[48] Das Hohelied

Singen will ich den Hochgesang,
den mit Sterngoldlettern
der heilige Geist der Erkenntnis
in den schwarzen Riesenschiefer
nächtigen Firmaments
leuchtend gegraben,
den jauchzenden Hochgesang,
des Kehrreim von zahllosen Chören
von Weltengeschlechtern das All durchtönt:
Auf allen Sternen ist Liebe!
Siehe, ich maß auf dem Feuerfittich
rascher Kometen die Bahnen der Ewigkeit,
durch tausend Planetenreigen
flog ich zitternden Geistes,
spähte und lauschte hinab
auf die kreisenden Bälle
mit überirdischen Sehnsuchtsinnen.
Und entgegen schwoll mir allewig
aus unzählbarer Lebenden Brüsten:
Auf allen Sternen ist Liebe!
Sahst du je ein liebendes Paar
sich vereinen zu seligem Kuß,
sahst du je der Mutterlippe
stummes Segengebet des Kindes
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reinen Scheitel inbrünstig weihen,
sahst du je die stille Flamme
heiliger Freundschaft im Kusse brennen –
oh dann sang auch deine Seele,
stammelte schauernd die süße Gewißheit:
Auf allen Sternen ist Liebe!
Trunken bin ich von diesem Liede,
das aus der Harfe der Ewigkeit hallt.
Oh meine Brüder auf wandelnden Welten,
deren Sonnen purpurne Kränze
um die Muttersonne des Alls
ewigen Rhythmus' Sturmschwung reißt,
grüßen laßt euch durch Äonen!
Tausendgestaltiger Sterblicher Hymnen
Ein' ich des Menschengeschlechts Dithyrambe.
Auf allen Sternen ist Liebe!
Liebe! Liebe! durch die Unendlichkeit
ausgegossen, ein Strom erlösenden Lichts,
in das Nichts, die Nacht der Herzen
deine glühenden Wogen schlagend –
hebend aus dem Dumpfen das Heilige –
aus dem Chaos rettend und schaffend den Gott –
Gottheit auf die Stirn dem Menschen
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prägend und ins schimmernde Aug ihm
Gottheit senkend – Liebe! Liebe!
Auf allen Sternen ist Liebe!
Liebe! Liebe! bist du die Mutter auch
aller Schmerzen, aller der Lebensqual,
wer erträgt um dich nicht alles,
stolzen Mutes, ein Held, ein Ringer!
Heilig sprechen wir Haß und Leid und Schuld,
denn wir lassen von dir nicht, oh Liebe!
Träges Verschlummern lockt uns nicht,
Leben und Tod soll ewig dauern,
denn wir wollen dich ewig, oh Liebe!
Auf allen Sternen ist Liebe!
Erden werden zu Eis erstarren
und ineinander stürzen,
Sonnen die eigene Brut verschlingen,
tausend Geschlechter und aber tausend
werden in Staub und Asche fallen:
aber von Ewigkeit zu Ewigkeit
bricht aus unzähliger Lebenden Brüsten
dreimal heilig und hehr das hohe Lied,
dreimal heilig des Lebens Preisgesang:
Auf allen Sternen ist Liebe!

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TextGrid Repository (2012). Morgenstern, Christian. Das Hohelied. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3FAC-3