Freund sein lästiges Gastrecht empfinden zu lassen so war ihm eine solche Großmut doch nichtsdestoweniger drückend. Dann rückte der Termin herbei, wo er jene Stelle in W* antreten sollte. Er dachte mit Schaudern der Zukunft, mit doppelt und dreifach blutendem Herzen des alten Vaters in Neuburg, der nichts von dem drohenden Umsturz der lieblichsten Hoffnungen ahnte.

[350] An einem Morgen kommt Nolten wie gewöhnlich zum Frühstück auf den Saal. Nannette und Margot fliehen bei seinem Eintritt erschrocken auseinander, sie grüßen ihn mit abgewandtem Gesicht, ihr Weinen verbergend. »Was ist geschehen?« fragt er voll Ahnung, »was ist Agnesen zugestoßen?« Er will hinaus, sich überzeugen, im selben Augenblick tritt der Präsident eilfertig herein. »Ich bin auf alles gefaßt!« ruft Nolten ihm zu: »Ums Himmels willen, schnell! was hat es gegeben?« »Gelassen! ruhig! Mein teurer Freund, noch ist nicht alles verloren. Was wir längst fürchten mußten, das frühere Übel, wovon Sie mir sagten, scheint leider eingetreten – Aber fassen Sie sich, o sein Sie ein Mann! Wie es damals vorübergegangen, so wird es auch diesmal.« »Nein, nimmer, nimmermehr! Sie ist das Opfer meiner Tollheit! – Also das noch! Zu schrecklich! zu gräßlich! – Was? und das soll ich mit ansehn? mit diesen Augen das sehn und soll leben? – Nun, sei's! Sei's drum; es geht mit uns beiden zur Neige. Ich bin es gewärtig, bin's völlig zufrieden, daß morgen jemand kommt und mir sagt: Deine Braut hat Ruhe, Agnes ist gestorben.« Er schwieg eine Weile, fuhr auf und riß im unbändigsten Ausbruch von Zorn und von Tränen, nicht wissend, was er wollte oder tat, die Schwester wild an sich her – »Wie stehst du da? was gaffst du da?« »Herr, nicht so! das ist grausam«, ruft Margot entrüstet und nimmt die Zitternde in Schutz, die er wie rasend von sich weggeschleudert hat. »Oh«, ruft er, die Faust vor die Stirne geschlagen, »warum wütet niemand gegen mich? warum steh ich so ruhig, so matt und erbärmlich in kalter Vernichtung? Ha, würfe mir irgendein grimmiger Feind meinen Schmerz ins Gesicht, vor die Füße! und schölte mich den gottverlaßnen Toren, der ich bin, den dummen Mörder, der ich bin! streute mir Salz und Glut in die Wunde – das sollte mir wohltun, das sollte mich stärken –«

»Wir überlassen Sie sich selbst, mein Freund«, versetzte ganz ruhig der Präsident, »und wollen Ihnen dadurch zeigen, daß wir nicht glauben, einen Mann, denn dafür hielt ich Sie bis jetzt, vor sich selber hüten zu müssen.«

So stand nun der Maler allein in dem Saale. Es war der schrecklichste Moment seines Lebens.

Wenn uns ganz unerwartet im ausgelassensten Jammer ein beschämender Vorwurf aus verehrtem Munde trifft, so ist dies immerhin die grausamste Abkühlung, die wir erfahren können. Es wird auf einmal totenstill in dir, du siehst dann deinen [351] eigenen Schmerz, dem Raubvogel gleich, den in der kühnsten Höhe ein Blitz berührt hat, langsam aus der Luft herunterfallen und halbtot zu deinen Füßen zucken.

Der Maler hatte sich auf einen Sitz geworfen. Er sah mit kalter Selbstbetrachtung geruhig auf den Grund seines Innern herab, wie man oft lange dem Rinnen einer Sanduhr zusehn kann, wo Korn an Korn sich unablässig legt und schiebt und fällt. Er bröckelte spielend seine Gedanken, der Reihe nach auseinander und lächelte zu diesem Spiel. Dazwischen quoll es ihm, ein übers andre Mal, ganz wohl und leicht ums Herz, als entfalte soeben ein Engel der Freuden nur sachte, ganz sachte die goldnen Schwingen über ihm, um dann leibhaftig vor ihn hinzutreten!

Erschrocken schaut er auf, ihm deucht, es komme jemand, wie auf Socken, durch die drei offen ineinandergehenden Zimmer herbei. Er staunt – Agnes ist's, die sich nähert. Sie geht barfuß; sonst aber nicht nachlässig angetan; nur eine Flechte ihres Haars hängt vorn herab, davon sie das äußerste Ende gedankenvoll lauschend ans Kinn hält. Ein ganzer Himmel voll Erbarmung scheint mit stummer Klagegebärde ihren schleichenden Gang zu begleiten, die Falten selber ihres Kleids mitleidend die liebe Gestalt zu umfließen.

Nolten ist aufgestanden; doch ihr entgegenzugehen darf er nicht wagen; all seine Seele hält den Atem an. Das Mädchen ist bis unter die Türe des Saals vorgeschritten, hier bleibt sie stehen und lehnt sich in bequem-gefälliger Stellung mit dem Kopf an die Pfoste. So schaut sie aufmerksam zu ihm hinüber. Der rührende Umriß ihrer Figur, sowie die Blässe des Gesichts wird noch reizender, süßer durch die Dämmerung des grünen Zimmers bei den gegen die schwüle Morgensonne verschlossenen Fensterladen. So ihn betrachtend, spricht sie erst für sich: »Er gleicht ihm sehr, er hat ihn gut gefaßt, ein Ei gleicht dem andern nicht so, aber eines von beiden ist hohl.« Dann sagte sie laut und höhnisch: »Guten Morgen, Heideläufer! Guten Morgen Höllenbrand! Nun, stell Er sich nicht so einfältig! Schon gut, schon gut! ich bin unbeschreiblich gerührt. Er bekommt ein Trinkgeld fürs Hokuspokus. – Bleib Er nur – bitte gehorsamst, ich seh's recht gut, nur immer zwölf Schritt vom Leibe. Was macht denn seine liebe braune Otter? – haha, nicht wahr? Mein kleiner Finger sagt mir nur zuweilen auch etwas. Nun, ich muß weiter. Kurze Aufwartungen, das ist so Mode in der vornehmen [352] Welt. Und bemüh Er sich nur nie wegen meiner, wir nehmen das nicht so genau.«

Sie neigte sich und ging.

Wenn man – sprach Theobald erschüttert bei sich selbst – wenn man etwa so träumt, wie dieses wirklich ist, so schüttelt sich der Träumende vor Schmerz und ruft sich selber zu: hurtig erwecke dich, es wird dich töten! Schnell dreht er die nächtliche Scheibe seines Geistes dem wahren Tageslichte zu – Noch mehr! er greift mit Geisterarmen entschlossen durch die dicke Mauer, hinter der sein Körper gefangen steht, und öffnet wunderbar sich selber von außen die Riegel. Mir schießt in der wachsenden Todesnot kein Götterflügel aus den Schultern hervor und entreißt mich dem Dunstkreis, der mich erstickt, denn dies ist wirklich, dies ist da, kein Gott wird's ändern!


Soviel man nach und nach aus Agnesens verworrenen Gesprächen zusammenreimen konnte, so schien die sonderbarste Personenverwechslung zwischen Nolten und Larkens in ihr vorgegangen zu sein; vielmehr es waren diese beiden in ihrer Idee auf gewisse Weise zu einer Person geworden. Den Maler schien sie zwar als den Geliebten zu betrachten, aber keineswegs in der Gestalt, wie sie ihn hier vor Augen sah. Die Briefe des Schauspielers trug sie wie ein Heiligtum jederzeit bei sich, ihn selbst erwartete sie mit der stillen Sehnsucht einer Braut, und doch war es eigentlich nur wieder Nolten, den sie erwartete. Man wird, wie dies gemeint sei, in kurzem deutlicher einsehn.

Inzwischen hielt sie sich am liebsten an den blinden Henni; sie nannte ihn ihren frommen Knecht, gab ihm allerlei Aufträge, sang mit ihm zum Klavier oder zur Orgel, beredete ihn, sie da- und dorthin zu begleiten, wobei sie ihn gewöhnlich mit der Hand am Arm zu leiten pflegte. Man glaubte nur eben ein Paar Geschwister zu sehen, so vollkommen verstanden sich beide. Der Präsident und Nolten versäumten deshalb nicht, dem jungen Menschen gewisse Regeln einzuschärfen, damit eine zweckmäßige Unterhaltung ihren Ideen womöglich eine wünschenswerte Richtung gebe. Der gute, verständige Junge ließ sich's auch wirklich mit ganzer Seele angelegen sein. Er verfuhr auf die zärteste Weise und wußte die Absicht gar klug zu verstecken. Sie selbst hatte die religiösen Gespräche geführt, da er sich denn recht eigentlich zu Hause fand und aus dem stillen Schatze seines Herzens mit Freuden alles mitteilte, was eben das Thema [353] gab. Am glücklichsten war er, wenn sie in irgendeinen Gegenstand so weit hineingeführt werden konnte, daß sie von selbst darin fortfuhr, und wirklich verfolgte sie dann die Materie nicht nur sehr lange, mit ziemlicher Stetigkeit, sondern er mußte sich häufig auch über den Reichtum ihrer Gedanken, über die tiefe Wahrheit ihrer innern religiösen Erfahrung verwundern, die freilich mehr nur durch Erinnerung aus dem gesunden Zustand hergenommen sein mochte und mehr historisch von ihr vorgebracht wurde, als daß sie jetzt noch rein und innig darin gelebt hätte; nichtsdestoweniger war die Fähigkeit unschätzbar, sich diese Gefühle lebendig zu vergegenwärtigen, so wie der Vorteil, solche befestigen und Neues daran knüpfen zu können, dem treuen Henni höchst willkommen war. Gegen einige grelle, aus Mißverständnis der Bibelsprache entstandene Vorstellungen, welche zwar von Hause aus Glaubensartikel bei ihr gewesen sein mochten, in reiferen Jahren aber glücklich verdrungen, jetzt wieder, auf eine närrische Art erweitert, zum Vorschein kamen, hatte Henni vorzüglich zu kämpfen. Besonders kam er mit ihrer falschen Anwendung des Dämonenglaubens ins Gedränge, weil er diese Lehre, als eine an sich selber wahre und in der Schrift gegründete, unmöglich verwerfen konnte.

Allein im höchsten Grad betrübend war es ihm, wenn sie, mitten aus der schönsten Ordnung heraus, entweder in eine auffallende Begriffsverwirrung fiel, oder auch wohl plötzlich auf ganz andere Dinge absprang.

So saßen sie neulich an ihrem Lieblingsplatz unter den Akazienbäumen vor dem Gewächshaus. Sie las aus dem Neuen Testamente vor. Auf einmal hält sie inne und fragt: »Weißt du auch, warum Theobald, mein Liebster, ein Schauspieler geworden ist? Ich will dir's anvertraun, aber sag es niemand, besonders nicht Margot, der Schmeichelkatze, sie plaudert's dem Falschen, dem Heideläufer. Vor dem muß mein Schatz sich eben verbergen. Drum nimmt er verschiedene Trachten an, ich sage dir, alle Tage eine andere Gestalt, damit ihn der Läufer nicht nachmachen kann und nicht weiß, welches von allen die rechte ist. Vor ein paar Jahren kam Nolten in den Vetter Otto verkleidet zu mir; ich kannte ihn nicht und hab ihn arg betrübt. Das kann ich mir in Ewigkeit nicht vergeben. Aber wer soll auch die Komödianten ganz auslernen! Die können eben alles. Sie sind dir imstande und stellen sich tot, völlig tot. Unter uns, mein Schatz tat es auch, um dem Lügner für immer das Handwerk [354] niederzulegen. Ich war bei der Leiche damals in der Stadt. Ich sage dir – verstehst du, dir allein Henni! – der leere Sarg liegt in der Grube, nur ein paar lumpige Kleiderfetzen drin!«

Sie verfiel einige Sekunden in Nachdenken und klatschte dann fröhlich in die Hände: »O Henni! süßer Junge! in sechs Wochen kommt mein Bräutigam und nimmt mich mit und wir haben gleich Hochzeit.« Sie stand auf und fing an, auf dem freien Platz vor Henni aufs niedlichste zu tanzen, indem sie ihr Kleid hüben und drüben mit spitzen Fingern faßte und sich mit Gesang begleitete. »Könntest du nur sehn«, rief sie ihm zu, »wie hübsch ich's mache! fürwahr solche Füßchen sieht man nicht leicht. Vögel von allen Arten und Farben kommen auf die äußersten Baumzweige vor und schaun mir gar naseweis zu.« Sie lachte boshaft und sagte: »Ich rede das eigentlich nur, weil du mir immer Eitelkeit vorwirfst, ich kann dein Predigen nicht leiden. Warte doch, du mußt noch ein bißchen Eigenlob hören. Aber ich will einen andern für mich sprechen lassen.« Sie zog einen Brief des Schauspielers aus dem Gürtel und las:

»›Oft kann ich mir aber mit aller Anstrengung dein Bild nicht vorstellen, ich meine, die Züge deines Gesichts, wenn sie mir einzeln auch deutlich genug vorschweben, kann ich nicht so recht zusammenbringen. Dann wieder in andern Augenblicken bist du mir so nahe, so greifbar gegenwärtig mit jeder Bewegung! sogar deine Stimme, das Lachen besonders, dringt mir dann so hell und natürlich ans Ohr. Dein Lachen! Warum eben das? Nun ja! behaupten doch auch die Poeten, es gebe nichts Lieblichers von Melodie, als so ein herzliches Mädchengekicher. Ein Gleichnis, liebes Kind. In meiner Jugend, weißt du, hatt ich immer sehr viel von zarten Elfen zu erzählen. Dieselben pflegen sich bei Nacht mit allerlei lieblichen Dingen, und unter anderm auch mit einem kleinen Kegelspiel die Zeit zu verkürzen. Dies Spielzeug ist vom pursten Golde, und drum wenn alle neune fallen, so heißen sie's ein goldenes Gelächter, weil der Klang dabei gar hell und lustig ist. Gerade so dünkt mich, lacht nun mein Schätzchen.‹

Henni, was meinst du dazu? Zum Glück hab ich so schnell gelesen, daß du nicht einmal Zeit bekamst, dich drüber zu ärgern. Hör du, als Kind da hatt ich einen Schulmeister, der fand dir gar eine sonderliche Methode, einem das Schnell-Lesen abzugewöhnen, er gab einem das Buch verkehrt in die Hand, daß es von der Rechten zur Linken ging – ›So‹, rief er dann,[355] ›jetzt laß den Rappen laufen! ich will auch beizeit Hebräisch lehren.‹ Recht, daß mir der Schulmeister beifällt – ich bitte dich, mache doch deinen guten Vater aufmerksam, daß er nicht mehr chinesisches Gartenhaus sagen soll, sondern chinesisches; er würde mich dauern, wenn man ihn spöttisch drum ansähe, es hat mich schon recht beschäftigt; heut hab ich gar davon geträumt, da gab er mir die Erklärung ›Jungfer, ich pflege mit dem Wort zu wechseln, und zwar nicht ohne Grund: zur Winterszeit, wo alles starr und hartgefroren ist, sprech ich Chinesisch, im Frühjahr wird mein G schon weicher, im Sommer aber bin ich ganz und gar Chinese.‹ Fürwahr, das ist er auch: er trägt ein Zöpfchen. Im Ernst, ich hätte gute Lust, einmal mit der Schere hinter ihm herzukommen; es ist doch gar zu leichtfertig und altväterisch.«

Eine Magd lief über den Weg, Agnes kehrte ihr zornig den Rücken und sagte, nachdem sie weg war: »Mir wird ganz übel, seh ich die Käthe. Gestern hört ich sie dort über die Mauer einem Bauerburschen zurufen ›Weißt du schon, daß die fremde Mamsell bei uns zur Närrin worden ist?‹ Das erzdumme Mensch. Wer ist verrückt? Niemand ist verrückt. Die Vorsehung ist gnädig Deswegen heißt es auch in meinem heutigen Morgengebet:


Wollest mit Freuden,
Und wollest mit Leiden
Mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Bescheiden.

Ja, nichts geht über die Zufriedenheit. Gottlob, diese hab ich; fehlt nur noch eins, fehlt leider nur noch eins!«

So ging es denn oft lange fort. Und wenn nun Henni, vom Maler täglich einigemal aufgefordert, nichts Tröstlicheres zu berichten hatte, so brach dem armen Manne fast das Herz.

Die Ärzte, die man befragt, gaben bloß Regeln an, die sich von selber verstanden und überdies bei dem Eigensinn der Kranken schwer anzuwenden waren. Zum Beispiel ließ sie sich um keinen Preis bewegen, an der allgemeinen Tafel zu speisen; und nur etwa wenn man beim Nachtisch noch auf dem Saale beisammen saß, erschien sie zuweilen unvermutet in der offenen Tür des Nebenzimmers, mit ruhigen Augen rings auf der Gesellschaft verweilend, ganz wieder in der angenehmen Stellung, worin wir sie oben dem Maler gegenüber gesehen. Versuchte [356] aber Theobald, sich ihr zu nähern, so wich sie geräuschlos zurück und kam so leicht nicht wieder.

Es war indes aufs neue davon die Rede geworden, daß man vielleicht am besten täte, sie geradezu nach Hause zurückzubringen. Der Antrag ward ihr durch Nannetten mit aller Zartheit gestellt, allein statt daß sie ihn, wie man erwartete, mit beiden Händen ergriffen hätte, bedachte sie sich ernstlich und schüttelte den Kopf. Es war, als wenn sie ihren Zustand fühlte und ihrem Vater zu begegnen fürchtete.

Es sprach jemand die Meinung aus, daß Nolten sich entweder ganz entfernen, oder seine Entfernung wenigstens der Braut sollte glauben gemacht werden, da seine Gegenwart sie offenbar beunruhige und ihrem Wahne täglich Nahrung gebe, dagegen, wenn er ginge, wohl gar ein Verlangen nach ihm bei ihr rege werden dürfte, wo nicht, so könnte man zuletzt Veranlassung nehmen, ihn als den erwarteten wahren Geliebten ihr förmlich vorzuführen, oder sie, wie ein Kind, den frohen Fund gleichsam selbst tun zu lassen; gelänge diese List und wisse man sie kühn und klüglich durchzuführen, so sei Hoffnung zur Kur vorhanden. – Diese Ansicht schien so ganz nicht zu verwerfen. Doch Theobald behauptete zuletzt: er müsse bleiben, sie müsse ihn von Zeit zu Zeit vor Augen haben, ein ruhiges, bescheidenes Benehmen, der Anblick seines stillen Kummers werde günstig auf sie wirken, er halte nichts auf künstliche Anschläge und Täuschungen, er denke, wenn irgend noch etwas zu hoffen sei, auf seine Weise eine weit gründlichere und dauerhaftere Heilung zu erzielen.

Nunmehr aber würden wir es unter der Würde des Gegenstands halten und das Gefühl des Lesers zu verletzen glauben, wenn wir ihn mit den Leiden des Mädchens ausführlicher als nötig, auf eine peinliche Art unterhalten wollten, so viele Anmut ihr Gespräch auch selbst in dieser traurigen Zerstörung noch immer offenbaren mochte. Deshalb beschränkt sich unsere Schilderung einzig auf das, was zum Verständnis der Sache selbst gehört.

»Fräulein, du kannst ja Lateinisch«, sagte sie einmal zu Margot, »was heißt der Funke auf lateinisch?« »Scintilla«, war die gutmütige Antwort. »So, so; das ist ein musterhaftes Wort, es gibt ordentlich Funken; aber du wirst es nur geschwind erdacht haben? Tut auch nichts, desto besser vielmehr: ich will künftig, wenn ich dir etwas über die Augen des Bewußten zu sagen habe, [357] in seiner Gegenwart nur bloß Scintilla sagen, dann merk aufs grüne Flämmchen – Bst! hörst du nichts? er regt sich hinterm Ofenschirm – nämlich, er kann sich unsichtbar machen – Ei das weißt du besser wie ich. Und, Fräulein, wenn du wieder mit ihm buhlst, mir kann es ja eins sein, aber gewarnt hab ich dich.« »Was soll mir das – Liebe Agnes!« »O ihr habt einander flugs im Arm, wenn niemand um den Weg ist! Ich bitte dich, sag mir, wie küßt sich's denn mit ihm? ist er recht häßlich süß? merkt man ihm an, daß er den Teufel im Leib hat? – Fräulein, weil dir doch nichts dran liegt, ob er hie und da noch andre Galanterien neben dir hat, so will ich dir gleich einige nennen kannst ihn damit necken: Erstlich ist da: eine schöne Komtesse – fürnehm, ah fürnehm! Sieh, so ist ihr Anstand –« (hier machte sie eine graziöse Figur durchs Zimmer) »Zieh ihn nur damit auf! Aber angeführt seid ihr im Grund doch alle miteinander. Du willst mir nicht glauben, daß er mit der Zigeunerin verlobt ist? Wenn ich Lust hätte, könnt ich den Ort wohl nennen, wo der Verspruch gehalten wurde und wer den Segen dazu sprach, aber fromme Christen beschreien so was nicht. Überhaupt, ich werde jetzt zur Schlittenfahrt müssen. Du leihst mir deinen Zobel doch wieder?« Margot verstand, was sie im Sinne hatte, und gab ihr das Kleidungsstück. Nach einiger Zeit kam sie sehr artig geputzt, wie der Frühling und Winter, aus ihrem Zimmer hervor, ging in den Garten und zum Karussell, wo sie sich dann gewöhnlich in einen mit hölzernen Pferden bespannten Schlitten setzte. Der Boden durfte nicht gedreht werden, sie behauptete, es komme alles von selbst in Gang, wenn sie die im Kreise springenden Rosse eine Zeitlang ansehe, und es mache ihr einen angenehmen Schwindel.

Nannette setzte sich mit ihrer Arbeit in den Schatten der nächsten Laube. Bald gesellte sich Agnes zu ihr, forderte sie auf, nicht traurig zu sein und verhieß: ihr Bruder werde nun bald ankommen und sie beide entführen »Nicht wahr, wir wollen fest zusammenhalten? Du bist im Grund so übel dran wie ich mit diesen Lügengesichtern. Ja, ja, auch dir gehn die Augen nach und nach auf, ich merkte es neulich, wie dir grauste, als dich der Bösewicht Schwester hieß. Zwinge dich nur nicht bei ihm, er kann uns doch nicht schaden. – Jetzt aber sollst du etwas Liebes sehen, das wird dich freuen: Lies diese Blätter, du kennst die Hand nicht, aber den Schreiber. Sie sind mein höchster Schatz, mehr, mehr als Gold und Perlen und Rubinen! [358] Ich mußte sie dem Höllenbrand abführen, er hatte sie mir unterschlagen. Nimm sie drum fein in acht und lies ganz in der Stille, recht in herzinniger Stille.« Sie ging und ließ Nannetten das Liederheft zurück, dessen wir schon bei Gelegenheit der hinterlassenen Papiere des Schauspielers erwähnt haben.

Da diese Gedichte »An L.« überschrieben waren und Agnes unter ihren Namen eine Luise hatte, so eignete sie sich dieselben völlig zu, nicht anders als sie wären von Theobald an sie gerichtet worden. Überdies hatte sie eine Silhouette in jenen Blättern gefunden, von der sie sich beredete, es sei ihr Bild. Man traf sie etliche Male darüber an, daß sie zwei Spiegel gegeneinanderhielt, um ihr Profil mit dem andern zu vergleichen.

Vielleicht ist es dem Leser angenehm, von jenen Gedichten etwas zu sehen und sich dabei des Mannes zu erinnern, der, wie einst im Leben, so jetzt noch im Tode, das Herz des unglücklichen Kindes so innig beschäftigen mußte.


*

Der Himmel glänzt vom reinsten Frühlingslichte,
Ihm schwillt der Hügel sehnsuchtsvoll entgegen,
Die starre Welt zerfließt in Liebessegen,
Und schmiegt sich rund zum zärtlichsten Gedichte.
Wenn ich den Blick nun zu den Bergen richte,
Die duftig meiner Liebe Tal umhegen –
O Herz, was hilft dein Wiegen und dein Wägen,
Daß all der Wonne herber Streit sich schlichte!
Du, Liebe, hilf den süßen Zauber lösen,
Womit Natur in meinem Innern wühlet!
Und du, o Frühling, hilf die Liebe beugen!
Lisch aus, o Tag! Laß mich in Nacht genesen!
Indes ihr, sanften Sterne, göttlich kühlet,
Will ich zum Abgrund der Betrachtung steigen.
*

Wahr ist's, mein Kind, wo ich bei dir nicht bin
Geleitet Sehnsucht alle meine Wege,
Zu Berg und Wald, durch einsame Gehege
Treibt mich ein irrer, ungeduldger Sinn.
[359]
In deinem Arm! o seliger Gewinn!
Doch wird auch hier die alte Wehmut rege,
Ich schwindle trunken auf dem Himmelsstege,
Die Gegenwart flieht taumelnd vor mir hin.
So denk ich oft: dies schnell bewegte Herz,
Vom Überglück der Liebe stets beklommen,
Wird wohl auf Erden nie zur Ruhe kommen;
Im ewgen Lichte löst sich jeder Schmerz,
Und all die schwülen Leidenschaften fließen
Wie ros'ge Wolken, träumend, uns zu Füßen.
*

Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt,
Mich stumm an deinem heilgen Wert vergnüge,
Da hör ich oft die leisen Atemzüge
Des Engels, welcher sich in dir verhüllt.
Und ein erstaunt, ein selig Lächeln quillt
Auf meinen Mund, ob mich kein Traum betrüge,
Daß nun in dir, zu himmlischer Genüge,
Mein kühnster Wunsch, mein einzger, sich erfüllt.
Von Tiefe dann zu Tiefen stürzt mein Sinn,
Ich höre aus der Gottheit nächtger Ferne
Die Quellen des Geschicks melodisch rauschen;
Betäubt kehr ich den Blick nach oben hin,
Zum Himmel auf – da lächeln alle Sterne!
Ich kniee, ihrem Lichtgesang zu lauschen.
*

Schön prangt im Silbertau die junge Rose,
Den ihr der Morgen in den Busen rollte,
Sie blüht, als ob sie nie verblühen sollte,
Sie ahnet nichts vom letzten Blumenlose.
Der Adler strebt hinan ins Grenzenlose,
Sein Auge trinkt sich voll von sprühndem Golde,
Er ist der Tor nicht, daß er fragen wollte,
Ob er das Haupt nicht an die Wölbung stoße.
[360]
Mag einst der Jugend Blume uns verbleichen,
So war die Täuschung doch so himmlisch süße,
Wir wollen ihr vorzeitig nicht entsagen.
Und unsre Liebe muß dem Adler gleichen:
Ob alles, was die Welt gab, uns verließe –
Die Liebe darf den Flug ins Ewge wagen.
*

Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
Dem Kuckuck horchend, in dem Grase liegen,
Er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir wohl; und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.
Und wenn die feinen Leute nur erst dächten
Wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie würden mich zuletzt noch gar beneiden.
Denn des Sonetts vielfältge Kränze flechten
Sich wie von selber unter meinen Händen,
Indes die Augen in der Ferne weiden.

In der Karwoche

O Woche, Zeugin heiliger Beschwerde!
Du stimmst so ernst zu dieser Frühlingswonne,
Und breitest im verjüngten Strahl der Sonne
Des Kreuzes dunklen Schatten auf die Erde.
Du hängest schweigend deine Flöre nieder,
Der Frühling darf indessen immer keimen,
Das Veilchen duftet unter Blütenbäumen,
Und alle Vöglein singen Jubellieder.
[361]
O schweigt, ihr Vöglein hoch im Himmelblauen!
Es tönen rings die dumpfen Glockenklänge,
Die Engel singen leise Grabgesänge,
O schweiget, Vöglein auf den grünen Auen!
Ihr Veilchen, kränzt heut keine Lockenhaare!
Euch pflückt mein frommes Kind zum dunkeln Strauße,
Ihr wandert mit zum stillen Gotteshause,
Dort sollt ihr welken auf des Herrn Altare.
Wird sie sich dann in Andachtslust versenken,
Und sehnsuchtsvoll in süße Liebesmassen
Den Himmel und die Welt zusammenfassen
So soll sie mein – auch mein! dabei gedenken.

*


Agnes war inzwischen mit Henni spazierengegangen. Sie führte ihn ins freie Feld hinaus, ohne recht zu sagen, wohin es ginge, ein nicht seltener Fall, wo ihr jedesmal eine dritte zuverlässige Person unbemerkt in einiger Entfernung hinten nachzufolgen pflegte. Agnes brachte seit einiger Zeit die schöne Sammetjacke, das Geschenk ihres vermeintlichen Liebhabers, kaum mehr vom Leibe; so trug sie dieselbe auch jetzt, und sah trotz einiger Nachlässigkeit im Anzug sehr reizend darin aus. Unter ordentlichen Gesprächen gelangten beide zu dem nächsten Wäldchen und in der Mitte desselben auf einen breiten Rasenplatz, worauf eine große Eiche einzeln stand, die einen offenen Brunnen sehr malerisch beschattete. Agnes hatte von diesem Brunnen, als von einer bekannten Merkwürdigkeit, gelegentlich erzählen gehört. Es ist dies wirklich ein sehenswertes Überbleibsel aus dem höchsten Altertum und äußerlich noch wohlerhalten. Die runde Mauer ragt etwa eine halbe Mannshöhe über den Erdboden vor, die Tiefe, obgleich zum Teil verschüttet, ist noch immer beträchtlich, man konnte mit mäßiger Schnelle auf sechszehn zählen, eh der hineingeworfene Stein unten auf dem Wasser aufschlug. Sein Name »Alexis-Brunn« bezog sich auf eine Legende. Agnes verlangte die Sage ausführlich von Henni zu hören, und er erzählte wie folgt.

»Vor vielen hundert Jahren, eh noch das Christentum in deutschen Landen verbreitet gewesen, lebte ein Graf, der besaß eine Tochter, Belsore, die hatte er eines Herzogs Sohn, mit Namen [362] Alexis, zur Ehe versprochen. Diese liebten einander treulich und rein; über ein Jahr sollte Alexis sie heimführen dürfen. Mittlerweile aber mußte er einen Zug tun mit seinem Vater, weit weg, nach Konstantinopel. Dort hörte er zum erstenmal in seinem Leben das Evangelium von Christo predigen, was ihn und seinen Vater bewog, diesen Glauben besser kennenzulernen. Sie blieben einen Monat in der gedachten Stadt und kamen mit Freuden zuletzt überein, daß sie sich wollten taufen lassen. Bevor sie wieder heimreisten, ließ der Vater von einem griechischen Goldschmied zwei Fingerringe machen, worauf das Kreuzeszeichen in kostbaren Edelstein gegraben war; der eine gehörte Belsoren, der andere Alexis. Als sie nach Hause kamen und der Graf vernahm, was mit ihnen geschehen, und daß seine Tochter sollte zur Christin werden, verwandelte sich seine Freude in Zorn und giftigen Haß, er schwur, daß er sein Kind lieber würde mit eigner Hand umbringen, eh ein solcher sie heiraten dürfe, und könnte sie dadurch zu einer Königin werden. Belsore verging für Jammer, zumal sie nach dem, was ihr Alexis vom neuen Glauben ans Herz gelegt, ihre Seligkeit auch nur auf diesem Weg zu finden meinte. Sie wechselten heimlich die Ringe und gelobten sich Treue bis in den Tod, was auch immer über sie ergehen würde. Der Graf bot Alexis Bedenkzeit an, ob er etwa seinen Irrtum abschwören möchte, da er ihn denn aufs neue als lieben Schwiegersohn umarmen wolle. Der Jüngling aber verwarf den frevelhaften Antrag, nahm Abschied von Belsoren, und griff zum Wanderstab, um in geringer Tracht bald da bald dort als ein Bote des Evangeliums umherzureisen. Da er nun überall verständig und kräftig zu reden gewußt, auch lieblich von Gestalt gewesen, so blieb seine Arbeit nicht ohne vielfältigen Segen. Aber oft, wenn er so allein seine Straße fortlief, bei Schäfern auf dem Felde, bei Köhlern im Walde übernachten blieb und neben soviel Ungemach auch wohl den Spott und die Verachtung der Welt erfahren mußte, war er vor innerer Anfechtung nicht sicher und zweifelte zuweilen ob er auch selbst die Wahrheit habe, ob Christus der Sohn Gottes sei, und würdig, daß man um seinetwillen alles verlasse. Dazu gesellte sich die Sehnsucht nach Belsoren, mit der er jetzt wohl längst in Glück und Freuden leben könnte. Indes war er auf seinen Wanderungen auch in diese Gegend gekommen. Hier, wo nunmehr der Brunnen ist, soll damals nur eine tiefe Felskluft, dabei ein Quell gewesen sein, daran Alexis seinen [363] Durst gelöscht. Hier flehte er brünstig zu Gott um ein Zeichen, ob er den rechten Glauben habe; doch dachte er sich dieser Gnade erst durch ein Geduldjahr würdiger zu machen, währenddessen er zu Haus beim Herzog, seinem Vater, geruhig leben und seine Seele auf göttliche Dinge richten wolle. Werde er in dieser Zeit seiner Sache nicht gewisser und komme er auf den nächsten Frühling wiederum hieher, so soll der Rosenstock entscheiden, an dessen völlig abgestorbenes Holz er jetzt den Ring der Belsore feststeckte: blühe bis dahin der Stock und trage er noch den goldenen Reif, so soll ihm das bedeuten, daß er das Heil seiner Seele bisher auf dem rechten Wege gesucht und daß auch seine Liebe zu der Braut dem Himmel wohlgefällig sei. So trat er nun den Rückweg an. Der Herzog war inzwischen dem Erlöser treu geblieben, und von Belsoren erhielt Alexis durch heimliche Botschaft die gleiche Versicherung. Sosehr ihn dies erfreute, so blieb ihm doch sein eigener Zweifelmut; zugleich betrübte er sich, weil es im Brief der Braut beinah den Anschein hatte, als ob sie bei aller treuen Zärtlichkeit für ihn, doch ihrer heißen Liebe zum Heiland die seinige in etwas nachgesetzt. Er konnte kaum erwarten, bis bald das Jahr um war. Da macht er sich also zu Fuße, wie er's gelobt, auf den Weg. Er findet den Wald wieder aus, er kennt schon von weitem die Stelle, er fällt, bevor er näher tritt, noch einmal auf die Knie und eilt mit angstvollem Herzen hinzu. O Wunder! drei Rosen, die schönsten, hängen am Strauch. Aber ach, es fehlte der Ring. Sein Glaube also galt, aber Belsore war ihm verloren. Voll Verzweiflung reißt er den Strauch aus der Erde und wirft ihn in die tiefe Felskluft. Gleich nachher reut ihn die Untat; als ein Büßender kehrt er zurück ins Vaterland, dessen Einwohner durch die Bemühungen des Herzogs bereits zum großen Teil waren bekehrt worden. Alexis versank in eine finstere Schwermut; doch Gott verließ ihn nicht, Gott gab ihm den Frieden in seinem wahrhaftigen Worte. Nur über einen Punkt, über seine Liebe zu der frommen Jungfrau, war er noch nicht beruhigt. Eine heimliche Hoffnung lebte in ihm, daß er an jenem wunderbaren Orte noch völlig müsse getröstet werden. Zum drittenmal machte er die weite Wallfahrt, und gücklich kommt er ans Ziel. Aber leider trifft er hier alles nur eben wie er's verlassen. Mit Wehmut erkennt er die nackte Stelle, wo er den Stock entwurzelt hatte. Kein Wunder will erscheinen, kein Gebet hilft ihm zu einer fröhlichen Gewißheit. In solcher Not [364] und Hoffnungslosigkeit überfiel ihn die Nacht, als er noch immer auf dem Felsen hingestreckt lag, welcher sich über die Kluft herbückte. In Gedanken sah er so hinunter in die Finsternis und überlegte, wie er mit anbrechendem Morgen in Gottes Namen wieder wandern und seiner Liebsten ein Abschiedsschreiben schicken wolle. Auf einmal bemerkt er, daß es tief unten auf dem ruhigen Spiegel des Wassers als wie ein Gold- und Rosenschimmer zuckt und flimmt. Anfänglich traut er seinen Augen nicht, allein von Zeit zu Zeit kommt der liebliche Schein wieder. Ein frohes Ahnen geht ihm auf. Wie der Tag kommt, klimmt er die Felsen hinab, und siehe da! der weggeworfene Rosenstock hatte zwischen dem Gestein, kaum eine Spanne überm Wasser, Wurzel geschlagen und blühte gar herrlich. Behutsam macht Alexis ihn los, bringt ihn ans Tageslicht herauf und findet an derselben Stelle, wo er vor zweien Jahren den Reif angesteckt, ringsum eine frische Rinde darüber gequollen, die ihn so dicht einschloß, daß kaum durch eine winzige Ritze das helle Gold herausglänzte. Noch voriges Jahr müßte Alexis den Ring, wäre er nicht so übereilt und sein Vertrauen zu Gott größer gewesen, weit leichter entdeckt haben. Wie dankbar warf er nun sich im Gebet zur Erde! Mit welchen Tränen küßte er den Stock, der außer vielen aufgegangenen Rosen noch eine Menge Knospen zeigte. Gerne hätte er ihn mitgenommen, allein er glaubte ihn dem heiligen Orte, wo er zuvor gestanden, wieder einverleiben zu müssen. Unter lautem Preise der göttlichen Allmacht kehrte er, wie ein verwandelter Mensch, ins väterliche Haus zurück. Dort empfängt ihn zugleich eine Freuden- und Trauerbotschaft: der alte Graf war gestorben, auf dem Totenbett hatte er sich, durch die Belehrung seiner Tochter gewonnen, zum Christentum bekannt und seine Härte aufrichtig bereut. Alexis und Belsore wurden zum glücklichsten Paare verbunden. Ihr erstes hierauf war, daß sie miteinander eine Wallfahrt an den Wunderquell machten und denselben in einen schöngemauerten Brunn fassen ließen. Viele Jahrhunderte lang soll es ein Gebrauch gewesen sein, daß weit aus der Umgegend die Brautleute vor der Hochzeit hieherreisten, um einen gesegneten Trunk von diesem klaren Wasser zu tun, welches der Rosentrunk geheißen; gewöhnlich reichte ihn ein Pater Einsiedler, der hier in dem Walde gewohnt. Das ist nun freilich abgegangen, doch sagen die Leute, die Schäfer und Feldhüter, daß noch jetzt in der Karfreitag- und Christnacht das [365] rosenfarbene Leuchten auf dem Grund des Brunnens zu sehen sei.«

Agnes betrachtete einen vorstehenden Mauerstein, worauf noch ziemlich deutlich drei ausgehauene Rosen und ein Kreuz zu bemerken waren. Henni leitete aus der Geschichte mehrere Lehren für seine arme Schutzbefohlene ab; sie merkte aber sehr wenig darauf und zog ihn bald von dem Platze weg, um nahebei einen kleinen Berggipfel zu besteigen, welcher sich kahl und kegelförmig über das Wäldchen erhob. »Der Wind weht dort! Ich muß das Windlied singen; es ist sehr ratsam heute«, rief Agnes, voraneilend.

Sie standen oben und sie sang in einer freien Weise die folgenden Verse, indem sie bei Frag und Antwort jedesmal sehr artig mit der Stimme wechselte, dabei sehr lebhaft in die Luft agierte.


»›Sausewind! Brausewind!
Dort und hier,
Deine Heimat sage mir!‹
›Kindlein, wir fahren
Seit vielen Jahren
Durch die weit weite Welt,
Und wollen's erfragen,
Die Antwort erjagen,
Bei den Bergen, den Meeren,
Bei des Himmels klingenden Heeren –
Die wissen es nie,
Bist du klüger als sie,
Magst du es sagen.
– Fort! Wohlauf!
Halt uns nicht auf!
Kommen andre nach,
Unsre Brüder,
Da frag wieder.‹
›Halt an! Gemach,
Eine kleine Frist!
Sagt, wo der Liebe Heimat ist,
Ihr Anfang, ihr Ende!‹
[366]
›Wer's nennen könnte!
Schelmisches Kind,
Lieb ist wie Wind,
Rasch und lebendig,
Ruhet nie,
Ewig ist sie,
Aber nicht immer beständig.
– Fort! Wohlauf auf!
Halt uns nicht auf!
Fort über Stoppel, und Wälder, und Wiesen!
Wenn ich dein Schätzchen seh,
Will ich es grüßen;
Kindlein, ade!‹«

Gegen Abend hatte sich Agnes ermüdet zu Bette gelegt; der Präsident war eine Zeitlang bei ihr gewesen, auf einmal kam er freudig aus ihrem Schlafzimmer und sagte eilfertig zu Theobald hin: »Sie verlangt nach Ihnen, gehn Sie geschwinde!« Er gehorchte unverzüglich, die andern blieben zurück und er zog die Türe hinter sich zu. Agnes lag ruhig auf der Seite, den Kopf auf einem Arm gestützt. Bescheiden setzte er sich mit einem freundlichen Gruß auf den Stuhl an ihrem Bette; durchaus gelassen, doch einigermaßen zweifelhaft sah sie ihn lange an; es schien als dämmerte eine angenehme Erinnerung bei ihr auf, welche sie an seinen Gesichtszügen zu prüfen suchte. Aber heißer, schmelzender wird ihr Blick, ihr Atem steigt, es hebt sich ihre Brust, und jetzt – indem sie mit der Linken sich beide Augen zuhält – streckt sie den rechten Arm entschlossen gegen ihn, faßt leidenschaftlich seine Hand und drückt sie fest an ihren Busen; der Maler liegt, eh er sich's selbst versieht, an ihrem Halse und saugt von ihren Lippen eine Glut, die von der Angst des Moments eine schaudernde Würze erhält; der Wahnsinn funkelt frohlockend aus ihren Augen, Verzweiflung preßt dem Freunde das himmlische Gut, eh sich's ihm ganz entfremde, noch einmal – ja er fühlt's, zum letztenmal, in die zitternden Arme.

Aber Agnes fängt schon an unruhig zu werden, sich seinen Küssen leise zu entziehen, sie hebt ängstlich den Kopf in die Höhe: »Was flüstert denn bei dir? was spricht aus dir? ich höre zweierlei Stimmen – Hülfe! zu Hülfe! du tückischer Satan, hinweg –! Wie bin ich, wie bin ich betrogen! – O nun ist alles, [367] alles mit mir aus. – Der Lügner wird hingehn, mich zu beschimpfen bei meinem Geliebten, als wär ich kein ehrliches Mädchen, als hätt ich mit Wissen und Willen dies Scheusal geküßt – O Theobald! wärest du hier, daß ich dir alles sagte! Du weißt nicht, wie's die Schlangen machten! und daß man mir den Kopf verrückte, mir, deinem unerfahrnen, armen, verlassenen Kind!« Sie kniete aufrecht im Bette, weinte bitterlich und ihre losgegangenen Haare bedeckten ihr die glühende Wange. Nolten ertrug den Anblick nicht, er eilte weinend hinaus: »Ja lache nur in deine Faust und geh und mach dich lustig mit den andern – es wird nicht allzu lange mehr so dauern, denn es ist gottvergessen und die Engel im Himmel erbarmt's, wie ihr ein krankes Mädchen quält!«

Die Schwägerin kam und setzte sich zu ihr, sie beteten; so ward sie ruhiger.

»Nicht wahr?« sprach sie nachher, »ein selig Ende, das ist's doch, was sich zuletzt ein jeder wünscht; einen leichten Tod, recht sanft, nur so wie eines Knaben Knie sich beugt; wie komm ich zu dem Ausdruck? ich denke an den Henni; mit diesem müßte sich gut sterben lassen.«

In diesem Ton sprach sie eine Weile fort, vergaß sich nach und nach, ward munterer, endlich gar scherzhaft, und zwar so, daß Nannetten dieser Sprung mißfiel. Agnes bemerkte es, schien wirklich durch sich selbst überrascht und beschämt, und sie entschuldigte alsbald ihr Benehmen auf eine Art, welche genugsam zeigt, wie klar sie sich auf Augenblicke war: »Siehst du«, sagte sie mit dem holdesten Lächeln der Wehmut, »ich bin nur eben wie das Schiff, das leck an einer Sandbank hängt und dem nicht mehr zu helfen ist; das mag nun wohl sehr kläglich sein, was kann aber das arme Schiff dafür, wenn mittlerweile noch die roten Wimpel oben ihr Schelmenspiel im Wind forttreiben, als wäre nichts geschehn? Laß gehen wie es gehen kann. Wenn erst Gras auf mir wächst, hat's damit auch ein Ende.«


Der Maler verließ den folgenden Tag in aller Frühe das Schloß: der Präsident selbst hatte dazu geraten und ihm eines seiner Pferde geliehen. Es war vorderhand nur um einen Versuch mit einigen Tagen zu tun, wie das Mädchen sich anließe, wenn Theobald ihr aus den Augen wäre. Er selbst schien bei seiner Abreise noch unentschlossen, wohin er sich wende. Auf alle Fälle ward ein dritter Ort bestimmt, um zur Not Botschaft [368] für ihn hinterlegen zu können. Von W* war nicht die Rede noch kürzlich hatte er dorthin um Frist geschrieben, im Herzen übrigens gleichgültig, ob sie ihm gewährt würde oder die ganze Sache sich zerschlüge.

Die größere Ruhe, die man bei Agnes, seit der Gegenstand ihrer Furcht verschwunden ist, alsbald wahrnehmen kann, wird nach und nach zur stillen Schwermut, ihre Geschwätzigkeit nimmt ab, sie ist sich ihres Übels zuzeiten bewußt und der kleinste Zufall, der sie daran erinnert, ein Wort, ein Blick von seiten ihrer Umgebung kann sie empfindlich kränken. Auffallend ist in dieser Hinsicht folgender Zug. Der Präsident, oder Margot vielmehr, besaß ein großes Windspiel, dem man, seiner ausgezeichneten Schönheit wegen, den Namen Merveille gegeben. Der Hund erzeigte sich Agnesen früher nicht abgeneigt, seit einiger Zeit aber floh er sie offenbar, verkroch sich ordentlich vor ihr. Ohne Zweifel hatte diese Scheu einen sehr natürlichen Grund, Agnes mochte ihn unwissentlich geärgert haben – genug, sie selber schien zu glauben, es fühle das Tier das Unheimliche ihrer Nähe. Sie schmeichelte dem Hund auf alle Weise, ja gar mit Tränen, und ließ zuletzt, da nichts verfangen wollte, betrübt und ärgerlich von ihm ab, ohne ihn weiter ansehn zu wollen.

Seit kurzem bemerkte man, daß sie ihren Trauring nicht mehr trug. Als man sie um die Ursache fragte, gab sie zur Antwort: »Meine Mutter hat ihn genommen.« »Deine Mutter ist aber tot, willst du sie denn gesehen haben?« »Nein; dennoch weiß ich, sie hat den Ring mit fort; ich kenne den Platz, wo er liegt, und ich muß ihn selbst dort abholen. O wäre das schon überstanden! Es ist ein ängstlicher Ort, aber einer frommen Braut kann er nichts anhaben; ein schöner Engel wird da stehn, wird fragen, was ich suche, und mir's einhändigen. Auch sagt er mir sogleich, wo mein Geliebter ist und wann er kommt.«

Ein andermal ließ sie gegen Henni die Worte fallen: »Mir kam gestern so der Gedanke, weil der Nolten doch gar zu lange ausbleibt, gib acht, er hat mich aufgegeben! Und, recht beim Licht besehn, es ist ihm nicht sehr zu verdenken; was tät er mit der Törin? er hätte seine liebe Not im Hause. Und überdies, o Henni – welk, welk, welk, es geht zum Welken! Siehst du, wie es nun gut ist, daß noch die Hochzeit nicht war; ich dachte wohl immer so was. Nun mag es enden wann es will mir ist doch mein Mädchenkranz sicher, ich nehm ihn ins Grab[369] – Unter uns gesagt, Junge, ich habe mir immer gewünscht, so und nicht anders in Himmel zu kommen. Aber den Ring muß ich erst haben, ich muß ihn vorweisen können.«

Noch eines freundlichen und frommen Auftritts soll hier gedacht werden, zumal es das letzte ist, was wir von des Mädchens traurigem Leben zu erzählen haben.

Nannette kam einsmals in aller Eile herbeigesprungen und ersuchte das Fräulein und deren Vater, ihr in ein Zimmer des untern Stocks herab zu folgen, um an der angelehnten Türe der alten Kammer, wo die Orgel stand, einen Augenblick Zeuge der musikalischen Unterhaltung Hennis und Agnesens zu sein. So gingen sie zu dreien leise an den bezeichneten Ort und belauschten einen überaus rührenden Gesang, in welchen die Orgel ihre Flötentöne schmolz. Bald herrschte des Knaben und bald des Mädchens Stimme vor. Es schien alt-katholische Musik zu sein. Ganz wundersam ergreifend waren besonders die kraftvollen Strophen eines lateinischen Bußliedes aus E-dur. Hier steht nur der Anfang.


Jesu, benigne!
A cuius igne
Opto flagrare,
Et te amare; –
Cur non flagravi?
Cur non amavi
Te, Jesu Christe?
– O frigus triste! 5

Es folgten noch zwei dergleichen Verse, worauf Henni sich in ein langes Nachspiel vertiefte, dann aber in ein anderes Lied überging, welches die ähnlichen Empfindungen ausdrückte. Agnes sang dies allein und der Knabe spielte.


[370]
Eine Liebe kenn ich, die ist treu,
War getreu, seitdem ich sie gefunden,
Hat mit tiefem Seufzen immer neu,
Stets versöhnlich, sich mit mir verbunden.
Welcher einst mit himmlischem Gedulden
Bitter bittern Todestropfen trank,
Hing am Kreuz und büßte mein Verschulden,
Bis es in ein Meer von Gnade sank.
Und was ist's, daß ich doch traurig bin?
Daß ich angstvoll mich am Boden winde?
Frage: Hüter, ist die Nacht bald hin?
Und: was rettet mich von Tod und Sünde?
Arges Herze! ja gesteh' es nur,
Du hast wieder böse Lust empfangen;
Frommer Liebe, alter Treue Spur –
Ach, das ist auf lange nun vergangen!
Darum ist's auch, daß ich traurig bin,
Daß ich angstvoll mich am Boden winde –
Hüter! Hüter! ist die Nacht bald hin?
Und was rettet mich von Tod und Sünde?

Bei den letzten Worten fiel Margot Nannetten mit heißen Tränen um den Hals. Der Präsident ging leise ab und zu. Noch immer klang die Orgel alleine fort, als könnte sie im Wohllaut unendlicher Schmerzen zu keinem Schlusse mehr kommen. Endlich blieb alles still. Die Türe ging auf, ein artiges Mädchen, Hennis kleine Schwester, welche die Bälge gezogen, kam auf den Zehen geschlichen heraus, entfernte sich bescheiden und ließ die Türe hinter sich offen. Nun aber hatte man ein wahres Friedensbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich saß, gedankenvoll in sich gebückt, vor der offnen Tastatur, Agnes, leicht eingeschlafen, auf dem Boden neben ihm, den Kopf an sein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem Schoße. Die Abendsonne brach durch die bestäubten Fensterscheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit goldenem Licht. Das große Kruzifix an der Wand sah mitleidsvoll auf sie herab.

Nachdem die Freunde eine Zeitlang in stiller Betrachtung [371] gestanden, traten sie schweigend zurück und lehnten die Türe sacht an.


Am folgenden Morgen ward Agnes vermißt. Nannette hatte beim Aufstehn ihr Bette leer gefunden und voller Schrecken sogleich Lärm gemacht. Niemand begriff im ersten Augenblick, wie sie nur irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da man dasselbe aus verschiedenen Gründen seit einiger Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte, die Türen nachts sorgfältig geschlossen, auch wirklich am Morgen noch verschlossen gefunden wurden. Aber vor einem Seitenfenster, das neben dem Belvedere hinausführte, entdeckte man zwischen den Bäumen eine hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach seinem eigenen Geständnis, gestern abends angelegt, weil Agnes durchaus ein altes Vogelnest verlangt habe, das oben aus einer der Lücken im steinernen Fries hervorgesehen. Nachher war die Leiter vergessen worden, was ohne Zweifel die Absicht des Mädchens gewesen.

Der Vormittag verflog unter den angestrengtesten Nachforschungen, unter endlosem Hin- und Herraten, Fragen, Boten-Aussenden und – Empfangen. Innerhalb des Schloßbezirks war bereits alles um- und umgekehrt. Es wurde Abend und noch erschien von keiner Seite die mindeste Nachricht, der mindeste Trost. Eine falsche Spur, wozu die irrige Aussage eines Feldhüters Veranlassung gegeben, machte überdies den größten Aufenthalt.

Die Sonne war seit zwei Stunden untergegangen und noch blieb alles Laufen und Schicken fruchtlos; die Freunde kamen außer sich. Nach Mitternacht kehrten die letzten Fackeln zurück, nur der alte Gärtner und selbst der blinde Henni waren noch immer außen, so daß man endlich um diese besorgt zu werden anfing. Niemand im Schlosse dachte daran, sich schlafen zu legen. Der Präsident stellte die Mutmaßung auf, daß Agnes irgendeinen Weg nach ihrer Heimat eingeschlagen und, je nachdem sie zeitig genug sich von hier weggemacht hätte, bereits einen bedeutenden Vorsprung gewonnen haben dürfte, ehe die Späher ausgegangen; für ihr Leben zu fürchten, sei kein Grund vorhanden, es stünde vielmehr zu erwarten, daß sie unterwegs als verdächtig aufgegriffen und öffentlich Anstalt würde getroffen werden, sie in ihren Geburtsort zu bringen. Nannette dachte sich in diesem Fall die Ankunft der Unglücklichen im [372] väterlichen Hause beinahe schrecklicher als alles; und doch, wenn man sie nur übrigens wohlbehalten den Armen des Vaters überliefert denken durfte, so ließ sich ja von hier an wieder neue Hoffnung schöpfen. Allein mit welchem Herzen mußte man der Rückkehr des Malers entgegensehen, wenn sich bis dahin nichts entschieden haben sollte! – Margot hielt die Vermutung nicht zurück, daß die Zigeunerin auch diesmal die verderbliche Hand mit im Spiele habe. Dies alles sprach und wog man hin und her, bis keine Möglichkeit mehr übrig zu sein schien, das Schlimmste aber getraute man sich kaum zu denken, geschweige auszusprechen. Zuletzt entstand eine düstere Stille. In den verschiedenen Zimmern brannte hie und da eine vergessene Kerze mit mattem Scheine; die Zimmer stellten selbst ein Bild der Angst und Zerstörung dar, denn alle Dinge lagen und standen, wie man sie gestern morgen im ersten Schrecken liegen lassen, unordentlich umher. Die Schloßuhr ließ von Zeit zu Zeit ihren weinerlichen Klang vernehmen, von den Anlagen her schlug eine Nachtigall in vollen, herrlichen Tönen.

Auf ein Zeichen des Präsidenten erhob man sich endlich, zu Bette zu gehen. Ein Teil der Dienerschaft blieb wach.

Gegen drei Uhr des Morgens, da eben der Tag zu grauen begann, gaben im Hofe die Hunde Laut, verstummten jedoch sogleich wieder. Margot öffnet indes ihr Fenster und sieht in der blassen Dämmerung eine Anzahl Männer, darunter den Gärtner und seinen Sohn, mit halb erloschenen Laternen am Schloßtor stehen, welches nur angelehnt war und sich leise auftat. Eine plötzliche Ahnung durchschneidet dem Fräulein das Herz und laut aufschreiend wirft sie das Fenster zu, denn ihr schien, als wären zwei jener Leute bemüht, einen entsetzlichen Fund ins Haus zu tragen. Gleich darauf hört sie die Glocke vom Schlafzimmer ihres Vaters. Alles stürzt, nur halb angekleidet, von allen Ecken und Enden herbei.

Die Verlorene war wirklich aufgefunden worden, doch leider tot und ohne Rettung. Vor einer Stunde wurde der Körper nach langen mühsamen Versuchen aus jenem Brunnen im Walde gezogen. Es hatte sich der Gärtner, von seinem Sohne auf diesen Platz aufmerksam gemacht, noch spät in der Nacht dorthin begeben, und ein aufgefundener Handschuh bestätigte sogleich die Vermutung. Alsbald war der Alte ins nächste Städtchen geeilt, um Mannschaft mit Werkzeugen, Strickleiter und Haken, sowie einen Wundarzt herbeizuholen.

[373]

Der Leichnam war, außer den völlig durchnäßten und zerrissenen Kleidern, nur wenig verletzt; das schneeweiße Gesicht um welches die nassen Haare verworren hingen, sah sich noch jetzt vollkommen gleich; der halbgeöffnete Mund schien schmerzlich zu lächeln; die Augen fest geschlossen. Offenbar war sie, mit dem Kopfe vorwärts stürzend, ertrunken; nur eine leichte Wunde entdeckte man rechts über den Schläfen. Bemerkenswert ist noch, daß sie in Larkens' grüner Jacke, woran man sie gestern eine Kleinigkeit, jedoch sehr emsig und wichtig, hatte verändern sehn, den Tod gefunden.

Der Wundarzt machte zum Überfluß noch den einen und andern vergeblichen Versuch. Vom grenzenlosen Jammer der sämtlichen Umstehenden sagen wir nichts.


Nach Nolten hatte man ausgesendet, doch traf ihn weder Bote noch Brief. Den zweiten Tag nach dem Tode der Braut erschien er unvermutet von einer andern Seite her. Sein ganzes Eintreten, das sonderbar Gehaltene, matt Resignierte in seiner Miene, seinem Gruß war von der Art, daß er, was vorgefallen, entweder schon zu wissen oder zu vermuten, aber nicht näher hören zu wollen schien. Sonach war denn auch andrerseits der Empfang beklommen, einsilbig. Nannette, die bei der ersten Begrüßung nicht gleich zugegen gewesen, stürzt, da sie des Bruders ansichtig wird, mit lautem Geschrei auf ihn zu. Sein Anblick war nicht nur im höchsten Grade mitleidswert, sondern wirklich zum Erschrecken. Er sah verwildert, sonnverbrannt und um viele Jahre älter aus. Sein lebloser gläserner Blick verriet nicht sowohl einen gewaltigen Schmerz, als vielmehr eine schläfrige Übersättigung von langen Leiden. Das Unglück, das die andern noch als ein gegenwärtiges in seiner ganzen Stärke fühlten, schien, wenn man ihn ansah, ein längst vergangenes zu sein. Er sprach nur gezwungen und zeigte eine blöde seltsame Verlegenheit in allem, was er tat. Er hatte sich, wie man nur nach und nach von ihm erfuhr, während der letzten sechs Tage verschiedenen Streifereien in unbekannten Gegenden überlassen, zwecklos und einsam nur seinem Grame lebend; kaum daß er's über sich vermocht, einmal nach Neuburg zu schreiben.

Indem nun von Agnesen noch immer nicht bestimmt die Rede wurde und man durchaus nicht wußte, wie man deshalb bei Nolten sich zu benehmen habe, so wurde jedermann nicht wenig überrascht, als er mit aller Gelassenheit die Frage stellte: auf [374] wann die Beerdigung festgesetzt sei, und wohin man diesfalls gedenke? – Mit gleicher Ruhe fand er hierauf von selbst den Weg zum Zimmer, wo die Tote lag. Er verweilte allein und lange daselbst. Erst diese Anschauung gab ihm das ganze, deutliche Gefühl seines Verlustes, er weinte heftig, als er zu den andern auf den Saal zurückkam.

»Unglücklicher, geliebter Freund«, nahm jetzt der Präsident das Wort und umarmte den Maler, »es ist mir vorlängst einmal der Spruch irgendwo vorgekommen: wir sollen selbst da noch hoffen, wo nichts mehr zu hoffen steht. Gewiß ist das ein herrliches Wort, wer's nur verstehen will; mir hat es einst in großer Not den wunderbarsten Trost in der Seele erweckt, einen leuchtenden Goldblick des Glaubens; und nur auf den Entschluß kommt es an, sich dieses Glaubens freudig zu bemächtigen. O daß Sie dies vermöchten! Ein Mensch, den das Schicksal so ängstlich mit eisernen Händen umklammert, der muß am Ende doch sein Liebling sein und diese grausame Gunst wird sich ihm eines Tags als die ewige Güte und Wahrheit enthüllen. Ich habe oft gefunden, daß die Geächteten des Himmels seine ersten Heiligen waren. Eine Feuertaufe ist über Sie ergangen und ein höheres, ein gottbewußteres Leben wird sich von Stund an in Ihnen entfalten.«

»Ich kann«, erwiderte Nolten nach einer kleinen Stille, »ich kann zur Not verstehen, was Sie meinen, und doch – das Unglück macht so träge, daß Ihre liebevollen Worte nur halb mein dumpfes Ohr noch treffen – O daß ein Schlaf sich auf mich legte, wie Berge so schwer und so dumpf! Daß ich nichts wüßte von gestern und heute und morgen! Daß eine Gottheit diesen mattgehetzten Geist, weichbettend, in das alte Nichts hinfallen ließe! ein unermeßlich Glück – –!« Er überließ sich einen Augenblick diesem Gedanken, dann fuhr er fort: »Ja, läge zum wenigsten nur diese erste Stufe hinter mir! Und doch, wer kann wissen, ob sich dort nicht der Knoten nochmals verschlingt? – – O Leben! o Tod! Rätsel aus Rätseln! Wo wir den Sinn am sichersten zu treffen meinten, da liegt er so selten, und wo man ihn nicht suchte, da gibt er sich auf einmal halb und von ferne zu erkennen, und verschwindet, eh man ihn festhalten kann!«


Agnesens Begräbnis ist auf den morgenden Sonntag beschlossen.

[375] Die Nacht zuvor schläft Nolten ruhig wie seit langer Zeit nicht mehr. Der ehrliche Gärtner mutet sich zu, noch einmal bei der geliebten Leiche zu wachen, ihm leistet der Sohn Gesellschaft, und da der Alte endlich einnickt, ist Henni die einzig wache Person in dem Schlosse. – Der gute Junge war recht wie verwaist, seit ihm die Freundin und Gebieterin fehlte. Er war ihr so nahe, so eigen geworden, er hatte insgeheim die schüchterne Hoffnung genährt – eine Hoffnung, deren er sich jetzt innig schämte – Gott könnte ihm vielleicht die Freude aufbehalten haben, die arme Seele mit der Kraft des evangelischen Wortes zu der Erkenntnis ihrer selbst, zum Lichte der Wahrheit zurückzuführen; sein ganzes Trachten und Sinnen, alle seine Gebete gingen zuletzt nur dahin, und wieviel schrecklicher als er je fürchten konnte, ward nun sein frommes Vertrauen getäuscht! – Er hält und drückt eine teure kalte Hand, die er nicht sieht, in seinen Händen, und lispelt heiße Segensworte drüber; er denkt über die erziehende Weisheit Desjenigen nach, an welchen er von ganzer Seele glaubt, vor dessen durchdringendem Blick das Buch aller Zeiten aufgeschlagen liegt, der die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche, in welchem wir leben, weben und sind. Er schrickt augenblicklich zusammen vor seligem Schrecken, indem er bedenkt, daß das, was vor ihm liegt, was er mit glühenden Tränen anredet, ein taubes Nichts, ein wertloses Scheinbild ist, daß der entflohene Geist, viel lieblicher gestaltet, vielleicht in dieser Stunde am hellen Strome des Paradieses kniee und, das irre Auge mit lauterer Klarheit auswaschend, unter befremdetem Lächeln sich glücklich wiedererkenne und – finde. – Henni stand sachte auf, von einer unbekannten süßen Unruhe bewegt; unbeschreibliche Sehnsucht ergriff ihn, doch diese Sehnsucht selbst war nur das überglückliche Gefühl, die unfaßliche Ahnung einer himmlischen Zukunft welche auch seiner warte. Er trat ans Fenster und öffnete es. Die Nacht war sehr unfreundlich; ein heftiger Sturm wiegte und schwang die hohen Gipfel der Bäume, und auf dem Dache klirrten die Fahnen zusammen. Des Knaben wunderbar erregte Seele überließ sich diesem Tumulte mit heimlichem Jauchzen, er ließ den Sturm seine Locken durchwühlen und lauschte mit Wollust dem hundertstimmigen Winde. Es deuchten ihm seufzende Geisterchöre der gebundenen Kreatur zu sein, die auch mit Ungeduld einer herrlichen Offenbarung entgegenharre. Sein ganzes Denken und Empfinden war nur ein [376] trunkenes Loblied auf Tod und Verwesung und ewiges Verjüngen. Mit Gewalt muß er den Flug seiner Gedanken rückwärts lenken, der Demut eingedenk, die Gott nicht vorzugreifen wagt. Aber, wie er nun wieder zu Agnesens Hülle tritt, ist ihm wie einem, der zu lange in das Feuerbild der Sonne geschaut, er sinkt in doppelt schmerzliche Blindheit zurück. Still setzt er sich nieder, und schickt sich an, einen Kranz von Rosen und Myrten zu Ende zu flechten.

Nach Mitternacht erweckt indes den Maler ein sonderbarer Klang, den er anfänglich bloß im Traum gehört zu haben glaubt, bald aber kann er sich völlig überzeugen, daß es Musik ist, welche von dem linken Schloßflügel herüberzutönen scheint. Es war als spielte man sehr feierlich die Orgel, dann wieder klang es wie ein ganz anderes Instrument, immer nur abgebrochen, mit längeren und kürzeren Pausen, bald widerwärtig hart und grell, bald sanft und rührend. Betroffen springt er aus dem Bette, unschlüssig was er tun, wo er zuerst sich hinwenden soll. Er horcht und horcht, und – abermals dieselben unbegreiflichen Töne! Leis auf den Socken, den Schlafrock umgeworfen, geht er vor seine Tür, und schleicht, mit den Händen an der Wand forttastend, den finstern Gang hin, bis in die Nähe des Zimmers, wo sich der Gärtner und Henni befinden. Er ruft um Licht, der Gärtner eilt heraus, verwundert, den Maler zu dieser Stunde hier zu sehn. Da nun weder Vater noch Sohn irgend etwas anderes gehört haben wollen, als das wechselnde Pfeifen des Windes, welcher auf dieser Seite heftiger gegen das Haus herstieß, so entfernte sich Nolten, scheinbar beruhigt, mit Licht, gab übrigens nicht zu, daß man ihn zurückbegleitete.

Keine volle Minute verging, so vernahm der Alte und Henni vollkommen deutlich die oben beschriebenen Töne und gleich darauf einen starken Fall samt einem lauten Aufschrei.

Kaum sind sie vor die alte Kapelle gelangt kaum sah der Gärtner drei Schritte vor sich den Maler der Länge nach unter der offenstehenden Tür ohne Lebenszeichen liegen, so ruft schon Henni, sich angstvoll an den Vater klammernd und ihn nicht weiter lassend »Halt, Vater, halt! um Gottes willen seht Ihr nicht – dort in der Kammer –«

»Was?« ruft der Alte ungeduldig, da ihn der Knabe aufhält, »so laß mich doch! Hier, vor uns liegt, was mich erschreckt – der Maler, leblos am Boden!«

[377] »Dort aber – dort steht er ja auch und – o seht Ihr, noch jemand –«

»Bist du von Sinnen? du bist blind! was ist mit dir?«

»So wahr Gott lebt, ich sehe!« versetzte der Knabe mit leiser, von Angst erstickter Stimme und deutet fortwährend nach der Tiefe der Kammer, auf die Orgel, wo für den Gärtner nichts zu sehen ist; dieser will nur immer dem Maler beispringen, über welchen Henni weit wegschaut. »Vater! jetzt – jetzt – sie schleichen auf uns zu – Schrecklich! o flieht –« Hier versagt ihm die Sprache, er hängt ohnmächtig dem Alten im Arm, der jetzt ein verzweifeltes Notgeschrei erhebt. Von allenthalben ruft es und rennt es herbei, der Hausherr selbst erscheint mit den ersten und schon ist der Wundarzt zur Hand, der diese letzten Tage das Schloß nicht verließ; er läuft von Nolten zu Henni, von Henni zu Nolten. Beide trägt man hinauf, ein jedes will helfen, mit raten, mit ansehn, man hindert, tritt und stößt einander, der Präsident entfernt daher alles bis auf wenige Personen. Ein Reitender sprengt nach der Stadt, den zweiten Arzt zu holen, indes der gegenwärtige, ein ruhiger, tüchtiger Mann, fortfährt, das Nötige mit Einreibung und warmen Tüchern nach der Ordnung zu tun; schon füllte schauerlicher Duft der stärksten Mittel das Zimmer. Mit Henni hat es keine Gefahr, obgleich ihm die volle Besinnung noch ausbleibt. An Nolten muß nach stundenlanger Anstrengung, so Kunst wie Hoffnung erliegen. Bescheiden äußerte der Wundarzt seinen Zweifel und als endlich der Medikus ankam, erklärte dieser auf den dritten Blick, daß keine Spur von Leben hier mehr zu suchen sei.


Hatte Agnesens Krankheit und Tod überall in der Gegend das größte Aufsehn und die lebhafteste Teilnahme erregt, so machte dieser neue Trauerfall einen wahrhaft panischen Eindruck auf die Gemüter der Menschen, zumal bis jetzt noch kein hinreichender Erklärungsgrund am Tage lag. Da indes doch irgendein heftiger Schrecken die tödliche Ursache gewesen sein muß, so lag allerdings bei der von Kummer und Verzweiflung erschöpften Natur des Malers die Annahme sehr nahe, daß hier die Einbildung, wie man mehr Beispiele hat, ihr Äußerstes getan. Dieser Meinung waren die Ärzte, sowie der Präsident. Doch fehlte es im Schlosse, je nachdem man auf gewisse Umstände einen ängstlichern Wert legen wollte, auch nicht an andern [378] Vermutungen, die, anfänglich nur leise angedeutet, von den Vernünftigen belächelt oder streng verwiesen, in kurzem gleichwohl mehr Beachtung und endlich stillschweigenden Glauben fanden.

Der Schwester ließ sich das Unglück nicht lange verbergen; es warf sie nieder als wär es ihr eigener Tod. Margot hielt treulich bei ihr aus, doch freilich blieb hier wenig oder nichts zu trösten.

Henni befindet sich, zum wenigsten äußerlich, wieder wohl. Er scheint über einem ungeheuern Eindruck zu brüten, dessen er nicht Herr werden kann. Ein regungsloses Vor-sich-Hinstaunen verschlingt den eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß sich nicht zu helfen vor Ungeduld, sobald man ihn über sein gestriges Benehmen befragt; er flieht die Gesellschaft, aber sogleich scheucht ihn eine Angst in die Nähe der Seinen zurück.

Der Präsident, in Hoffnung irgendeines neuen Aufschlusses über die traurige Begebenheit, befiehlt dem Knaben in Beisein des Gärtners, zu reden. Auch dann noch immer zaudernd und mit einer Art von trotzigem Unwillen, der an dem sanften Menschen auffiel, gab Henni, erst mit dürren Worten, dann aber in immer steigender Bewegung, ein seltsames Bekenntnis, das den Präsidenten in sichtbare Verlegenheit setzte, wie er es aufzunehmen habe.

»Als ich«, sprach nämlich der Befragte, »gestern nacht mit meinem Vater auf den Lärm, den wir im untern Hausflur hörten, nach der Kapelle lief – die Tür stand offen, und die Laterne außen auf dem Gang warf einen hellen Schein in die Kammer – sah ich tief hinten bei der Orgel eine Frau, wie einen Schatten, stehn, ihr gegenüber in kleiner Entfernung stand ein zweiter Schatten, ein Mann in dunkelm Kleide, und dieses war Herr Nolten.«

»Sonderbarer Mensch!« versetzte der Präsident, »wie magst du denn behaupten, dies gesehen zu haben?«

»Ich kann nichts sagen, als: vor meinen Augen war es licht geworden, ich konnte sehn, und das ist so gewiß, als ich jetzt nicht mehr sehe.«

»Jenes Frauenbild« – fragte der Präsident mit List, »verglichst du es jemandem?«

»Damals noch nicht. Erst heute mußt ich an die verrückte Fremde denken, ich ließ mir sie daher beschreiben und kann die Ähnlichkeit nicht leugnen.«

[379] »Herrn Nolten aber, wie konntest du diesen sogleich erkennen?«

»Mein Vater zeigte auf den Boden und nannte dabei den Herrn Maler, da merkt ich erst, daß dieser, welcher vor uns lag, und jener, welcher drüben stand, sich durchaus glichen und einer und derselbe wären.«

»Warum brauchst du den Ausdruck Schatten?«

»So deuchte mir's eben; doch ließen sich Gesicht und Miene und Farben der Kleidung wohl unterscheiden. Als beide sich umfaßten, sich die Arme gaben und so der Tür zu wollten, da bogen sie wie eine Rauchsäule leicht um den hölzernen Pfeiler, der in der Mitte der Kammer steht.«

»Arm in Arm, sagst du?«

»Dicht, dicht aneinandergeschlossen; sie machte den Anfang, er tat's ihr nur wie gezwungen nach und traurig. Hierauf – aber o allmächtiger Gott! wie soll ich, wie kann ich aussprechen, was keine Zunge vermag, was doch niemand glaubt und niemand glauben kann, am wenigsten mir, mir armen Jungen!« Er schöpfte tief Atem und fuhr sodann fort: »Sie schlüpften unhörbar über die Schwelle, er glitt über sein Ebenbild hin, gleichgültig, als kennt er es nicht mehr. Da wirft er auf einmal sein Auge auf mich, o ein Auge voll Elend! und doch so ein scharfer, durchbohrender Blick! und zögert im Gehn, schaut immer auf mich und bewegt die Lippen, wie kraftlos zur Rede – da hielt ich's nimmer aus und weiß auch von hier an nichts weiter zu sagen.«

Der Präsident verschonte den jungen Menschen mit jeder weitern Frage, beruhigte ihn und empfahl endlich Vater und Sohn, die Sache bei sich zu behalten, indem er zu verstehen gab, daß er nichts weiter als eine ungeheure Selbsttäuschung darunter denke. Der alte Gärtner aber schien sehr ernst und maß selbst seinem Herrn im Innern eine andre Meinung bei, als ihm nun eben zu äußern beliebe.


Nachdem die beiden Leichen auf dem katholischen Gottesacker des nächsten Städtchens, jedoch mit Zuziehung eines protestantischen Geistlichen, zur Erde bestattet worden, traf der edelmütige Mann, durch den es vornehmlich gelang, diese letzte Pflicht mit allem wünschenswerten Anstande und unter einem ansehnlichen Geleite vollzogen zu sehen, ungesäumt Anstalt, der Freundschaft und der Menschenliebe ein neues Opfer zu [380] bringen. Weder konnte er zugeben, daß die arme überbliebene Schwester des Malers sich einer so traurigen Heimreise, als ihr jetzt bevorstand, allein unterziehe, noch sollte der Förster den Verlust seiner Kinder auf andere Weise, als aus dem Munde des Gastfreundes vernehmen, dessen Haus der unschuldige Schauplatz so schwerer Verhängnisse ward.

Bald saß daher der Präsident mit Nannetten und Margot im Wagen. Übrigens war es bei ihm schon im stillen beschlossene Sache, das Mädchen, wenn es ihr und den Ihrigen gefiele, wieder zurückzunehmen und für ihr künftiges Glück zu sorgen. Der Gedanke war eigentlich von Margot ausgegangen und kaum enthielt sie sich, Nannetten nicht schon unterwegs die Einwilligung abzudringen.

Der Schmerz des Alten in Neuburg übersteigt allen Ausdruck; doch verfehlte die Persönlichkeit des hohen Gastes ihre gute Wirkung nicht.

Noch in der Anwesenheit des Präsidenten kam ein Brief des Hofrats im Forsthause an, mit der Überschrift an Nolten und mit der ausdrücklichen Bitte um schleunigste Beförderung. Der Förster erbrach ihn, las und reichte das Blatt mit stummer Verwunderung dem Präsidenten. Der Brief lautete folgendermaßen:


»Soeben erfahre durch Freundeshand den grausamen Verlust, der Sie mit dem Tode einer geliebten Braut betroffen. Auch die näheren Umstände und was alles dazu mitgewirkt, weiß ich. Ihr Unglück, welches mit dem meinigen so nah zusammenfällt, ja recht vom Unglücksstamme meines Daseins ausging, erschüttert mich und zwingt mich zu reden.

Wie oft, als Sie noch bei uns waren, hat mir das Herz gebrannt, Ihnen um den Hals zu fallen! Wie preßte, peinigte mich mein Geheimnis! Aber – wie soll man es heißen – Furcht, Grille, Scham, Feigheit – ich konnte nicht, verschob die Entdeckung von Tag zu Tag, mich schauderte davor, in Ihnen, in dem Sohne eines Bruders, mein zweites Ich, meine ganze Vergangenheit wiederzufinden, dies Labyrinth, wenn auch nur im Gespräch, in der Erinnerung, aufs neue zu durchlaufen!

Seit Ihrem Abgang war ich für solchen Eigensinn, Gott sei mein Zeuge, recht gestraft mit einer wunderbaren Sehnsucht nach Ihnen, Wertester! Nun aber vollends dürstet mich nach Ihrem Anblick innig, wir haben einander sehr, sehr viel zu sagen. Meine Gedanken stehn übrigens so: Zu einer so gemeßnen [381] Tätigkeit, als Sie in W* erwarten würde, dürfte Ihnen der Mut jetzt wohl fehlen, um so leichter werden Sie es daher verschmerzen, daß dort, wie mir geschrieben wird, gewisse Leute, auf Ihr Zögern, bereits geschäftig sind, Sie auszustechen. Wir wollen, dächt ich, selbigen zuvorkommen und erst dabei nichts einbüßen. Hören Sie meinen Vorschlag: Wir beide ziehn zusammen! sei es nun hier, oder besser an einem anderen Plätzchen, wo sich's fein stille hausen läßt, gerade wie es zweien Leuten ziemt, wovon zum wenigsten der eine der Welt nichts mehr nachfragt, der andere, soviel mir bekannt, von jeher starken Trieb empfunden, mit der Kunst in eine Einsiedelei zu flüchten. Was mich betrifft, ich habe noch wenige Jahre zu leben. Wie glücklich aber, könnt ich das, was etwa noch grün an mir sein mag, auf Sie, mein teurer Neffe, übertragen. Ja schleppen wir unsere Trümmer aus dem Schiffbruch mutig zusammen! Ich will tun, als wär ich auch noch ein Junger. Mit Stolz und Wehmut sei's gesagt, wir sind zwei Stücke eines Baums, den der Blitz in der Mitte gespalten, und ist vielleicht ein schöner Lorbeer zuschanden gegangen. Sie müssen ihn noch retten und ich helfe mit.

Sehn Sie, wir gehören ja recht füreinander, als Zwillingsbrüder des Geschicks! Mit dreifachen ehernen Banden haben freundlich-feindselige Götter dies Paar zusammengeschmiedet – ein seltenes Schauspiel für die Welt, wenn man's ihr gönnen möchte; doch das sei ferne; das Grab soll unsern Gram dereinst nicht besser decken, als wir dies Geheimnis bewahren wollen, nicht wahr? – Aber so kommen Sie! kommen Sie gleich!

Schließlich noch eine kleine Bitte: daß Sie mir vor den Menschen immerhin den Namen lassen, unter dem Sie zu ** meine arme Person haben kennengelernt.

Für Sie aber heiß ich, der ich bin

Ihr treuer Oheim Friedrich Nolten, Hofrat.«


Der Präsident wollte in die Erde sinken vor Staunen. Er hatte durch Theobald von diesem Verwandten als dem verstorbenen Vater Elisabeths gehört und nun – er glaubte zu träumen.

Die beiden Männer sahn sich lange schweigend an und blickten in einen unermeßlichen Abgrund des Schicksals hinab.

Der Präsident verweilte sich noch einen Tag und schied sodann [382] mit großer Rührung. Es war natürlich, daß Nannette den Alten nicht verließ. Später entschlossen sich beide auf unwiderstehliches Bitten des Hofrats, mit diesem in einem dritten Orte einer kleinen Landstadt unfern Neuburg, zusammenzuwohnen. Der Oheim ward fast rasend, als er den Tod des Neffen vernahm und daß nicht wenigstens noch sein Bekenntnis ihn hatte erreichen sollen! Mit größerer Ruhe empfing er die Nachricht von dem, vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende eingetretenen Tod seiner wahnsinnigen Tochter. Man hatte sie, wie der Präsident sogleich bei seiner Heimkunft Meldung tat, etliche Meilen von seinem Gute entseelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo sie ohne Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. – Ihr Vater war von ihrer jammervollen Existenz seit Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand einige Versuche gemacht, sie in einer geordneten Familie unterzubringen; aber sie fing, ihrer gewohnten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augenscheinlich zu welken an, sie ergriff zu wiederholten Malen die Flucht mit großer List und da überdies ihr melancholisches Wesen, mit der Muttermilch eingesogen, durchaus unheilbar schien, so gab man sich zuletzt nicht Mühe mehr, sie einzufangen.

Noch ist nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin Armond, seit lange krank und aller Welt abgestorben, jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die letzte Zeit, und zwar in Verbindung mit dem Hofrat, insgeheim beschäftigt, jene kläglichen Schicksale nur wenige Monate überlebte.

Fußnoten

1 Sonnenkeile – so nannte man drei eigentümlich gegeneinandergestellte steinerne Spitzsäulen, welche durch den Schatten, den sie werfen, den Ureinwohnern als eine Art von Sonnenuhr gedient haben sollen.

2 Die kurze Beschreibung dieser Gegend ist, soviel es möglich war, nach der Natur entworfen. Der Punkt, auf welchen man hier ausdrücklich aufmerksam machen will, befindet sich im Württembergischen, im Oberamt Nürtingen, zunächst bei dem Pfarrdorfe Groß-Bettlingen.

3 Möglicher Irrung zuvorzukommen, weil es sich hier um ein bestimmtes Lokal handelt, wird erinnert, daß man dort weder ein solches Denkmal, noch überhaupt diese Sage zu suchen hat, wozu übrigens der wirkliche Name des gedachten Hügels dem Verf. Veranlassung gegeben.

4 Im Munde des Bräutigams gedacht.

5 Diese Zeilen finden sich wirklich in einem uralten, wohl längst vergriffenen Andachtsbuch Sie sind unnachahmlich schön; indessen fügen wir, um einiger Leser willen, diese Übersetzung bei:

Dein Liebesfeuer,

Ach Herr! wie teuer

Wolle ich es hegen,

Wollt ich es pflegen –

Hab's nicht geheget,

Und nicht gepfleget,

War Eis im Herzen,

– O Höllenschmerzen!

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TextGrid Repository (2012). Mörike, Eduard. Roman. Maler Nolten. Maler Nolten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4318-E