200. Die eiserne Jungfrau.

In einem der unteren Gemächer des Zwehrenthurms 1 zu Cassel befindet sich der Sage nach ein altes Hinrichtungswerkzeug, [128] die »eiserne Jungfrau« genannt, eine eiserne Frauengestalt von mehr als gewöhnlicher Größe. Der Unglückliche, der von ihr den Tod empfangen soll, muß sie umarmen, sobald er ihr aber nahe tritt, wankt der Boden unter seinen Füßen, – die Jungfrau thut sich auf und zieht ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in sich, kein Rückschritt ist mehr möglich; dann schließt sie sich von selbst wieder und das Opfer, von tausend Messern, die gleichsam ihre Eingeweide bilden, in kleine Stücke zerschnitten, fällt unten durch in einen Kanal, der in die Fulda ausmündet.

Noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts soll ein hessischer Edelmann, einer aus dem Geschlechte der Riedesel, welcher ein Vertrauter des Erbprinzen Friedrich – nachmaligen Landgrafen Friedrichs II. – war, in den Armen der eisernen Jungfrau umgekommen sein. Kaum hatte nämlich der Vater des Prinzen, Landgraf Wilhelm VIII., Kunde von dem Uebertritt desselben in die römisch-katholische Kirche erhalten, als er sofort energische Maßregeln ergriff, um diesen Schritt möglichst folgenlos zu machen; namentlich ließ er die Umgebung des Prinzen streng überwachen. Der Vertraute desselben, jener Edelmann, war plötzlich verschwunden und Niemand hat je von seinem Leben oder Tod etwas erfahren können. Einige Zeit nach seinem Verschwinden fand man in der Fulda, in der Nähe jenes Kanals, einen menschlichen Finger mit einem goldenen Ringe, und es verbreitete sich zugleich im Stillen die Sage, der Edelmann wäre durch die eiserne Jungfrau umgekommen. Einige wollten ihn auch zuletzt in der Nähe des Thurmes gesehen haben.

Auch in Grebenstein erzählt man von einer eisernen Jungfrau, die dort in einem alten Thurme sich befunden haben soll. Die Verbrecher, welche zum »Jungfernkuß« verdammt waren, hauchten, wie oben erzählt, in den Armen der Jungfrau ihren Geist aus und fielen ganz klein zerschnitten in den Bach, über welchem der [129] Thurm stand. Dieser Bach, vor dem Thurme durch den Zusammenfluß zweier Arme erweitert, soll früher an der Stelle außerordentlich tief gewesen, nachher aber ganz verschlämmt worden sein.

In dem nun abgerissenen Thurm »am Thörle« in Fulda soll gleichfalls eine eiserne Jungfrau gestanden haben 2.

Mündlich.

Fußnoten

1 Nach Anderen in dem Rondel des alten Schlosses, an der Fulda.

2 Man vergleiche über die anderwärts in Deutschland vorkommenden Sagen und Spuren von der eisernen Jungfrau: Mone's Anzeiger, 3. Jahrg. S. 69.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lyncker, Karl. Sagen. Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. 200. Die eiserne Jungfrau. 200. Die eiserne Jungfrau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-276A-5