Epistel

Wie sich dein neuer Poet in unserem Kreise gefalle?
Nicht zum besten. Er meint, man verstünd ihn eben auch hier nicht.
Jetzo hat er ein griechisches Epos, hör ich, die Argonauten,
heroische Form, auf dem Amboß. Segn' es der Gott ihm,
Aber zu lesen begehr ich es nicht. Glaub mir, das ist auch so
Eins von den sauren Genies, dergleichen wir mehrere kennen.
Wortkarg streicht er den Schnurrbart sich, wie verstimmt und befangen,
Wenn man des Trefflichsten irgend gedenkt von den Alten und Neuen;
Oder er mäkelt daran mit kleinlichem Tadel, von fern erst,
Bis er, hitziger werdend im Streit, Maßloses daherschwatzt
Und wie ein stätischer Esel hinausschlägt, wo es auch hintrifft.
Das sind schlimme Symptome. – Vernimm ein homerisches Gleichnis
(Pflegten wir doch vormals in parodischer Laune zuweilen
Stundenlang nach der Weise des göttlichen Alten zu reden):
Gleichwie die gelbliche Birne zur Herbstzeit, wenn sie gereifet
Fiel vom Ast und im Fall von der dornigen Hecke verwundet
Liegt am Boden, alsbald mit schwärmenden Wespen bedeckt ist,
Welche sie rings aushöhlen, die gierigen Kiefer bewegend:
Also strotzet sein Herz von wilden Gedanken der Ehrsucht
Und des verzehrenden Neids. Ihn blendete völlig ein Dämon.

Notes
Entstanden 1846, Erstdruck 1865 unter dem Titel »Aus einer Epistel«.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Mörike, Eduard. Epistel. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-422C-C