Johann Heinrich Merck
Über den Mangel des epischen Geistes in unserm lieben Vaterland

[1261] Es war vor ohngefähr 10 Jahren eine allgemeine kritische Klage, daß wir lieben Teutschen allen andern Völkern des Erdbodens darin nachstünden, daß wir unter unsern Produkten der Einbildungskraft so gar nichts hätten, das wir einen guten Romanen nennen könnten. Große und kleine Meister beherzigten diese Beschwerde, und man beschenkte uns bald mit einer ziemlichen Anzahl dergleichen Wesen, die man erfundne »Geschichten« vulgo »Romanen« betitelt. Selbst bei den besten ihrer Art, die wir mit Ehre den Ausländern an die Seite setzen können, zeigte sich indessen gar bald, daß der Boden worauf sie gedeihen könnten, entweder ausländische, oder antik, oder utopisch sein müßte. Man stellte darüber Betrachtungen an, fand [1261] den Mangel des Produkts bald in unsrer Konstitution, Organisation, usw. Da hatten wir keine Hauptstadt, wo sich die Sittenmasse sammlen, und zum epischen oder dramatischen Extrakte reifen konnte; da war unser Charakter zu einschichtig, unsre Regierungsform zu despotisch; tausend Dinge, die, halb wahr und ganz wahr, nebeneinander entstehen und bestehen können, ohne daß eins die Quelle des andern ist. Kurz, das Ding war nicht da; und weil das Kunstwerk nicht gelang, so waren Pinsel, Palette, und Kanevas schuld daran – ohne daß man an den Künstler dachte. Man verglich die Charaktere in der Natur bei uns mit dem was sie in der Nachbildung bei den Ausländern waren, und da fand sich freilich, daß die Szene in Teutschland nicht wie bei Fielding in der Küche vorgehen konnte, daß wir keine Parlamentsglieder, wenig Priester mit 20 Pfund jährlicher Einkünfte, keine Marquis, keine Abbés hatten, daß bei uns Konversation und Umgangsfreiheit eines andern Schnitts war, daß unsre Köpfe sich um andre Ideen, und unsre Herzen um ein ganz andres Interesse drehten. Eben das, was uns hätte aufmuntern sollen, machte uns mutlos. Die Bemerkung, daß unser eigentümlicher Charakter so unterschieden von andrer Völker ihren wäre, zeigte uns eine neue Fundgrube an, wo wir Gemälde, Situationen, Theatercoups, Charaktere, und wie all der episch-dramatische Hausrat heißen mag, mit leichter Mühe aufgreifen konnten. An Aufforderung dazu hat es nicht gefehlt. Alle unsre Kritiker, sie mochten Aussichten über das ganze Feld der Literatur oder wöchentliche Zeitungen schreiben, ruften zu: Teutsch, teutsch, teutsch müssen eure Produkte sein.

Allein wie gelang's? Man hatte dem Schriftsteller lange vorgebetet: nichts sei so elend und fade, als eine Anreihung wundersamer Begebenheiten und Avanturen, die, in einem flüchtigen Ton erzählt, ebenso ermüden, als wenn man gewaltsam durch eine Bibliothek oder Galerie geführt wird, wo man viel sieht, und nichts genießt. Man hatte ihnen auf der andern Seite vorgestellt, nichts sei mißlicher, als die Festsetzung eines gewissen Charakters, den man durch alle Situationen durcharbeite. Sie hatten gehört, es müsse viel Detail in der Darstellung ihrer Gemälde sein; überdies sei es nötig, daß der Autor in einer gewissen Stimmung sei, die dem Ganzen Farbe und Ton gäbe, wie man sichtbarlich an allen Meisterstücken wahrnähme usw. Sie nahmen diese Warnungen zu Herzen, hüteten sich Charaktere auszuarbeiten, schufen sich ein Detail das sie nie gesehen hatten, und [1262] setzten sich in eine Stimmung, die weder Krankheit noch Gesundheit, sondern eine gemachte Indisposition war. Daraus entstanden denn alle die neuern episch-dramatische Werke, wo unter 10 nicht eins an die Güte der »Schwedischen Gräfin« reicht, die so gar für keine Leser gemacht sind, denen man so deutlich die Ängstlichkeit ihrer Entstehungsart ansieht, daß die »Asiatische Banise« selbst in einer konsistentern Manier gearbeitet ist. – Niemand kann die Dinge lesen, außer junge Leutchen, die sich mit der Tradition der neuern schönen Schriften schleppen. Dem Publiko der Weltleute, für die man eigentlich zu schreiben hätte, ist's, wie billig, das ekelhafteste Gerichte, weil aus der ganzen Reminiszenz ihrer Erfahrungen nichts dem ähnlich sieht, was man ihnen hier auftischen will. Die verfeinerte Welt der höhern Stände, die man mit der teutschen Literatur aussöhnen wollte, sieht sich geäfft, und wird nicht so bald dahin zurückkommen, wo man sie so sublim ennuyiert hatte. Die meisten dieser Herrn helfen sich mit dem Mantel der Anonymität, wann ihre Paillassestreiche übel aufgenommen werden. Es wäre daher zu wünschen, daß man ihnen diesen Mantel abnähme, und daß sie in kurzer Kleidung erscheinen müßten, wie wir andre ehrliche Leute, wenn wir etwas tun wollen. Auf diese Art wären sie doch selbst dabei wie die schlechten Akteurs, und müßten zusehen, wie sie ausgepfiffen würden.

Man hat noch nie so viel vorgegeben, daß man die Alten studiere, als jetzo, und doch hat ihr Beispiel, die Sobrietät ihrer Empfindungen, die Keuschheit ihres Ausdrucks, die ganze Kunst ihrer Komposition so wenig Einfluß auf unsre Schriftsteller. Fühlen diese Herrn wohl in ihrem Vater Homer den ganzen großen Umfang seines Märchens, die beständige Gegenwart des Subjekts, daß alles vor ihren Augen entsteht, und die Handlung mit ebender Langsamkeit und Zeitfolge fortrückt wie in der Natur; nichts vergessen wird, was da sein sollte, nichts da ist, was nicht dahin gehörte, niemand zu viel noch zu wenig sagt, alles vom Anfang bis zu Ende ganz ist, niemand den Erzähler hört, nichts von seinem eignen Medio zum Vorschein kommt, sondern alles gerade weder größer noch kleiner erscheint, wie es jedermann mit seinen Augen gesehen zu haben glauben würde? Dieser große Charakter des Dichters wo ist der, und wie erwirbt man sich den?

Die jungen Herrn wollten wie gewöhnlich nicht anfangen von unten auf zu dienen. Daher ging's hier, wie in allen Verrichtungen [1263] des Lebens: sie waren nicht zu brauchen. Hätten sie ihre Meister gefragt, durch wie viel vorläufige Studia, vergebliche Versuche, durch wie viel Ausharren, und nach wie viel vernichteten Werklein, endlich das entstanden ist, was man jetzo mit Recht in ihren Produkten allgemein bewundert: so würden sie gesehen haben, daß eine Frucht, die der Reiz aller Gaumen ist, von fürtrefflichem Keim sein, und doch nur langsam gedeihen könne.

Zum epischen Wesen gehören wackre Sinnen. Sosehr man jetzo von Liebe zur Natur schwatzt, so sind doch wenig der Herren Poeten, die so ganz von Natur durch die Gegenwart eines lieben Baums zur Serenade erweckt würden, wie Freund Asmus. Bei den meisten ist's garstige Tradition, und sie lieben die schöne Natur, weil sie ist beschrieben und besungen worden. Außerdem trennt sie die Sekte der Empfindsamkeit und des Geniewesens von allen ihren Brüdern. Was sollen sie an Menschen sehen können, deren ganzes Spiel von Leidenschaften ihnen zu alltäglich, allzu philisterhaft vorkommt, als daß es aufgenommen zu werden verdiente? Ehedem glaubte man, um seine Kunst in Schilderungen zu zeigen, man müßte alles in der Farbe des Lächerlichen malen. Man wählte sich also seine Personage, behing sie mit allen Schellen der Karikatur, führte sie durch allerlei Situationen durch, erhöhte was da war, verbarg was man wollte, und so entstand das pikante Produkt, das man Satiren nennt, die aber niemand heutzutage mehr mag. Der Grund davon ist deutlich einzusehen, weil alles übertrieben, und nichts zum Menschlichen oder zum Momentanen herab gemildert ist.

Jedermann schwatzt von der Gutmütigkeit Shakespeares, als dem ersten und wesentlichen Ingredienz seines großen dramatischen Charakters: und vielleicht ist diese Qualität doch nie noch recht erwogen worden, wie sie sein sollte. Gewiß derjenige, der ein Gemälde menschlicher Sitten liefern will, muß eine große Dosis davon haben, wenn er ihnen überall nachschleichen, sie in allen Masken und Verkleidungen doch immer als menschlich und nicht phantastisch aufgreifen will. Er muß den Glauben haben, überall etwas Merkwürdiges aufzufinden, ehe er darnach ausgeht: und so wird ihm bei jedem Schritt etwas aufstoßen, das er, in seiner Manier erzählt, darstellen kann. Überall ist Spiel menschlicher Leidenschaften, wie überall Spiel Schattens und Lichts; nur gehört der Hohlspiegel und die Camera obscura dazu, den Unachtsamen zu überführen, daß es würklich da ist.

[1264] Aber was sieht die kränklende Intoleranz des gemein–kultivierten Kopfs auf seiner Reise durch die Welt? Gradeso wie der Mann von Stande, der sich überall inkommodiert fühlt, in seinem bequemen Wagen schläft oder ankommen will, nichts findet wie zu Hause, und deswegen nichts des Anblicks würdigt. Man vergleiche damit die Naivetät des gemeinen Mannes, des würklich sinnlichen Menschen. Seine Gabe zu sehen macht ihn zum beredtsten Erzähler. Seine Einbildungskraft ist roh, durch Vergleichungen ungebildet. Das Gegenwärtige ist ihm daher immer groß und anziehend, weil's von allen Seiten Eindruck auf ihn gemacht hat. Man höre ihm nur zu, wenn er die geringste Stadtbegebenheit, einen Todesfall, eine Familiengeschichte erzählt. Er eilt nicht schnell zum Schluß, wie der philosophische Erzähler; er drängt keine Begebenheiten, er malt aus. Jeder einzelne Eindruck ist ihm kostbar, er sucht ihn wiederzugeben. Daher das Umständliche das den Gelehrten so lästig ist, und das doch eigentlich das Ding zu einer Begebenheit macht. Man höre nur auf die Konversation eines Weibes, eines Jägers, eines Soldaten, und man wird eine Gabe zu erzählen finden, die dem Skribenten nachzuahmen ohnmöglich fallen wird.

Die Brocken kleiner Begebenheiten, die, unter den seltsamsten Sprüngen der Laune, Yoricks Werken eingewebt sind, bleiben sie nicht für den Liebhaber, die kostbarste Reste seiner Erfindungskraft? Was ist an allen diesen Geschichten der Wert, wenn's nicht das Umständliche ist, das alle Geschöpfe seines Hirns beinahe zu lebendigen Personen macht? Wer gibt eine einzige solche Szene, wo sich die Arme und Füße Trims oder der Madame Wadmann bewegen, gegen eine Schatzkammer der herrlichsten Sentiments?

Man frage doch unsre jungen Herrn, die uns so freigebig mit Dramen und Begebenheiten beschenken, wie weit sich ihre Reise durch das Leben erstrecke, wieviel sie davon durchgeschlendert, wie vieles sie besucht und begafft haben! Ob's nicht alles von Hörensagen, ob's nicht alles gelesen ist! Sie sollen sich nur üben einen Tag, oder eine Woche ihres Lebens als eine Geschichte zu beschreiben, daraus ein Epos, d.i. eine lesenswürdige Begebenheit zu bilden, und zwar so unbefangen und gut, daß nichts von ihren Reflexionen und Empfindnissen durchflimmert, sondern daß alles so dasteht, als wenn's so sein müßte. Alsdann wenn sie darin bestehen, wollen wir ihnen erlauben, uns mit größern Werken zu beschenken; dann sollen sie Befugnis haben, ihre Prinzen [1265] und Prinzessinnen zu produzieren, und sie mit allem auszustatten, was ihnen gut deucht. Bis dahin aber wollten wir uns ihre Erscheinung noch verbitten.

Außerdem wäre zu bedenken, daß unter dem nichtschreibenden Publiko zuweilen Personen mit auf den Bänken des Parterre sitzen, die selbst das getan und gewürkt haben, was hier vor ihren Augen von den Marionetten des Verfassers tragiert wird, und daß diese Zuhörer noch weit mehr zu respektieren sind, als die gemeinen Feld- und Feuerschreier des gelehrten und schreibenden Teils. Sie haben bisher mehr zu tun gehabt, als dies müßige Handwerk zu treiben, und von ihnen gilt daher was der treuherzige Berlichingen von sich in seinem hohen Alter prädiziert: daß er nun zu schreiben anfange, weil er zu sonst nichts mehr tauge.

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Notes
Erstdruck in: Der Teutsche Merkur (Weimar), Heft 1, 1778.
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TextGrid Repository (2012). Merck, Johann Heinrich. Über den Mangel des epischen Geistes in unserm lieben Vaterland. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3391-C