249. Das Fräulein von der Boyneburg.

Andere Auffassung.


Auf dem Schlosse Boyneburg, dessen Trümmer noch stolz von dem hohen Burgberg herab weit in die Ferne schauen, lebte einst ein Ritter mit seiner Gattin ein stilles, friedliches Leben. Ein Kind hatte ihnen der Himmel geschenkt, eine Tochter, reich an Anmuth und lieblicher Schönheit, die ihre ganze Freude, aber auch die Quelle ihres bittersten Leides war, denn eine schreckliche Weissagung knüpfte sich an ihre Geburt. Damals nämlich, als die Edelfrau ihre Stunde gekommen fühlte, zog sich eben ein furchtbares Gewitter über dem Schlosse zusammen, so daß es ganz dunkel geworden wäre, hätten nicht unzählige Blitze, die ohne Unterlaß aus den Wolken fuhren, Alles ringsumher mit ihrem grauenhaften Lichte beleuchtet. Die Wehmutter, eine alte erfahrene Frau, deren Blicken die Zukunft unverborgen war, zitterte, denn sie wußte, daß das Kind, welches die Edelfrau jetzt gebären sollte, dereinst vom Blitze erschlagen werden würde, und sie verschwieg ihr dieses nicht. Doch vergebens hoffte sie, daß das Unwetter sich noch zur rechten Zeit legen würde, mitten unter Blitzen und Donnern ward die Edelfrau von einem gesunden Mägdlein entbunden.

Da ließ der Vater tief unter dem Schlosse in den dunklen Schooß des Berges ein Gewölbe bauen und barg sein Kind darin, daß ihm das Wetter Nichts anhaben möchte. Er ließ es auch in allem Guten unterrichten, gab ihm Gespielinnen und sorgte, daß [174] es Vergnügen und Zerstreuung habe in seinem unterirdischen Gemache.

So reifte die Tochter allmählich zur Jungfrau heran und die Eltern fingen an zu hoffen, daß die unheilvolle Weissagung nicht in Erfüllung gehen werde, als eines Tages ein Gewitter aufstieg, schrecklicher wie alle, die sie je erlebt hatten. Der Himmel war so schwarz wie in der finstersten Nacht, und unaufhörlich rollten die Donner und zuckten die Blitze, die selbst bis in die stille unterirdische Zelle des Fräuleins drangen, drei Tage und drei Nächte hindurch. Da bat die Tochter ihre Eltern, sie möchten ihr doch erlauben hinaufzugehen und dem Wetter sich als Opfer hinzugeben, denn sie wußte wohl, daß Gottes Arm sie doch erreichen könne, wohin sie sich auch verberge, wenn einmal ihr Tod im Buche des Schicksals bestimmt sei. Die Eltern willigten endlich mit gebrochenen Herzen ein und das Fräulein ging hinaus vor die Burg und sank gleich darauf, von einem Blitzstrahl getroffen, entseelt zur Erde. – Die Donner hörten auf zu brüllen, kein Blitz fuhr mehr aus den schwarzen Wolken und bald lächelte wieder der blaue Himmel über den Zinnen der Burg, in unendlicher fleckenloser Wölbung.

Zuvor hatte die Tochter ihr Vermögen zu einer Spende von Fleisch und Brod vermacht, die noch alljährlich an ihrem Todestage oben auf dem Schloßberge unter die Armen aus den nächstgelegenen Dörfern vertheilt wird. – Einmal war die Austheilung unterblieben; da erhob sich Geistertumult in dem Berge, und es ward nicht eher ruhig, als bis das Versäumte nachgeholt worden.

Mündlich.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lyncker, Karl. Sagen. Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. 249. Das Fräulein von der Boyneburg. 249. Das Fräulein von der Boyneburg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2887-1