6. König Karl und sein Heer im Odenberge.

Am Fuße des Odenbergs schlug Karl eine große Schlacht. Des vergossenen Blutes war so viel, daß es tiefe Furchen in den Boden riß; oft sind sie zugedämmt worden, der Regen spült sie immer wieder auf. Die Fluthen strömten zusammen und ergossen sich bis Besse hinab. Karl erfocht den Sieg; Abends that sich der Berg auf, nahm ihn und das ermattete Kriegsvolk ein und schloß seine Wände. – Doch auch hierin stimmen die Erzählungen nicht überein. Nach Andern kam Karl, gedrängt vom Feinde, bis zum Odenberg, da rief er die Gottheit an, ihn mit all' den Seinen in den Berg aufzunehmen: der Berg öffnete sich und Karl ging hinein mit seinem ganzen Heere, worauf sich der Spalt wieder schloß. – In diesem Berge ruht der König von seinen Heldenthaten aus; er hat verheißen, alle sieben oder alle hundert Jahre herauszukommen, tritt eine solche Zeit ein, so hört man Waffen in den Lüften rasseln, Pferdegewieher und Hufschlag, Trommelton und Trompetenklang. Karlquintes verläßt mit seinen Kriegern die unterirdische Behausung; der Zug geht an den Glisborn, wo die Rosse getränkt werden, und verfolgt dann seinen Lauf, bis er nach vollbrachter Runde endlich wieder in den Berg zurückkehrt. Sonntagskinder, die zwischen den Kirchen geboren [5] sind, haben den Zug schon oft gesehen. Die Soldaten sind meist verstümmelt: der hat einen Arm verloren, jener ein Bein, dieser hat nur ein Ohr und viele andere tragen klaffende Wunden zur Schau.

Einmal gingen Leute an den Odenberg und hörten Trommelschlag, ohne etwas zu sehen. Da hieß sie ein weiser Mann nacheinander durch den Ring schauen, den er mit seinem in die Seite gebogenen Arm bildete: alsbald erblickten sie eine Menge Kriegsvolk, in Waffenübungen begriffen, den Odenberg ein- und ausgehen.

Im Berge wächst Hafer für die Rosse; was der »Quintes« seinen Pferden nicht geben will, wirft er heraus. Täglich reinigen und schwenken seine Krieger Hafer und häufen große Vorräthe davon in den Kammern auf. Ein Sauhirt bemerkte, daß sich eine der Säue von der Heerde abschlug, sobald er am Odenberg hütete und jedesmal satt und fett zurückkam. Er ging ihr einst nach und sah, daß sie durch ein Loch in den Berg lief, worin ein ungeheurer Vorrath geschwenkter Hafer lag.

Alle sieben Jahre öffnet sich der Odenberg, und wem der Zufall den Gang zeigt, welcher in sein Inneres führt, der kann glücklich werden, denn es liegen große Schätze drinnen. Aber nur eine Viertelstunde lang ist er offen, und wer nicht eilt, den Ausgang wie der zu gewinnen, ehe die Frist verstreicht, der muß unten bleiben bis zum nächsten siebten Jahre. Doch wurden die Menschen, welche dies Schicksal hatten, nicht älter in der Zeit; sie blieben ebenso wie sie waren und auf derselben Stelle, wie in dem Augenblicke, da sich der Berg schloß.

Die Furcht vor dem Karlquintes war noch vor wenigen Jahren so groß, daß Niemand ohne Grauen den Berg betrat. Kinder, welche Nüsse und Erdbeeren an seinem Abhange zu suchen gingen, wurden von den Eltern gewarnt: »Nehmt euch in Acht, [6] daß euch der Quintes nicht kriegt!« und mit der Drohung: »der Quintes kommt!« beschwichtigen die Mütter dort herum ihre Kinder.

Grimm d.M., 2. Ausg. 890. – Die Zusätze mündlich.

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TextGrid Repository (2012). Lyncker, Karl. Sagen. Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. 6. König Karl und sein Heer im Odenberge. 6. König Karl und sein Heer im Odenberge. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2697-7