[126] XXXII. Palinodie.

An den Marchese Gino Capponi.

(1836.)

Es kann nicht frommen, immerdar zu seufzen.
Petrarca.

Ich irrte, edler Gino. Nur zu lang
Und schwer hab' ich geirrt. Das Leben, wähnt' ich,
Sei arm und nichtig, abgeschmackt vor allen
Die Zeit, die jetzt dahinrollt. Unerträglich
Erschien und war mein Reden dem beglückten
Geschlecht der Sterblichen, wenn man den Menschen
So nennen darf und kann. Halb staunend, halb
Erzürnt hervor aus ihrem duft'gen Eden
Lachten die Herrlichen: verwahrlos't oder
Vom Glück verlassen müss' ich sein. Der Freude
Unfähig, oder unerfahren, hielt' ich
Mein Loos für das gemeine und die Menschheit
Für meine Leidensschwester. Endlich jetzt
Durch der Cigarren Duftgewölk, beim Krachen
Der leckeren Pastetchen, bei der Krieger
Commandowort, Gefrornes und Getränke
Herbeizurufen, während Tassen klirrten
Und Löffel klapperten, erglänzte lebhaft
Ins Auge mir das täglich neue Licht
Der Tagesblätter. Da erkannt' und sah ich,
Wie froh die Welt ist und wie sanft das Schicksal
Der Sterblichen. Da sah ich den erhabnen
Zustand und Werth der Güter dieser Erde,
Den Pfad der Menschheit blumenüberstreut,
Und wie hier nichts von Dauer, was mißfällt.
So sah ich auch die staunenswerthen Werke,
Die Studien, den Verstand, die Tugenden,
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Das tiefe Wissen meiner Zeit; und sah
Wie von Marocco bis Catai, vom Nordpol
Zum Nil, von Boston bis nach Goa keuchend
Die groß' und kleinen Reiche in die Wette
Der Spur Fortuna's folgen, schon sie haschen
Am flatternden Gelock und sicher doch
Am Zipfel ihrer Boa. Dies erkennend
Und tiefnachdenklich in die großen Blätter
Vergraben, hab' ich meines schweren, alten
Irrthums und meiner selbst mich schämen müssen.
Ein goldnes Alter, theurer Gino, spinnen
Die Parzen jetzt. Ein jedes Zeitungsblatt,
Wie auch an Sprachen und Format verschieden,
Verkündet es der Welt in schönem Einklang
Aus allen Landen. Allgemeine Liebe,
Des Handels Weltverbindung, Schienenwege,
Dampf, Presse, Cholera, die fernsten Völker
Und Himmelsstriche werden sie verschmelzen;
Und traun kein Wunder wär's, wenn Ficht' und Eiche
Von Milch und Honig träuften oder tanzten
Zu eines Walzers Klängen. So gewaltig
Wuchs schon der Kolben und Retorten Macht,
So in die Wette mit dem Himmel thun
Die Dampfmaschinen Wunder, und noch größre
Erlebt die Zukunft. Denn zum Bessern stets
Und immer Bessern unaufhaltsam stürmt
Dahin des Sem und Cham und Japhet Same.
Von Eicheln zwar wird sich die Welt nicht nähren,
Wenn Hunger nicht sie zwingt; das harte Eisen
Wird sie nicht von sich thun. Wohl wird sie Gold
Und Silber oft verachten und vorlieb
Mit Wechselbriefen nehmen. Auch vom Blut
Der theuren Ihren wird das edelmüth'ge
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Geschlecht nicht lassen; ja von Leichen wird
Europa starren und das andre Ufer
Des weiten Oceans, das der Gesittung
Stets neue Nahrung giebt, so oft zum Kampf
Es Bruderschaaren sendet, handelt sich's
Um Pfeffer, Zimmet, Zuckerrohr und all
Die andern Würzen, oder was nur immer
Den Sinn der Menschen nach dem Golde lenkt.
Wahrhafter Werth und Tugend, Treu' und Demuth
Und Rechtsgefühl, sie werden stets in jedem
Gemeinen Wesen fremd und ferne bleiben
Den Weltgeschäften, oder ganz und gar
Darniederliegen, trauernd und besiegt.
Denn von Natur sind sie bestimmt, auf immer
Zurückstehn. Frechheit und Tücke werden
Stets herrschen nebst der Mittelmäßigkeit,
Und obenauf sein. Herrschaft und Gewalt,
Ob du sie Wen'gen wünschest oder Vielen,
Mißbrauchen wird sie stets, wer sie besitzt,
Wie er auch heiße. Diese Satzung gruben
Natur und Schicksal einst in Diamant,
Und nicht mit ihren Blitzen löschen sie
Volta und Davy aus, und nicht mit seinen
Maschinen England, nicht mit einem Ganges
Von Leitartikeln diese neue Zeit.
Stets wird der Gute trauern, stets der Wicht,
Der Schuft frohlocken. Erd' und Himmel werden
In Waffen immer gegen hohe Seelen
Verschworen sein. Der wahren Ehre folgt
Verleumdung, Haß und Neid. Der Starke zehrt
Den Schwachen auf, der Hungerleider frohnt
Und dient dem Reichen stets, in welcher Form auch
Der Staat regiert wird; nah und fern den Polen
Und der Ekliptik wird's unwandelbar
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So sein, so lang der Mensch auf Erden wohnt
Und ihm des Tages Fackel nicht erlischt.
Mit solch geringen Resten, solchen Spuren
Vergangner Zeiten muß die goldne Zeit,
Die jetzt heranbricht, noch behaftet bleiben.
Denn tausend Widersprüche, tausend feindlich
Entzweite Triebe birgt die menschliche
Gemeinde von Natur; die zu versöhnen,
Zu stillen ihren Haß vermochte nie
Die Macht des Geistes, seit dem Tage, da
Dies herrliche Geschlecht entstand, und kein
Vertrag, kein Zeitungsblatt, wie weis' und mächtig
Es sei, wird's je vermögen. Doch in Dingen,
Die wicht'ger sind, wird uns ein niegesehnes
Vollkommnes Glück erblühen. Weicher werden
Von Tag zu Tag, ob seiden oder wollen,
Die Kleider werden. Ihre groben Stoffe
Verschmähn der Bauer und der Handwerksmann;
Baumwolle muß die rauhe Haut umhüllen
Und Bieberfelle ihren Rücken wärmen.
Mehr zum Gebrauch geeignet oder sicher
Den Augen wohlgefälliger werden Polster,
Teppiche, Sessel, Tisch' und Schemel werden,
Betten und aller Hausrath, und den Zimmern
Zu flüchtig wandelbarem Schmucke dienen;
Kessel von neuer Form und neue Pfannen
Wird in der ruß'gen Küche man bewundern,
Und von Paris bis nach Calais, von dort
Bis London, Liverpool, so zauberschnell,
Wie man's zu denken kaum noch sich getraut,
Geht dann die Reise, nein, der Flug. Und unter
Dem tiefen Bett der Themse führt ein Durchgang,
Ein kühn unsterblich Werk, das schon vor Jahren
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Vollbracht sein sollte. Besser auch beleuchtet,
Als heutzutage, wenn auch sichrer nicht
Zur Nachtzeit, werden selbst die Winkelgassen
Der großen Städte sein, auch hie und da
In kleinen Städten selbst die großen Straßen.
So Herrliches, ein so glückselig Loos
Beschert der Himmel unsern Nachgebornen.
O glücklich Alle, die, da ich dies schreibe,
Wimmernd und nackt erst in die Arme nimmt
Die Wehemutter! Schauen soll'n sie diese
Ersehnten Tage, wo durch lange Forschung
Es nun bekannt ward und ein jedes Kind
Es mühlos einsaugt mit der Ammenmilch,
Wie viele Centner Salz und wie viel Fleisch,
Wie viele Malter Mehl das Vaterstädtchen
Verschlingt in jedem Mond, wie viel Geburten
Und wie viel Todesfälle jährlich bucht
Der alte Pfarrer; wo die Zeitungsblätter,
Mit Dampfeswunderkraft in der Secunde
Millionenmal gedruckt, Gebirg und Ebne,
Auch wohl des Meers unendliches Gebiet,
Gleich einem luft'gen Kranichschwarm, der plötzlich
Der weiten Niederung den Tag verdunkelt,
Erfüllen werden, Zeitungen, die Seele,
Der Lebenshauch des Alls und dieser Zeit
Und jeder künft'gen einz'ge Wissensquelle!
Gleich einem Knaben, der sich eifrig müht,
Aus Blättchen oder Spänchen ein Gebäude,
Das einen Tempel, Thurm, Palast bedeutet,
Emporzuführen, und kaum ist's vollendet,
Schon daran denkt, es wieder einzureißen,
Weil er dieselben Blättlein oder Spänchen
Nun wieder braucht zu einem neuen Bau:
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So sieht Natur auch ihrer Werke keines,
Wie kunstreich es auch prangen mag, vollendet,
Daß sie's sofort nicht zu zerstören strebt',
Auf daß zu anderm Zweck die Theile dienten.
Und vor dem schnöden Spiel, deß Sinn ihm ewig
Verborgen bleibt, beeifert sich umsonst
Der Mensch sich selbst und Andre zu beschützen,
Viel tausend Mittel tausendfach verwendend
Mit kluger Hand. Doch aller Mühe spottend
Vollführt Natur, ein eigenwill'ger Knabe,
Ihr grausam launenhaftes Spiel, und rastlos
Ergötzt sie sich an Bilden und Zerstören.
Daher bedrängt ein bunt unzähl'ger Schwarm
Unheilbarer Gebrechen und Beschwerden
Den armen Sterblichen, der unabwendbar
Dem Untergang geweiht; von inn' und außen
Rings ihn umlagernd, eifrig unablässig
Bekämpft ihn eine feindlich dunkle Macht
Seit der Geburt, verfolgt, ermüdet ihn,
Selbst unermüdlich, bis er endlich da liegt,
Erdrückt, vernichtet von der grausen Mutter.
Dies höchste Elend alles Menschenlebens,
O edler Freund, das Alter und den Tod,
Die schon beginnen, wenn des Kindes Lippe
Aus zarten Brüsten Lebenssäfte saugt,
Kann, dünkt mich, auch dies muntre neunzehnte
Jahrhundert nicht, so wenig wie das neunt'
Und zehnte von uns nehmen, und nicht besser
Gelingt es auch in aller künft'gen Zeit.
Doch darf man wohl einmal beim rechten Namen
Die Wahrheit nennen: überhaupt nicht anders
Als elend wird der Erdgeborne sein
Zu keiner Zeit, nicht nur im Bann des Staates,
Nein, auch in jedem andern Lebenskreise,
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Da von Natur schon er unheilbar ist
Kraft des Gesetzes, welchem Erd' und Himmel
Gleich unterthan. Doch eine neue Auskunft,
Fast götterwürdig, fanden die erhabnen
Geister der heut'gen Zeit: wohl können sie
Den Einzlen nicht auf Erden glücklich machen;
Drum gaben sie den Menschen auf und sannen
Auf allgemeines Menschheitsglück; und weil
Dies leicht gefunden war, so machten sie
Aus viel Unsel'gen und Betrübten ein
Glücksel'ges, heitres Volk. Und dieses Wunder,
Das keine Zeitung, Monatschrift, Pamphlet
Noch aufgeklärt, bestaunt die große Heerde.
O welch ein hoher Geist, welch übermenschlich
Genialer Scharfblick unsrer Zeit! Welch sichres
Philosophiren, welche Weisheit, Gino,
Wird in noch viel erhabnern, räthselvollern
Problemen mein und dein Jahrhundert all
Den künft'gen überliefern! Wie beharrlich
Verehrt's heut auf den Knieen, was es gestern
Verhöhnt hat, stürzt es morgen schon, und lies't dann
Die Trümmer wieder auf, um übermorgen
Neu aufgerichtet fromm sie zu beräuchern!
Wie werth der Achtung, des Vertrauens muß
Uns des Jahrhunderts, ja auch nur des Jahrs
Einträchtig Denken sein; wie ängstlich wir
Bedacht sein, unsre Meinung der des Jahres,
Wie sehr sie der des nächsten widerspreche,
So anzuschmiegen, daß in keinem Punkt
Wir von ihr weichen! O wie herrlich weit –
Vergleichen wir die neue Zeit der alten –
Hat's heut schon unsre Schulweisheit gebracht!
Einst von den Deinen Einer, wackrer Gino,
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Ein rüst'ger Meistersinger, ja in allen
Künsten und Wissenschaften und Talenten
Für alle Einst'gen, Gegenwärt'gen, Künft'gen
Die kritische Leuchte, sprach zu mir: O schweige
Von deinem eignen Herzen! Darnach fragt
Dies männliche Geschlecht nicht mehr, das einzig
Noch Staatswirthschaft studirt und ernst gespannt
Die Politik verfolgt. Dein eignes Innre
Erforschen, wozu frommt's? Stoff zum Gedicht
Such nicht in dir. Besinge, was der Zeit
Vor allem Noth, und wie gereift die Hoffnung.
Denkwürd'ger Ausspruch! Ein gewaltiges
Gelächter schlug ich auf, als mir das Wort
Hoffnung vor dem profanen Ohr erklang,
Gleich einem Witz im Lustspiel, gleich dem Lallen
Aus eines kaum entwöhnten Säuglings Munde.
Doch nun bekehr' ich mich und wähle künftig
Den andern Weg, durch zweifellose Proben
Nun aufgeklärt, daß man der eignen Zeit
Nicht widersprechen darf, sie nicht bestreiten,
Wenn Lob und Ruhm sie spenden soll, vielmehr
Ihr unterwürfig schmeicheln; so auf kurzem
Und glattem Weg gelangt man zu den Sternen.
Ich drum, sehnsüchtig nach den Sternen, wähle
Nicht die »Bedürfnisse der Zeit« zum Stoff
Für mein Gedicht; für diese, stets sich mehrend,
Wird ja vollauf gesorgt schon durch Fabriken
Und Handel; doch die Hoffnung will ich feiern,
Für welche schon ein sichtbar Unterpfand
Die Götter uns bescherten: als Beginn
Des neuen Glücks zeigt ja schon Lipp' und Wange
Der Jünglinge den ungeheuren Haarwuchs.
Gruß dir, du Rettungszeichen, erster Lichtstrahl
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Der wunderbaren Zeit, die nun heraufglänzt!
Sieh, wie vor dir sich Erd' und Himmel schon
Mit Helle schmücken, wie der Blick der Mädchen
Von Freude sprüht und in Gelag' und Festen
Der bartumlockten Helden Ruhm ertönt!
Wachse dem Vaterland heran, so männlich,
Moderne Jugend! Wachsen wird Italien
Im Schatten deiner Locken, wachsen ganz
Europa von des Tajo Mündung bis
Zum Hellespont, und ruhen kann die Welt.
Und du beginne früh die bärt'gen Eltern
Mit Lachen zu begrüßen, zartes Kind,
Dem goldne Tage winken; fürchte dich
Vorm harmlos schwarzen Vaterantlitz nicht.
Lache, du zartes Kind; für dich ja reift
Die Frucht so vielen Schwatzens einst heran;
Du sollst die Freude herrschen, Stadt und Land,
Das Alter und die Jugend gleich zufrieden
Und Bärte wallen sehn zwei Spannen lang.

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TextGrid Repository (2012). Leopardi, Giacomo. Lyrik. Gesänge. 32. Palinodie. 32. Palinodie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E45E-6