Das Grab

1773.


Rings umher von Nacht umgeben,
Denk' ich deiner, o mein Grab!
Sonder Angst, und sonder Beben,
Schau' ich deine Kluft hinab.
Also hier, in dieser Stille,
Soll einst dies Gebein vergehn?
Hier soll dieses Geistes Hülle
Mit der Winde Hauch verwehn?
O erheb auf ihrem Flügel
Dich vom Staub empor, mein Geist!
Schwebe friedlich um den Hügel,
Den der Tugend Ruh umfleußt.
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Keiner Witwe Flüche schallen,
Ihrem Jammer ausgepreßt;
Keiner Waise Thränen fallen
Auf des Räubers Überrest.
Niedre Bubenränke kanntest
Du im Erdeleben nicht;
Tugend war dein Glück, du branntest
Nur für Vaterland und Pflicht.
Fehler, die sich dir entschlichen,
Sind durch Reuethränen schon,
Sind durch Jesus Blut erblichen,
Klagen nicht am Richterthron.
Aber eingeschleiert kommen
Keusche Mädchen an die Gruft;
Segenswünsche für den Frommen
Beben heilig durch die Luft.
Seelen, gut durch deine Lieder,
Bringen Blumenopfer dar,
Dankesthränen fallen nieder,
Und der Hügel wird Altar.
Horch! Bekränzte Greise wallen
Durch den düstern Eibengang;
Hohe Harfenlieder schallen,
Wie der Engel Lobgesang. –
Gott! ach Gott! die Schar der Brüder!
Ach, mein Herz! zu viel, mein Herz!
Auf! und schwing in Thränen wieder
Dich vom Staube himmelwärts!

Notes
Entstanden 1773. Erstdruck 1776.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Miller, Johann Martin. Das Grab. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-38DD-F