8. Ein Kind im Odenberge.

Einst trieb der Gudensberger Sauhirt am Odenberge. Eine der Säue, die sich etwas von der Herde abgeschlagen hatte, fand einen Haferwisch, deren der Karlquintes zuweilen aus dem Berge wirft, und machte sich daran, die Körner schmatzend aufzuzehren. [8] Der Hirt, der es bemerkte, trat näher und gewahrte auf einmal dicht nehmen sich eine Oeffnung im Berge, die er noch niemals gesehen hatte. Drinnen lagen Haufen Goldes und andere köstliche Schätze und mitten darunter saß der Karlquintes, der ihm freundlich winkte, näher zu kommen. Sein Kind auf dem Arme trat der Hirt hinein und erhielt die Erlaubniß, soviel von den Schätzen zu nehmen, als er tragen könne. Der Mann ließ sich das nicht zweimal sagen, setzte das Kind nieder und gab ihm einen Wecke in die Hand, daß es still sein möchte. Dann fing er an, von dem Golde aufzuraffen. Karlquintes sagte zu ihm, nach sieben Jahren könne er wieder kommen, da wäre der Berg wieder offen wie heute. Indeß verstrich die Zeit und der Sauhirt mußte eilen, wieder ins Freie zu kommen, ehe die Oeffnung sich schließen möchte. Hastig, so gut es ihm die Schwere seiner goldenen Last erlaubte, rannte er ans Tageslicht hinaus, wo er eben noch zu guter Zeit anlangte, denn gleich darauf fiel die Thür polternd hinter ihm zu. Das Kind hatte der Glückstrunkene in der Eile vergessen und so war es in dem Berge zurückgeblieben. – Obgleich der reichste Mann in Gudensberg, blieb das Glück des Hirten doch ein sehr unvollkommenes. Fortwährend verfolgten ihn die bittern Klagen und Vorwürfe seines Weibes, das nach dem armen Kinde jammerte und sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe, von welcher Seite er auch die Sache betrachten mochte; daher wünschte er mit Sehnsucht den Tag herbei, an welchem der Odenberg den Menschen wieder zugänglich sein würde und an dem er über das Schicksal seines Kindes Aufschluß zu erlangen hoffte. Endlich waren die sieben Jahre um. Der Hirt machte sich auf nach dem Berge, fand die Oeffnung wieder, trat hinein und, siehe da! Alles war noch wie vor sieben Jahren: da saß das Kind noch auf demselben Fleck, nicht älter und nicht größer, und aß noch an seinem Wecke! Ohne sich wieder von den Schätzen des Karlquintes [9] verlocken zu lassen, drückte der Hirt sein Kind mit Inbrunst an sein Herz und eilte, es der jammernden Mutter in die Arme zu legen.


Mündlich.

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TextGrid Repository (2012). Lyncker, Karl. Sagen. Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. 8. Ein Kind im Odenberge. 8. Ein Kind im Odenberge. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-274D-7