Johann Heinrich Lehnert
Mährchenkranz für Kinder,
der erheiternden Unterhaltung besonders im Familienkreise geweiht

[3] Vorwort.

Ob das Mährchen für Kinder gehöre, oder ihnen ganz entzogen werden müsse? Darüber sind die Urtheile noch verschieden.

Viele, – und dies sind die Einsichtsvollsten und Erfahrensten, – erklären sie für ein vortreffliches Bildungsmittel, und wollen sie auf keine Weise aus der Erziehung verbannt wissen. Einige dagegen verwerfen sie als verderblich und schädlich: denn sie meinen, daß durch diese »wunderlichen Zaubergeschichten« der Geschmack nothwendig verderbt, die Phantasie verwöhnt, der Blick in das Leben getrübt, und der Kopf des Kindes mit lauter falschen, abentheuerlichen und verkehrten Ideen angefüllt werden müsse, gerade wie der Roman nachtheilig für die Erwachsenen wirke.

[3] Diese Ansicht ist aber ganz falsch, weil sie gegen alle Erfahrung ist, und gilt höchstens nur von den schlechten, phantastischen Mährchen, die durch übertriebene, wunderbar wechselnde Erscheinungen und bizarre Sprünge belustigen, oder durch allerlei verführerische Liebesabentheuer bezauberter Prinzen und Prinzessinnen das unschuldige Gemüth beflecken, und mit seltsamen, wollüstigen Bildern verunreinigen. Dergleichen Mährchen gehören aber nicht in den Kreis der Kinderwelt, und wer sie da hineinzieht, versündigt sich an dem aufblühenden Geschlecht, und hat sich selbst die Schuld beizumessen, wenn er, anstatt zu nützen Schaden stiftet und verbildet.

Nur von guten Mährchen kann hier die Rede seyn, von solchen, die, mit Beseitigung alles Abentheuerlichen, Fratzenhaften und Gespensterartigen, die Phantasie und das Gemüth des Kindes durch reine, heitere Bilder und Begebenheiten angenehm beschäftigen, und wegen ihres moralischen Inhalts zugleich auch das sittliche Gefühl mannichfaltig wecken und beleben.

Solche Mährchen sind nie schädlich, und wer ihnen ihren Werth in der Erziehung absprechen wollte, der würde das geistige Bedürfniß des Kindes durchaus verkennen, und sich selbst eines der besten und bildendsten Unterhaltungsmittel für die Jugend berauben.

[4] Schon eine flüchtige Beobachtung lehrt uns, daß in den früheren Jahren des Lebens die Phantasie am kräftigsten sich regt, und daß das Wunderbare und Außerordentliche ihre eigentlichste Nahrung zu seyn scheint.

Die Phantasie ist dem Menschen vom Schöpfer als eine freundliche Gespielinn seines Geistes, als die vertrauteste Gesellschafterinn durchs Leben zugesellt; und in dem Triebe zum Wunderbaren liegt der Keim zur Vorahnung eines Höheren und Unendlichen außer uns, welche wiederum die Grundlage aller Religion ist.

Dieser, von dem weisesten Schöpfer selbst gemachten Einrichtung dürfen wir nicht, als etwas Fehlerhaftem, entgegenarbeiten, wir müssen vielmehr die zu höheren Zwecken dem Geiste verliehenen Anlagen mit gebührender Achtung und Sorgfalt bilden und leiten, damit sie nicht, sich selbst überlassen, ausschweifen und entarten, oder endlich ganz verloren gehen.

Und hierzu bietet sich uns kein kräftigeres und zweckmäßigeres Mittel dar, als eben das Mährchen, welches in dem Kindheitsalter der Völker entstanden, dem aufwachenden geistigen Leben des Kindes ganz vorzüglich zusagt, und seinem Bedürfniß befriedigend entgegen kommt.

[5] Daher die allgemeine Erfahrung, daß die Kinder Alles stehen und liegen lassen, uns selbst ihr liebstes Spielwerk bei Seite legen, wenn Mährchen erzählt werden; ja, es ist auffallend, daß sie ein und dasselbe Mährchen wohl hundert Mal, und mit immer gleicher Aufmerksamkeit anhören, da sie bei der Mittheilung wahrer Begebenheiten, oder sogenannter moralischer Erzählungen, nur zu bald ermüden, und Ueberdruß empfinden. Ganz natürlich! Das Kind fühlt sich nie glücklicher, als wenn es imaginirt, und sich sogar in fremde Situationen und Personen dichtet, und es erwacht daher ungern aus diesem zauberischen Traum der Wahrheit, – wie Herder sich ausdrückt.

Man befürchte übrigens gar nicht, daß dadurch die Liebe zum Wunderbaren zu sehr begünstigt, und dem Aberglauben und der Wundersucht eine schädliche Nahrung dargereicht werde! Dem aufkeimenden Kindergeiste ist Alles ein Wunder, und je mehr der Verstand über die Naturgesetze und ihre Wirkungen aufgeklärt wird, desto mehr verliert sich auch das Wunderbare, und dem Kinde bleibt späterhin nur die süße Erinnerung an die heitern Phantasie-Genüsse seines glücklichen Jugendmorgens. –

Aber das Mährchen gewährt nicht nur, neben der Bildung der Phantasie, eine ergötzliche Unterhaltung, es [6] ist auch für die sittliche Erziehung der Jugend von großer Wirksamkeit. Denn es ist nicht zu verkennen, daß in den Mährchen ein Schatz vortrefflicher Sittenlehren enthalten ist, die wegen der ansprechenden Form, in welche sie gehüllt sind, um so eher den Eingang in die jugendlichen Herzen finden, als jene trockenen Belehrungen aus irgend einem Sitten- und Tugend-Katechismus, oder die absichtlich verfaßten moralischen Erzählungen, die oft langweilig genug sind, um alles Interesse daran zu hemmen und zu tödten. Mit Recht bemerkt daher der verewigte Herder, daß in den Mährchen eine Ernte von Weisheit und Lehre liege, und daß keine andere Dichtung dem menschlichen Herzen so feine Dinge so fein zu sagen verstehe, als eben das Mährchen.


Diese Ansichten, die ich für die richtigsten halte, haben mich bestimmt, aus dem großen Vorrathe der mir zu Gebote gestandenen Mährchen diejenigen nach sorgfältiger Prüfung auszuwählen, die mir für das frühere Kindesalter die geeignetsten schienen, und sie den Aeltern und Kinderfreunden, die gern mit den geliebten Kleinen ein Stündchen, besonders im traulichen Familienkreise, verplaudern, als einen angenehmen und bildenden Stoff darzubieten: denn erzählt, oder doch frei vorgelesen müssen die Mährchen werden, wenn sie Reiz behalten, [7] und Wirkung thun sollen 1. – Wir besitzen zwar schon eine ähnliche Sammlung in zwei starken Bänden von Löhr; aber ich kann diese nicht unbedingt empfehlen. Sie enthält ein buntes Gemisch von Einheimischen und Fremdartigen, und ein großer Theil der Mährchen ist so beschaffen, daß ich Bedenken tragen würde, sie vor die Anschauung des Kindes zu bringen.

Uebrigens habe ich nicht bloß gesammelt und abgeschrieben, sondern mit mehrern der vorliegenden Mährchen, wie ich glaube, zweckmäßige Veränderungen vorgenommen, und mich bemüht, den Vortrag möglichst leicht, einfach und gemüthlich zu machen, worin die Gebrüder Grimm und ihr Namensverwandter, Alb. Ludw. Grimm, musterhaft sind.


Lehnert.

Fußnoten

1 Für die erwachsenern Kinder habe ich eine eigene Sammlung, gleichzeitig mit diesem Werkchen, herausgegeben, unter dem Titel: »Lehrreiche und unterhaltende Mährchen für die erwachsenere Jugend u.s.w.« Berlin, bei J. G. Hasselberg.

[1] 1. Frau Holle.

Eine Mutter hatte zwei Töchter, davon hieß die eineLiese, und wiewohl sie faul, ungeschickt und schmutzig war, so war sie dennoch der Liebling der Mutter, welche sie so sehr verzärtelte, daß sie keinen Finger ins Wasser stecken durfte. Die andere hießGretchen, und wiewohl diese fleißig, reinlich, ordentlich und gefällig war, so konnte ihre Mutter sie doch wenig leiden. Darum wurden alle schweren Arbeiten ihr aufgelegt, und während die faule Liese noch im Bette lag, mußte Gretchen schon die Stube auskehren, einheitzen und das Frühstück besorgen.

Einmal, als Gretchen so an den Brunnen ging, um Wasser in die Küche zu holen, fiel sie hinein, und ertrank. Da war ihr, als wenn jemand einschläft. Als sie aber erwachte, so befand sie sich im Reiche der Frau Holle, welches zwischen dem Himmel und den Wolken ist. Hier stand sie auf einer schönen Wiese, wo viel tausend Blumen blühten, und Schmetterlinge flogen, und die Sonne viel heller schien, als bei uns auf der Erde.

Gretchen ging die Wiese entlang, und kam in den Obst- und Küchengarten der Frau Holle. Hier stand nicht weit vom Fußsteige ein Backofen, worin Brot gebacken wurde, und sie hörte die Brote zischen:


Wer kommt, uns zu holen!

Sonst brennen wir zu Kohlen!


[1] »Gleich werde ich euch herausziehen!« sagteGretchen, und trat an den Backofen. Geschickt langte sie die Brote hervor, und legte sie auf ein Brett, welches daneben lag. Dann ging sie weiter, und ihr Weg führte sie zu einem Pflaumenbaume, unter welchem viele Früchte unaufgelesen im Grase umherlagen. Diese aber riefen:


Werden wir nicht aufgenommen,

So müssen wir umkommen!


»Gleich werde ich euch auflesen!« sagte Gretchen, sammelte die Pflaumen in ein Körbchen, das sie unter dem Baume stehen sah, und ging weiter. Da kam sie in den Blumengarten der Frau Holle, und sah zwei schöne Nelken auf dem Beete am Wege stehen, die ließen betrübt ihre Köpfchen hangen, denn sie hatten lange keinen Regen gehabt, und klagten:


Wer kommt, uns zu sprengen!

Sonst wird uns die Sonne versengen!


»Gleich werde ich euch begießen!« rief Gretchen, und nahm eine kleine Gießkanne, welche dabei stand, damit lief sie an den Bach, und besprengte die welkgewordenen Nelken.

Hierauf ging sie weiter, und sah mitten unter Rosengebüsch und schattigen Linden ein freundliches Haus stehen, welches die Wohnung der Frau Holle war. Da die Thüre offen stand, dachte sie: Du mußt doch einmal hineingehen, und sehen, ob da Einer wohnt? Sie trat auf den Hausflur, und rief, ob jemand da wäre? Da sie aber niemanden sah, auch keine Antwort erhielt, so ging sie weiter vorwärts in die Küche. Auch hier war kein lebendiges Wesen zu sehen oder zu hören. Mit klopfendem Herzen ging sie in die Wohnstube, auch die war leer; dann in die Schlafstube – nirgend eine Seele! Daraus schloß sie, daß die Hausfrau ausgegangen seyn müßte, und zwar gleich früh [2] Morgens: denn Stube und Kammer waren noch nicht gekehrt, das Bett nicht gemacht, der Tisch nicht abgewischt. Da dachte Gretchen: Du willst aufräumen! Sie machte das Bett, kehrte die Stube aus, stäubte den Tisch ab, und wusch das Geschirr.

Als sie fertig war, fand sie ein Strickzeug. Das nahm sie in die Hand, und setzte sich damit mäuschenstill in eine Ecke der Kammer neben dem Bette. Mittlerweile kam die Frau Holle nach Hause, und wunderte sich des Todes, daß das ganze Haus in Ordnung gebracht, das Geschirr gewaschen, und die Stuben gekehrt waren. Sie sah aber niemand, bis sie auch in die Kammer trat, und da, neben dem gemachten Bette, das schüchterne Gretchen mit ihrem Strickzeuge sitzen sah.

»Wer bist Du, Kind? Hast Du mir etwa das Haus so schön in Ordnung gebracht?« fragte Frau Holle. Weil sie nun dabei ganz freundlich aussah, auch sonst ein zutrauliches Wesen hatte, außer daß ihr ein großer Zahn aus dem Munde vorstand, so faßte sich Gretchen ein Herz, und erzählte ihr Alles, wie sie in den Brunnen gefallen und ertrunken, dann aber wieder zu sich selbst gekommen sey, und sich in diesem fremden Garten befunden habe. Sie bat dabei die FrauHolle, sie freundlich in ihr Haus aufzunehmen, sie wolle ihr gut thun, und artig und fleißig seyn.

Da sprach die Frau Holle: »Ei, ein so fleißiges und geschicktes Mädchen, als Du bist, kann ich wohl gebrauchen!« und gab ihr zu essen und zu trinken, schöner, als sie es zu Hause gehabt hatte. Sie stellte ihr ein weiches Bettchen in die Kammer, und hielt sie, als ihr eigen Kind. Gretchen aber war fleißig in Stub' und Kammer, in Küch' und Keller, auf Hof und Boden, im Feld' und im Garten, und wenn sie nicht zuweilen Heimweh nach Hause gehabt hätte, so würde ihr gar nichts gefehlt haben.

[3] Einmal aber, als die Mutter Holle gegen Mittag nach Hause kam, früher, als Gretchen sie vermuthet hatte, fand sie dieselbe mit Thränen in den Augen. Da fragte die Frau Holle, was ihr denn fehlte, und ob sie es nicht gut bei ihr hätte. Gretchen antwortete, daß sie es sich niemals besser wünschen könnte, und daß sie sich vollkommen glücklich fühlen würde, wenn sie nicht zuweilen ein zu großes Verlangen nach Hause zu ihren Aeltern hätte, daß ihr das ganze Herz in Wehmuth zerflösse.

Da sagte die Frau Holle: »Du sollst wieder zu Deinen Aeltern, mein gutes Kind! Aber es würde unbillig seyn, wenn ich Dich ohne Lohn entließe, da Du mir so treulich geholfen, und lange Zeit ehrlich und fleißig gedient hast. Komm mit mir in den Garten!«

Hier stand ein schöner Baum, dessen Blüthen waren Goldblätter, und seine Knospen Perlen. Unter diesen mußte sich Gretchen stellen, indeß die Frau Holle ihn schüttelte. Da fielen Goldblätter und Perlen auf Gretchens Kleid, daß es glänzte, wie der Himmel mit tausend Sternen. Kaum war dies geschehen, so fiel Gretchen in einen tiefen Schlaf, und als sie daraus erwachte, so war sie wieder in ihres Vaters Garten, und stand dicht neben dem Brunnen, wo sie in das Wasser gefallen war. Da sie niemanden in dem Garten sah, so ging sie nach der Gartenthüre, die nach dem Hause ihrer Aeltern führte, und trat auf den Hof. Auch hier war kein Mensch zu sehen, denn es war gerade Mittag, und sie saßen Alle bei Tische und aßen. Aber der Haushahn stand auf dem Zaun, und als der Gretchen kommen sah, erkannte er sie, schlug freudig seine Flügel zusammen, und krähete:


Kikeriki,

Unser fleißiges Gretchen ist wieder hie!


Das wiederholte er wohl drei Mal mit lautem Geschrei, [4] so daß der Vater drinnen es hörte, vom Tische aufsprang, und sagte: »Kommt hinaus, und laßt uns sehen, was draußen mit dem Hahn ist, der kräht ja, als wenn er Wunder was zu verkündigen hätte!«

Als sie nun auf den Hof kamen, siehe, da war esGretchen, welche weinend vor Freude ihrem Vater entgegenflog, und ihn umarmte, und so Alle vom Kleinen bis zum Großen. Da sahen sie Alle verwundernd an, vornehmlich die Mutter und Gretchens Schwester, und fragten, woher sie das schöne, gold- und perlenbesetzte Kleid erhalten hätte. – Nun erzählte Gretchen die ganze Geschichte, wie es ihr gegangen wäre, vom Anfang bis zu Ende.

Das erweckte Liesens Neid, und sie sagte zu ihrer Mutter, ein so schönes Kleid müßte sie auch haben, es möchte kosten, was es wolle. Da gab ihr die Mutter den Rath, sie sollte nur auch in den Garten gehen, und sich mit Fleiß in den Brunnen stürzen; dann würde sie ebenfalls in der Frau Holle Reich kommen, wo sie sich dann ein solches Kleid verdienen könnte. Das ließ sich Jungfer Lieschen gefallen, und stürzte sich mit Fleiß in den Brunnen. Da verlor sie ihre Sinne, und als sie wieder zu sich kam, da war sie richtig in dem Reiche der Frau Holle, gerade so, wie es mit ihrer Schwester geschehen war. Auch ihr zischten aus dem Backofen die Brote entgegen:


Wer kommt, uns zu holen!

Sonst brennen wir zu Kohlen!


Die faule Liese aber sagte: »Ich werde mich hüten, daß ich meine Hände in den Backofen stecke! Da könnte ich mir die Finger verbrennen!« und ging weiter.

Als sie an den Pflaumenbaum kam, unter welchem die heruntergefallenen Früchte im Grase lagen, mochten diese noch so viel rufen:


[5]

Werden wir nicht aufgenommen,

So müssen wir umkommen! –


Die faule Liese kehrte sich nicht daran, sondern sprach: »Liegt ihr nur, bis ihr verfault, ich werde mir um euretwillen keinen krummen Rücken machen!« – und ließ sie liegen.

Als sie an das Nelkenbeet kam, riefen ihr die verdorrenden Blumen entgegen:


Wer kommt, uns zu sprengen!

Sonst wird uns die Sonne versengen! –


Sie aber sagte höhnisch: »Das wäre mir gerade recht, daß ich mir die Kleider naß machte!« und ging vorbei. Als sie an das Haus der Frau Holle kam, ging sie ganz dreist durch Hausflur, Küche, Stube und Kammer, und da sie niemand darin fand, so legte sie sich auf das Bett der Frau Holle, um sich auszuruhen.

Als diese nun nach Hause kam, verwunderte sie sich, ein fremdes Mädchen auf ihrem Bette liegen zu sehen, und fragte sie, wer sie wäre? Da sagte sie, sie wäre in den Brunnen gefallen, und als sie wieder zu sich gekommen, so hätte sie sich in diesem fremden Garten befunden. Sie möchte ihr doch sagen, bei wem sie wäre? Da antwortete ihr die Alte, daß sie die Mutter Holle wäre, die den Reif auf die Erde streute, und die Schneeflocken fallen ließe.

»Kann ich wohl bei Euch bleiben?« fragte hierauf das faule Lieschen; und als es ihr die FrauHolle unter der Bedingung erlaubte, daß sie gut und fleißig wäre, so gelobte sie Alles. Aber sie hielt ihr Wort schlecht. Denn wie sie es zu Hause angefangen hatte, so setzte sie es hier fort. Des Morgens wollte sie nicht aus dem Bette; zu jeder Arbeit mußte sie getrieben werden; die Stube fegte sie nur halb rein; die Betten schüttelte sie nicht auf; das Geschirr, das[6] sie scheuerte, blieb blind und schmutzig; einen Topf über den andern warf sie entzwei, und bei Allem, was sie that, verunreinigte sie dermaßen ihre Kleider, daß man sich vor ihr ekeln mußte. Dazu war sie noch naseweis, und als einmal die Frau Holle sie wegen ihrer großen Unordentlichkeit und Faulheit ausschalt, sagte sie ganz trotzig, sie möchte sie nur zu ihrer Mutter zurückschicken, wenn sie es ihr nicht recht machte.

»Lieber heute, als morgen!« antwortete ihr FrauHolle. »Mache nur, daß Du fortkommst: denn ich habe von Dir mehr Schaden als Vortheil, und mehr Verdruß als Freude gehabt.«

Da sprach die verzogene Liese: »Ich bitte mir aber zuvor meinen Lohn dafür aus, daß ich so lange bei Euch gedient, und das Haus in Ordnung gehalten habe.«

»Den sollst Du haben!« erwiederte die FrauHolle. »Komm nur mit in den Garten!« – Da freute sich Lieschen, und meinte, daß nun der Gold-und Perlenregen auf sie fallen würde.

Als sie nun in den Garten gekommen waren, befahl ihr die Frau Holle, daß sie sich unter einen Baum stellen sollte, den sie ihr anzeigte. Als sie dies gethan hatte, schüttelte sie den Baum; aber keine Goldblätter oder Perlen fielen herab, sondern – Pech und Koth; der setzte sich so fest und dick um ihr Kleid, wie ein Mantel, und nachdem dies geschehen war, fiel sie in einen tiefen Schlaf. Als sie erwachte, befand sie sich richtig wieder in ihres Vaters Garten, dicht neben dem Brunnen, in welchen sie sich mit Fleiß gestürzt hatte. Sie sah sich nach allen Seiten um; da sie aber keinen Menschen erblickte, so nahm sie ihren Weg nach dem Hause ihrer Aeltern. Durch die Gartenthüre trat sie jetzt auf den Hof; aber auch hier sah sie niemand, denn sie saßen Alle in der Stube, und aßen Mittagbrot.

[7] Der Hahn aber, als er sie kommen sah, erhob ein großes Geschrei, wie die Hähne zu thun pflegen, wenn sie eine Eule oder sonst etwas Ungewöhnliches erblicken, flog auf den Zaun, schlug die Flügel zusammen, und krähete so laut, daß die ganze Nachbarschaft es hörte:


Kikeriki,

Unsere faule Liese ist wieder hie!


Und das that er wohl drei Mal hinter einander, so daß der Vater und die Mutter und das Gesinde das Krähen hörten, und herausstürzten, weil sie gleich vermutheten, daß Lieschen zurückgekommen seyn würde. So war es auch! Aber wie erschrak und erstaunte die Mutter, als sie ihr Töchterchen erblickte, welches kein Kleid von Gold und Perlen, sondern einen stinkenden Pechmantel um sich hatte. Der Hahn aber krähete immer fort:


Kikeriki,

Unsere schmutzige Liese ist wieder hie!

so daß sie in der ganzen Gegend zum Gespötte wurde.

2. Rothkäppchen.

Es war einmal ein kleines Bauermädchen, das alle Leute lieb hatten, weil es so hübsch, so freundlich und so zuthulich war. Vorzüglich aber liebte die Mutter das holde Kind, und fast noch mehr die Großmutter. Diese ließ ihr ein niedliches rothes Käppchen machen, und das stand der Kleinen so allerliebst, daß man sie von der Zeit an nur immer Rothkäppchen nannte.

Nun hatte eines Tages die Mutter Kuchen gebacken; da rief sie Rothkäppchen zu sich, und sagte: »Geh, [8] Kind, zur Großmutter, und bringe ihr den Kuchen und dies Töpfchen Butter: denn Großmutter ist krank, und sie wird sich freuen, Dich bei sich zu sehen. Bleibe aber immer hübsch auf dem Wege, und gehe nicht in den Wald, da wohnt der garstige Wolf, der könnte Dich beißen.«

Rothkäppchen nahm den Kuchen und das Töpfchen, und machte sich auf den Weg zur Großmutter, die hinter dem Walde wohnte.

Als sie nun unterwegs am Walde vorbeikam, schien die Sonne recht lieblich hinein, und sie sah gar schöne Blumen darin stehen. »Ach, die muß ich mir pflücken!« sagte Rothkäppchen, »so vorn im Walde wird wohl der böse Wolf nicht seyn.« Da ging sie hinein und pflückte die Blumen, und weil sie nun immer schönere Blumen sah, die sie auch gern haben wollte, so gerieth sie immer tiefer in den Wald.

Da kam der Wolf an, und wollte Rothkäppchen fressen; doch getraute er es sich nicht, weil Holzhauer in der Nähe waren. Er nahm also zur List und Verstellung seine Zuflucht, und fragte Rothkäppchen recht freundlich, wo sie denn schon so früh hin wolle?

»I nun, zur Großmutter will ich,« antworteteRothkäppchen, »die ist krank, und kann nicht aus dem Bette; da bring' ich ihr einen Kuchen und etwas Butter, welches ihr die Mutter schickt.«

»Wo wohnt denn Deine Großmutter?« fragte der Wolf weiter. Und Rothkäppchen antwortete: »Die wohnt nicht mehr weit von hier, dort hinter dem Walde im grünen Hause, unter den drei Eichen, und stehen schöne Haselhecken um den Garten, da wachsen schöne Nüsse d'rauf, die schenkt mir die Großmutter alle.«

»Schön, schön,« sagte der Wolf, »da will ich sie doch auch einmal besuchen!« Und damit lief er quer durch den [9] Wald, so schnell er konnte; Rothkäppchen aber ging ganz gemächlich ihres Weges, und pflückte sich noch manche Blume, und griff nach den bunten Schmetterlingen, die um sie herflatterten.

Der Wolf war bald vor das Haus der Großmutter gekommen. Er pochte an: Poch! poch! –

»Wer ist da?« rief die Großmutter. Und der Wolf antwortete: »Ich bin's, Euer Enkelchen Rothkäppchen; ich bringe Euch einen Kuchen und ein Töpfchen Butter, welches die Mutter Euch schickt; macht auf!« Das Alles aber sagte er so natürlich, und machte Rothkäppchens Stimme so gut nach, daß die Großmutter gar nicht zweifelte, es sey ihr Enkelchen, und hinausrief: »Schieb nur den Riegel weg, mein Kind, dann geht die Thüre von selbst auf.«

Das that auch der Wolf; und wie er nun im Hause war, da stürzte er auf die alte gute Frau los, und verschluckte sie in einem Augenblick ganz und gar: denn er hatte erschrecklichen Hunger, und in mehr als drei Tagen nichts gegessen.

Hierauf machte er die Thüre wieder zu, und zog der Großmutter Kleid an, und setzte ihre Haube tief in's Gesicht; dann legte er sich in's Bette, und zog die Vorhänge zu, damit ihn Rothkäppchen nicht so leicht kenne: denn er wollte sie auch noch fressen.

Nach einem Weilchen kam Rothkäppchen ebenfalls an, und pochte an die Thüre. »Wer ist da?« rief der Wolf mit seiner rauhen Stimme. Darüber erschrack Rothkäppchen ein wenig; doch da sie glaubte, die Großmutter möchte wohl den Schnupfen haben, so faßte sie sich wieder, und sagte: »Ich bin es, Euer Enkelchen Rothkäppchen; ich bringe Euch einen Kuchen und ein Töpfchen Butter, welches die Mutter Euch schickt; macht auf!« – Mit etwas milderem Tone sprach nun der Wolf: »Schieb nur [10] den Riegel fort, mein Kind, dann geht die Thüre von selbst auf.«

Das that Rothkäppchen; und als sie nun in die Stube trat, da kroch der Wolf tiefer in's Bette, und sagte: »Stelle den Kuchen und das Töpfchen mit Butter dort auf den Backtrog, und dann komm ein Bischen zu mir in's Bette: denn ich kann nicht aufstehen.«

Nachdem sich nun Rothkäppchen zu dem Wolfe in's Bette gelegt hatte, wunderte sie sich über das häßliche Aussehen der Großmutter, und sagte ängstlich: »Ach, Großmutter, was habt Ihr für große Ohren?«

»Daß ich Dich besser hören kann!« sagte der Wolf.

»Großmutter, was habt Ihr für große Augen?« fragte Rothkäppchen wieder.

»Daß ich Dich besser sehen kann!«

»Ach, Großmutter,« fuhr Rothkäppchen fort, »was habt Ihr für lange Beine?«

»Die hab' ich, um besser laufen zu können!«

Und wieder sprach Rothkäppchen: »Ach, Großmutter, was habt Ihr für lange Arme?«

»Um Dich besser umarmen zu können!«

»Ach, Großmutter!« rief Rothkäppchen noch ein Mal, »was habt Ihr für lange Zähne?«

»Die hab' ich, daß ich Dich besser verschlingen kann!« schrie der Wolf, und bei diesen Worten warf sich das garstige Thier über Rothkäppchen her, und verschluckte sie im Nu. Darauf, weil er zu voll war, schlief er ein, und schnarchte ganz greulich.

Während er nun so schlief, ging der Jäger vorbei, und als er die Thüren offen stehen sah, und drinnen so laut schnarchen hörte, dachte er: Was ist das? Du willst doch ein Bischen hineinsehen. Als er nun den Wolf im Bette sah, aber nicht die Großmutter, so merkte er gleich, daß [11] der Wolf die Großmutter würde gefressen haben. Aber er wollte nicht schießen, damit er die Großmutter nicht mit träfe: denn die möchte vielleicht wohl noch leben; er nahm also sein Jagdmesser, und schnitt dem Wolf den Bauch auf. Siehe, da springt erst Rothkäppchen heraus, und sagt: »Wie war ich erschrocken! es war so dunkel im Wolfsbauche.« Hierauf holt der Jäger die Großmutter auch hervor.

Da waren alle drei vergnügt; Rothkäppchen aber am meisten. »Ach,« sagte sie, »Mutter hat mich wohl gewarnt vor dem garstigen Wolfe, aber ich habe ihr nicht gefolgt; nun will ich mein Lebtage nicht wieder thun, was die Mutter verboten hat!«

3. Die Grasmücke.

Eine Grasmücke hatte einmal zwei Eier in ihr Nestchen gelegt, und war davon geflogen, um sich ein Paar Fliegen und Raupen zum Mittagessen zu holen. Es hatte sie aber ein träger Kuckuck von ihrem Neste wegfliegen sehen; da flog er hin, und warf eins von den Grasmücken-Eiern heraus, und legte dafür ein Kuckucksei hinein. Dann flog er wieder fort, und dachte: Die Grasmücke mag das Ei ausbrüten, und mein Kuckuckssöhnchen groß ziehen. Die Grasmücke hatte es aber nicht gemerkt, daß sie ein fremdes Ei in ihrem Neste habe, und brütete Tag und Nacht, bis sie nach einiger Zeit zwei junge Vögelchen ausgebrütet hatte. Sie sahen aber einander gar nicht ähnlich. Das junge Grasmückchen war gar zart gebaut, aber der junge Kuckuck hatte einen gewaltig großen Bauch, und schrie den ganzen [12] Tag: »Mutter, essen! Mutter, essen!« Und wenn die Mutter mit einer Raupe oder Fliege nach Hause geflogen kam, so schnappte der Kuckuck immer zuerst danach, so daß das kleine Grasmückchen fast nichts bekam. Er machte sich auch in dem Nestchen so breit, daß das kleine Grasmückchen keinen Platz hatte zum Sitzen.

Es waren aber noch nicht zwei Wochen vergangen, da sagte einmal der Kuckuck zum Grasmückchen: »Mache mir Platz!« Grasmückchen aber erwiederte: »Ich kann gar nicht mehr weiter rücken, du nimmst ja das ganze Nestchen allein ein!« – »Mache mir Platz!« schrie der Kuckuck, »oder ich fresse Dich!«

Da setzte sich klein Grasmückchen auf den Rand des Nestes, und hielt sich mit dem Schnabel fest; aber der Kuckuck schüttelte und rüttelte sich, daß das kleine Grasmückchen sich nicht mehr halten konnte, und hinunterfiel auf den Boden: denn seine Flügel waren noch nicht gewachsen.

Es ging aber ein kleiner Knabe unten am Bäumchen vorbei, der hörte das Grasmückchen schreien, und nahm es mit sich nach Hause, und fütterte es mit Würmern und Brosamen, und das Grasmückchen wuchs, und ward stark und munter. Es flog aber in der Stube umher, und fraß die Fliegen, und zwitscherte und sang gar munter und lustig. Wenn ihm aber der kleine Knabe rief: »Grasmückchen, komm!« so flog das Grasmückchen herbei, und setzte sich auf seinen Finger.

Grasmückchen lebte bei dem Knaben den Herbst und Winter über, und ergötzte Alle durch seine Fröhlichkeit und sein munteres Wesen. Als aber im Frühjahr der Schnee von den Bergen geschmolzen war, und die Erde wieder anfing, grün zu werden, die Bäume Blätter bekamen, die Vögel lustig darein sangen, und die Sonne so freundlich zum Fenster herein schien; da ward es dem Grasmückchen zu enge [13] in dem kleinen Stübchen, und es wäre gar gerne draußen gewesen in dem grünen Walde bei seiner Mutter. Der Knabe merkte sein Begehren, und öffnete ihm das Fenster. Da flog es hinaus zu dem Bäumchen, wo seiner Mutter Nest gestanden hatte; aber es war nicht mehr da; auf dem Boden aber lagen Heu, Pferdehaare und ausgerupfte Federn umhergestreut, und es sah, daß jemand das Nest zerrissen haben mußte. Darüber betrübte sich Grasmückchen sehr, und flog in den Wald hinein, und fragte nach bei allen Vögeln, ob sie seine Mutter nicht gesehen hätten. Aber niemand konnte ihm etwas von ihr sagen. – Mit der alten Grasmücke aber war es also zugegangen.

Nachdem nämlich der Kuckuck das Grasmückchen aus dem Neste geworfen hatte, war die Mutter nach Hause gekommen, und fragte den Kuckuck, wo klein Grasmückchen sey. Der aber sagte: »Ja, das ist ein recht boshaftes Kind; es hat mich aus dem Neste jagen wollen, ich habe mich aber gewehrt, und da ist es davongeflogen.« Die alte Grasmücke hatte das geglaubt, und war fortgeflogen, um dem Kuckuck Fressen zu holen. Der war aber gar nicht mehr zu sättigen, und die alte Grasmücke wurde ganz matt vom vielen Hin- und Herfliegen.

Als sie aber eines Abends sehr müde nach Hause gekommen war, wollte der Kuckuck, daß sie noch ein Mal ausflöge; sie aber ward unwillig, und sagte: »Du kannst satt seyn für heute, du fauler Vielfraß; warte bis morgen!« Da riß er seinen Schnabel ganz schrecklich auf, und sagte: »Wenn Du mir nicht gleich zu essen giebst, so fresse ich Dich.« Da fürchtete sich die alte Grasmücke, und flog davon. Als aber am andern Morgen der Kuckuck sah, daß die alte Grasmücke nicht mehr zurückkommen wollte, sah er sich gezwungen, jetzt selbst seine Nahrung zu suchen; er[14] flog darum aus dem Neste, zerriß es aber aus Bosheit, und warf es auf die Erde.

Die alte Grasmücke hatte ihr Grasmücken-Töchterchen überall aufgesucht, hatte es aber nicht finden können. Da flog sie auf einen Busch, dessen Blätter hatte ein Knabe mit Vogelleim bestrichen. Als sie nun wegfliegen wollte, konnte sie nicht; da fing sie an zu schreien und mit den Flügeln zu schlagen, aber sie konnte nicht loskommen; und der Knabe lief herzu, nahm sie, und setzte sie in einen Käfig. Er gab ihr aber zu essen und zu trinken, und behielt sie den Herbst und Winter über bei sich.

Unterdessen hatte auch klein Grasmückchen seine Mutter vergeblich gesucht. Da kam sie einmal zu einer Nachtigall, die sagte: »Ich will Dir einen guten Rath geben. Wir reisen jetzt bald in das Land nach Mittag zu, da gehe Du mit uns, vielleicht findest Du Deine Mutter.« Grasmückchen war damit zufrieden, und als es Nacht war, flog es mit den Nachtigallen fort, die wurden von einer Königinn angeführt. Sie flogen nur des Nachts, am Tage aber schliefen sie in einem dichten Gehölze, oder sie suchten ihre Nahrung, und aßen und tranken.

Nachdem sie über ein großes Meer geflogen waren, kamen sie in ein Land, das lauter Sand war, so weit man sehen konnte. Ganz am Ende aber sah man einen erhabenen Punkt; das war eine Insel in dem Sandmeere, die grünte das ganze Jahr, während rings herum alles verdorrt und erstorben war. Mitten auf der Insel war eine kleine Quelle, die floß aus einem Felsen heraus, und lief über eine Wiese; als sie aber in den Sand kam, versiegte sie plötzlich vor der großen Hitze. Auf der Insel hingegen war es kühl und schattig, und die Nachtigallen sangen wunderschön, und wenn sie gesungen hatten, badeten sie sich in dem klaren Wasser.

[15] Grasmückchen suchte vergeblich nach seiner Mutter, sie war nirgend zu finden. Die Nachtigallen blieben aber so lange hier, bis in ihrer Heimath der Winter vorbei war, und auf der Insel der Herbst anfing; da flogen sie wieder zurück, die Nachtigallen-Königinn aber flog voraus.

Ehe sie nun über das große Meer flogen, machten sie einmal Halt, und setzten sich am Ufer nieder, um Kräfte zur Ueberfahrt zu sammeln. Da scharrte Grasmückchen ein wenig im Sand, und fand zwei schwarze, glänzende Kugeln. Die, dachte sie, will ich mitnehmen, und will sie dem Knaben schenken, der mich gefüttert und gepflegt hat. Sie nahm sie also in ihre Klauen, und flog mit ihnen über das Meer in ihre Heimath.

Als sie hier ankam, war auch der Frühling gekommen. Da schien nun die Sonne so freundlich durch das Fensterlein, hinter welchem Grasmückchens Mutter im Käfig gefangen saß; sie wäre aber gar gerne draußen gewesen in der frischen, freien Luft. Das merkte der Knabe, und hing den Käfig vor das Fenster, und die Grasmücke wurde gar lustig und munter. Da sah sie eine andere Grasmücke herbeifliegen, die hatte zwei schwarze Kugeln in ihren Krallen; es war aber ihr Töchterlein, das junge Grasmückchen. Da rief sie schnell: »Mach auf, mach auf!« Das kleine Grasmückchen schob schnell den Riegel vor dem Thürchen zurück, und husch! flog die Alte heraus. Als sie sich nun einander wieder sahen, da weinten beide vor Freude, und erzählten sich auf einem nahen Baume Alles, was ihnen seitdem begegnet war.

Hierauf sagte die Alte: »Willst Du nicht dem Knaben, der mich den ganzen Winter über gefüttert hat, eine von den Kugeln schenken? Du hast ja noch eine.«

»Ach, ja!« sagte klein Grasmückchen, und flog hin zum Käfig, und legte die eine Kugel in's Nestchen. Dann [16] flogen sie fort zu dem Knaben, der klein Grasmückchen gepflegt hatte, und dies warf ihm die andere Kugel zum Fenster hinein. Als sie aber auf den Boden fiel, zerbrach sie in zwei Stücke, und es fiel aus der Höhlung ein Diamant heraus, der glänzte wie Feuer. Den fand der Knabe, und sein Vater trug ihn in die Stadt, und verkaufte ihn für vieles Geld, so daß der Knabe sehr reich wurde.

Der andere Knabe hatte unterdessen auch seine Kugel gefunden, und betrachtete sie lange, und hielt sie für ein Ei. »Das will ich ausbrüten lassen,« sagte er, »darin muß ein sonderbarer Vogel stecken!«

Während er nun so die Kugel in der Hand betrachtete, hörte er an dem Busch, der mit Vogelleim bestrichen war, ganz gewaltig schreien. Er lief schnell hinaus, um zu sehen, was es dort gäbe; und siehe da! es hatte sich ein großer Kuckuck in dem Vogelleim festgeklebt. Das war derselbe, der die junge und die alte Grasmücke aus dem Nest getrieben hatte. Da nahm ihn der Knabe, und setzte ihn auf das Nest in seinem Käfig, und sagte: »Jetzt brüte mir einmal das Ei aus!« Der Kuckuck aber, weil er sonst gar nichts zu thun hatte, brütete und brütete in einem fort; da zerplatzte endlich auf ein Mal das Ei. Statt eines Vögelchens kam aber eine junge Schlange heraus, die wickelte sich um seinen Hals und erwürgte ihn; darauf schlüpfte sie zum Käfig hinaus, und verkroch sich in die Erde.

Die beiden Grasmücken aber bauten sich ihr zerrissenes Nestchen, und lebten noch lange in Friede und Eintracht bei einander.

[17] 4. Schneeweißchen und Rosenroth.

Eine arme Wittwe lebte in einem kleinen Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, wovon das eine weiße und das andere rothe Rosen trug. Und sie hatte zwei Kinder, die glichen den Rosenbäumchen, und das eine hießSchneeweißchen und das andere Rosenroth. Sie waren aber beide so fromm und so gut, so arbeitsam und unverdrossen, als noch jemals zwei Kinder auf der Welt gewesen sind. Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenroth; das sprang lieber in den Wiesen und Feldern nach Blumen und Sommervögeln, während Schneeweißchen daheim bei der Mutter saß, und ihr etwas vorlas, oder ihr im Hauswesen half. Sie hatten aber doch einander sich so lieb, daß, wenn sie zusammen gingen, sie sich an den Händen faßten, und sagten: »Wir wollen uns niemals verlassen!« Und die Mutter sprach dann: »Was die Eine hat, das soll sie mit der Andern theilen.«

Oft waren sie allein im Walde, wenn sie rothe Beeren sammelten; aber kein Thier that ihnen etwas zu Leide, sondern war ganz vertraulich mit ihnen. Manches Häschen nahm ein Kohlblatt aus ihren Händen, das sie ihm mitgetheilt hatten, und manches Rehkälbchen kam, und wollte bei ihnen grasen. Kein Unfall betraf sie, und wenn sie sich verspäteten, und die Nacht sie überfiel, so faßten sie sich einander an, und schliefen, bis der Morgen kam, und die Mutter wußte das, und hatte keine Sorge um sie.

Einmal, als sie so im Walde erwachten, sahen sie ein fremdes, schönes Kind, schneeweiß gekleidet, das sich vor sie hingesetzt hatte, damit sie in der Dunkelheit ja keinen Schritt weiter thäten, weil sie sonst in einen Abgrund hinabgefallen [18] wären. Es stand auf, sah sie freundlich an, sprach aber nicht, und ging dann in den Wald hinein. Als sie nach Hause kamen, erzählten sie der Mutter von dem lieblichen Kinde, das sie gesehen hätten; die Mutter aber sagte ihnen, das wäre der Engel gewesen, der sie behüte und für sie wache.

Die beiden Mädchen halfen der Mutter, so viel sie konnten, und machten ihr manche stille unverhoffte Freude. Sie hielten das Hüttchen so rein, daß es eine Lust war, anzusehen. Im Sommer besorgte Rosenroth das Haus, und alle Morgen, wenn die Mutter aufwachte, stand ein schöner Blumenstrauß vor ihrem Bette, und von jedem Bäumchen eine Rose. War es weiter, so zündete Schneeweißchen das Feuer auf dem Heerde an, und hing den Kessel an den Feuerhaken; der Kessel aber war von Messing, und so rein, daß er wie Gold glänzte. Abends, wenn die Flocken fielen, sagte die Mutter: »Geh' hin, Schnee weißchen, und schieb' an der Hausthür den Riegel vor!« und dann setzten sie sich an den Heerd; die Mutter nahm die Brille, und las aus einem großen Buche vor, und die beiden Mädchen spannen und näheten; neben ihnen aber lag auf dem Boden ein Lämmchen, und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen, und hatte seinen Kopf unter die Flügel gesteckt.

Nun begab es sich eines Abends, als sie beisammen saßen, daß jemand an die Thüre pochte, als wollte er eingelassen seyn. Da sprach die Mutter: »Mach auf, Rosenroth, es wird ein Wandrer seyn, der Obdach sucht!« Rosenroth ging, und schob den Riegel weg; aber es war kein Mensch, der eintrat, sondern ein schwarzer Bär streckte seinen dicken Kopf zur Thüre herein. Rosenroth schrie laut auf, und sprang zurück; das Lämmchen blökte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter der Mutter Bette. Aber der Bär fing an zu [19] sprechen, und sagte: »Fürchtet euch nicht, ich thue euch nichts zu Leide, ich will mich nur ein wenig an eurem Feuer wärmen!« – »So leg' dich nur da hin!« antwortete die Mutter, und rief die Kinder, und sprach: »Schneeweißchen! Rosenroth! kommt nur her, der Bär thut euch nichts, er meint's ehrlich.« Da kamen die Kinder herbei, und das Lämmchen und das Täubchen verloren auch die Furcht, und näherten sich. Nach einem Weilchen sagte der Bär: »Seyd doch so gut, ihr Kinder, und klopft mir den Schnee aus meinem Pelzwerk heraus.« Sie holten den Besen, und kehrten den Bär ab, der streckte sich hin, und brummte ganz vergnügt. Sie wurden endlich recht vertraulich mit einander; sie zauseten sein Fell mit den Händen, oder setzten ihre Füßchen auf ihn, und walgerten ihn hin und her; oder holten eine Gerte, und schlugen damit auf ihn los. Der Bär ließ sich dies Alles gefallen, nur wann sie's gar zu arg machten, rief er: »Laßt mich nur am Leben,


Schneeweißchen, Rosenroth,

Schlägst dir den Freier todt!«


Als Schlafenszeit war, und die Mutter mit den Kindern zu Bette ging, sagte jene zum Bär: »Du kannst in Gottes Namen da am Heerd liegen bleiben, so bist du vor dem Wetter geschützt.« Am andern Morgen, als es Tag war, ließen ihn die Kinder wieder hinaus, und er trabte, über den Schnee fort, in den Wald.

Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde, und legte sich an den Heerd, und sie waren so gewöhnt an ihn, daß des Abends nicht eher zugeriegelt wurde, als bis der schwarzbraune Gast angelangt war.

Als das Frühjahr herangekommen, und draußen Alles grün war, sagte der Bär eines Morgens: »Nun muß ich fort, und darf den ganzen Sommer nicht wieder kommen.« Da fragte Schneeweißchen: »Wo gehst du hin?« – [20] Und der Bär antwortete: »Ich muß in den Wald, und meine Schätze vor den Zwergen hüten; im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie unten bleiben, und können nicht durchbrechen; aber jetzt steigen sie heraus, suchen und stehlen, und was sie einmal in ihre Höhlen getragen haben, das kommt so leicht nicht wieder an den Tag.«

Da öffnete ihm Schneeweißchen die Thüre, und als der Bär sich hinausdrängte, blieb er an einem Thürhaken hangen, und ein Stück von seiner Haut riß auf, und da war es Schneeweißchen, als hätte es Gold durchscheinen gesehen; aber es wußte es nicht recht, weil der Bär eilig fortgelaufen war.

Nach einiger Zeit sagte die Mutter: »Geht, Kinder, und sammelt Reisig, unser Vorrath ist bald zu Ende.« Da gingen die Kinder, und als sie draußen im Walde waren, sahen sie einen großen Baum, der gefällt auf der Erde lag, und an dem Stamme, zwischen dem Grase, sprang etwas auf und ab; sie konnten aber nicht unterscheiden, was es war. Sie traten näher hinzu, und sahen einen Zwerg mit einem alten und verwelkten Gesicht und einem ellenlangen Bart, der schneeweiß war. Aber das Ende des Barts war in eine Spalte des Baumstammes eingeklemmt, und der Kleine sprang hin und her, wie ein Hündchen an einem Riemen, und wußte nicht, wie er sich helfen sollte. Er glotzte die Mädchen mit seinen rothen, feurigen Augen an, und rief: »Was steht ihr da; könnt ihr nicht herbeikommen, und mir Beistand leisten?«

»Was hast du denn angefangen, du kleines Männchen?« fragte Rosenroth.

»Neugierige Geschöpfe!« antwortete der Zwerg. »Den Baum habe ich mir spalten wollen, um kleines Holz zum Kochen zu holen, bei einem dicken Klotz verbrennt gleich das Bischen Speise, das unser einer braucht. Ich hatte einen [21] Keil hineingetrieben, aber das verwünschte Holz muß zu glatt gewesen seyn, da sprang er wieder heraus, und der Baum fuhr wie der Blitz zusammen, und ich konnte nicht geschwind wieder zurück, da ist das Ende von meinem schönen Bart stecken geblieben.« Da lachten die Mädchen. »Ja, ja, ihr habt gut lachen mit euren albernen, glatten Milchgesichtern,« sagte der Zwerg, »pfui, wie garstig seyd ihr! Kommt, und helft mir doch.« Die Kinder zogen nun an den Bart, aber umsonst, er steckte zu fest. »Ich will laufen, und Leute holen!« sprach Rosenroth. »Ei was!« schnarrte der Zwerg; »wer wird gleich Leute herbei rufen, das wäre mir gelegen; wißt ihr keinen bessern Rath?«

»Warte,« sprach Schneeweißchen, »ich will dir helfen!« Da nahm sie ihre Scheere aus der Tasche, und schnitt das Ende des Barts ab. Als der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack Gold, der unter dem Baume lag, und brummte: »Ihr dummen Gänse, schneidet mir ein Stück von dem prächtigen Barte ab, lohn's euch der Kuckuck!« Bei diesen Worten schwang er den Sack auf seinen Rücken, und ging fort, ohne den Kindern Dank zu sagen, oder sie nur einmal anzusehen.

Ein ander Mal wollten Schneeweischen und Rosenroth ein Paar Fische zum Abendessen mit der Angel fangen. Als sie sich dem Bache näherten, sahen sie, daß etwas, wie eine Heuschrecke, in großen Sprüngen nach dem Wasser zu hüpfte, als wolle es hinein. Sie liefen herzu, und erkannten den Zwerg. »Was hast du vor?« fragte Rosenroth. – »Seht ihr denn nicht? der verwünschte Fisch zieht mich in's Wasser!« – Der Kleine hatte geangelt, und der Wind seinen Bart in die Angelschnur verflochten; da hatte unglücklicher Weise ein großer Fisch angebissen, und der Zwerg war nicht mächtig genug, ihn heraus zu ziehen; sondern der Fisch behielt die Oberhand, [22] und zog den Zwerg zu sich. Zwar hielt sich dieser an allen Halmen und Binsen fest, aber es half nichts, er mußte dem Fische folgen, und einen Sprung nach dem andern machen.

Die guten Kinder kamen noch zu rechter Zeit, und hielten den Kleinen fest: denn ein wenig später, so lag er im Wasser, und es war um ihn geschehen. Sie versuchten, den Bart von der Angelschnur frei zu machen; aber es war nicht möglich, so sehr waren beide in einander verwirrt. Es blieb nichts anders übrig, als daß sie die Scheere wieder hervorholten, und den Bart abschnitten; dabei ging aber ein kleiner Theil desselben verloren. Als der Zwerg das sah, schrie er sie an: »Ihr Lorche! ist das Manier, einem das Gesicht zu schänden? Erst habt ihr mir den Bart unten abgestutzt, jetzt schneidet ihr den schönsten Theil davon weg; ich darf mich ja vor den Meinigen nicht sehen lassen! So wollt' ich, daß ihr laufen müßtet, bis ihr die Schuhsohlen verloren hättet!« Dann griff er nach einem Sack Perlen, der da im Schilfe lag, und schleppte ihn, ohne weiter ein Wort zu sagen, fort, und verschwand hinter einem Stein.

Abermals, nicht lange darnach, schickte die Mutter die beiden Kinder nach der Stadt, um Zwirn und Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen. Als sie auf einer Haide anlangten, auf welcher hier und da große Felsenstücke lagen, sahen sie einen großen Vogel in der Luft, der langsam in Kreisen sich über ihnen schwang, und dann sich immer tiefer senkte, bis er endlich vor einem Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie ein ganz erbärmliches Geschrei. Sie liefen herbei, und sahen mit Erstaunen, daß der Adler den wohlbekannten Zwerg gefaßt hatte, welcher eben aus einer Oeffnung im Stein hervorgestiegen war, und daß er ihn forttragen wollte. Die mitleidigen Kinder packten gleich das [23] Männchen fest, und zerrten sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute mußte fahren lassen.

Als der Zwerg sich vom ersten Schrecken erholt hatte, sprach er: »Konntet ihr mich auch nicht säuberlicher angreifen! gerissen habt ihr an meinem Röckchen, daß es Löcher bekommen hat an mehr als Einer Stelle.« Da nahm er einen Sack mit Edelsteinen, und schlüpfte wieder in seine Höhle. Die Mädchen waren schon an seinen Undank gewöhnt, setzten ihren Weg schweigend fort, und verrichteten in der Stadt ihre Geschäfte.

Als sie beim Heimkehren wieder auf die Haide kamen, überraschten sie den Zwerg, der wohl gedacht hatte, es würde so spät niemand mehr des Weges gehen. Er hatte sich ein reinliches Plätzchen ausgesucht, und seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet. Da lagen sie rings herum, und weil die Abendsonne darüber hin schien, schimmerten sie so prächtig in allen Farben, blau, roth, grün und gelb, daß die Kinder stehen blieben, und sie betrachteten.

»Was steht ihr da, und habt Maulaffen feil!« schrie der Zwerg ärgerlich, und wollte sie weiter ausschelten, als er etwas brummen hörte, und in dem Augenblick auch ein Bär aus dem Walde hervortrabte.

Erschrocken sprang der Zwerg auf, und wollte entfliehen; aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen; der Bär war schon zu nahe. Da rief er in der Herzensangst: »Lieber Herr Bär, verschont mich, ich will Euch alle meine Schätze geben, alle die Edelsteine, die da liegen. Was habt Ihr an mir kleinen Kerl; Ihr spürt mich nicht einmal in Euern Zähnen, aber die beiden Mädchen da, das ist ein zarter Bissen, fett wie die Wachteln! Die freßt in Gottes Namen!« Der Bär kümmerte sich aber um seine Worte nicht, und gab dem boshaften Geschöpfe [24] einen einzigen Schlag mit der Tatze; er fiel nieder, und regte sich nicht mehr.

Die Mädchen waren fortgesprungen; aber der Bär rief ihnen nach: »Schneeweißchen! Rosenroth! fürchtet Euch nicht, bleibt stehen, und wartet, ich will mit Euch gehen.« Sie erkannten sogleich die Stimme ihres alten Freundes, und blieben stehen. Da lief er herzu, und als er bei ihnen war, fiel die Bärenhaut von ihm ab, und ein prächtiger, ganz in Gold gekleideter, Königssohn stand vor ihnen, und erzählte, er sey verwünscht worden, und erst durch den Tod des bösen Zwergs erlöst.

Und Schneeweißchen ward seine Gemahlinn, und Rosenroth mit dem Bruder des Königs vermählt, und ward eben so reich: denn sie erhielt das Gold, die Perlen und Edelsteine, die der Zwerg in seine Höhle zusammengetragen hatte.

Und die alte Mutter zog nun zu ihren Töchtern, und lebte recht zufrieden und glücklich. Die beiden Rosenstöckchen hatte sie aber mitgenommen, und sie standen vor ihrem Fenster, und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen – weiß und roth.

5. Aschenbrödel.

Es war einmal ein reicher Mann, der lebte lange Zeit vergnügt mit seiner Frau, und sie hatten ein einziges Töchterchen zusammen. Da ward die Frau krank, und als sie sterben wollte, rief sie ihre Tochter, und sagte: »Liebes Kind, ich muß dich verlassen; aber wenn ich oben im Himmel bin, will ich auf dich herabsehen. Pflanz' ein Bäumlein [25] auf mein Grab, und wenn du etwas wünschest, schüttle daran, so sollst du es haben, und wenn du sonst in Noth bist, so will ich Dir Hülfe schicken, – nur bleibe fromm und gut.« Nachdem sie das gesagt, that sie die Augen zu und starb. Das Kind aber weinte, und pflanzte ein Bäumlein auf ihr Grab, und besuchte es fleißig.

Der Schnee deckte ein weiß Tüchlein auf der Mutter Grab, und als die Sonne es wieder weggezogen hatte, und das Bäumchen zum zweiten Male grün geworden war, da nahm sich der Mann eine andere Frau. Die Stiefmutter aber hatte schon zwei Töchter von ihrem ersten Manne, die waren von Angesicht schön, von Herzen aber stolz und böse.

Als nun die Hochzeit gewesen, und alle drei in das Haus gefahren kamen, da ging schlimme Zeit für das arme Kind an. »Was macht der garstige Unnütz da in der Stube?« sagte die Stiefmutter. »Fort mit ihr in die Küche! wenn sie Brot essen will, muß sie es erst verdient haben; sie kann unsere Magd seyn.«

Da nahmen sie der Stieftochter die Kleider weg, und zogen ihr einen alten, grauen Rock an. »Der ist gut für dich!« sagten sie, und lachten sie aus, und führten sie in die Küche. So mußte das Kind die schwersten Arbeiten thun, früh aufstehen, Wasser tragen, Holz holen, Feuer anmachen, kochen, waschen, wobei ihr die Stiefschwestern noch das ausgesuchteste Herzeleid anthaten, sie verspotteten und ihr Erbsen und Linsen in die Asche schütteten, die sie wieder auslesen mußte. Wenn sie sich nun des Tages müd' und matt gearbeitet hatte, und der Abend kam, so durfte sie in kein Bett sich legen, sondern mußte in der Küche bleiben, und sich daselbst neben dem Heerde in die Asche legen. Und weil sie dabei immer in Staub und Kohlen umherwühlte, und schmutzig aussah, so gaben sie ihr den Schimpfnamen:Aschenbrödel.

[26] Nun stellte der König einmal eine große Tanzlustbarkeit an, die sollte in aller Pracht drei Tage dauern. Dazu wurden alle schönen Töchter des Landes von fern und von nahe eingeladen: denn der Prinz sollte sich dabei eine Braut aussuchen. Und zu diesem Feste wurden auch die zwei stolzen Schwestern eingeladen.

»Aschenbrödel, komm herauf,« hieß es da, »kämm' uns die Haare, bürst' uns die Schuh', und schnalle sie fest. Wir gehen auf das Schloß zum Tanz bei dem Prinzen.«

Aschenbrödel gab sich alle Mühe, und putzte sie, so gut sie konnte. Aber immer konnte sie es nicht recht machen, sondern bekam Schelte und Stöße, und als sie fertig waren, fragten sie spöttisch: »Aschenbrödel, willst du nicht mit zum Tanze?« – »Ach, wie dürfte ich mich da sehen lassen«, antwortete sie traurig, »ich habe ja keine Kleider.« – »Ja, das wäre mir recht,« sagte hierauf die Aelteste, »wenn du da aufträtest. Wir müßten uns schämen, wenn die Leute hörten, daß du unsere Schwester wärest. Du gehörst in die Küche, und damit dir unterdessen die Zeit nicht lang währe, will ich dir Arbeit geben.« – Und hiermit schüttete sie einen Haufen Linsen auf den Feuerheerd mit den Worten: »Wenn wir nach Hause kommen, müssen die gelesen seyn, sonst kriegst du deine Strafe.«

Damit fuhren sie auf das Schloß; Aschenbrödel aber stand, und sah ihnen nach, und als sie nichts mehr sehen konnte, ging sie traurig in die Küche an ihre Linsen. Als sie sah, daß es ein so großer Haufe war, so seufzte sie: »Ach, daran muß ich lesen bis Mitternacht, und darf die Augen nicht zufallen lassen. O wenn das meine Mutter wüßte!« Da steckte sie ihr Lämpchen an, kniete nieder vor dem Heerd, fing an die Linsen zu verlesen, und weinte bitterlich.

Auf einmal flogen zwei schneeweiße Täubchen durch [27] das Fenster in die Küche, setzten sich neben die Linsen auf den Heerd, nickten mit dem Köpfchen, und sagten: »Aschenbrödelchen, sollen wir dir helfen?« – »Ja!« antwortete sie,


»Die schlechten in's Kröpfchen,

Die guten in's Töpfchen!«


Und pick, pick, pick, pick, fingen sie an, und fraßen die schlechten weg, und ließen die guten liegen, und in einer Viertelstunde waren die Linsen so rein, daß auch keine unreife oder wurmstichige darunter war, und Aschenbrödel konnte sie alle in's Töpfchen streichen. Darauf sagten die Täubchen: »Willst du nicht deine Schwestern tanzen sehen? So komm, und mische dich unter die Zuschauer.«

Da ging sie hin nach dem Schlosse, und sah durch die Fenster, und wurde ganz verblendet durch den hellen Schein, den die vielen tausend Lichter von den goldenen und krystallenen Kron- und Armleuchtern umherwarfen, und von den schönen Kleidern, womit die Tänzerinnen geschmückt waren, unter denen sie auch ihre Schwestern erkannte.

Als sie sich nun satt gesehen hatte, schlich sie sich heimlich und ungesehen wieder nach Hause, und legte sich mit schwerem Herzen nieder neben dem Feuerheerd, und schlief da ein in der Asche.

Am andern Morgen kamen die zwei Schwestern in die Küche, und als sie sahen, daß Aschenbrödel die Linsen ganz rein gelesen, war es ihnen nicht einmal recht: denn sie hätten gern Ursache gefunden, sie zu schelten, und da sie das nicht konnten, fingen sie an, von dem Tanzfeste zu erzählen, und sagten: »Aschenbrödel, die Lust hättest du sehen sollen! Der Prinz, der allerschönste von der Welt, hat uns zum Tanze geführt, und eine von uns wird seine Gemahlinn werden.« – »Ich habe es gesehen,« antwortete Aschenbrödel. – »Wie bist du dazu gekommen?« fragten [28] die Schwestern. Da erzählte sie, wie sie unter den Zuschauern gestanden habe. Das gönnten sie ihr aber auch nicht, und nahmen sich vor, ihr künftig so viel Arbeit zu geben, daß sie nicht viel Zeit hätte, zuzusehen.

Jetzt aber mußte Aschenbrödel sie wieder kämmen, schnüren und putzen, und als sie damit fertig war, schüttete ihr die Aelteste einen ganzen Sack Erbsen auf den Heerd, und sprach: »Da, lies die guten und die schlechten aus einander, so daß auch nichteine schlimme dabei bleibt, sonst schütte ich sie dir morgen in die Asche, und du mußt hungern, bis du sie alle ausgesucht hast!« Damit fuhr die Mutter mit ihren Töchtern wieder auf das Schloß.

Aschenbrödel aber setzte sich wieder an den Heerd, und weinte: »Wie werd' ich fertig werden? Wenn das meine selige Mutter wüßte!« Mit einem Male flogen die weißen Täubchen wieder herein, setzten sich freundlich auf den Heerd, und fragten: »Sollen wir dir helfen?« – »Ja,« antwortete das Mädchen,


»Die schlechten in's Kröpfchen,

Die guten in's Töpfchen!«


Und nun ging's pick, pick, pick, pick, so geschwind, als wären zwölf Hände da. Im Umsehen waren die Erbsen verlesen, und da hieß es: »Aschenbrödelchen, willst du mit auf das Schloß zum Tanze?« – »Ei, wie könnt' ich,« erwiederte das gute Mädchen ganz betrübt, »in meinen schmutzigen Kleidern?« – »Geh' nur zu dem Bäumlein auf deiner Mutter Grabe, und rüttle und schüttle daran, und wünsche dir schöne Kleider. Aber kommvor Mitternacht wieder.«

Da ging Aschenbrödel hinaus, und schüttelte das Bäumchen, und sprach:


»Bäumlein, rüttl' und schüttle dich,

Wirf schöne Kleider herab für mich!«


[29] Und kaum, daß sie dies gesagt hatte, so lag das schönste seidene Kleid vor ihr, mit Silberkanten und Perlen besetzt, dazu die kostbarsten Schuhe und seidene Strümpfe, und Alles, was sonst dazu gehört.

Aschenbrödel trug Alles nach Hause, und wusch sich, und zog sich an; da war sie so schön, wie eine Rose, die der Thau gewaschen hat. Und als sie vor die Hausthür trat, so stand da ein prächtiger Wagen mit sechs weißen Pferden bespannt, und Kutscher und Bediente dabei mit Tressenkleidern und Federbüschen, die hoben sie hinein, und so fuhr sie fort nach dem Schlosse des Königs.

Der Prinz aber, als der Wagen vor der Thüre hielt, meinte, es käme eine vornehme, fremde Prinzessinn. D'rum ging er ihr entgegen, und führte sie in den Tanzsaal. Und als da der Glanz der viel tausend Lichter auf sie fiel, so staunten Alle sie an wegen ihrer Schönheit und ihrer kostbaren Kleider. Auch ihre Schwestern sahen sie, und beneideten sie, erkannten sie aber nicht, daß es Aschenbrödel wäre, sondern meinten, die säße zu Hause am Feuerheerde, und verläse die Erbsen.

Der Prinz aber tanzte viel mit Aschenbrödel, und man merkte wohl, daß sie ihm von Allen, welche da waren, am besten gefiel. Als aber Mitternacht kam, ehe es zwölf schlug, da neigte sie sich, und so viel auch der Prinz bat, so wollte sie doch nicht länger bleiben, darum begleitete er sie an den Wagen, und sie fuhr davon, und so viel er forschte und nachfragte, so konnte ihm doch niemand sagen, wer sie wäre und woher sie gekommen?

Als Aschenbrödel zu Hause war, ging sie wieder zu dem Bäumlein auf der Mutter Grabe, und sprach:


»Bäumlein, rüttl' und schüttle dich,

Heb' die Kleider auf für mich!«


Da nahm der Baum die Kleider wieder, undAschenbrödel [30] hatte ihr altes Aschenkleid an; damit ging sie zurück, machte sich das Gesicht staubig, und legte sich in die Asche schlafen.

Am Morgen darauf kamen die Schwestern, sahen verdrießlich aus, und sagten nichts. Da fragteAschenbrödel, ob sie den Abend eben so vergnügt gewesen wären, als den ersten? »Nein,« gaben sie zur Antwort. »Da war eine fremde Prinzessinn, mit der hat der Prinz fast in einem fort getanzt, es hat sie aber niemand gekannt, oder gewußt, woher sie gekommen.« –

»Ist es vielleicht die gewesen in dem prächtigen Wagen mit den sechs Schimmeln?« fragteAschenbrödel. »Woher weißt du das?« sagten die Schwestern. – »Nun, ich stand in der Thür, und sah sie vorbeifahren!« erwiederte Aschenbrödel. Da sagte die Aelteste, und sah dabeiAschenbrödel grimmig an: »In Zukunft bleibe bei deiner Arbeit; was brauchst du in der Thüre zu stehen?«

Aschenbrödel mußte nun zum dritten Male die Schwestern putzen, und zum Lohn schütteten sie ihr einen dreimal größeren Haufen Erbsen auf den Heerd, und da hieß es: »Die sollst du verlesen, und daß du dich nicht unterstehst, von der Arbeit wegzugehen!«

Aschenbrödel gedachte: Wenn nur meine Tauben nicht ausbleiben! und dabei schlug ihr das Herz nicht wenig. Die Tauben aber kamen, wie an dem vorigen Abend, und fragten: »Sollen wir dir helfen?« – »Ja!« sagte Aschenbrödel,


»Die schlechten in's Kröpfchen,

Die guten in's Töpfchen!«


Da machten sich die Täubchen rasch heran mit ihren Schnäbeln, und ehe man es sich versah, war der große Haufe Erbsen verlesen. Da sagten sie zu dem Mädchen: »Gehe hin, und schüttle das Bäumchen, das wird dir heute [31] noch schönere Kleider herunterwerfen; gehe zum Tanz auf das Schloß, aber siehe dich vor, daß du ja vor Mitternacht zurückkommst!«Aschenbrödel trat hin zu dem Bäumchen, und sprach:


»Bäumlein, rüttl' und schüttle dich,

Wirf schöne Kleider herab für mich!«


Da fiel ein Kleid herab, noch viel herrlicher und prächtiger, als das vorige. Wo jenes Silber und Perlen hatte, hatte dieses Gold und Diamanten, und dabei Halsband, Strümpf' und Schuhe, Alles, wie es dazu gehört. Und als Aschenbrödel damit angezogen war, so glänzte sie recht, wie die Sonne am Mittage. Vor der Thüre aber hielt eine goldene Kutsche mit sechs rothgelben Pferden, die hatten hohe Federbüsche auf dem Kopfe, und die Bedienten waren in Roth und Gold gekleidet. Die halfen ihr in den Wagen, und als sie vor das Schloß kam, da stand der Prinz schon auf der Treppe, und führte sie in den Saal. Waren nun gestern schon Alle über ihre Schönheit und Pracht erstaunt, so staunten sie heute noch mehr, und die Schwestern standen und waren blaß vor Neid, und hätten sie gewußt, daß es Aschenbrödel war, sie wären vor Aerger gestorben.

Der Prinz aber wollte wissen, wer die fremde Prinzessinn wäre, woher sie gekommen, und wohin sie gefahren, und hatte deshalb Leute auf die Straße gestellt, die sollten Acht darauf geben, wo sie bliebe.

Aschenbrödel indeß tanzte mit dem Prinzen beinahe in einem fort den ganzen Abend, und gedachte in ihrer Freude nicht an Mitternacht. Auf einmal aber, als sie noch mitten im Tanze war, hörte sie den Glockenschlag, eilte zur Thür hinaus, und flog recht die Treppe hinunter. In ihrer Eil verlor sie einen von ihren Schuhen, und hatte nicht Zeit, ihn mitzunehmen. Und als sie den letzten Schritt von [32] der Treppe that, da hatte es zwölf ausgeschlagen, und Wagen und Pferde waren verschwunden, und Aschenbrödel stand in ihrem grauen Aschenkleide auf der Straße. Zum Glück war es stockfinstre Nacht, daß sie niemand sah.

Aber der Prinz war ihr nachgeeilt, und fand auf der Treppe den goldenen Schuh; den hob er auf, als er aber unten vor die Thüre kam; da war Alles verschwunden. Die Leute auch, die zur Wache hingestellt waren, kamen und sagten, daß sie nichts gesehen hätten.

Aschenbrödel war froh, daß es nicht schlimmer gekommen war, und ging nach Hause, steckte ihr trübes Oellämpchen an, hängte es in den Schornstein, und legte sich in die Asche.

Es währte nicht lange, da kamen die beiden Schwestern auch, und riefen: »Aschenbrödel, steh' auf, und leucht' uns!« – Aschenbrödel gähnte, und that, als ob sie eben aus dem Schlaf erwachte. Bei dem Leuchten aber hörte sie, wie die Eine sagte: »Wer nur die verwünschte Prinzessinn seyn mag? ich wollte, daß sie wäre, wo der Pfeffer wächs't! Der Prinz hat nur mit ihr getanzt, und als sie weg war, hat er gar nicht mehr bleiben wollen, und das ganze Fest hat ein Ende gehabt!« – »Es war recht, als wären die Lichter mit einem Male ausgeblasen gewesen!« sagte die Andere. Aschenbrödel aber sagte dazu kein Wörtchen.

Nun gedachte der Prinz: Ist dir alles Andere fehlgeschlagen, so wird der verlorne Schuh die Braut auffinden helfen! Damit ließ er bekannt machen: Welcher der goldene Schuh paßte, die sollte seine Gemahlin werden. Aber Allen war er viel zu klein, ja manche hätten ihren Fuß nicht hinein gebracht, und wären die zwei Schuhe ein einziger gewesen. Endlich kam die Reihe auch an die beiden Schwestern, die Probe zu machen. Sie waren froh, denn sie [33] hatten kleine, schöne Füße, und glaubten: Uns kann es nicht fehl schlagen; wäre der Prinz nur gleich zu uns gekommen!

Aber als die älteste Tochter den Fuß in den Schuh hineinprobirte, siehe, da fand sich, daß derselbe für den Schuh viel zu groß war. Da nahm die Mutter ihre Tochter bei Seite, gab ihr ein Messer in die Hand, und sagte: »Schneide dir immerhin ein Wenig vom Fuße ab. Thut es auch ein Bischen weh, – was schadet es, es vergeht bald, und du wirst Königinn.« Da ging sie in ihre Kammer, und schnitt ein Stück von dem Hacken ab, bis sie den Fuß in den Schuh hinein zwängte. So setzte sie sich in den Wagen, und fuhr zu dem Prinzen auf das Schloß. Aber als sie unterwegs war, da kamen um den Wagen ein Paar weiße Tauben geflogen, die riesen ein Mal über das andere:


»Schuh voll Blut,

Paßt nicht gut;

Hack'n abgehaut,

Falsche Braut!«


Und als der Wagen an das Schloßthor kam, setzten sie sich darauf, und wiederholten ihr Liedlein. Das fiel dem Prinzen auf, und als sie aus dem Wagen stieg, sah er ihr auf den Schuh. Da quoll das rothe Blut heraus, und er merkte, daß er betrogen wäre, deshalb schickte er sie mit Schimpf und Schande zurück.

Nun wollte die jüngere Schwester ihr Heil versuchen, und weil auch ihr der Schuh zu klein war, so schnitt sie sich vorne etwas von den Zehen ab, drückte sich den Schuh an, und stieg in den Wagen. Aber die weißen Tauben kamen und flatterten umher, begleiteten ihn bis an das Schloß, und sangen in einem fort:


»Schuh voll Blut,

Paßt nicht gut;

[34]

Zeh' abgehaut,

Falsche Braut!«


Da sah der Prinz auf den Schuh, und bemerkte, daß das rothe Blut bis oben herausquoll. Deshalb schickte er sie zur Mutter zurück, und da er erfahren hatte, daß in dem Hause noch eine Tochter vorhanden wäre, so befahl er; daß diese den Schuh anprobiren sollte.

Die Mutter wollte Aschenbrödeln erst verleugnen; aber das half nichts. Die Diener ließen sich nicht abweisen, und Aschenbrödel mußte ihr Füßchen hineinstecken, und siehe da! es paßte wie angegossen. Da mußte sie sich schnell ankleiden, und in den Wagen setzen, und auf das Schloß fahren. Gleich kamen die weißen Täubchen wieder angeflogen, flatterten um den Wagen, und sangen:


»Schuh' ohne Blut,

Paßt gar gut,

Fuß nicht zerhaut,

Rechte Braut!«


Als sie nun an das Schloß kamen, ging ihr der Prinz entgegen, hob sie aus dem Wagen, und sah ihr in das Gesicht. Da erkannte er sie, daß es die schöne Prinzessinn wäre, die er suchte, umarmte sie, und sie ward seine Gemahlinn.

Die Mutter aber und ihre Töchter, als sie das hörten, sind bald darauf vor Neid gestorben.

6. Die drei Federn.

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne, welche er mit gleicher Zärtlichkeit liebte, obwohl der Jüngste unter ihnen für etwas dumm gehalten wurde, weil er so still und [35] friedlich war. Nun wußte der Vater nicht recht, wem von den Söhnen er das Reich hinterlassen sollte: daher beschloß er, es demjenigen zu übergeben, welcher das meiste Glück haben würde. So schickte er denn die drei Söhne in die Welt, und sagte, wer ihm das feinste Stück Linnen mitbrächte, sollte das Reich haben.

Als sie sich nun zur Reise fertig gemacht hatten, und Abschied nehmen wollten, nahm der König drei Federn, und blies sie, eine nach der andern, aus dem Fenster seines Schlosses in die Luft. Die eine flog nach Abend, dahinaus mußte der älteste Sohn ziehen; die zweite flog nach Morgen, dahin sollte der zweite seinen Weg nehmen; die dritte aber fiel auf einen großen Stein herab, der nicht weit von dem Schlosse lag. Da mußte denn der dritte Sohn zu Hause bleiben, und durfte nicht mit hinausziehen in die Welt, wiewohl er es gern gethan hätte. Die Brüder aber freueten sich darob, und neckten ihn, daß er nun bei dem Stein das feine Linnengewebe suchen möchte, da hätte er's ganz nahe und ohne alle Mühe und Beschwerde.

Die beiden Brüder wanderten fort, ein jeder seines Weges; der dritte aber setzte sich auf den Stein, und weinte bis zum Abend. Da kam es ihm vor, als ob der Stein sich hin und her schöbe, und zuletzt war er auch wirklich fortgeschoben, und eine Marmorplatte mit einem Ringe kam zum Vorschein. Als diese aufgehoben war, fand er eine Treppe, die stieg er hinab, und kam in ein großes, unterirdisches Gewölbe, worin ein Mädchen am Webestuhl saß, und Linnengarn webte.

Das Mädchen sah ihm in die Augen, und fragte: »Hast Du geweint?« – »Ja!« sagte er, »ich habe sehr geweint.« Und nun erzählte er, wie übel es ihm ginge. Da schenkte ihm das Mädchen ein Stück der allerfeinsten [36] Leinwand, und sagte: »Feiner bringen es deine Brüder gewiß nicht.«

Als er wieder auf die Erde hinauf kam, war er eben so lange Zeit weggewesen, als die Brüder, und wußte nicht, wie das zuging: denn es kam ihm vor, als sey er nur ein Stündchen unter der Erde gewesen.

Da nun Jeder dem Vater sein Stück Linnen vorzeigte, war des Jüngsten seines noch einmal so fein, als die Stücke, welche die Brüder gebracht hatten.

Nun hätte dem Jüngsten das Reich gehört, aber die Brüder beneideten es ihm, und machten allerlei Widerrede, und meinten, es müsse noch eine Probe gemacht werden.

Da verlangte der König den schönsten Teppich; wer den bringe, der solle das Reich haben. Der König blies die drei Federn in die Luft, und da ging es wieder, wie das erste Mal. Die eine flog nach Morgen, die andere nach Abend, und die dritte fiel wieder auf denselben Stein. Da lachten die Brüder den Jüngsten abermals aus, daß er wieder zurückbleiben mußte. Diesmal aber weinte er nicht, sondern hob den Stein auf, und ging in das Gewölbe. Da saß das Mädchen, und webte einen Teppich aus den allerfeinsten Fäden mit brennenden Farben und wunderschönen Blumen, den gab sie ihm.

Als die drei Brüder nun wieder zurückgekommen waren, und ihre Teppiche vorzeigten, war des Jüngsten seiner so schön, daß man die andern Teppiche nicht ansehen mochte. Aber die Brüder stritten wieder, und meinten, aller guten Dinge müßten drei seyn.

Der König war damit zufrieden, und versprach demjenigen das Reich, welcher die schönste Jungfrau heimbringen würde. Darauf ging es mit den drei Federn abermals so, wie vorher.

Da ging der Jüngste wieder in das Gewölbe, und[37] klagte dem Mädchen sein Leid. Das Mädchen trug ihm nun auf, in dem Gewölbe weiter zu gehen, da würde er die Schönste auf Erden finden. Er fand aber nur große Kammern voll Gold und Edelsteinen und einen großen Frosch, der an einem Teich saß. Der Frosch betrachtete ihn einige Augenblicke, und sagte dann: »Umarme mich, und senke dich mit mir in's Wasser.« Das sagte der Frosch ihm drei Mal, da that er es denn; aber kaum hatten sie das Wasser berührt, so hielt er die schönste Jungfrau in seinem Arm, gegen welche die Jungfrauen der Brüder ordentlich garstig aussahen.

Der König entschied nun, daß dem Jüngsten das Reich gehöre, da er ihm drei Mal das Beste gebracht hätte. Darüber waren aber die beiden anderen Brüder unwillig, und sagten, derjenige solle das Reich haben, dessen Jungfrau bis zu dem Ring hinaufspringen könne, der mitten im Saale hing. Die Jungfrauen der älteren Brüder sprangen und sprangen, doch vergeblich, sie konnten den Ring nicht berühren; die Jungfrau des dritten sprang aber mit leichter Mühe hinan, und hatte den Ring sogleich erlangt.

Die Brüder wollten ihm dennoch das Reich nicht lassen; der König aber sagte: »Nun ist es genug!« und der dritte bekam das Reich, und heirathete die Jungfrau.

Da wurden die Brüder zornig gegen ihre Jungfrauen, und jagten sie fort, weil sie ihnen das Reich nicht hatten erspringen können.

7. Das Himmelsschäfchen.

  • Das Silberschæfchen. (Johann Heinrich Lehnert: Mährchenkranz für Kinder)
    Das Silberschæfchen.

Eine Mutter hatte ein kleines Töchterchen, mit diesem ging sie spazieren, hinaus auf das grüne Feld. Die Sonne [38] aber schien gar warm, und der Himmel war mit tausend und tausend silberweißen Wölkchen bedeckt.

»Was sind denn das für Schäfchen?« fragte das Kind.

»Das sind Himmelsschäfchen,« sagte die Mutter, »die treibt ein freundlicher Hirte auf die Weide, und wenn es vorher lange geregnet hat, und die Silberschäfchen kommen an den Himmel, so scheint gewiß die liebe Sonne bald wieder.«

»Ach Mutter,« sagte das Kind, »kauf mir doch ein Silberlämmchen.«

»Das kann ich nicht,« sprach die Mutter, »denn auf der Erde giebt es keine solche schöne Schaafe, die giebt's nur am Himmel, und der Hirte, der sie weidet, hat alle seine Schäfchen gezählt, und giebt keines davon her.«

»Ach, bitte ihn einmal darum,« sagte das Kind. – Da versprach die Mutter, den Hirten darum zu bitten, und sie gingen mit einander heim.

Das Kind aber konnte die Himmelsschäfchen nicht vergessen, und wenn auch die Mutter, um es zu beruhigen, sagte, sie hätte den Schäfer vergeblich darum gebeten, so verlangte es nur um so begieriger ein Schläfchen, und ward endlich krank vor Sehnsucht und Bekümmerniß. »Ich will ja gewiß recht gut und brav seyn,« sagte das Kind, »aber gieb mir nur ein Himmelsschäfchen.«

Da ward aber die Mutter um ihr Kind sehr besorgt, und sie ging hin zu einem Manne, der verfertigte ihr ein ganz kleines Schäfchen von Holz mit einem goldenen Halsbändchen, und strich es an mit Silberfarbe. Das brachte die Mutter dem Kindchen, und sagte: »Hier hast du ein Himmelsschäfchen, das hat mir ein Mann gebracht.« Aber das Kindchen sprach: »Das ist kein Himmelsschäfchen; die Himmelsschäfchen sind viel größer und schöner; gieb mir ein Himmelsschäfchen!«

[39] Da ging die Mutter wieder zu demselben Manne, der machte ihr ein anderes Schäfchen, so groß als die Schaafe gewöhnlich sind, und bedeckte es ganz mit weißer Wolle, in die waren Silberflittern gewoben. Die Mutter aber brachte ihrem Töchterchen dies Schäfchen, und sagte: »Da hat mir der Mann ein anderes Schäfchen gebracht, das wird wohl ein Himmelsschäfchen seyn; sieh, wie es groß ist, und welch schöne Wolle es hat!«

Aber das Kind weinte, und sagte: »Das ist kein Himmelsschäfchen. Die Himmelsschäfchen haben durchsichtige Wolle; gieb mir ein Himmelsschäfchen, oder ich sterbe!«

Da ward die gute Mutter sehr betrübt, denn ihr Kindchen wurde kränker und kränker, und sie wußte nicht, wie sie ein Himmelsschäfchen bekommen sollte. Da setzte sie sich des Nachts in das Kämmerlein, wo ihr Töchterchen krank lag, und weinte vor Sehnsucht und Bekümmerniß, und vergoß heiße Thränen.

Als sie aber so traurig vor sich hinsah auf den dunkeln Boden, da kam es ihr vor, als thäte sich die Wand auf, und sie sah hinaus an den weiten, weiten Himmel, und in der Ferne gewahrte sie eine weibliche Gestalt, die trug ein silberweißes Lämmchen auf ihrem Arm, und schwebte, auf Wolken getragen, zu ihr her. Da füllte sich aber das Kämmerlein mit wundersamen Glanze, und die Wände, die vorher dunkel waren, glänzten jetzt, wie das sanfte Licht der Morgenröthe. Die königliche Frau aber stellte das Schäfchen in das kleine Blumengärtchen, das vor dem Fenster war, und sprach: »Ich habe Mitleid gehabt mit deinem Kummer, und habe deinem Töchterlein ein Himmelsschäfchen gebracht.«

Da wachte das Kind in seinem Bettchen auf, und sah die königliche Frau, und das Himmelsschäfchen, das ging im Blumengarten auf und ab. Da ward ihm ganz wohl. [40] Die königliche Frau aber sprach zu ihm: »Ich schenke dir, was du so sehr gewünscht hast, aber gieb Acht, daß du nicht ungehorsam bist, oder eine Unwahrheit redest: denn erfahre ich einen einzigen Ungehorsam, oder eine Lüge von dir, so ist dein Schäfchen verloren.«

Das Kind aber gelobte seiner Mutter, Alles zu thun, was die königliche Frau verlangt hatte. Diese aber verschwand, wie sie gekommen war; der Lichtglanz verblaßte allmählig; aber statt dessen stieg die Sonne über die blauen Berge hervor, und schien in's Kämmerchen und in's Blumengärtchen, wo das Himmelsschäfchen weidete. Es hatte silberglänzende Wolle, die war ganz durchsichtig, wenn die Sonne darauf schien, und um den Hals hatte es ein Band, das hatte sieben glänzende Farben, wie der Regenbogen. Es blöckte aber nicht, wie die andern Schaafe, sondern es sang zuweilen mit wunderschöner Stimme. Da lief das Kind zu ihm hinaus, und streichelte es, und brach ihm frischen Klee ab; aber es wollte nichts fressen, sondern roch zuweilen an den süß duftenden Rosen und den weißen Lilien – das war seine Speise.

Das Kindchen hatte nun seine große Freude an dem schönen Lämmchen, und rief alle seine Gespielinnen herzu, und zeigte ihnen das Himmelsschäfchen. Es folgte ihr auf ihren Ruf, wenn sie es hinausführte auf die Wiese, wo die duftenden Kräuter wuchsen, und ging mit ihr, wenn sie nach Hause zog; des Nachts aber schlief sie bei ihm in einem Bettchen. Wenn sie dann des Morgens aufwachte, stand das Schäfchen schon wieder im Blumengarten vor dem Fenster, und roch an den Rosen und Lilien.

Eines Tages ging das Mädchen mit dem Himmelsschäfchen wieder hinaus auf eine schöne, große Wiese, durch die Wiese aber floß ein silberklares Bächlein, und über den Bach ging eine kleine Brücke. Die Mutter aber sagte: [41] »Gehe mir ja nicht weiter, als bis an die Brücke, ich fürchte, das Himmelsschäfchen möchte in den Bach fallen und ertrinken.«

Das Mädchen ging nun mit dem Schäfchen auf die Wiese, und spielte mit ihm, wie sie immer gethan hatte. Da kamen ihre Gespielinnen zu ihr, die sagten: »Komm, wir wollen einmal dort über den Bach gehen auf jenen Berg, dort ist's gar schön.« Das Mädchen aber entgegnete: »Nein, das darf ich nicht thun, meine Mutter hat mir's verboten.« – »Ei, warum denn;« sagten ihre Gespielinnen, »wir können ja dort viel schöner spielen, als hier.« – »Ja,« sagte das Mädchen, »ich fürchte, wenn wir über die Brücke gehen, so möchte mein Schäfchen in den Bach fallen und ertrinken.« – »Dafür laß uns sorgen;« erwiederten die Gespielinnen, »wir wollen's schon halten, daß es nicht hineinfällt.« Da gab das Mädchen nach, und ging mit ihren Gespielinnen an den Bach. Als sie aber an die Brücke kamen, dachte das Mädchen an die Worte der königlichen Frau, da sie ihr gesagt hatte, sie solle ihrer Mutter nicht ungehorsam seyn. Darum sagte sie: »Nein, ich darf meiner Mutter nicht ungehorsam seyn, sonst wird mir mein Himmelsschäfchen genommen.« – »Ei, wer wird dir das nehmen?« sagten ihre Gespielinnen; »das hat die königliche Frau nur so gesagt. Und damit es ja nicht in den Bach fällt, so nimm es in den Arm, und trage es hinüber.«

Da nahm das Mädchen das Himmelsschäfchen auf den Arm, und trug es hinüber. Wie sie aber auf die Mitte der Brücke kamen, da brach die Brücke, und die Mädchen, die vor ihr gingen, fielen alle in den Bach; sie selbst aber erschrak so sehr, daß sie das Himmelsschäfchen fallen ließ. Es fiel aber nicht in den Bach, sondern in dem Augenblicke tauchte dieselbe königliche Frau, die es ihr gebracht hatte, aus dem Wasser hervor, und fing es mit den Armen auf; [42] dann aber erhob sie sich, und ein Paar Wolken trugen sie hin an den Himmel, und sie setzte das Lämmchen wieder zu den andern Himmelsschäfchen, wo es früher gewesen war. Das Mädchen aber weinte sich die Aeuglein roth, und bat ihre Mutter, sie möchte ihr ein anderes Himmelsschäfchen verschaffen; aber die Mutter sagte: »Das ist die Strafe des Ungehorsams!«

Ihre Gespielinnen aber, die sie zu dem Ungehorsam verleitet hatten, kamen dies Mal mit dem bloßen Schrecken davon. Ihre Kleider waren jedoch ganz naß und schmutzig geworden, und sie mußten so nach Hause gehen. Da wurden sie von Allen ausgelacht und verspottet. Deshalb gingen sie in sich, und bereueten, was sie gethan hatten, und haben nachher niemand mehr zum Ungehorsam verleitet. –

8. Martin und Ilse.

Martin und Ilse waren Bruder und Schwester, und waren ganz arme Kinder: denn die Aeltern hatten noch mehrere Kinder, und konnten ihnen nicht satt zu essen geben. Da mußten denn Martin und Ilse in den Wald gehen, und Erdbeeren suchen, und sie dann nach der Stadt zum Verkauf tragen, damit die den Aeltern das Brot verdienen hülfen.

Eines Tages gingen sie auch in den Wald, aber die Erdbeeren waren schon selten. Da mußten sie tiefer und immer tiefer in den Wald hinein, und wußten nun bald nicht mehr, wo sie waren, und konnten sich gar nicht wieder zurecht finden.

Als es nun schon Abend geworden war, überfiel sie [43] eine große Angst, so daß sie sich immer weiter im Walde verirrten. Auf ein Mal befanden sie sich auf einem grünen Platze, worauf ein niedliches Häuschen stand; das Häuschen aber war von Brotteig gebacken, und das Dach war von Kuchen, und die Fenster von weißem Kandiszucker, und die Fensterrahmen von Marzipan.

Die Kinder betrachteten das Häuschen mit großem Vergnügen, und da sie so sehr hungerte, fragten sie nicht erst lange, wem dasselbe gehöre, und ob sie auch davon essen dürften; sondern brachen sich von dem Häuschen ab, was losging, und – aßen. Das schmeckte vortrefflich! Eben wollten sie noch eine Kandisfensterscheibe losbrechen, da kam es ihnen vor, als säng' es drinnen mit feiner Stimme:


»Knusper, knusper Kneischen,

Was knaspert an meinem Häuschen?«


Darüber erschracken die Kinder, ließen die Scheibe fallen, und wollten davon laufen. In demselben Augenblick aber trat ein altes kleines Mütterchen aus der Thüre, die war ganz zusammengeschrumpft, und sagte gar freundlich: »Ach, ihr armen Kinderchen, ihr habt euch gewiß verirrt; kommt nur herein in mein Häuschen, ihr sollt's recht gut bei mir haben.«

Die Kinder traueten ihren Worten, und gingen hinein. »Nun sollt ihr euch auch recht satt essen!« sagte die Alte, und gab ihnen Nüsse und Aepfel, und Milch und Reißbrei, und auch schönen Wein dazu. Da wurden die Kinder froh, und als sie gegessen hatten, fielen ihnen die Augen zu vor Müdigkeit. Die Alte hatte aber schon zwei weiche Bettchen bereitet, darein legten sie sich, und schliefen recht süß.

Die Alte aber war ein böses Weib, die den Kindern sehr nachstellte, sie schlachtete und aß: denn so wie sie ein Kind gegessen hatte, wurde sie wieder um drei Jahre jünger. So war sie wohl schon tausend Jahre alt geworden. [44] Sie konnte aber nur solchen Kindern etwas anhaben, die sie zu einem Unrecht verführen konnte; über die andern aber hatte sie keine Macht. Sie hatte das Brothäuschen blos deshalb dahin gebaut, damit die Kinder davon abbrechen sollten: hätten nunMartin und Ilse das Häuschen nicht angerührt, und nichts davon genommen, so hätte sie ihnen auch nichts thun können.

Ganz früh, noch ehe es Tag war, stand das böse Weib auf, riß den Knaben aus dem Bette, und trug ihn in einen Stall, der ein eisernes Gitter hatte; das Mädchen aber weckte sie, und sagte: »Steh' auf, du Faullenz, mach' Feuer an, hole Wasser, und koche gut Essen. Deinen Bruder hab' ich in den Käfig gesperrt, da sollst du ihn füttern, bis er recht fett ist, dann will ich ihn schlachten.«

Ach, wie weinte das arme Mädchen, aber es half ihr nichts. Alle Tage mußte sie dem armen Bruder gute Speisen kochen, und ihn trösten, obwohl sie selbst keinen Trost hatte. Martin aber härmte und grämte sich in seinem Käfig mehr ab, als er zunahm. Das bemerkte wohl die Alte, und beschloß daher, das Mädchen zuerst zu essen.

Es waren wohl vier Wochen so hingegangen, da sagte sie eines Morgens: »Mach hurtig, Mädchen, und thue deine Arbeit; heute soll dein Bruder daran, wenn er auch noch magerer wäre; ich will nun nicht länger warten; in ein Paar Wochen schlacht' ich dich auch. Jetzt werde ich den Teig zurecht machen, damit wir Brot haben.«

Ilse wollte vor Angst vergehen, sie ließ sich aber nichts merken, und holte Wasser zum Sieden; die Alte aber heizte den Backofen. Da seufzte das Mädchen zu dem lieben Gott, und bat ihn, daß er sie mit dem Bruder nicht umkommen lassen möchte.

Jetzt rief die Alte: »Komm her, Mädchen, und sieh, ob das Brot recht braun ist, meine alten Augen können es [45] nicht mehr erkennen. Setz dich hier auf das Brett, das will ich in die Höhe heben, und dann kannst du in den Ofen hineingehen, und zusehen, ob das Brot gar ist.«

Das Mädchen merkte wohl, was die Alte mit ihr vorhatte, und suchte ihrem boshaften Vorhaben sich zu entziehen. Gar gern, sagte sie, wolle sie sich auf das Brett stellen, und in den Ofen kriechen, und nach dem Brote sehen, aber sie habe dergleichen noch niemals gemacht, und wisse also nicht, wie sie das anfangen solle; die Alte möchte es ihr nur vormachen. Das that diese denn auch, und setzte sich auf das Brett.

Ilse war stark, denn sie hatte viel arbeiten müssen, aber die Alte war dürr und leicht. Ilse schob sie nun tief in den Ofen hinein, und als sie zurück wollte, stieß sie dieselbe mit dem Brette wieder hinein, und schlug die Ofenthür zu, daß sie nicht heraus konnte, und drinnen verbrannte.

Nun suchte Ilse die Schüssel zum Gitterkäfig, und als sie diese gefunden hatte, ließ sie den Bruder heraus. Da waren die Kinder recht froh, und dankten dem lieben Gott für ihre Rettung, und aßen sich seit langer Zeit wieder zum ersten Mal mit Freuden satt, und nahmen auch noch Speise auf den Weg mit.

Hierauf suchten sie im Häuschen Alles durch, und fanden viel Perlen und Edelgestein, davon nahmen sie auch mit für die Aeltern. Dann machten sie sich auf den Weg, und kamen bald an bekannte Stellen, und als es Abend ward, waren sie wieder zu Hause.

Wie freuten sich da die Aeltern, als sie ihre beiden Kinder wieder sahen! Sie hatten sie acht Tage hinter einander gesucht, und als sie dieselben nicht fanden, waren sie sehr bekümmert in ihrem Herzen. Nun waren sie wieder da, und hatten so viel mitgebracht, daß sie nicht mehr Noth [46] zu leiden brauchten, sondern sich sogar einen Edelhof hätten kaufen können, wenn sie sonst gewollt hätten.

9. Von dem Maßholderbaum.

Es war einmal ein Mann, der war sehr reich, und hatte eine fromme Frau. Beide lebten sehr vergnügt in ihrer Ehe, und ihnen fehlte weiter nichts in der Welt, als daß ihnen Gott Kinder geschenkt hätte; da sie aber keine hatten, so betete die Frau Tag und Nacht, daß ihnen Gott dies Glück bescheeren möchte.

Endlich einmal, als gerade Winter war, und Schnee draußen lag, ging die Frau über den Hof vor ihrem Hause, wo ein Maßholderbaum stand, und schälte sich einen Apfel, und weil das Messer scharf war, so schnitt sie sich in die Finger, daß das rothe Blut auf den Schnee unter dem Maßholderbaum tropfte. Als das die Frau sah, so seufzte sie hoch auf, und sprach in ihrem Herzen: »Ach, wenn ich doch ein Kind hätte, so roth wie dies Blut, und so weiß, als der Schnee!« – Und als sie das sagte, so wurde ihr recht fröhlich zu Muthe, und es war ihr, als wenn es so geschehen müßte.

Hierauf kehrte sie in das Haus zurück. Der Winter ging hin, und der Frühling kam her; da blühete der Maßholderbaum, und setzte Frucht an.

Nun wurden die Tage länger, denn es war Sommer, und die Früchte an dem Maßholderbaum wuchsen und reiften; und als der Herbst kam, da aß die Frau von der Frucht des Baumes so hastig, daß ihr weh um das Herz wurde, und bald darauf gebar sie einen Sohn, der war so weiß, [47] wie Schnee, und roth wie Blut. Darüber freuete sie sich dermaßen, daß sie starb.

Da weinte ihr Mann, und konnte sich gar nicht trösten. Er begrub seine Frau unter dem Maßholderbaum, und besuchte alle Morgen und Abend ihr Grab. Aber am Ende tröstete er sich doch, und nahm sich eine andere Frau.

Als er mit ihr ein Jahr zusammen gelebt hatte, so bekam sie eine Tochter, die nannte sie Marlenchen, und gewann sie über die Maßen lieb: denn sie war ihre rechte Tochter. Aber je mehr sie Marlenchen liebte, je mehr haßte sie ihren Stiefsohn, ob er gleich so weiß wie Schnee, und so roth wie Blut war. Wo er ging und stand, da war er ihr im Wege; immer hatte sie an ihm zu schelten und zu tadeln, und wenn sie ihm ein Loch zustopfen, oder ein neues Kleidungsstück anschaffen sollte, so ging es nicht ohne Stöße und Schläge ab. Wenn Marlenchen Honigsemmel bekam, so mußte er trocken Brot essen, und die Mutter sagte: »Wenn er nur erst todt wäre, so könnte meine Tochter Haus und Hof und das ganze Vermögen allein erben.«

Einmal war er in der Schule, da stieg die Mutter auf den Boden über der Stube, und Marlenchen ging ihr nach in die Kammer. Daselbst stand eine große Lade mit einem schweren, eisernen Deckei.

»Gieb mir einen Apfel, Mutter!« sagte Marlenchen. Da schloß die Mutter die Kiste auf, und langte ihr einen Apfel heraus. – »Soll Brüderchen nicht auch einen haben?« fragte Marlenchen. Das verdroß die Mutter, und sie nahm ihrer Tochter den Apfel wieder aus der Hand, und sagte: »Wenn dein Bruder aus der Schule kommt, so sollt ihr Beide einen haben.«

Da ging Marlenchen hinunter, und wollte sehen, ob der Bruder käme. Die Mutter aber blieb auf der [48] Kammer, und sah aus dem Fenster, ob er da wäre; und als sie ihn kommen sah, winkte sie ihm, daß er herauf käme.

Als er nun in die Thüre trat, schloß die Mutter die Lade wieder auf, wo die rothen Aepfel lagen. Da bat er sie, daß sie ihm einen Apfel gäbe. »Suche dir nur einen aus!« sprach sie; und als sich das Kind in die Lade hineinbückte, da schlug sie den schweren eisernen Deckel über ihn zu, der ihm den Kopf abschlug, daß er gerade in die Kiste unter die rothen Aepfel fiel.

Nun lief ihr die Angst durch die Glieder, und sie dachte: Ach, könnte ich das von mir bringen! – Als sie sich ein wenig wieder erholt hatte, nahm sie ein weißes Tuch aus der Schublade, setzte den Kopf wieder auf den Hals, und band das Tuch so herum, daß man nichts sehen konnte. Hierauf nahm sie ihn auf den Arm, trug ihn hinunter, und setzte ihn auf einen Schemel auf dem Hofe vor die Thür, den Apfel aber steckte sie in seine Hand. Das machte sie so heimlich, daß es niemand sah.

Hierauf ging sie in die Küche an den Feuerheerd, und rührte in dem Kessel. Da kam Marlenchen in die Küche, und sagte zu ihrer Mutter: »Ach, Mutter, wie habe ich mich erschrocken! Brüderchen sitzt vor der Thüre, ganz leichenblaß, und hält einen Apfel in der Hand. Ich habe ihn um den Apfel gebeten, aber er wollte ihn mir nicht geben, und antwortete nicht, da wurde mir recht graulich zu Muthe.« – »Geh nur noch ein Mal zu ihm hin,« antwortete ihr die Mutter, »und wenn er dir den Apfel nicht geben will, so nimm die Hand, und gieb ihm eine Ohrfeige!«

Da ging Marlenchen wieder hinaus, und sagte: »Bruder, gieb mir den Apfel!« Und als er nicht antwortete, so schlug sie ihm an die Ohren, daß der Kopf herunterfiel. Darüber erschrak sie, und fing an zu weinen und zu heulen, und lief in die Küche zu ihrer Mutter, und [49] rief: »Ach, Mutter, ich habe meinem Brüderchen den Kopf abgeschlagen!« und wollte sich nicht zufrieden geben.

Da sprach die Mutter: »Ei, was hast du gemacht! Aber es ist nun einmal nicht zu ändern. Darum schweige nur still, daß der Vater und niemand etwas merke; wir wollen Brüderchen wegbringen, und sauer kochen.« Und damit holte sie das todte Kind in die Küche, und hackte es klein, that die Stücke in den Kessel, und kochte sie sauer. Marlenchen aber stand dabei, und weinte, daß die Thränen in den Kessel fielen, und das Fleisch kein Salz brauchte.

Mittlerweile war es Mittag, und der Vater kam nach Hause, und setzte sich an den Tisch. Da trug die Mutter das, in Sauer gekochte, Fleisch des Sohnes auf.

Als sie nun Alle um den Tisch saßen, fragte der Vater: »Wo ist denn mein Sohn?« Da weinte Marlenchen, und konnte nicht antworten. Aber die Mutter sprach: »Er ist über Land gegangen zu seinem Oheim; da will er eine Zeit lang bleiben.« – »Das nimmt mich Wunder,« antwortete der Vater; »er hat nicht um Erlaubniß gebeten, und nicht Abschied von mir genommen.« – »Laß nur gut seyn,« sprach die Mutter, »er ist dort gut aufgehoben, und wird bald wieder kommen. Lange du nur zu, und iß dich satt!«

Da ließ sich der Vater zureden und aß, und es schmeckte ihm über die Maßen wohl; aber er wußte nicht, daß er das Fleisch seines Sohnes äße. Er verzehrte ein Stück nach dem andern, und konnte gar nicht satt werden; die Knochen warf er unter den Tisch. Marlenchen aber weinte, und aß nicht und trank nicht, sondern bückte sich unter den Tisch, und las sorgfältig alle Knöchlein in ihr bestes, seidenes Tuch, das sie aus dem Schrank nahm.

Nachdem sie nun alle Beinchen zusammen gebunden hatte, trug sie das Tuch vor die Thüre unter den Maßholderbaum, [50] und weinte darauf blutige Thränen. Hierauf begrub sie das Tüchlein, worin die Gebeine ihres Brüderchens wie in einem Sarge lagen, unter dem Rasen des Maßholderbaumes, und als sie das vollbracht hatte, da ward ihr so leicht, so leicht um das Herz, und sie weinte nicht mehr. Aber der Maßholderbaum fing an, sich zu regen und zu bewegen in den Zweigen, und es lispelte darin, als wenn sich jemand freut, und recht inniglich froh ist. Hierauf ging ein Nebel von der Erde, und stieg zu dem Baum hinauf, aus dem Nebel aber loderte eine Flamme empor, und aus der Flamme flog ein Vogel hoch in die Luft, der war schöner, als der Regenbogen, und trug eine goldene Krone auf dem Haupte. Als das Marlenchen sah, wurde ihr so leicht um das Herz, als wäre nichts geschehen, und sie ging wieder zurück in's Haus, und setzte sich an den Tisch.

Der Vogel aber flog weg, und setzte sich auf das Haus eines Goldschmidts, wo er also sang:


Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,

Des Vaters Magen ward mein Grab,

Marlenechen, mein Schwesterlein,

Legt' in ein Tüchlein mein Gebein,

Und grub es auf des Hofes Raum,

Wohl unter dem Maßholderbaum;

Tireli, tireli, seht mich,

Was für ein schöner Vogel bin ich!


Das hörte der Goldschmidt, der eben eine schöne goldene Kette in der Hand hielt, und lief aus seiner Werkstatt, um den Wundervogel zu sehen.

Als er auf die Straße kam, schien die Sonne so hell, und der Himmel glänzte so schimmernd, daß er sich die Hand vor die Augen halten mußte, um den Vogel zu sehen. Als er ihn nun auf dem Dache sitzen sah, sprach er: »Mein Goldvöglein, singe mir dein schönes Liedchen noch [51] ein Mal.« – »Ja,« antwortete der Vogel, »wenn du mir die goldene Kette giebst, welche du in deiner Hand trägst!« – »Du sollst sie haben!« sagte der Goldschmidt, »nur singe mir dein Liedchen.«

Da kam der Vogel, und nahm in die rechte Klaue die Kette, und flog zurück auf das Dach, und wiederholte seinen Gesang, daß der Goldschmidt mit offenem Munde stehen blieb, und die Leute auf der Straße vor Verwunderung zusammenliefen.

Hierauf flog der Vogel weg mit seiner Kette, und setzte sich auf das Haus eines Schuhmachers. Der saß eben in seiner Werkstatt mit seiner Frau, den Gesellen und den Lehrburschen, und hielt in den Händen ein Paar kostbare, mit Gold und Edelsteinen besetzte seidene Schuhe, und als er an nichts weniger dachte, so ließ der Vogel vom Dache sein Wunderlied hören:


Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,

Des Vaters Magen ward mein Grab,

Marlenechen, mein Schwesterlein,

Legt' in ein Tüchlein mein Gebein,

Und grub es auf des Hofes Raum,

Wohl unter dem Maßholderbaum;

Tireli, tireli, seht mich,

Was für ein schöner Vogel bin ich!


Da stürzte der Schuster heraus mit Frau und Burschen und Gesellen, die Schuhe aber behielt er in seiner Hand, und nachdem er den Vogel auf dem Dache entdeckt hatte, so sprach er: »Mein Goldvöglein, singe mir dein schönes Liedchen noch ein Mal!« – »Umsonst thue ich es nicht,« antwortete der Vogel, »wenn du mir aber die Schuhe giebst, welche du in der Hand hältst, so will ich das Lied wiederholen.« Da hielt ihm der Schuhmacher die zwei goldbeschlagenen Schuhe hin, welche ihm der Vogel aus der Hand nahm, und sie mit der linken Klaue festhielt. Hierauf [52] flog er wieder auf das Dach, und sang sein Wunderlied. Um ihn aber leuchtete die Sonne, und der Himmel strahlte im blendenden Schimmer, so daß Alle, wie versteinert, stehen blieben.

Unterdeß flog der Vogel weg, die goldene Kette in der einen, die seidenen Schuhe in der andern Klaue tragend, und setzte sich nicht eher nieder, als vor dem Thore, wo ein Lindenbaum vor einer Wassermühle stand. Daselbst nahm er Platz oben in der Spitze. Vor der Mühle aber stand der Müller mit funfzehn Knappen, die behaueten einen großen Mühlstein, und sahen nicht, und hörten nicht. Mit einem Male aber wurde es ihnen so hell vor den Augen, und als der Vogel anfing zu singen:


Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,

Des Vaters Magen ward mein Grab;

da hielt der Knappe inne mit Hauen, und sah nach dem Vogel; und als dieser weiter sang:

Marlenechen, mein Schwesterlein,

Legt' in ein Tüchlein mein Gebein,


da hörten noch zwei Knappen auf. Und als der Vogel fortfuhr:

Und grub es auf des Hofes Raum,
da hielten wieder vier Knappen inne, –
Wohl unter dem Maßholderbaum;

da die übrigen acht, so daß der Müller nur noch allein zurück blieb; und als er die letzten Worte hörte:


Tireli, tireli, seht mich,

Was für ein schöner Vogel bin ich!


so hörte er gleichfalls auf mit Behauen, und rief den Baum hinauf: »Goldvögelchen, sing' uns dein schönes Lied noch ein Mal!«

»Ja,« antwortete der Vogel, »wenn du mir den Mühlstein giebst, der vor dir liegt.« – »Du sollst ihn haben,« sprach der Müller; »komm nur, und hol' ihn dir!«

[53] Da kam der Vogel herunter geflogen; der Müller aber mit seinen Knappen setzten Hebebäume unter, und hoben den Stein mit großer Mühe von der Erde. Da steckte der Vogel seinen Hals durch das Loch in der Mitte, und hing ihn um sich, wie einen Halskragen. Damit flog er wieder auf den Baum, so leicht, als ob es eine Feder wäre, und sang:


Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,

Des Vaters Magen ward mein Grab;

Marlenechen, mein Schwesterlein,

Legt' in ein Tüchlein mein Gebein,

Und grub es auf des Hofes Raum,

Wohl unter dem Maßholderbaum;

Tireli, tireli, seht mich,

Was für ein schöner Vogel bin ich!


Als er das Lied zu Ende gesungen hatte, breitete er die Flügel aus, und flog davon, die goldene Kette in der rechten Klaue, die Schuhe in der linken, und den Mühlstein um den Hals. So nahm er seinen Flug zurück in die Stadt, und setzte sich auf den Maßholderbaum auf dem Hofe seiner Aeltern.

Die saßen um den Tisch in der Stube, und der Vater sagte: »Mir ist so leicht und so froh zu Muthe, als wenn ich ein großes Glück zu erwarten hätte.« – »Nein, nein!« antwortete die Mutter, »mir ist so angst, als wenn ein schweres Gewitter am Himmel stände!« – Marlenchen aber weinte, und ließ das Tuch nicht von den Augen, so daß es so naß wurde, als wenn es im Wasser gelegen hätte.

Mittlerweile hob der Vogel sein altes Lied an; und als er die Worte sang:


Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,


da hielt sich die Mutter die Ohren zu, und kniff dicht die Augen zusammen, damit sie nichts hörte und sähe. Aber [54] es brauste ihr in den Ohren, wie der stärkste Sturmwind, und die Augen brannten und zuckten ihr, wie der Blitz.

Der Vogel sang weiter:


Des Vaters Magen ward mein Grab;


Da sprach der Vater: »Hörst du, Mutter, wie schön da draußen der Vogel singt! Der Tag schimmert wie lauter Gold, und die Luft ist ganz vom Wohlgeruche, wie von Weihrauch und Zimmt, durchzogen.«


Marlenechen, mein Schwesterlein,

Legt' in ein Tüchlein mein Gebein;


so sang es draußen weiter. Da legte Marlenchen den Kopf auf ihre Knie und weinte laut auf in einem fort. Der Vater aber sagte: »Ich muß hinaus, und den Vogel in der Nähe sehen!« – »Nein, gehe nicht, um Gottes willen gehe nicht!« erwiederte die Frau; »die Luft ist voller Schwefeldampf, mir ahnt nichts Gutes, mir ist, als bebte das Haus, und ständ' in lauter Flammen.« Aber der Mann ließ sich nicht abhalten, sondern ging vor die Thüre, und stellte sich dicht vor den Maßholderbaum, als eben der Vogel sein Liedchen weiter sang:


Und grub es auf des Hofes Raum,

Wohl unter dem Maßholderbaum;

Tireli, tireli, seht mich,

Was für ein schöner Vogel bin ich!


Und damit ließ er die goldene Kette von dem Baume fallen, so daß sie sich dem Manne gerade um den Hals legte. Da ging er voller Freude zurück in das Haus, und rief: »Kommt heraus geschwind, und seht, was da für ein schöner Vogel auf dem Maßholderbaum sitzt. Diese goldene Kette hat er mir geschenkt.«

Aber die Frau zitterte und bebte, und fiel lang nieder auf den Boden, und riß sich das Brusttuch auf, als wenn sie das Fieber rüttelte und schüttelte. Da sang es wieder:


[55]

Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,

Des Vaters Magen ward mein Grab,

Marlenechen, mein Schwesterlein,

Legt' in ein Tüchlein mein Gebein;


Da lief Marlenchen hinaus, und trat unter den Baum, wo der schöne Vogel saß. Der aber sang weiter:

Und grub es auf des Hofes Raum,

Wohl unter dem Maßholderbaum;


und bei diesen Worten warf er ihr die seidenen Schuhe gerade vor die Füße, als wenn sie dieselben anziehen sollte.


Tireli, tireli, seht mich,

Was für ein schöner Vogel bin ich!


Da zog Marlenchen die Schuhe an, und es ward ihr immer leichter um das Herz. Sie tanzte und sprang zurück in das Haus, und rief: »Das war einmal ein herrlicher Vogel! seht, diese Schuhe hat er mir gegeben.«

Aber die Mutter schrie: »Nein, ich halte es nicht länger aus hier in der Stube, die Luft ist mir zu enge; ich muß hinaus, daß ich nicht ersticke!« Und damit sprang sie auf von dem Boden, und stürzte sich durch die Thüre auf den Hof; die Haare aber standen ihr zu Berge, wie Feuerflammen.

Als sie aber kaum auf den Hof trat – bratsch! da warf ihr der Vogel den Mühlstein auf den Kopf, daß sie zerquetscht zusammenfiel, wie ein Brei. Das hörten der Mann und Marlenchen, und sie liefen hinaus.

Da ging Feuer und Dampf auf von der Stelle, und als sich das verzog, stand der kleine Bruder wieder lebendig da, und nahm seinen Vater und seine Schwester bei der Hand, und sie gingen vergnügt zurück in das Haus, und erzählten sich Alles.

[56] 10. Das Feld mit Hagebuchen.

  • Die Hagebuchen. (Johann Heinrich Lehnert: Mährchenkranz für Kinder)
    Die Hagebuchen.

Thomas, der älteste Sohn eines wohlhabenden Pächters, streifte an einem Sonntage zur Herbstzeit durch die Felder, und ging eben an der Sonnenseite einer Hecke daher, als er plötzlich ein klapperndes Geräusch nicht weit von sich in der Hecke hörte.

»Ei der Tausend!« sagte er, »das ist ja wunderbar, noch so spät im Jahre die Schmatze singen zu hören!« Er schlich auf den Zehen herbei, ob er die Ursache des Geräusches zu Gesichte bekommen könnte, und er sich in seiner Vermuthung nicht geirrt habe.

Das Geklapper hörte auf, aber als Thomas scharf durch das Buschwerk sah, so erblickte er in einer Ecke des Zauns einen braunen Krug, der etwa sechs Maaß Flüssigkeit halten konnte, und nahe dabei ein winziges, altes Männchen, mit gekremptem Hut auf dem Kopfe, und ledernem Schürzchen, das vorn herabhing. Es schleppte einen kleinen hölzernen Stuhl herbei, stieg darauf, tauchte ein kleines Eimerchen in den Krug, und zog es voll wieder heraus, stellte es neben den Stuhl, und setzte sich dann bei dem Krug, und fing an zu arbeiten, indem es auf einen kleinen Schuh, wie er gerade für sein Füßchen paßte, einen Fleck aufschlug.

»Warte,« sprach Thomas zu sich selbst; »warte, dich will ich fangen, und dann sollst du mir deine Schätze zeigen; wenn ich geschickt zu Werke gehe, so bin ich ein gemachter Mann.«

Er schlich sich jetzt herbei, und richtete die Augen auf ihn, wie eine Katze auf die Maus, oder wie man liest, daß die Klapperschlange thut, wenn sie die Vögel festbannen [57] will. So kam er ganz nahe zu ihm. »Gott segne Eure Arbeit, Nachbar!« sagte Thomas.

Der Kleine richtete den Kopf in die Höhe: »Ich danke Euch schönstens,« antwortete er.

»Mich wundert, daß Ihr an dem heiligen Tage arbeitet,« sagte Thomas.

»Das ist meine Sorge, nicht Eure!«

»Freilich,« sprach Thomas, »aber Ihr seyd ja wohl so gut, und sagt mir, was Ihr da in der Kanne habt?«

»Herzlich gern,« antwortete der Kleine, »es ist gutes Bier.«

»Bier!« rief Thomas. »Blitz und Hagel! wie seyd Ihr dazu gekommen?«

»Wie ich dazu gekommen bin? Gebraut habe ich es. Und wovon denkt Ihr, daß ich es gemacht habe?«

»Das mag der Kuckuck wissen!« sprach Tho mas, »ich denke, aus Malz, woraus sonst?«

»Ihr irrt, ich mache es aus Heide.«

»Aus Heide!« rief Thomas, indem er in ein lautes Lachen ausbrach. »Ihr denkt doch nicht, daß ich ein solcher Narr wäre, das zu glauben?«

»Wie es Euch beliebt,« antwortete er; »doch, was ich Euch sage, ist wahr.«

»Nun, ich will's glauben!« sagte Thomas. »Gebt mir doch einmal zu versuchen von Euerm Bier.«

»Ich will Euch etwas sagen, junger Mann!« antwortete hierauf das Zwerglein. »Es würde Euch besser ziemen, Euers Vaters Haushalt zu besorgen, als bescheidene und ruhige Leute mit Euern dummen Fragen zu quälen. Eben jetzt, während Ihr Eure Zeit in Müßiggang zubringt, sind die Kühe in den Hafer gerathen, und haben die Frucht ganz niedergetreten.«

Thomas erschrak über diese Nachricht so sehr, daß [58] er eben im Begriff war, sich umzuwenden, als er sich noch besann. Und da er befürchtete, es könnte ihm abermals begegnen, so griff er rasch nach dem Kleinen, und packte ihn mit der Hand; doch in der Hast warf er die Kanne um, und verschüttete all das Bier, so daß er es nicht versuchen und nicht sagen konnte, von welcher Art es gewesen sey. Er schwur dem Kleinen zu, daß er ihm kein Leid zufügen wolle, wenn er ihm zeigte, wo sein Geld wäre.

Thomas sah dabei so bös' und blutdürstig aus, daß das Zwerglein sich gewaltig fürchtete. »Kommt mit mir,« sprach er, »über ein Paar Felder, so will ich Euch einen ganzen Topf voll Gold zeigen.«

Sie gingen fort, und Thomas hielt den Kleinen fest, und wendete die Augen nicht von ihm weg. Sie mußten über Zaun und Graben, denn der Zwerg schien, aus bloßer Schadenfreude, den härtesten und beschwerlichsten Weg auszusuchen, bis sie endlich an sein Feld kamen, das ganz mit Hagebuchen angefüllt war. Hier ging der Kleine auf einen dicken Stamm zu, und sprach: »Grabt nur unter diesem Hagebuchenbaum, Ihr werdet einen ganzen Topf voll Goldstücke finden.«

Thomas hatte in der Hast nicht daran gedacht, einen Spaten mitzunehmen; er wollte nach Hause laufen, und einen holen, und um die Stelle desto besser wieder zu finden, nahm er eins von seinen rothen Strumpfbändern, und knüpfte es um den Hagebuchenbaum.

»Ich denke, Ihr bedürft mein nicht weiter,« sagte das Zwerglein mit Höflichkeit.

»Nein,« antwortete Thomas, »Ihr könnt Eurer Wege gehen, wenn's Euch beliebt. Gott geleite Euch, und gutes Glück folge Euern Schritten.«

»Laßt's Euch wohl ergehen, Thomas!« sagte der Kleine, »und möge Euch Alles zum Glück aus schlagen.«

[59] Thomas rannte, wie besessen, nach Hause, und holte einen Spaten, und lief eben so schnell, was er nur konnte, wieder nach dem Felde zurück. Aber wie er ankam, da war kein Hagebuchenbaum auf dem Felde, um den er nicht ein rothes Strumpfband gefunden hätte, dem seinigen völlig ähnlich. Wo sollte er nun den Schatz auffinden? Das ganze Feld umzugraben, war unmöglich, denn es enthielt mehr, als vierzig Acker Land.

Thomas war also angeführt; er nahm seinen Spaten auf die Schulter, und ging finsterer und kühler, als er gekommen war, wieder nach Hause, und verwünschte den Zwerg, so oft er an den saubern Streich dachte, den er ihm gespielt hatte.

11. Der Wunderstein.

Vor alten Zeiten lebte einmal ein Mann, der verkaufte seinen Acker, und kaufte dafür drei Stücke sehr feines Tuch, um damit Handel zu treiben, und reiste in ein anderes Land.

Auf dem Wege sah er einen Haufen Kinder, die hatten eine Maus an einer Schnur und warfen sie in's Wasser, und zogen sie wieder heraus. Da bat er die Kinder, barmherzig zu seyn, und die Maus laufen zu lassen; die aber sagten trotzig: »Was geht das dich an? wir lassen sie nicht!« Da gab er ihnen ein Stück des Tuches, und die Maus wurde befreit.

Bald darauf fand er einen Haufen anderer Kinder, die hatten einen jungen Affen gefangen, den schlugen sie ganz unbarmherzig, und schrieen dabei immer: »Spring! spring [60] ordentlich! spring besser!« Aber der junge Affe konnte es noch nicht, und machte jammervolle Gebehrden.

Der Mann sah dies mitleidig an, und bat die Kinder, den Affen doch gehen zu lassen, sie aber wollten nicht. Da gab er ihnen das zweite Stück Tuch, und sie ließen ihn los.

Weiter hin traf er einen Haufen Knaben an, die einen jungen Bären hatten, auf welchem sie ritten und ihn prügelten. Der Mann erbarmte sich des Bären, und um ihm die Freiheit zu verschaffen, gab er sein letztes Tuch hin.

Nun hatte der Mann nichts zu handeln, und nichts zu zehren, und dachte: »Was soll ich nun anfangen?«

Als er so denkend weiter ging, fand er auf einer Schilfwiese ein großes Stück seidenes Zeug, mit Goldblumen durchwirkt, das war sehr kostbar. »Ach,« sprach er zu sich selbst, »nun ist dir auf ein Mal geholfen! Um der Barmherzigkeit willen, die du geübt hast, hat der Himmel das Tuch dir siebenfältig ersetzt.«

Kaum war er aber einige hundert Schritte gegangen, da kamen Leute des Weges, die sahen das Zeug, und fragten: »Woher hast du das kostbare Seidenzeug? Das Zeug ist mit andern Stücken aus der Schatzkammer des Königs gestohlen. Nun haben wir endlich den Dieb gefunden; aber wo hast du die andern Sachen?« –

Sie führten ihn vor den König, welcher ihn sehr zornig anredete, und also sprach: »Weil du so Unziemliches und Strafbares begangen, so lege man dich in einen großen Kasten, den man mit einem Nagel von Holz verschließe, gebe dir zwei Brote mit, und werfe dich in's Wasser.«

Also geschah es. Aber der Kasten blieb bald hängen am Ufer, und obwohl die Luft im Kasten bewegt ward, so empfand der Mann doch große Angst, und war schon dem Ersticken nahe, als etwas an dem Holznagel knasperte, und ihm zurief: »Nun drücke ein wenig an dem Deckel!« Und [61] als er drückte, wurde es eine kleine Spalte, der Eingesperrte bekam ein klein wenig Luft, und erkannte durch die Spalte die Maus, welche er losgekauft hatte. Diese sprach zu ihm: »Halte dich noch ein wenig, bis ich meine Gefährten herbeirufe; für mich allein ist es zu schwer.«

Die Maus kam mit dem Affen und Bären. Der Affe erweiterte die Spalte so viel, daß der Bär mit seiner Pratze hinein konnte, und darauf den Kasten mit Gewalt aufbrach, daß jetzt der Mann heraus konnte, und sich auf einem Rasenplatze mitten im Flusse niederließ. Alle drei Thiere brachten ihm hierauf Obst und allerlei Speisen.

Am andern Morgen erblickte der Mann am Ufer einen hellen Schein, und sandte den Affen hin. Der Affe brachte ihm einen glänzenden Stein, der ein Wunderstein war. Da wünschte er sich an das Land, und als er auf dem Lande war, wünschte er sich einen Palast, und alsbald stieg, mitten auf einem großen Platze, ein Palast empor mit allen Gebäuden und kostbaren Geräthen, und mancherlei Bäume standen umher, und Springbrunnen trieben lieblich helles Wasser aus Marmorbecken gen Himmel. In diesem Palaste wohnte er nun, und behielt seine Thiere bei sich.

Nach einiger Zeit kamen Kaufleute in diese Gegend, die verwunderten sich sehr, und sagten: »Wo kommt der Palast her? Hier war sonst ein wüster Platz!« Sie befragten sich bei dem Herrn des Palastes, und dieser zeigte ihnen den Wunderstein, und erzählte ihnen alle seine Schicksale.

Da sprach der Eine: »Nimm Alles, was wir haben, nur laß uns den Stein.« Gutmüthig gab er ihnen den Stein, und ließ ihnen auch ihre Ladungen; »denn,« sagte er, »ich bin ja glücklich und reich genug!«

[62] Als am andern Morgen der Mann erwachte, saß er im Flusse auf dem Grasplatze, und war Alles verschwunden.

Indem er trauernd da saß, kamen die Thiere und fragten: »Was ist dir geschehen?« Da erzählte er ihnen Alles, worauf diese sagten: »Du bist fürwahr zu beklagen; aber sprich, wohin ist der mit dem Stein gegangen? Wir wollen ihn suchen gehen.«

Als sie nun zu dem Kaufmanne kamen, der den Wunderstein hatte, sagten der Bär und der Affe: »Maus, schau umher, wo sich der Wunderstein findet!«

Die Maus schlüpfte durch alle Löcher, und kam in ein geschmücktes Gemach, wo der Kaufmann schlief, welcher den Stein bekommen hatte. Der Stein hing am Ende eines Pfeiles, und der Pfeil steckte in einem Reishaufen, und neben dem Reishaufen lagen zwei angebundene Katzen. Da wagte die Maus sich nicht an den Wunderstein, und sagte es ihren Gefährten.

Der Bär, der, wie gewöhnlich träge und dumm war, weil beides zusammengehört, wollte nichts versuchen, und sagte: »Hier hilft kein Mittel, laßt uns also zurückkehren!« Der Affe aber war anderer Meinung, und sagte: »Vielleicht giebt es doch noch ein Mittel. Du, Maus, gehe zu dem Kaufmann, und benage ihm sein Haar, und in der nächsten Nacht siehe, wer neben dem Kissen des Kopfes wird angebunden seyn.«

Als am nächsten Morgen der Kaufmann sein Haupthaar benagt fand, band er zu Abend die Katzen an's Kopfkissen an.

Die Maus konnte aber in der nächsten Nacht nicht an den Pfeil zum Wundersteine hinan. »Nun,« sagte der Bär, »da giebt es denn weiter kein Mittel; kommt, laßt uns umkehren!« Der Affe aber sagte: »Wohl giebt es dennoch ein Mittel; laßt uns nur nicht gleich verzagen. [63] Maus, gehe und durchwühle den Haufen Reis, bis der Pfeil umfällt, dann bringe den Stein im Maule hierher.«

Die Maus that, wie ihr der Affe gerathen hatte, und schleppte den Wunderstein bis zum Loche, sie konnte ihn aber nicht durchbringen, denn der Stein war zu groß. Das klagte sie ihren Gefährten. »Nun,« sagte der Bär, »so giebt es weiter kein Mittel, und wollen wir wieder nach Hause: denn der Affe und ich, wir können doch nicht durch das Mauseloch kriechen.« Aber der Affe erweiterte das Loch mit seinen Pfoten, bis die Maus mit dem Steine hindurch konnte.

Jetzt wanderten sie zurück, und da sie durch einen Fluß kamen, setzte sich die Maus in's Ohr des Bären, der Affe aber, welcher den Wunderstein im Munde hielt, auf den Rücken desselben.

Als sie in den Fluß kamen, rühmte sich der Bär, daß er auch einmal etwas that, und sagte: »Seht, ist das nicht gut, daß ich euch alle drei tragen kann: Affe, Maus und Wunderstein? Aber das macht, weil ich stärker bin als ihr.« So sprach er noch mancherlei, aber keins antwortete ihm: denn die Maus schlief vor Müdigkeit von der vielen Arbeit, und der Affe hatte den Stein im Munde.

Als nun keine Antwort erfolgte, wurde der Bär recht grollig, und sagte: »Wollt ihr nicht antworten, so werfe ich euch beide in's Wasser!«

»Thue es nicht!« sprach der Affe; und der Wunderstein fiel aus dem Munde in's Wasser.

Als sie jetzt über den Fluß waren, sagte der Affe zürnend: »Du, Bär, bist doch wahrhaftig ein dummes Thier!« Da erwachte die Maus, und fragte: »Was giebt's denn?« Und der Affe erzählte Alles und sprach: »Den Stein aus dem Wasser zu bringen, ist schwerer als Alles. Jetzt wollen wir fortgehen, dahin und dorthin.« Die Maus aber [64] versetzte: »Ich will es versuchen, den Stein aus dem Wasser zu bringen. Ihr Beiden setzet euch weiter ab.«

Die Maus lief längs des Flusses auf und ab, gleichsam als wäre sie ängstlich. Da kamen die Fische und andere Wasserbewohner herbei, und sprachen: »Maus, was hast du für Unruhe?« Die Maus aber sagte: »Wißt ihr denn nicht einmal, daß ein großes Heer anrückt, das alle Wasserbewohner aus dem Wasser forttreiben will?«

Da wurden die Wasserbewohner äußerst bestürzt, und baten die Maus, ihnen zu rathen, was sie thun sollten, um dies Unglück von sich abzuwenden.

»Es bleibt kein anderes Mittel übrig,« antwortete die Maus, »als Steine herbei zu tragen, und am Ufer einen Damm aufzuführen.«

Dieser Rath gefiel den Wasserbewohnern. Sie fingen sogleich an, Steine aus der Tiefe des Wassers herbeizutragen, und endlich brachte ein großer Frosch den Wunderstein, und sagte: »Der Stein ist recht schwer!«

Als nun der Stein da war, lobte der Affe die Maus wegen ihrer Klugheit, und alle drei gingen nun zu dem Manne, der aber kaum noch lebte. Sobald er den Stein wieder hatte, wünschte er sich an's Land, und wünschte dann wieder einen Palast, geschmückt wie der erste, und noch mehr.

Den Stein ließ er nun nicht mehr von sich, aber die drei treuen Gefährten auch nicht. Der Bär aß und schlief; der Affe aß und tanzte, und die Maus aß und schlüpfte durch alle Winkel und Löcher; nie aber durfte eine Katze in den Palast kommen.

[65] 12. Die Schlangenkrone.

An dem Ufer eines klaren Bächleins ritt einmal ein Königssohn, und sah, wie die kleinen Fischchen lustig im Wasser herumschwammen, und wie die Sonnenstrahlen in den kleinen Wellen sich mannichfaltig brachen, und die Farben des Regenbogens in schönem Glanze ihm entgegenwarfen, denn es war an einem warmen Sommertage.

Da sah er auf einmal, wie eine Schlange aus einem Felsen hervorkam, und sich dem Bächlein näherte: er hielt darum sein Pferd an, und betrachtete die Schlange. Sie war von wunderschöner Farbe. Goldene und silberne Schuppen wechselten auf ihrem Rücken und leuchteten weithin, wenn die Sonnenstrahlen darauf fielen. Auf ihrem Kopfe trug sie eine Krone, die übertraf an Pracht alle Schätze der Welt. Sie schien aus einem Diamanten gemacht, und glänzte so stark, daß er sich fast die Augen zuhalten mußte. Die Schlange aber legte die Krone auf einen großen Stein, der am Wege lag, und ging dann in das kühle Wasser, um sich darin zu baden.

Als dies der Königssohn bemerkte, ritt er schnell an die Stelle hin, stieg vom Pferde ab, nahm eiligst die Krone, schwang sich dann wieder auf sein Pferd, und galoppirte davon. »Das ist eine Kostbarkeit,« sagte er, »wie mein Vater keine in seiner Schatzkammer hat. Aber was für ein dummes Thier ist doch die Schlange! Ich habe immer von der Klugheit der Schlangen sprechen hören, und doch legt die Schlangenköniginn, – denn das muß sie wohl seyn, – ihre Krone an den Weg, wo sie jeder nehmen kann, wer Lust dazu hat.«

So sprach er für sich, und betrachtete bald das köstliche Kleinod, bald machte er sich über die Schlange lustig, und [66] bald dachte er an die große Belohnung, die ihm der König, sein Vater, ertheilen werde.

Auf einmal aber hörte er hinter sich ein sonderbares Pfeifen und Zischen. Es wird der Wind seyn, dachte er, der durch die Zweige der Bäume streicht. Aber das Pfeifen und Zischen kam immer näher, und es rauschte schon dicht hinter ihm. Da sah er sich um, und gewahrte hinter sich viele tausend Schlangen, die hatten ihre Königinn an ihrer Spitze, und verfolgten ihn. Es war vergeblich, daß er sein Pferd zum stärkeren Springen antrieb, die Schlangen übertrafen es an Schnelligkeit. Schon wollten sich einige um die Füße des Pferdes winden, und es niederstürzen; da ward ihm um sein Leben bange, und er warf die Krone ihnen zu, in der Hoffnung, daß sie ihn dann nicht weiter verfolgen würden. Die Schlangen ließen auch wirklich von ihm ab; als aber die Königinn ihre Krone aufgesetzt hatte, verdoppelten sie ihre Schnelligkeit, und waren schon wieder nahe hinter ihm. Er warf ihnen seinen Hut herab, aber obgleich ein Theil der Schlangen zurückblieb, und ihn ganz durchlöcherte, so verfolgte ihn doch der größte Theil derselben, hing sich an das Pferd, und wickelte sich um seine Beine, bis es niederfiel. Da ließ der Königssohn sein Pferd, und floh zu Fuß in die Stadt.

Sein Vater aber, der König, stand oben an einem Fenster, und sah, wie sein Sohn voll Schrecken in den Palast hereintrat.

»Was ist dir widerfahren?« fragte er ihn eilig. Und der Königssohn erzählte, was ihm begegnet sey. Der alte König aber hörte ihm aufmerksam zu, dann sprach er: »So weiß ich denn endlich, wo der Schatz zu finden ist! Schon seit zehen Jahren schicke ich im Geheim Boten durch alle Länder, um eine Schlangenkrone zu suchen; aber nie konnte ich dazu kommen, und doch hat mir ein weiser Mann versichert, [67] daß eine Schlangenkrone mir ein großes Glück verschaffen würde. Geschwind, mein Sohn, zeige mir den Platz, wo du sie gesehen hast, ich will, ich muß diese Krone besitzen.«

Der Königssohn aber rieth seinem Vater, von einem so gefährlichen Unternehmen abzulassen. »Seht,« sprach er, »nur mit der größten Mühe bin ich selbst der Todesgefahr entronnen, darum begebt Euch nicht in gleiche Gefahr.« Aber der König ließ sich nicht abhalten. »Wenn Du nicht mitgehen willst,« sagte er, »so will ich es allein versuchen.« Da ließ er sich sein schnellstes Pferd satteln, und ritt hinaus an den Ort, den ihm sein Sohn bezeichnet hatte. Er war aber kaum an den Bach gekommen, als eine ungeheure Menge von Schlangen sich ihm entgegen stellte, und ihm eine solche Furcht einjagte, daß er augenblicklich wieder umkehrte.

Der König gab aber deswegen die Hoffnung noch nicht auf, zum Besitze der Schlangenkrone zu gelangen. Er schickte viele seiner besten Reiter und Soldaten an den Platz; aber Alle erschraken vor der Menge und dem Zorne der Schlangen, so daß sich keiner getraute, unter sie hin zu reiten, und also unverrichteter Sache wieder zurückkehrten. Da versprach der König dem, der ihm eine Schlangenkrone bringen würde, einen Theil seines Landes, und ließ dies in seinem ganzen Reiche bekannt machen.

Zu dieser Zeit aber lebte in einem Thale ein Mann und eine Frau, die hatten keine Kinder gehabt. Der Mann war einst in den Wald gegangen, und hatte da ein kleines Kind gefunden, das hatte er zu sich genommen, und es auferzogen; er und seine Frau aber hielten es, wie ihr eigenes Kind, und liebten es als ihre Tochter. Das Mädchen aber wuchs heran, und ward schön und fromm, und hütete die paar Ziegen und Schaafe, die den Reichthum ihrer Aeltern [68] ausmachten: denn für das hielt sie die Leute, in deren Hause sie lebte, und nannte sie Vater und Mutter.

Eines Tages aber, als das Mädchen auf einem Berge ihre Ziegen und Schaafe weidete, verlief sich ein Schaaf in das Gebüsch. Das Mädchen lief ihm nach, aber das Schaaf ging immer weiter und weiter, bis es ihr endlich ganz aus den Augen war. Da kam das Mädchen an den Eingang einer Höhle, und glaubte, das Lamm möchte sich wohl darein verlaufen haben, und trat hinein. Doch sie fand es nicht. Da ihr aber am Ende der Höhle ein sonderbares Licht entgegenstrahlte, ging sie weiter und weiter; doch der Glanz zog sich immer vor ihr zurück. Aus Furcht, sie möchte den Rückweg nicht mehr finden, wandte sie sich um; sobald sie aber den ersten Schritt gethan hatte, wich der Boden unter ihren Füßen, und sie sank in eine tiefe, tiefe Höhle hinab. Sie war aber nicht gefallen, sondern nur ganz sanft hinabgeglitten.

Als sie sich umsah, befand sie sich in einem großen, unterirdischen Gemache, das von glänzenden Säulen getragen ward; die Wände aber glänzten von Edelsteinen, und erleuchteten es, wie Tageslicht; die rundgewölbte Decke war von einem himmelblauen, glänzenden Marmorstücke, und goldene Sterne bewegten sich daran, wie am Himmel. An dem einen Ende des Gemaches stand auf einem weißen Gestelle eine grüne Urne, die war aus einem Steine wie ein Blatt gearbeitet, und darauf lag die Schlangenköniginn mit ihrer Krone auf dem Haupte.

Das Mädchen war von Staunen und Schrecken ergriffen, als sie die große Schlange sah; die Königinn aber betrachtete sie eine Zeitlang mit unverwandtem Blicke, dann pfiff sie, und durch eine Oeffnung in der Wand kamen zwei andere Schlangen; die eine trug in ihrem Maule ein Halsband mit Edelsteinen, und die andere ein verschlossenes Kästchen [69] in einem mit Diamanten besetzten Ringe; sie näherten sich dem Mädchen, und richteten sich empor, gleichsam als ob sie es ihr geben wollten. Das Mädchen zögerte anfangs, es zu nehmen; als ihr aber die Schlangen mit dem Kopfe zunickten, nahm sie es ihnen ab. In demselben Augenblicke aber ward sie in die Höhe gehoben, und stand in der Höhle, in die sie hereingetreten war. Sie ging hinaus, und kam auf dem Berg bald wieder zu ihrer kleinen Heerde, die trieb sie eilig nach Hause, und erzählte ihren Aeltern, was ihr begegnet war. Da öffnete sie das Kästchen, und fand darin eine prächtige Krone, die glänzte wie die Sonne am Mittag, denn sie war aus einem Diamanten gemacht. »Das ist eine Schlangenkrone,« sagte ihr Vater, »komm, laß uns zum König gehen, und ihm die Krone bringen.«

Da zog das Mädchen ihre Sonntagskleider an, und wollte das Halsband um ihren Hals legen, aber es war viel zu klein; da knüpfte sie noch ein rothes Band daran, und legte es so um ihren Hals, und ging mit ihrem Vater zum König.

Als sie vor den König kam, sprach der Mann: »Wir bringen Euch die Schlangenkrone, nach der Ihr so lange gesucht habt.« Dabei öffnete er das Kästchen, und zeigte ihm die diamantene Krone, die wie die Sonne glänzte.

Der König war hocherfreut, und ließ sich ausführlich erzählen, wie sie zu der Krone gekommen seyen.

Als sie mit der Erzählung fertig waren, da ward der König sehr nachdenklich; er sah das Mädchen an, und blickte dann wieder nach einem Bilde, worauf seine verstorbene Gemahlinn abgemalt war. Dann ließ er eine Dienerinn rufen, und sprach zu ihr: »Kennst du dies Mädchen?« Die Dienerinn aber hatte sie kaum angesehen, da rief sie laut: »Herr König, das ist Eure Tochter, die Euch als Kind geraubt worden ist; seht hier das Halsband, welches [70] sie damals umgehabt hat, seht, wie ähnlich sie Eurer Gemahlinn sieht!«

Da erzählte auch des Mädchens Vater, als es der König begehrte, wie er das Kind gefunden, es zu sich genommen und erzogen habe. Der König erkannte nun, daß es seine Tochter sey, die als ein kleines Kind ihm geraubt worden war. »So ist denn die Vorhersagung erfüllt!« rief er aus; »ich habe mit der Schlangenkrone ein großes Glück erhalten; ich habe mein lange verlorenes Kind wieder gefunden.«

Hierauf ließ er dem Mädchen köstliche Kleider anziehen, und setzte ihr die kostbare Krone aufs Haupt; dem Manne aber, der sie erzogen hatte, schenkte er ein großes Land, und ließ im ganzen Reiche bekannt machen, wie er seine längst verloren geglaubte Tochter wieder gefunden habe. Darauf lebte er noch lange, freuete sich des Besitzes einer so vortrefflichen guten Tochter, und erreichte ein hohes, glückliches Alter.

13. Die Nelke.

  • Die Nelke. (Johann Heinrich Lehnert: Mährchenkranz für Kinder)
    Die Nelke.

Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein König, der ein braver und frommer Mann war. Er hatte noch keine Gemahlinn, und wollte lieber allein bleiben, als sich eine Frau nehmen, die nicht nach seinen Wünschen war.

Das Mädchen aber, wie er es sich wünschte, sollte ein gutes, frommes Herz haben, sanft und bescheiden, still und sittsam seyn; dabei galt es ihm gleich, aus welchem Stande sie wäre; auch sah er nicht auf Reichthum und auf Schönheit [71] des Körpers, weil dergleichen vergängliche Dinge allein den Menschen noch nicht glücklich machen könnten.

Lange schon hatte er nach einem solchen Mädchen geforscht, aber es immer noch nicht finden können, und wenn er auch zuweilen glaubte, es gefunden zu haben, so sah er doch bald, daß er sich geirrt habe.

Nun stand er an einem Sonntagsmorgen, als eben die Leute zur Kirche gingen, am Fenster, und sah eine wohlgekleidete Jungfrau daher kommen, die recht andächtig und sittig mit in die Kirche ging, und es war, als stände auf ihrem Gesichte geschrieben, daß sie von Herzen gut sey, und fromm und untadelhaft.

Da dachte er, die könnte wohl die rechte seyn, und als er hörte, daß sie ganz so war, wie er wünschte, so nahm er sie sich zur Gemahlinn, und beide waren recht glücklich, daß sie einander hatten; denn beide waren gleich fromm und gut. Aber noch weit glücklicher wurden sie, als der liebe Gott ihnen ein Prinzchen bescheerte, das recht munter und gesund war, worüber sie eine große Freude hatten.

Als nun der kleine Prinz getauft werden sollte, da sagte der König zu seine Gemahlinn: »Der liebe Gott hat uns das Kind geschenkt, er wird uns nun auch einen braven Gevattersmann schicken, der es recht gut mit unserm Kindlein meint. Ich will dieserhalb verkleidet und unbekannt ein wenig ausgehen, und der Erste, der mir auf der Straße begegnet, soll mein Gevatter, und unseres Kindes Pathe seyn.«

Das that er auch; und es begegnete ihm alsbald ein Mann, ganz einfach gekleidet, mit ernstem Angesicht, den eben niemand zu kennen schien. Er ging ihm nach, um zu sehen, wo er wohne, und erfuhr nun, daß er ein gottesfürchtiger Mann sey, der sich nicht viel mit der Welt abgebe, sondern er lebe ganz einsam vor sich hin, und thue [72] Keinem etwas zu Leide, Vielen aber Gutes, jedoch im Stillen.

»Das ist mein Mann!« sagte der König, und ging zu ihm hin, und bat ihn zum Gevatter.

Der Mann nahm die Einladung des Königs an, und versprach zu kommen.

Als nun der Tauftag erschien, kam der Mann, und bat den König, daß er das Kind allein zur Kirche tragen dürfe, und daß die Kirche hinter ihm zugeschlossen werden sollte.

Das hatte aber ein neugieriger Gärtner gehört, und weil ihm der Wunsch des Mannes so seltsam vorkam, so schlich er sich vorher heimlich in die Kirche, und versteckte sich, daß er nicht gesehen werden konnte. Da merkte er auf Alles, was der Mann that und sprach, und sah, wie er das Kind auf seinen Armen zum Altar trug, und Zeichen über dasselbe machte, und nachdem er ein frommes Gebet gesprochen hatte, ihm die Gabe verlieh, daß Alles, was es wünschen würde, ihm gewährt seyn sollte.

Da ward der Gärtner froh, und sann sich Böses aus, und dachte: Das soll dir zum Vortheil seyn!

Als nun eines Tages die Königinn mit dem Kinde auf dem Arme, und von der Wärterinn begleitet, im Schloßgarten spazieren ging – da brach plötzlich aus dem Gebüsche ein Bär auf sie ein, der hatte zwei Hörner am Kopfe, Greiffüße und greuliche Krallen, damit entriß er der Königinn, die in Ohnmacht gefallen war, das Kind, und trug es fort, indem er brummte: »Ich will es fressen!« Die Wärterinn aber war vor Angst und Schreck gleich davon gelaufen, ohne sich um die arme Königinn weiter zu bekümmern.

Unterdessen hatte der König das Unglück erfahren, welches seiner Gemahlinn begegnet war, und lief eiligst in den [73] Schloßgarten, ihr beizustehen. Sie hatte sich zwar schon wieder von ihrer Ohnmacht erholt; als sie aber ihr Kind nicht mehr sah, da fing sie bitterlich an zu weinen, und schrie und klagte: »Ach mein Kind, mein liebes Kind, das hat mir der Bär genommen und gefressen!« Da weinte und jammerte der König mit ihr, und beide waren trostlos, und konnten sich nicht zufrieden geben: denn sie hatten den kleinen Prinzen herzinniglich lieb, und große Freude an ihm.

Der Bär aber fraß das Kind nicht, denn es war kein wirklicher Bär; sondern der Gärtner, der den Mann in der Kirche behorcht, und sich nun vermummt hatte, um den Prinzen zu stehlen, damit er ihn einst zu seinem Nutzen gebrauchen könnte.

Damit aber niemand den Prinzen wiederfinden möchte, so trug er ihn weit, weit weg in einen Wald, wo lang und breit keine Menschen wohnten, als ein Förster, der sein alter Schulkamerad war. Dem erzählte er Alles, was sich mit dem Kinde zugetragen hatte, und stellte ihm vor, wie viel Gewinn sie einmal von der Habe des Prinzen haben könnten. Der Förster aber, der auch ein habsüchtiger Mann war, ließ sich bereden, nahm das Kind zu sich, und erzog es mit seiner Tochter, die Marie hieß, und von gleichem Alter mit dem Prinzen war.

Die Kinder wuchsen zusammen auf, und spielten und lernten mit einander, und ließen nicht von einander. Der Prinz wurde ein Jägersmann, und war brav und ehrlich, und Marie besorgte den Haushalt, und war sanft und fromm, dabei aber auch klug und schlau. Sie hatte schon öfters bemerkt, daß der Gärtner, wenn der Prinz im Walde war, heimlich viel mit ihrem Vater zu sprechen hatte, und daß ihr Gespräch den Prinzen betreffen müsse. »Was mag das zu bedeuten haben?« dachte sie; »du mußt doch einmal sehen, ob du es nicht erfahren kannst.«

[74] Als darauf der Gärtner wieder kam, und mit ihrem Vater in ein Nebenzimmer ging, paßte sie auf, und erfuhr nun, daß der junge Jägersmann, den sie immer für einen nahen Verwandten gehalten hatte, der Sohn des Königs sey, den der Gärtner als ein ganz kleines Kind der Königinn weggenommen habe, weil Alles, was er wünsche, sogleich in Erfüllung gehe.

Das hinterbrachte nun Marie dem Prinzen. »Gut,« sagte der Prinz, »daß ich das weiß. Aber von dir, gute Marie, laß ich nie, obschon ich ein Prinz bin: denn wir sind beisammen aufgewachsen, und müssen nun auch immer beisammen bleiben, weil wir uns einander gut sind, und von Herzen lieb haben.«

Nicht lange darauf kam der Gärtner wieder. Als der Prinz, der schon immer auf seine Ankunft gelauert hatte, ihn erblickte, verwünschte er ihn zu einem Pudel, seine Marie aber wünschte er zu einer Nelke. Dann ging er sogleich an seines Vaters Hof, und ließ den verwandelten Gärtner als Pudel neben sich herlaufen; aber seine Marie steckte er als Nelkenstrauß vor seine Brust.

Dem König gefiel der junge ernste Bursche sehr wohl, und er nahm ihn als Jäger in seinen Dienst. Er hatte ihn oft um sich, und gewann ihn täglich lieber, und nahm ihn immer mit sich auf die Jagd; zuletzt konnte er gar nicht ohne ihn leben, und es war ihm, als ob ihm etwas fehle, wenn der Jüngling nicht um ihn war. Mehrmals hatte der König ihm einen reichlichen Lohn für seinen Dienst geben wollen, aber er nahm nichts an, auch kein Essen. »Ich bedarf nichts, gnädiger König,« sagte er immer; »ich will Euch nur dienen aus Liebe.« Nur eine eigene Kammer hatte er gefordert, die er verschließen konnte, und hatte sie auch bekommen.

Das Alles kam seinen Kameraden ganz wunderlich vor, [75] und sie beneideten ihn ein wenig, weil er beim Könige so viel galt, und es ihnen Allen zuvor that: denn wenn niemand ein Wild fand, oder es erlegen konnte, so brachte er immer von allerlei Art. Das war aber keine Kunst, weil er ja nur zu wünschen brauchte.

Nun war es ihnen schon lange aufgefallen, und sonderbar vorgekommen, daß der junge Bursche seine Stube immer verschlossen hielt, er mochte darin seyn oder nicht. Da hätten sie gern gewußt, warum er das thäte, und sie nahmen sich vor, ihn zu belauschen.

Als er daher eines Mittags in seiner Stube war, sahen sie heimlich durchs Schlüsselloch, und erblickten den Jäger vor einem Tische sitzend, der mit den herrlichsten Speisen, und auch mit Wein, besetzt war, und ein hübsches Mädchen saß ihm gegenüber, und beide aßen und sprachen mit einander vergnügt und vertraulich. Da wunderten sie sich, wie er zu dem köstlichen Essen und dem niedlichen Mädchen gekommen sey. Das Essen hatte er sich aber nur zu wünschen gebraucht, und seine Marie durfte keine Nelke bleiben, wenn er daheim war, sondern bekam ihre natürliche Gestalt.

»Der muß recht reich seyn!« dachten die Kameraden, und brachen in seine Stube ein, als er einmal nicht zu Hause war, und glaubten nun große Reichthümer zu finden; aber sie fanden nichts, als eine wunderschöne Nelke in einem Glase mit Wasser. Die nahmen sie, und trugen sie, ihrer Wunderschönheit wegen, zum Könige. Der König aber bewunderte die herrliche Nelke, und da sie ihm ganz außerordentlich gefiel, so beschloß er, sie dem Jäger für großes Geld abzukaufen. Aber als die Nelke im Zimmer des Königs war, trauerte sie, und ließ die Blätter hängen.

Nun mußte der Jäger zum Könige kommen, der ihn recht freundlich empfing, und ihn fragte, ob er ihm nicht [76] die schöne Nelke, die auf seiner Stube gestanden habe, verkaufen wolle?

»Nein, edler Herr,« antwortete der Jäger, »die Nelke taugt nicht in Euern Händen; seht nur, wie sie die schönen Blätter hängen läßt.« Darauf nahm er die Nelke, und sagte: »O nein, liebe Nelke, dich laß ich nun und nimmermehr!« Indem er dies sagte, fing die Nelke an, sich wieder frisch aufzurichten, und einen wunderlieblichen Geruch umher zu verbreiten.

»Was sind das für wunderliche Dinge, mein Sohn?« fragte der König.

»Ja!« sprach der Jäger, »Euer Sohn bin ich wirklich.« Und nun entdeckte er dem Vaters Alles, wie es sich begeben hatte. Sogleich verwandelte er auch den Pudel wieder in den Gärtner, damit er die Wahrheit seiner Rede bezeugen sollte, und als er das gethan hatte, den Gärtner wieder in einen Pudel.

Die Aeltern, welche nun gar nicht daran zweifeln konnten, daß der junge Jäger wirklich ihr Sohn sey, waren überaus erfreut, und schlossen ihn entzückt in ihre Arme; die treue Marie mußte den Prinzen heirathen; aber der Pudel mußte Pudel bleiben, und unter dem Tische der Stallknechte sich Brot und Knochen suchen. – Alles im Schlosse und im ganzen Königreiche war froh, daß der Prinz wieder da war, nur der Pudel war es nicht.

14. Das Waldweibchen.

Vor alten Zeiten lebte einmal ein armer Häusler mit seiner Frau und einem Häufchen Kinder. Da sie nur ein [77] kleines Hüttchen und ein Stück Gartenland besaßen, so mußten Vater und Mutter bei den Landleuten um's Tagelohn arbeiten, die etwas erwachsenen Kinder aber im Sommer in den Wald gehen, und Erd- und Heidelbeeren pflücken, oder Holz für den Winter zusammen tragen, zur Erntezeit aber Aehren auf den Feldern sammeln. Käthchen, die älteste Tochter, mußte die gesammelten Beeren nach der Stadt zum Verkauf tragen, und aus dem gelösten Gelde mancherlei kleine Bedürfnisse ankaufen und mitbringen.

Je öfterer aber Käthchen in die Stadt ging, desto unzufriedener kam sie nach Hause. »Wie gut haben es doch die Mädchen in der Stadt!« pflegte sie auf dem Rückwege bei sich selbst zu sagen; »alle Tage leben sie herrlich und in Freuden, und die Arbeit, die sie verrichten müssen, wird auch so viel nicht zu bedeuten haben. Unser eins muß sich den ganzen Tag placken und quälen, und wenn der Sonntag kommt, so hat man es auch um nichts besser. Jene können sich putzen mit schönen seidenen Kleidern, tragen feine Halstücher mit Spitzen; aber so gut wird es mir wohl nicht werden!«

Solche und ähnliche Klagen führte sie beständig, und verbitterte sich dadurch das Leben. Jede, auch die geringste Arbeit, ward ihr sauer und beschwerlich; sie vernachlässigte bald dieses, bald jenes, was sie hatte verrichten sollen, und Alles that sie mit Unlust und Widerwillen.

Eines Tages war sie von ihren Aeltern in den Wald geschickt, um Holz zu holen. Das war ihr nicht recht, und sie beklagte sich im Stillen über die schwere Arbeit. Sie hatte sich eben auf einen alten Eichenstamm gesetzt, und überlegte bei sich, wie sie es wohl anzufangen habe, um sich ein bequemeres Leben zu verschaffen, als auf ein Mal ein altes Mütterchen vor ihr stand, und sie gar freundlich also anredete: »Armes Kind, ich kenne deine Noth, und weiß, [78] wie sauer du es dir mußt werden lassen; wenn du mir folgen wolltest, so solltest du bald ein glücklicheres Leben führen. Ob ich gleich arm und bettelhaft aussehe, so besitze ich doch viele Kostbarkeiten und ein schönes Schloß, worin viele so junge Mädchen, wie du bist, wohnen. Es fehlt ihnen an nichts; sie tragen die schönsten Kleider, brauchen nicht zu arbeiten, und tanzen und spielen den ganzen Tag. Willst du also deine Hände und Füße nicht mehr an Dornen und Wurzeln blutig ritzen, und alle Tage unter so schwerer Arbeit seufzen, so folge mir in mein Schloß, wo dich die andern Mädchen mit Freuden aufnehmen werden.«

Käthchen war erstaunt über dies Anerbieten, und hatte große Lust, es anzunehmen. Doch, meinte sie, wolle sie ihre Aeltern erst deshalb befragen.

»Das ist nicht nöthig,« sagte die Alte, »denn deine Aeltern werden dich um ein solches Glück nur beneiden, und mich bei dir verhaßt zu machen suchen. Ueberlege es dir indessen, und wenn du nach einigen Tagen wieder hieher in den Wald kommst, dann theile mir deinen Entschluß mit; ich hoffe, du wirst mir schon folgen.«

Bei diesen Worten trippelte das Waldweibchen fort, und verschwand bald im dichten Gebüsche.Käthchen aber raffte ihr Holz zusammen, und ging ganz in Gedanken nach Hause. Sie war lange unschlüssig, ob sie ihren Aeltern den Vorschlag im Walde erzählen sollte. Da sie aber immer so ängstlich und verlegen war, und der Vater sie befragte, was sie denn vorhabe, so sagte sie ihm Alles, was ihr im Walde begegnet sey.

»Ei, ei, mein Kind!« sagte der Vater, »du bist in gefährliche Hände gerathen, denn das alte Weib, mit dem du gesprochen hast, und das dir ein so schönes Leben verheißen, ist eine arge Zauberinn, die junge Mädchen in ihr Schloß führt, und sie zu Zaubermitteln abrichtet. Folge ihr ja [79] nicht, denn wer einmal in ihrer Gewalt ist, kann so leicht nicht wieder befreit werden.«

Käthchen überlegte sich die Worte des Vaters, und meinte, es würde so schlimm nicht seyn mit dem Waldweibchen, als er sagte. Endlich glaubte sie gar, es möchte wohl Neid von ihm seyn, und er gönne ihr das verheißene Glück nicht, wie ihr ja das alte Mütterchen im Voraus schon gesagt habe.

Das schöne Schloß und die geputzten Mädchen lagen Käthchen beständig im Sinne; doch konnte sie sich noch nicht entschließen, ihre Aeltern zu verlassen. Als sie daher wieder nach dem Walde gegangen war, und das alte Mütterchen sie befragte, ob sie ihr denn nicht folgen wolle, sagte sie: »Der Vater hat es mir verboten, und mich vor dir gewarnt, darum weiß ich noch nicht, was ich thun soll.«

»Siehst du,« erwiederte die Alte, »daß ich wahr rede! Habe ich dir nicht gleich gesagt, daß deine Aeltern mich verleumden und dir ein so glückliches Loos mißgönnen werden, weil es ihnen nicht beschieden ist? Nun, ich überlasse es ganz dir, und denke, du wirst nächstens, wenn wir uns wieder hier im Walde treffen, recht gern mit mir gehen.«

Als sie sich entfernt hatte, machte sich auchKäthchen auf den Rückweg, verfehlte aber, in ihre Gedanken vertieft, den rechten Weg, irrte lange im Walde umher, und kam endlich ganz spät nach Hause.

»Wo bist du so lange geblieben?« rief ihr die Mutter drohend entgegen; »du hast gewiß wieder mit dem alten bösen Weibe die Zeit verplaudert?«

Käthchen leugnete, und entschuldigte sich damit, daß sie den rechten Weg verfehlt habe. »Das ist nicht möglich,« sagte die Mutter, »da du den Weg und das Holz ganz gut kennest, und dich auch noch niemals darin verirrt hast.« Käthchen aber blieb hartnäckig bei ihrer Antwort, und [80] als nun die Mutter böse ward und ihr Vorwürfe machte wegen ihrer lügenhaften Ausrede, da lief sie weinend und ergrimmt fort, immer dem Walde zu.

Es war aber schon spät am Abend, und trübe, schwarze Gewitterwolken standen rings um den Himmel. Käthchen ließ sich dadurch nicht abschrecken, sondern eilte unaufhaltsam vorwärts. Eben wollte sie in den Wald hineingehen, als plötzlich eine weibliche Gestalt in weißem Kleide ihr in den Weg trat, und sie freundlich mit der Frage anredete, wohin sie denn noch so spät wolle?

»Zum Waldweibchen!« antwortete Käthchen.

»Unglückliche!« sagte die Fremde, »zu der argen Zauberinn? Du hast dich, wie so viele andere Mädchen, von dem reizenden Leben verblenden lassen, das sie dir geschildert hat; aber du bringst dich um deine Ruhe und Freiheit. Kehre um, noch ist es Zeit! Ich bin die Fee Cöleste, und meine es gut mit dir.«

»Laß mich,« erwiederte Käthchen; »du willst mich nur um mein Glück bringen, und gönnst mir die schönen Tage nicht, die ich bei dem Waldweibchen finden werde.«

»Du täuschest dich, liebes Kind!« sagte die Fee, und bat sie, von ihrem Vorhaben abzustehen, wenn sie sich nicht unglücklich machen wolle. »Sieh!« fuhr sie fort, »der Himmel ist deinem Unternehmen zuwider, und warnt dich vor der bösen That. Hörst du den fernen Donner? schwer und ernst ziehen die Gewitterwolken herauf! Kehr' um, Käthchen, geh' zu deinen Aeltern und Geschwistern; bleibe arm, aber unschuldig und gut!«

Käthchen hörte nicht auf die wohlgemeinten ernsten Ermahnungen und Warnungen der gütigen Fee Cöleste, sondern lief in den Wald hinein, immer vorwärts.

Unterdessen war das Gewitter höher heraufgezogen, der Sturm brauste furchtbar durch den Wald, und zerbrach [81] Aeste und Zweige. Gluthrothe Blitze zuckten durch das düstere Dunkel, und erhellten schauerlich die Nacht des Waldes. Immer näher und näher rollten die Donner, Regenströme ergossen sich herab, undKäthchen wußte nicht, wohin sie sich in der Angst wenden sollte. Jetzt gedachte sie an ihre Aeltern und an die Worte der Fee, und sie war schon im Begriff, umzukehren, aber ein Waldbach mit seinen reißenden Fluthen versperrte ihr den Weg. Da erschien das Waldweibchen, faßte sie bei der Hand, und sagte: »Armes Kind, komm schnell mit mir, du sollst bald geborgen seyn vor dem grausen Ungewitter.« Und im Augenblick sah sich Käthchen, ohne zu wissen – wie? in eine großen, prächtig erleuchteten Saal versetzt, von dessen Decke drei silberne Kronenleuchter, mit den köstlichsten Edelsteinen besetzt, herabhingen, und unzählige Wachskerzen brannten auf ihnen. Der Saal war von buntem Marmor, die Wände mit Gold- und Silberstoffen geziert, und ein starker Duft von den mannichfaltigsten Blumen verbreitete sich überall. Käthchen saß mit dem alten Mütterchen auf einem seidenen Kanapee, und wußte nicht, was sie zuerst bewundern sollte.

»Ist's hier nicht besser, als dort in eurer russigen Hütte?« sagte sie zu ihr. Käthchen aber konnte nicht Worte finden, um der Alten zu danken. »Folge mir nur in Allem,« sagte diese, »so wirst du es nicht bereuen, mit mir gegangen zu seyn. Jetzt komm, daß ich dich sauber und nett ankleide, und deinen Gespielinnen dich vorstelle.« Sie führte sie hierauf in ein zierliches Stübchen, wo ein schöner Schrank von Ebenholz mit vergoldetem Schnitzwerk sich befand; diesen öffnete sie und sprach: »Alle Kleider, die du hier siehst, gehören dir; dies Stübchen bewohnst du allein, und schläfst auch hier.«

Nun mußte sich Käthchen mit wohlriechendem Wasser [82] waschen, unsichtbare Hände bedienten sie, kleideten sie an, ringelten ihre Haare, und putzten sie auf das Schönste aus. Dann hielt ihr das Mütterchen einen Spiegel vor, und sagte: »Nun, wie gefällst du dir so?« Käthchen erstaunte über sich selbst, und bewunderte sich mit vieler Eitelkeit; selbst die Mädchen in der Stadt dünkten sie schlecht dagegen angezogen zu seyn.

Waldweibchen führte sie wieder in den Saal zurück, wo eine Menge junger, und eben so schön geschmückter Mädchen versammelt war, die sogleich auf Käthchen zugingen, sie umarmten und küßten, und ihr versprachen, das Leben so heiter zu machen, daß sie sich nicht wegsehnen sollte. Dann flochten sie ein Kränzchen von grünen Blättern in ihre Locken, und reichten ihr allerhand köstliche Früchte und Leckereien dar, welche Käthchen um so begieriger verzehrte, da sie dergleichen Süßigkeiten noch nie genossen hatte.

Endlich, da sich Alle müde fühlten, sagten sie freundlich einander gute Nacht, und Käthchen, zufrieden und glücklich durch ihre neue Lebensart, entschlief unter süßen Träumen, und wurde am folgenden Morgen erst spät durch ihre Gespielinnen geweckt, welche mit ihr einen Spaziergang machen wollten. Schnell war sie in ihren Kleidern, und nun zogen sie zusammen fort.

Der Palast des Waldweibleins war in einem Thale, welches mit den schönsten und mannichfaltigsten Blumen geschmückt war; aber Käthchen kannte keine derselben; sie bemerkte weder das bescheidene Veilchen, noch die Lilie der Unschuld, noch die Rose der kindlichen Liebe. Alle Blumen hier waren von hochrother und gelber Farbe, oder aschgrau und braun. Anfangs schienen sie ihr nicht so schön, als die andern Mädchen behaupteten, und nur nach und nach erhielten sie mehr Reiz für sie.

Bäche flossen hier und dorthin, mit lieblichen Gebüschen [83] umgeben; schöne bunte Vögel saßen auf den Zweigen, und sangen munter und lustig; köstliche Früchte winkten von den tief gebogenen Zweigen der Bäume; kurz, Alles war hier vereinigt, was eine Gegend nur schön und reizend machen konnte.

Ihre Gespielinnen zeigten ihr hierauf die Pracht und die Reichthümer des ganzen Schlosses. In einem Zimmer fanden sie große Haufen seidene Zeuge und die schönsten Spitzen, in einem anderen kostbare Edelsteine, in einem dritten feines Nesseltuch und Flor, und so immer fort. Zwei Zimmer waren noch übrig, in welche sie nicht gingen. »In dem einen,« sagten die Mädchen, »sind die sprechenden Vögel, und zu diesen dürfen wir nicht; und das andere ist die dunkele Kammer, in welche Waldweibchen alle diejenigen sperrt, welche die sprechenden Vögel besuchen, oder es wagen, außerhalb des Thales zu gehen.«

Käthchen hatte Alles mit Verwunderung gesehen und gehört, und der Aufenthalt bei dem Waldweibchen machte ihr anfangs viel Vergnügen. Den ganzen Tag ging sie im Thale spazieren, und mußte sich die Namen der Blumen merken, und deren Eigenschaften und Wirkungen kennen lernen. Alle aber dienten dazu, den Menschen zum Theil unglücklich zu machen, und je schimmernder oft eine Blume war, desto giftiger und unheilbarer war ihre Kraft.

Käthchen fand bei dieser Beschäftigung wenig Unterhaltung, und fühlte oft die größte Langeweile; sie wünschte zuweilen etwas thun zu dürfen; aber dazu fehlte es ihr an Gelegenheit. Nach und nach lernte sie auch ihre Gespielinnen genauer kennen, und sie wurden ihr immer mehr zuwider: denn keine meinte es aufrichtig und gut mit der andern; sie waren neidisch gegenseitig, wenn die eine etwas Besseres bekommen hatte, als die andere, und suchten sich auf alle Weise bei dem Waldweibchen anzuschwärzen und zu [84] verleumden. Bald war ein kostbares Kraut in Garten zertreten, bald eine seltene Blüthe zerpflückt, und auf welche es kam, die mußte ihre schönen Kleider ausziehen, und allein in ihrer Kammer bleiben, oder so lange im Thale suchen, bis sie das Kraut wiedergefunden hatte. Auch auf Käthchen war die Schuld mehrmals gekommen, ohne daß sie die That begangen hatte, und sie mußte die Strafe, wie die übrigen, erdulden.

Käthchen wurde nun der Aufenthalt in dem schönen Thale immer verhaßter, und oft, wenn sie in ihrem Stübchen allein war, fing sie bitterlich an zu weinen, und sehnte sich wieder zurück zu ihren Aeltern und Geschwistern, bei denen sie zuvor arbeiten mußte, und sich nicht so schön putzen konnte, die sie aber Alle lieb hatten, und es herzlich gut mit ihr meinten.

Eines Tages war das Waldweibchen verreist, was oft geschah, und Käthchen betrachtete die Kostbarkeiten der Zimmer. Da nahete sie sich auch der Papagoyenstube, und konnte der Neugierde nicht widerstehen, einen Blick durch das Schlüsselloch hinein zu werfen. Was sah sie da? Lauter schöne Vögel, die umherflatterten, und mit einander sprachen. »Ach, wann wird doch unser Unglück enden? wann wird die alte Zauberinn uns befreien?« so riefen sie unter einander. Als Käthchen dies hörte, wünschte sie zu wissen, was ihr Unglück wäre; aber sie getrauete sich nicht, zu fragen.

Da hörte sie unvermuthet eine Stimme rufen: »Käthchen, kommst du, uns zu befreien?«

»Wer seyd ihr denn, und wie seyd ihr da hinein ge kommen?« fragte Käthchen.

»Komm herein!« antwortete es drinnen, »und du sollst Alles erfahren.«

»Ich darf nicht!« sagte Käthchen.

[85] »Thu' es nur,« rief es ihr zu, »und es wird dir und uns von großem Nutzen seyn.«

»Wie kann ich aber, da ich keinen Schlüssel habe?« fragte Käthchen.

»Hole die feuerrothe Blume,« sagten die Vögel, »die unter unserm Fenster blüht, berühre das Schloß damit, und es wird sich sogleich öffnen.«

Käthchen ging mit zögernden Schritten fort, brachte die Blume, und kaum hatte sie das Schloß damit berührt, so sprang auch die Thüre mit einem furchtbaren Getöse auf.

»Unsere Erretterinn! unsere Befreierinn!« riefen die Vögel durch einander, und ihre vorige Traurigkeit war verschwunden. »Wisse,« sagte der eine von ihnen, »daß wir Alle auch Mädchen waren, unbesonnen und leichtsinnig, wie du, und von dem alten Weibe in dies Thal gelockt wurden. Aber nach und nach wurden wir des traurigen Lebens überdrüssig; wir scheueten uns, ferner Gift zu bereiten, womit die Alte böse Künste treibt, und suchten zu entfliehen; aber das Waldweibchen war geschwinder, und verwandelte uns zur Strafe in Vögel. Du hast uns unsere Freiheit gegeben, denn nichts hindert uns an der Flucht. Du aber suche dich auch zu retten, denn wenn die Zauberinn dich noch im Thale findet, so wirst du ebenfalls zur Strafe in einen Vogel verwandelt. Suche nur aus dem Thale zu kommen, denn über dasselbe hinaus reicht die Macht der bösen Alten nicht.«

Käthchen erschrak, als sie dies hörte, und lief, was sie immer konnte, um nur aus dem Thale zu kommen. Schon war sie ganz erschöpft, und wollte ermüdet niedersinken, als plötzlich die Stimme der Alten hinter ihr her erscholl, die sie verfolgte. Da verdoppelte sie ihre Anstrengung, und erblickte, zu ihrer großen Freude, die Fee Cöleste, welche ihr entgegen eilte, und sie glücklich aus dem Thale [86] rettete. Nun hatte das böse Waldweib keine Macht mehr an ihr, und ging ergrimmt zurück. Käthchen aber war froh, als sie sich gerettet sah, und dankte der Fee mit Thränen der Rührung für ihre Hülfe, und versprach ihr, nie wieder ihren Aeltern ungehorsam zu seyn. Sie eilte dann zurück in das älterliche Haus, wurde mit großer Freude von Vater und Mutter und Geschwistern empfangen, verrichtete willig ihre Geschäfte, und lebte seitdem glücklich und zufrieden.

15. Blaubart.

Es war einmal ein König, der sehr reich war; aber zu seinem eigenen Verdrusse hatte er einen blauen Bart, der ihn so widerlich und abschreckend machte, daß jeder, der ihn sah, sich vor ihm fürchtete.

Nun wohnte in seiner Nachbarschaft eine Wittwe, welche drei Söhne und zwei Töchter hatte, die sich einander sehr liebten und sich halfen, wo sie nur konnten. Die jüngste Tochter hieß Trudchen, und war von großer Schönheit; Aennchen, die älteste, war zwar nicht so schön, aber gesetzt und verständig. Von diesen beiden Schwestern beschloß Blaubart eine zu heirathen.

In einem schönen goldenen Wagen, mit sechs Pferden bespannt, und von vielen prächtig gekleideten Dienern umgeben, fuhr er zu der Wittwe, und begehrte von ihr das schöne Trudchen zur Gemahlinn. Die Mutter war darüber sehr erfreut, denn sie hielt es für eine große Ehre, einen König zum Schwiegersohn zu haben, auch war es ihr lieb, dadurch ihr jüngstes Kind versorgt zu sehen, weil sie [87] schon anfing, alt zu werden. Sie führte daher den König sogleich in das Gemach ihrer Töchter, damit sie sich sähen.

Als Trudchen hörte, daß der König sie zur Gemahlinn erwählt habe, war sie gar nicht abgeneigt: denn er war schön gewachsen, und sehr angenehm in seinem Betragen; aber wenn sie seinen blauen Bart ansah, so wurde ihr doch so graulich und ängstlich zu Muthe, daß sie es sich gar nicht erklären konnte. So sehr ihr also auch die Mutter und die Brüder zuredeten, dem Könige zu folgen, so konnte sie sich doch lange nicht entschließen, ihm ihre Hand zu geben. Endlich jedoch willigte sie ein, nachdem ihr Schwester Aennchen versprochen hatte, sie zu begleiten und bei ihr zu bleiben. Aus ängstlicher Besorgniß ging sie aber vorher noch zu ihren Brüdern, welche sehr tapfere Ritter waren, und sprach: »Der König mit seinem blauen Barte erweckt mir eine heimliche Furcht, so oft ich ihn ansehe; wenn Ihr mir aber versprecht, mich von Zeit zu Zeit zu besuchen, und mich zu beschützen, wenn es mir etwa übel bei ihm gehen sollte, so will ich ihn nehmen.«

Das versprachen ihr die Brüder mit Hand und Mund, und der älteste gab ihr eine silberne Pfeife, die schallte viele Meilen weit, wenn man hineinstieß. »Nimm diese Pfeife,« sagte er, »und wenn dir irgend eine Gefahr drohen sollte, so blase hinein, und wir werden spornstreichs kommen und dir helfen.«

Nun war Trudchen zufrieden, küßte die Brüder, und nahm Abschied von ihnen und von der Mutter, und schied unter tausend Thränen; Aennchen aber begleitete sie, und reisete mit ihr.

Wie erstaunt waren sie aber, als sie in Blaubarts königlichem Palaste ankamen, und die Pracht und den Glanz sahen, der ihnen aus Sälen und Zimmern und Schlafgemächern und den kostbarsten Geräthschaften entgegen schimmerte! [88] Was ihre Augen wünschten, fand hier Trudchen, und alle Tage wurden unter immer neuen Vergnügungen und Lustbarkeiten zugebracht. Das gefiel Trudchen, und sie wäre ganz glücklich gewesen, wenn sie nicht jedes Mal ein heimliches Grauen empfunden hätte, so oft sie den blauen Bart des Königs ansah. Doch wußte ihr Aennchen immer wieder zuzureden, und da sie in beständigen Zerstreuungen und Lustparthieen lebte, so waren die widrigen Eindrücke auch nur von kurzer Dauer.

Drei bis vier Wochen mochte dies lustige Leben so gewährt haben, als eines Tages der König Blaubart zu seiner jungen Gemahlinn sagte: »Ich muß verreisen, und dich auf einige Zeit verlassen. Hier hast du die Schlüssel zu allen Gemächern im Schlosse, zu den Gewölben, Kellern, Speichern und Kammern. Hüte sie wohl, daß du keinen verlierst. Ganz vorzüglich aber nimm diesen kleinen goldenen Schlüssel in Acht. Alle Thüren im ganzen Hause magst du aufschließen, nur die Kammerthüre nicht, wozu dieser kleine goldene Schlüssel paßt; merke dir das recht, und höre auf meine Worte, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Trudchen versprach, Alles zu thun, wie er es verlange, und sich der verbotenen Kammer nicht zu nahen, noch weniger sie zu berühren.

Als nun Blaubart abgereis't war, öffnete sie nach und nach alle Gemächer und Kammern, die ihr nicht verboten waren. Welche Menge von Reichthümern und Schätzen erblickte sie da! Ganze Haufen waren hier von Silber, dort von Golde, viele sogar von Perlen und Edelsteinen aufgeschichtet. Andere Zimmer waren vollgehängt von ausgelegten Waffen, Purpurkleidern, Hermelin und Sammt und Seide. Ueberall lagen die schönsten Teppiche ausgebreitet, Kronenleuchter schimmerten im wunderbarsten Glanze, und an den Wänden herum hingen ungeheure Spiegel, in [89] welchen man sich von Kopf bis zu Fuße sehen konnte, und die mit breiten goldenen und silbernen Rahmen eingefaßt waren.

Kein Zimmer hatte Trudchen nunmehr unbesucht gelassen, nur die verbotene Kammer am Ende der langen Gallerie war noch übrig, wozu der kleine goldene Schlüssel führte. So oft sie diesen ansah, wurde auch ihre Neugier immer von neuem rege, sie zu öffnen, um zu erfahren, was darin enthalten seyn möchte. Kein Essen oder Trinken wollte ihr mehr schmecken, und des Nachts konnte sie davor nicht schlafen. Gewiß hätte sie sich schon am andern Tage hineingewagt, hätte nicht Schwester Aennchen sie gewarnt und abgehalten. Doch am dritten Tage konnte sie ihre Neugier nicht länger bezwingen. Sie nahm heimlich das Schlüsselchen, und trat mit pochendem Herzen an die geheimnißvolle Kammer. Da dachte sie noch einmal an das Verbot des Königs und seinen angedrohten Zorn; doch die Versuchung war so groß, und der Gedanke: wer wird es sehen oder verrathen? gab ihr endlich Muth, daß sie alle Bedenklichkeiten überwand, und den Schlüssel in das Schloß steckte, und leise, leise die Thüre öffnete.

Anfangs sah sie gar nichts, denn es war ziemlich dunkel in dem Gemache; bald aber bemerkte sie, wie der ganze Boden mit geronnenem Blute bedeckt war, und längs der Wand eine Menge Leichname hingen. Das waren Alles Weiber von Blaubart, die er nach einander geheirathet, und hernach gemordet hatte.

Bei diesem Anblick erschrak sie so heftig, daß sie die Thüre gleich wieder zuschlug, aber der Schlüssel sprang dabei heraus, und fiel in das Blut. Geschwind hob sie ihn auf, und wollte das Blut abwischen; aber es war umsonst, sie mochte waschen und reiben, so viel sie wollte, der rothe Fleck wich vor keinem Waschen und Scheuern. Endlich am [90] Abend, nachdem sie Alles vergeblich versucht hatte, legte sie ihn in's Heu, das sollte die Nacht das Blut ausziehen.

Tages darauf kam Blaubart zurück, und das Erste war, daß er die Schlüssel forderte. Trudchen gab sich alle Mühe, sich so viel möglich unbefangen und fröhlich zu stellen, und brachte die Schlüssel.Blaubart nahm sie, zählte sie nach, und sprach: »Hier fehlt einer! Wo ist der Schlüssel zu der verbotenen Kammer?« Dabei sah er ihr scharf in die Augen. Sie aber zitterte an allen Gliedern, und wurde blutroth im Gesichte, und stammelte ängstlich: »Ich weiß nicht, er muß oben liegen; ich will ihn hernach suchen.« – »Schaff' ihn den Augenblick,« schrieBlaubart mit fürchterlicher Stimme, »ich muß ihn gleich haben!« Da erschrak Trudchen abermals, und sagte: »Ich will dir nur gestehen, ich habe den Schlüssel im Heu verloren.« Mit zürnenden Blicken entgegnete Blaubart: »Du hast ihn nicht verloren, versteckt hast du ihn im Heu, damit er die rothen Flecke verlieren soll. Hol' ihn den Augenblick, oder ich schleppe dich in die Blutkammer, wo es dir gehen soll, wie den Andern!«

Da holte sie den Schlüssel, welcher noch voller Blutflecke war, und gestand Alles, und beschwor ihn mit allen Zeichen der aufrichtigsten Reue, ihr nur dies Mal zu vergeben. Er aber blieb hart, wie ein Stein, und war durchaus nicht zu erweichen. »Vorwärts, hinauf in die Kammer!« schrie er. »Bereite dich zum Tode, denn du mußt sterben!« Bebend vor Angst umfaßte sie seine Kniee, benetzte sie mit heißen Thränen, und bat um ihr Leben. Aber er riß sich los, ergriff ein großes Messer, und schrie wieder: »Vorwärts auf die Kammer!«

»Weil Euch denn nichts erweicht,« sagte hieraufTrudchen, und nahm allen ihren Muth zusammen, »so vergönnt [91] mir wenigstens noch eine Stunde Zeit, daß ich bete, und mich zum Tode vorbereite.«

»Wohlan, es sey!« erwiederte Blaubart. »Geh' auf dein Zimmer und bete, und bereite dich zum Tode; aber nur eine halbe Stunde, und keine Minute mehr.«

Nun war kein Augenblick für die Arme zu verlieren. Sie lief eiligst hinauf zu ihrer Schwester Aennchen, fiel ihr um den Hals, und erzählte ihr weinend und schluchzend ihr Unglück. Da gedachteAennchen der Pfeife, die ihr die Brüder gegeben, trat auf den Erker vor dem Fenster, und stieß dreiMal hinein, so laut sie nur konnte, daß die Luft erbebte, und der Wiederhall vom Walde zurückscholl.Trudchen aber warf sich auf die Kniee, und betete, während ihre Schwester auf dem Erker blieb, und in's Feld schaute, ob die Brüder kamen.

Jetzt hatte Trudchen ausgebetet, und fragte: »Anna, Schwester Anna, siehst du nichts?« UndAennchen antwortete:


»Ich seh' die Sonne funkeln,

Und den Wald dunkeln,

Sonst seh' ich nichts!«


Voller Angst betete Trudchen abermals, und als sie bis zum Amen gekommen war, fragte sie wieder: »Anna, Schwester Anna, siehst du nichts?« Und Aennchen antwortete:


»Ich seh' die Sonne funkeln,

Und den Wald dunkeln,

Sonst seh' ich nichts!«


Da rief Blaubart: »Komm, oder ich hole dich!« – »Ach, nur noch einen Augenblick!« antwortete Trudchen bittend, und fragte wieder: »Anna, liebe Schwester Anna, siehst du noch nichts?«

»Ja,« sagte Aennchen, »ich sehe eine große Staubwolke sich heranwälzen, aber die Brüder erkenne ich nicht.«

[92] Wiederum schrie Blaubart: »Wirst du noch nicht kommen?« – Und Trudchen erwiederte: »Nur noch einen einzigen Augenblick!« knieete dann halbtodt nieder, und rief: »Anna, SchwesterAnna, siehst du noch nichts?«

»Ich sehe zwei Reiter, sie sind aber noch weit weg!« erwiederte Aennchen; gleich darauf aber rief sie: »Gott sey gelobt, es sind die Brüder! ich winke ihnen, so viel ich kann.«

Jetzt war aber auch Blaubarts Geduld zu Ende; mit fürchterlichem Getöse stieg er die Treppe hinauf, um Trudchen in die Blutkammer zu schleppen. Schon hatte er die Thüre aufgebrochen, und das arme Trudchen an den Haaren ergriffen, als plötzlich die Brüder hereinstürmten, und ihn mit ihren Schwertern niederhieben, als er eben der unglücklichen Schwester das tödtende Messer in's Herz stechen wollte.

Voll Freude, ihre Schwester gerettet zu haben, hingen sie nun den Wüthrich in der Blutkammer auf, wo er Trudchen den Platz zugedacht hatte, und räumten alle seine Schätze aus den Kammern, welche ihre Schwester erbte. Darauf steckten sie das Haus in Brand, und rissen es nieder, daß kein Stein auf dem andern blieb.

16. Das Goldvögelchen.

  • Das Goldvoegelchen. (Johann Heinrich Lehnert: Mährchenkranz für Kinder)
    Das Goldvœgelchen.

Ein armer Besenbinder hatte zwei Söhne und eine Tochter, und mußte sich sehr kümmerlich mit ihnen behelfen: denn sein Verdienst war nur gering. Als nun der Vater starb, ward die Noth der Geschwister noch größer, indessen halfen sie sich doch, so gut sie konnten, durch: denn sie hatten [93] einander recht lieb, und lebten in Friede und Eintracht beisammen, und arbeiteten fleißig, so daß es ihnen nie an dem nöthigen Unterhalt fehlte. Die Brüder setzten das Gewerbe des Vaters fort, und banden Besen, und die Schwester mußte sie nach der Stadt tragen und verkaufen, und aus dem Erlös den kleinen Haushalt besorgen.

Zuweilen wollten die Einnahmen nicht ausreichen, um die nothwendigsten Ausgaben davon zu bestreiten; dann aber sprach der zweite Bruder, der ein sehr heiterer und munterer Bursche war, den beiden Geschwistern Muth zu, und sagte scherzend: »Hört, Besenbinder Kinder verderben nicht, sagt das Sprichwort, und so werden auch wir nicht verderben. Geht es auch mitunter etwas knapp her, so daß wir zuweilen uns etwas einschränken müssen, der liebe Gott hilft uns immer wieder durch. Auf den wollen wir uns verlassen, vielleicht daß er uns einmal noch recht reich werden läßt; Hoffnung aber läßt nicht zu Schanden werden!«

Eines Tages waren sie wieder im Walde, um Besenreiser zu holen. Der jüngere Bruder stieg auf einen Baum, um Aeste abzuhauen, die der ältere dann unten zusammenlas, und die tauglichsten Reiser herausschnitt. Als er nun oben im Baume arbeitete, sah er ganz unvermuthet ein dunkelfarbiges, ihm völlig unbekanntes Vögelchen auf einem Neste sitzen, das sehr zahm zu seyn schien: denn es flog nicht weg, als er sich ihm näherte, sondern sah ihn mit seinen hellen Augen recht freundlich an.

»Ei!« sagte der jüngere Bruder, »du bist ja ein Vögelchen von ganz eigener Art; wer mag dich wohl so zahm gemacht haben, daß du dich gar nicht fürchtest, und ruhig auf deinem Neste sitzen bleibst? es ist ja, als wenn du mich kenntest, und als ob du schon wüßtest, daß ich dir nichts thun werde.« Er streckte seine Hand nach ihm und streichelte [94] es, und siehe, es blieb ganz still sitzen, und nickte ihm sogar mit seinem Köpfchen recht zutraulich.

Auf einmal sah der junge Bursche etwas Goldenes unter dem rechten Flügel des Vögelchens hervorschimmern. »Ei,« sagte er, »was ist das? Laß dir mal dein Flügelchen aufheben.« Da hob der Vogel den Flügel von selbst auf, und es lag unter demselben ein goldenes Ei.

»Darf ich dir's wegnehmen?« fragte der Bursche, »oder kannst du es ausbrüten, dann will ich es dir sehr gern lassen.«

»Wegnehmen!« sagte das niedliche Vögelchen, und nickte wieder mit seinem Köpfchen.

Da nahm der junge Bursche das Ei, stieg herunter vom Baum, zeigte es seinen Geschwistern, und trug es dann zu einem Goldarbeiter. Dieser untersuchte das Ei, und da er fand, daß es das feinste Gold enthielt, bezahlte er es mit zehn Thalern.

Am andern Tage stieg der Bruder wieder auf den Baum, und das Vögelchen saß wieder auf seinem Neste, und hatte ein anderes goldenes Ei unter seinem Flügel. Das Vögelchen gab ihm zu verstehen, er möchte es nur nehmen- da nahm er es und trug es zum Goldschmid, und erhielt wieder zehn Thaler.

So geschah es auch am dritten Tage, und die Geschwister hatten nun dreißig Thaler beisammen. »Seht ihr wohl,« sagte der zweite Bruder, »daß ich recht hatte! Nun ist das Sprichwort wahr geworden: Besenbinders Kinder sind Glückskinder. Da haben wir schon so viel Geld, daß wir uns viele tausend Besen dafür anschaffen können, und unsere Schwester kann uns auch einmal etwas zu Gute thun, und uns schöne Pfannkuchen backen.«

Zum vierten Male stieg der junge Bursche auf den Baum, und fand das Vögelchen abermals auf seinem Nestchen [95] sitzen, aber es lag kein Ei unter seinem Flügel. Das Vögelchen aber sah recht freundlich aus, und fing an zu sprechen, und sagte ganz vernehmbar: »Bring' mich zu dem Goldarbeiter, an welchen du die Eier verkauft hast, das wird zu euerm Glücke seyn, und zugleich auch zu dem meinigen.«

Der junge Bursche nahm den Vogel in die Hand, trug ihn nach Hause, und setzte ihn in ein Bauer; dann ging er zu dem Goldarbeiter, und bat ihn, daß er den Vogel aufbewahren möchte.

Das that auch der Goldarbeiter. Als er aber mit dem Vogel allein war, fing dieser folgenden Gesang an:


Wer verzehrt mein Herzelein,

Der wird bald ein König seyn,

Und wer ißt mein Leberlein,

Hat stets gefüllt ein Goldbeutelein.


Den Vogel mußt du haben, dachte der Goldschmidt. Und als nun die Besenbinders Kinder kamen, ihn wieder abzuholen, sagte er: Hört, Leutchen! laßt mir den Vogel ab; er gefällt mir, und ich möchte ihn gern bei mir behalten. Ich will auch dafür eure Schwester, die ich wohl leiden mag, heirathen, und ihr sollt bei uns wohnen, und mit uns essen und recht gute Tage haben.

Damit waren die Geschwister zufrieden, und ließen ihm das Vögelchen zu eigen.

Als nun die Hochzeit gefeiert ward, tödtete der Goldschmidt das Vögelchen, und ließ es rupfen; die beiden Brüder aber sollten es braten und Acht haben, daß es nicht anbrenne, er selbst aber wolle es dann verzehren.

Da gingen die beiden Brüder in die Küche, und steckten das Vögelchen an einen kleinen Spieß, und ließen es braten. Während sie nun da standen, und Acht gaben, und das Vögelchen bald fertig gebraten war, fiel ein Stückchen [96] heraus. »Das will ich doch kosten,« sagte der Eine, und ißt das Stückchen. Bald darauf fiel wieder ein Stückchen los. »Das soll für mich seyn,« sagte der Andere, und aß es.

Als nun der Vogel gebraten war, brachten sie ihn dem Goldarbeiter, der mit dem Schwesterchen schon beim Hochzeitmahle saß. Der suchte sogleich nach Herz und Leber, um sie geschwind zu essen, aber die waren fort. Da ward er sehr böse, und sagte: »Wer hat das Herz und die Leber gegessen?« – »Das werdenwir wohl gewesen seyn;« sagten die Brüder. »Es fielen zwei Stückchen ab, die haben wir gekostet.«

»Habt ihr mir Herz und Leber gegessen, ihr dummen Jungen,« sagte der Goldarbeiter, »so behaltet den Vogel auch, und eure Schwester mag ich nun eben falls nicht.«

Damit jagte er sie alle drei zum Hause hinaus, und jammerte sehr, und ärgerte sich, daß er den Vogel nicht selbst gebraten habe.

Als sie nun nach Hause kamen, aß der Aelteste den Vogel, denn der Zweite wollte ihn nicht, weil es sein liebstes Goldvögelchen war; auch die Schwester wollte ihn nicht, weil sie durch ihn ihren Bräutigam verloren hatte. Deshalb aß ihn nun der Aelteste. Aber kaum hatte er ihn verzehrt, so stand eine sehr schöne Prinzessinn vor ihnen, an der Alles vom feinsten Golde war. Die sagte: »Nun bin ich endlich erlöst; ihr alle drei sollt mit mir nach meinem Königreich kommen.«

Da gingen sie mit. Aber kaum waren sie dort angelangt, so heirathete die Prinzessinn den ältesten der Brüder, weil er das Herz gegessen hatte. Da war er König. Der Andere, welcher die Leber gegessen hatte, fand jeden Morgen einen Beutel mit Gold, und weil er ein heiterer und munterer [97] Bursche war, und sehr reich dazu, so heirathete er die Schwester der Prinzessinn.

Darauf kam der Bruder der Prinzessinnen, und wollte seine Schwestern besuchen. Er aber hatte ein eigenes Königreich, und war noch nicht vermählt: denn es hatte ihm bisher noch keine Jungfrau so gefallen, daß er sie wohl hätte heirathen mögen. Als er nun unsere Besenbinders-Tochter sah, gewann er sie sehr lieb, und erwählte sie sich zu seiner Gemahlinn.

Da waren sie alle Drei verheirathet, und lebten in großem Glücke und Ansehen. »Ja,« sagte nachher oftmals der zweite Bruder, »ja, wenn man einen solchen Glücksvogel besitzt, so kann auch aus Besenbinders Kindern etwas Großes werden, ohne daß man großen Verstand dazu nöthig hat.«

17. Fingerhütchen.

Es war einmal ein armer Mann, der hatte einen großen Höcker auf dem Rücken, und es sah gerade aus, als wäre sein Leib heraufgeschoben, und auf seine Schultern gelegt worden. Von der Wucht war ihm der Kopf so tief herabgedrückt, daß, wenn er saß, sein Kinn sich auf seine Knie zu stützen pflegte. Die Leute in der Gegend, wo er lebte, hatten Scheu, ihm an einem einsamen Orte zu begegnen, und doch war das arme Männchen so harmlos und friedliebend, wie ein neugebornes Kind. Aber seine Ungestaltheit war so groß, daß er kaum wie ein menschliches Geschöpf aussah. Doch besaß er große Geschicklichkeit, Hüte [98] und Körbe aus Stroh und Binsen zu flechten, auf welche Weise er sich auch sein Brot erwarb.

Fingerhütchen war sein Spottname, weil er alle Zeit auf seinem kleinen Hut einen Zweig von dem rothen Fingerhut, oder dem Elsenkäppchen, trug. Für seine geflochtenen Arbeiten erhielt er einen Groschen mehr als Andere, und aus Neid darüber hatten einige boshafte Leute seltsame Geschichten von ihm verbreitet.

Nun trug es sich zu, daß Fingerhütchen eines Abends, als er aus der entfernt gelegenen Stadt nach Hause zurückkehrte, wegen seines lästigen Höckers auf dem Rücken, nicht weiter fort konnte, und sich müde und ermattet unter einen Riesenhügel (Hünengrab) niedersetzte, um ein wenig auszuruhen.

Als er so da saß, und ganz betrübt den Mond ansah, der eben silberrein aufstieg, drang auf einmal eine fremdartige, unterirdische Musik zu den Ohren des armen Fingerhütchens. Er lauschte, und ihm däuchte, daß er niemals so etwas Entzückendes gehört habe. Es war wie der Klang vieler Stimmen, deren jede zu der andern sich fügte, und wunderbar einmischte, so daß es nur eine einzige zu seyn schien, während doch jede einen besondern Ton hielt. Die Worte des Gesanges waren diese: Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort. Darnach kam eine kleine Pause, worauf die Musik von vorne wieder anfing.

Fingerhütchen horchte aufmerksam, und getraute kaum Athem zu schöpfen, damit ihm nicht der geringste Ton verloren ginge. Er merkte nun deutlich, daß der Gesang aus dem Hügel kam, und obgleich er anfangs sehr darüber erfreut war, so ward er es endlich doch müde, denselben Rundgesang in einem fort, ohne Abwechselung, anzuhören. Als abermals Da Luan, Da Mort drei Mal gesungen war, [99] benutzte er die kleine Pause, nahm die Melodie auf, und führte sie weiter fort, mit den Worten: augus Da Cadine! dann fiel er mit den Stimmen in dem Hügel ein, sang Da Luan, Da Mort, endigte aber bei der Pause mit seinem augus Da Cadine.

Die Kleinen in dem Hügel, als sie den Zusatz zu ihrem Geistergesang vernahmen, ergötzten sich außerordentlich daran, und beschlossen sogleich, das Menschenkind hinunter zu holen, dessen musikalische Geschicklichkeit die ihrige so weit übertraf, und Fingerhütchen ward mit der kreisenden Schnelligkeit des Wirbelwindes zu ihnen getragen.

Das war eine Pracht, die ihm in die Augen leuchtete, als er in den Hügel hinabkam, rund umher schwebend, leicht wie ein Strohhälmchen! und die lieblichste Musik hielt ordentlich Tact bei seiner Fahrt. Die größte Ehre wurde ihm aber erzeigt, als sie ihn über alle die Spielleute setzten. Er hatte Diener, die ihm aufwarten mußten, Alles, was sein Herz begehrte, wurde erfüllt, und er sah, wie gern ihn die Kleinen hatten; kurz, er wurde nicht anders behandelt, als wenn er der erste Mann im Lande wäre.

Darauf bemerkte Fingerhütchen, daß sie die Köpfe zusammensteckten, und heimlich mit einander rathschlagten, und so sehr ihm auch ihre Artigkeit gefiel, so fing er doch an, sich zu fürchten. Da trat einer der Kleinen zu ihm hervor, und sagte:


»Fingerhut, Fingerhut,

Faß dir frischen Muth!

Lustig und munter,

Dein Höcker fällt herunter,

Siehst ihn liegen, dir geht's gut,

Fingerhut, Fingerhut!«


Kaum waren die Worte zu Ende, so fühlte sich dasFingerhütchen so leicht, so selig, daß es wohl in einem Satz über den Mond weggesprungen wäre. Er sah mit [100] der größten Freude von der Welt den Höcker von seinen Schultern herab auf den Boden rollen. Er versuchte darauf, ob er seinen Kopf in die Höhe heben könnte, und es ging vortrefflich. Nun schaute er rings herum mit der größten Bewunderung, und ergötzte sich an all den Dingen, die ihm immer schöner vorkamen. Zuletzt ward er so überwältigt von der Betrachtung des glänzenden Aufenthalts, daß ihm der Kopf schwindelte, die Augen geblendet wurden, und er in einen tiefen Schlaf verfiel.

Als er erwachte, war es heller Tag geworden. Die Sonne schien hell, die Vögel sangen, und er lag gerade an dem Fuße des Riesenhügels, während Kühe und Schaafe friedlich um ihn her weideten. NachdemFingerhütchen sein Gebet gesagt hatte, war sein erstes Geschäft, mit der Hand nach seinem Höcker zu greifen, aber es war auf dem Rücken keine Spur davon zu finden, und er betrachtete sich nicht ohne Stolz: denn es war aus ihm ein wohlgestalteter, behender Bursche geworden; zugleich sah er sich auch von Kopf bis zu den Füßen in neuen Kleidern, und merkte wohl, daß die kleinen Leute ihm diesen Anzug besorgt hatten.

Nun machte er sich auf den Weg, und ging so tapfer daher, und sprang bei jedem Schritte, als wenn er es sein Lebtage nicht anders gewohnt gewesen wäre. Niemand, der ihm begegnete, erkannte Fingerhütchen ohne den Höcker, und er hatte große Mühe, die Leute zu überreden, daß er es wirklich wäre, und in der That, seinem jetzigen Aussehen nach, war er es auch nicht mehr.

Bald wurde aber die Geschichte von Fingerhütchens Höcker überall bekannt, und meilenweit in der Gegend redete Jedermann, vornehm oder gering, von nichts, als von dieser Begebenheit.

Eines Morgens saß Fingerhütchen vor seiner Hausthüre, [101] und war guter Dinge. Da trat eine alte Frau zu ihm, und sagte: »Zeigt mir doch den Weg nach Cappagh.«

»Ist nicht nöthig, liebe Frau,« antwortete er, »denn das ist hier Cappagh; aber wo kommt ihr her?«

»Ich komme mehrere Meilen weit her,« sagte die alte Frau, »und suche einen Mann, der Fingerhütchen genannt wird, und dem die Zwerge einen Höcker von der Schulter sollen genommen haben. Da ist der Sohn meiner Gevatterinn, der hat einen Höcker auf sich sitzen, der ihn noch todt drücken wird; vielleicht würde er davon erlöst, wenn er, wie Finger hütchen, ein Zaubermittel anwenden könnte. Nun stellt Ihr euch leicht vor, warum ich so weit hergekommen bin; ich möchte, wenn's möglich wäre, etwas von dem Zaubermittel erfahren.«

Fingerhütchen, das immer gutmüthig gewesen war, erzählte der alten Frau Alles umständlich, wie er an dem Riesenhügel gesessen, dort den unterirdischen Gesang gehört, und ihn fortgeführt, wie dann die Zwerglein unter dem Hügel den Höcker von seinen Schultern weggenommen, und wie sie ihm einen neuen Anzug von Kopf bis zu den Füßen noch obendrein gegeben hatten.

Die alte Frau dankte tausendmal, und machte sich wieder auf den Heimweg, zufrieden gestellt und ganz glücklich in ihren Gedanken. Als sie bei ihrer Gevatterinn angelangt war, erzählte sie genau, was sie vonFingerhütchen erfahren hatte. Danach setzte sie den kleinen buckelichen Kerl, der sein Lebelang ein heimtückisches, hämisches Herz gehabt hatte, auf einen Wagen, und zog ihn fort. Es war ein langer Weg, und es wurde ihr recht sauer; aber was thut das, dachte sie, wenn er nur den Höcker los wird. – Sie ließ sich daher keine Mühe und Anstrengung verdrießen, und eben als die Nacht einbrach, langte sie bei dem Riesenhügel an, und legte ihn dabei nieder.

[102] Hans Madden, denn das war der Name des Buckelichen, hatte noch gar nicht lange gesessen, so hub schon die Musik im Hügel an, noch viel lieblicher als je, denn die Zwerglein sangen ihr Lied mit dem Zusatz, den sie von Fingerhütchen gelernt hatten: Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort, Da Luan, Da Mort, augus Da Cadine, ohne Unterbrechung 1. Hans, der nur geschwind seinen Höcker los seyn wollte, wartete nicht, bis der Gesang zu Ende war, achtete auch nicht auf einen schicklichen Augenblick, um die Melodie weiter, als Fingerhütchen fortzuführen, sondern als sie ihr Lied mehr als siebenmal in einem fort gesungen hatten, so schrie er, ohne Rücksicht auf Tact und Weise der Melodie, und wie er seine Worte passend anbringen könnte, aus vollem Halse: augus Da Dardine, augus Da Hena! und dachte: »war ein Zusatz gut, so sind zwei noch besser, und hat Fingerhütchen einen neuen Anzug erhalten, so werden sie mir wohl zwei geben.«

Kaum waren diese Worte über seine Lippen gekommen, so ward er aufgehoben, und mit wunderbarer Gewalt in den Hügel hineingetragen. Hier umringten ihn die Zwerglein, waren sehr böse, und riefen schreiend und kreischend: »Wer hat unsern Gesang geschändet? Wer hat unsern Gesang geschändet?« Einer trat hervor, und sprach zu ihm:


»Hans Madden, Hans Madden,

Deine Worte schlecht klangen,

So lieblich wir sangen!

Hier bist du gefangen,

Was wirst du erlangen?

Zwei Höcker für einen! Hans Madden!«


Und zwanzig von den stärksten Zwergen schleppten Fingerhütchens Höcker herbei, und setzten ihn oben auf den [103] Buckel des unglückseligen Hans Madden, und da saß er so fest, als ob er von dem besten Zimmermann aufgenagelt wäre. Darnach stießen sie ihn mit den Füßen aus ihrer Wohnung, und am Morgen, als Hans Maddens Mutter und ihre Gevatterinn kamen, nach dem kleinen Kerl zu sehen, so fanden sie ihn an dem Fuß des Hügels liegen, halb todt, mit einem zweiten Höcker auf seinem Rücken. Sie betrachteten ihn, eine nach der andern, aber es blieb dabei; am Ende ward ihnen angst, es könnte ihnen auch ein Höcker auf den Rücken gesetzt werden. Sie brachten den armseligen Hans wieder heim, so betrübt im Herzen, und so jämmerlich anzusehen, als noch je ein Paar alte Weiber.

Hans, durch das Gewicht des zweiten Höckers, und die lange Fahrt erschöpft, starb bald hernach.

Fußnoten

1 Die Worte des einfachen Gesanges bezeichnen die Wochentage: Montag, Dienstag und Mittwoch.

18. König Bubu.

Es war einmal eine Frau, die hatte zwei Söhne, und bekam, als eben ihr Mann gestorben war, noch ein drittes Söhnchen, das war aber, als es geboren wurde, nicht größer, als eine Spanne lang. Darüber war die Frau sehr betrübt, denn sie fürchtete, das zarte Kind möchte nicht am Leben bleiben; es war aber gar schön, und der Mutter so lieb, wie ihr eigenes Leben.

Da kam die Fee Selma zu der Mutter, und tröstete sie, und sprach: »Seyd unbesorgt um das Leben Eures Kindes, es wird nicht sterben. Wenn ich wiederkomme, werde ich Euch über sein Schicksal noch nähere Auskunft ertheilen.« Sie erkundigte sich dann genau nach dem Tage und der [104] Stunde, in welcher das Knäbchen geboren sey, und entfernte sich.

Schon am andern Morgen war die Fee wieder da, und erzählte der Mutter, daß das Kind bestimmt sey, lange zu leben, und glücklicher zu seyn, als seine beiden älteren Brüder. »Doch,« setzte sie hinzu, »es wird klein bleiben, wie es ist, bis zum Ende seines achtzehnten Jahres; mit dem ersten Tage des neunzehnten wird es aber anfangen zu wachsen, und ehe das Jahr zu Ende ist, so groß werden, als jeder andere Mann, und was aus seinen Händen hervorgegangen ist, wird eben so wachsen, wie er.«

Die Mutter dankte der guten Fee für die schönen Hoffnungen, die sie ihr wegen ihres Söhnchens gemacht hatte, und bat sie zugleich, eine Pathenstelle bei ihm anzunehmen, und für das Kind zu sorgen und es zu beschützen.

Als nun das Kind getauft werden sollte, erschien die Fee, prächtig angekleidet und geschmückt, und beschenkte, nach der Taufe, ihr liebes Pathchen mit einer himmelblauen, zugebundenen und versiegelten Schachtel, verbot aber zugleich, daß jemand diese Schachtel öffnen, und dem Knaben vor seinem achtzehnten Jahre sagen sollte, daß sie von ihr wäre; was sie enthalte, werde sich schon zu seiner Zeit finden.

Die Mutter nahm die Schachtel, und da sie überzeugt war, daß dieselbe nichts als Gutes enthalten könne, dankte sie der Fee dafür, und versprach, solche sorgfältig zu verwahren. Dann legte sie ihr Söhnchen, das den Namen Bubu erhalten hatte, in ihren Pelzschuh, weil es recht warm gehalten werden mußte.

Der kleine Bubu machte seiner Mutter von Tage zu Tage immer mehr Freude. Er war gar zu possierlich, und gedieh recht kräftig. Nach dem fünften Monat konnte er schon aufrecht sitzen, mit dem zehnten lief er allein davon, [105] und im zweiten Jahre schwatzte er die Mutter fast taub. Man kann eben nicht sagen, daß er stark schrie, denn er hatte eine schwache, feine Stimme: er war aber außerordentlich redselig, und sprang immer auf dem Tische herum, wenn er mit der Mutter ein Gespräch führte.

Auch seinen Brüdern machte er anfangs vielen Spaß, und es kam ihnen gar komisch vor, wenn er über Tische an der Schüssel auf seiner Mutter Schnupftabacksdose saß, und mit einem Puppenlöffelchen aß. Nach und nach aber wurden sie ihm gram, weil er sie verrieth, wenn sie genascht, oder sonst etwas Unrechtes und Böses gethan hatten, und sie plagten den armen kleinen Schelm nicht wenig. Bald steckten sie ihn in ihre Rocktaschen, aus denen er kaum mit dem Kopfe heraussehen konnte, bald sperrten sie ihn in eine Schachtel, und ließen Mücken zu ihm hinein, die sie fingen, und vor denen er sich ganz entsetzlich fürchtete. Einst, als ihn die Mutter im ganzen Hause lange vergeblich gesucht hatte, fand sie ihn endlich in der Küche in dem Mehlkübel, in den ihn seine schelmischen Brüder gesteckt hatten. Die arme Frau war sehr aufgebracht über die bösen Buben, doch dankte sie Gott, daß sie ihren lieben Bubu nur wieder hatte, denn sie glaubte schon, er sey von der Katze gefressen worden.

So wurde der Kleine zwölf Jahre alt, ohne auch nur eines Fingers breit gewachsen zu seyn. Doch hatte er sich immer wohl befunden, nur ein Paar Mal hätte er recht unglücklich seyn können. Er fiel nämlich einmal von einem Laib Brot herab, und war in Gefahr, den Arm zu brechen; auch stürzte er eines Tages in eine Schüssel voll Milchsuppe, woraus er naschen wollte, und wäre gewiß ertrunken, wenn ihn die Mutter nicht schnell herausgezogen hätte.

Jetzt starb aber die Mutter, und nun ging es dem armen [106] Schelm gar schlimm bei seinen bösen Brüdern, obgleich die Mutter vor ihrem Tode diese recht herzlich ermahnt hatte, den lieben kleinen Bubu ja in Acht zu nehmen, und ihn brüderlich zu behandeln.

Die beiden ältesten Brüder theilten unter sich Alles, was die Mutter hinterlassen hatte; aber dem kleinen Bubu gaben sie auch nicht einen Heller. Sie thaten gar nicht, als ob es ihr Bruder wäre, und ließen sich von ihm aufwarten, wie von einem Bedienten; auch mußte er ihnen die Stiefel wichsen, und ihre Kleider ausbürsten. Das machte dem kleinen Burschen viele Mühe, aber er verrichtete sein Geschäft doch ganz zur Zufriedenheit der Brüder, denn mit seinen kleinen scharfen Taubenaugen sah er jedes Sandkörnchen auf den Stiefeln, jedes Stäubchen an den Kleidern.

Bubu hatte schon gelernt, daß Jeder, der essen und trinken wolle, auch arbeiten müsse, darum beklagte er sich nicht, wenn es ihm auch bei seiner Arbeit oft recht sauer wurde; nur das schmerzte ihn, daß er von seinen Brüdern so hart und unbrüderlich behandelt wurde. Er durfte nicht mehr mit ihnen, wie bei den Lebzeiten seiner Mutter, an dem Tische, oder vielmehr auf dem Tische sitzen, sondern sie stellten ihm sein Essen, wie einem Hunde, in einem kleinen Schüsselchen auf den Boden, und wenn er etwas versehen hatte, so wurde er halbe Tage lang in den Bierkrug eingesperrt, oder bekam die Ruthe, wie ein kleines Kind, ob er gleich schon sechszehn bis siebzehn Jahre alt war.

Dies Alles schmerzte ihn nicht wenig, und er nahm sich mehr als ein Mal vor, davon zu laufen, wenn er nur gewußt hätte – wohin.

Eines Tages, da die Brüder ihre Wohnung verändern wollten, und eben aufräumten, fanden sie in einem Winkel die blaue, versiegelte Schachtel. Es war ein Zettel darauf [107] geklebt, auf welchem von der Mutter folgende Worte geschrieben standen: »Diese Schachtel gehört meinem jüngsten Sohne Bubu, und keine andere Hand, als die seinige, soll sie öffnen.«

»Ja,« sagte der Eine, »das mag wohl die Mutter gewollt haben, aber ich werde mir die Freiheit nehmen, die Schachtel mit meinen Händen aufzumachen.«

Indem er so sprach, wollte er auch schon die Schnur aufreißen. In demselben Augenblick aber fuhren zwei Stecken aus dem Boden, die ihm die Finger so jämmerlich zerschlugen, daß er die Schachtel fallen ließ. Sogleich verschwanden die Stecken wieder in die Erde. Als aber der andere Bruder die Schachtel wieder aufhob, und ebenfalls sie zu öffnen versuchte, da kamen sie plötzlich wieder hervor, und schlugen ihm beinahe die Finger lahm.

Hierüber wurden sie sehr ärgerlich und erbittert, und sagten: »Da wir selbst die Schachtel nicht öffnen sollen, so soll es Bubu in unserer Gegenwart thun. Geh', Bruder, und hole den Knirps.«

Kaum war der eine Bruder zum Zimmer hinaus, so wurde auch der andere von den Stocken hinausgeprügelt, und als sie beide mit Bubu wiederkamen, war die blaue Schachtel nicht mehr da, und konnte auch nirgends gefunden werden.

Die beiden Brüder wurden nun noch mehr gegen den kleinen Bubu aufgebracht, und schlugen und stießen ihn bei jeder Gelegenheit. Bubu ertrug dies Alles geduldig, und verrichtete seine Geschäfte willig und ohne Murren. Als aber die Brüder ihn eines Tages, da er gerade achtzehn Jahre alt war, unbarmherzig gepeitscht hatten, so konnte er es nicht länger mehr bei ihnen aushalten, und lief davon.

Indem er aus der Thür trat, stieß er an etwas, das[108] ihm im Wege stand. Er faßte es mit seinen kleinen Händen an, und fand, daß es die Gestalt einer Schachtel hatte, und zugebunden und versiegelt war. »Das mag wohl gar die blaue Schachtel seyn!« dachte er, hob sie in die Höhe, und setzte sie sich auf den Kopf. Sie war fast so groß, als er selbst, dabei aber so federleicht, daß er ohne große Mühe damit fortlief.

Die Brüder vermißten ihn nicht eher, als am Morgen, da sie ihre Stiefel brauchten. Sie gingen hinaus in die Küche, sie zu holen, und da sie noch ungeputzt waren, fluchten und schalten sie ganz abscheulich aufBubu, und nahmen sich vor, ihn bis auf den Tod zu peitschen für seine Nachlässigkeit, sobald er wiederkommen würde.

Allein er kam nicht wieder. Da that es den Brüdern leid, einen Bedienten an ihm verloren zu haben, sonst aber grämten sie sich nicht weiter um ihn, und sagten: »Laß ihn laufen, er mag sehen, wie er fortkommt in der Welt!«

Bubu war die ganze Nacht hindurch gelaufen, und endlich auf eine schöne große Wiese gekommen, wo er sich ganz ermattet niedersetzte, um etwas auszuruhen. Dann ging er weiter und immer weiter, bis er an eine große Eiche kam, in deren Schatten er sich lagerte. Jetzt fing ihn an zu hungern; da er aber nichts zu essen mitgenommen hatte, und auch in der ganzen Gegend nichts zu finden war, so überlegte er, was er in dieser Noth zu thun habe.

Als er nun so traurig da saß, fiel ihm seine blaue Schachtel in die Augen. Er las die Aufschrift, und dachte: Vielleicht hilft dir die aus aller Verlegenheit. Schnell fuhr er mit der Hand in die Tasche, und zog ein kleines Messerchen heraus, um den Bindfaden damit zu zerschneiden, doch sah er sich erst um, ob auch nicht die bösen Stecken wieder aus der Erde hervorsprängen. Er sah aber nichts, und öffnete ganz ruhig die Schachtel.

[109] Kaum hatte er aber den Deckel mit vieler Mühe heruntergeschoben, als zu seinem großen Erstaunen eine unzählige Menge Menschen, kleiner als er, aus der Schachtel heraussprang, die sogleich zu arbeiten anfingen. Es waren dabei Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schmiede, Schlosser, Glaser, Kupferschmiede, Faßbinder, Schuster, Schneider, Bäcker, Fleischer, Bierbrauer, Köche, Seiler, kurz, alle ersinnliche Arbeitsleute, sämmtlich mit ihren Handwerkszeugen versehen; dann kommen auch Pfarrer, Schulmeister, Aerzte, Richter und allerlei Arten von Gelehrten, auch Buchdrucker und Buchbinder, endlich ein ganzer königlicher Hofstaat, nebst einem zahlreichen Heere Soldaten zu Fuß und zu Pferde: Grenadiere, Füsiliere, Jäger, Kürassiere, Dragoner, Husaren und Artilleristen, alle gut bewaffnet, und mit einer Menge Kanonen, angeführt von Generalen, Obersten, Majoren, Hauptleuten, und einer großen Anzahl geringerer Offiziere, sämmtlich mit ihrem Gepäcke versehen. Zuletzt kam auch eine Menge Schlachtvieh: Ochsen, Kühe, Kälber, Schaafe, Ziegen u.s.w., und das Alles aus – der Schachtel, die der kleineBubu so lange auf dem Kopfe getragen hatte.

Dieser war ganz außer sich über Alles, was sich hier vor seinen Augen zutrug. Wie erstaunte er aber, als er bemerkte, wie schon die Köche beschäftigt waren, ein großes Feuer anzuzünden, und Kapaunen, Enten, kalekutische Hähne und Rehzimmer zu braten, und die Bäcker herbeikamen, um Kuchen zu backen!

Unterdessen wurde von den Hofbedienten ein großes prächtiges Zelt aufgeschlagen, und von dem Tafeldecker eine lange Tafel mit dem feinsten Tafeltuch gedeckt. Darauf kam der Hofmarschall, und erkundigte sich bei Bubu, wer zur Tafel gebeten werden sollte? »Zuerst ich,« sagte der [110] Kleine, »denn ich bin gewiß unter Allen der Hungrigste; die Andern werden sich schon finden.«

Als der Hofmarschall sich entfernt hatte, meldete ein Kammerherr die Minister und Generale. »Was wollen denn die Minister und Generale von mir?« sagte Bubu; »ich bin ja nichts als ein armer, kleiner, hungriger Stiefelwichser!«

»Ew. Majestät belieben zu scherzen!« erwiederte lächelnd der Kammerherr; »wir wissen Alle sehr wohl, daß Sie unser allergnädigster König und Herr sind.«

»Ist nicht möglich!« schrie Bubu. »Ich – ein allergnädigster König und Herr? Leutchen, es träumt euch! gnädig mag ich wohl seyn, aber König und Herr bin ich mein Tage nicht gewesen. Ich habe meinen Brüdern ihre Stiefel gewichst, und – ich weiß nicht, wie viele Jahre, ich aus dem Hundeschüsselchen gegessen, und im Bierkrug Pönitenz gethan: wie sollte ich jetzt auf ein Mal König geworden seyn? Es wäre doch ein Spaß, wenn ich es wirklich wäre! – Er sagt, es seyen die Minister und Generale draußen; rufe Er sie mir doch herein, ich bin begierig, was sie mir sagen werden.«

Sogleich traten die Herren herein, und nannten den kleinen Bubu ebenfalls ihren allergnädigsten König und Herrn. Da konnte er fast nicht länger mehr zweifeln, daß er es sey.

Während er noch mit ihnen sprach, und sich nicht genug wundern konnte, über Nacht ein regierender König geworden zu seyn, fühlte er ein kleines Drücken auf dem Kopfe. Er langte hinauf, und zog – eine goldene Krone herunter, und sah sich zugleich mit einem königlichen Kleide angethan.

Nun konnte Bubu nicht mehr zweifeln, und sagte zu den Ministern und Generalen: »Ja, ja! ich bin Euer allergnädigster [111] König und Herr; haltet Euch Alle brav, und seyd mir gehorsam, dann sollt Ihr es gut bei mir haben! – Der Tisch ist gedeckt, und Ihr seyd sämmtlich zur Tafel geladen.«

Darauf setzten sich Alle, die geladen waren, an die Tafel, und aßen mit dem größten Appetite.

»Aber mein Himmel!« sagte Bubu, als er kaum angefangen hatte zu essen, »habe ich denn keinen Mundschenken, wenn ich König bin? Warum läßt man mich denn dürsten?«

Sogleich wurde ein ganzer großer Korb voll Weinflaschen gebracht, und dem Könige Bubu, nebst den übrigen Gästen, die Gläser gefüllt. Kaum hatte aber Bubu das erste Glas ausgeleert, als es mit einem Male ganz hell und klar in seinem Kopfe wurde; beim zweiten Glase fühlte er, daß seine Muskeln sich dehnten; er mußte sich strecken, und eben so, wie er, streckten sich zugleich alle seine Minister und Generale, und da Bubu zum Zelte hinaus sah, streckte sich das ganze Volk, und das ganze Heer. Es war gerade der Tag, an dem Bubu anfangen sollte, zu wachsen, und mit ihm wuchs Alles, was aus der Schachtel, folglich aus seinen Händen, hervorgegangen war.

Nach der Tafel wurde Befehl ertheilt, daß eine große Stadt erbaut werden sollte. Die Baumeister entwarfen sogleich den Plan dazu; die Bauern und Holzhauer gingen in den Wald, und fällten Holz; die Steinbrecher brachen Steine, Alles, was Hände hatte, mußte Hand an's Werk legen. Mitten in der Stadt erhob sich ein prächtiger königlicher Palast, der von einem großen, kunstvoll eingerichteten Garten umgeben war; es wurden Kirchen, Spitäler, Kasernen, ein Rathhaus, ein Waisenhaus, und noch viele andere schöne Gebäude angelegt, die zu einer großen Königsstadt [112] gehören. In weniger als einem Jahre wurden die Arbeitsleute damit fertig, denn sie waren ungemein fleißig.

Während dieser Zeit war auch König Bubu mit seinen Ministern und Generalen und Hofleuten und seinen sämmtlichen Unterthanen so schnell gewachsen, daß sie nun völlig so groß waren, als andere Menschen. Und wunderbar genug! mit den Leuten wuchsen auch ihre Häuser, ihre Kleider, ihre Gefäße, kurz Alles wuchs, was ihnen angehörte.

Da sich nun die Menschen in der schönen Königsstadt so schnell vermehrten, daß sie diese gar nicht mehr fassen konnte, so wurden neue Städte, Dörfer und Flecken angelegt, und es entstand auf solche Art nach und nach ein großes und mächtiges Reich, über welches der ehemalige Stiefelwichser Bubu als König herrschte.

Zehn Jahre hatte er schon regiert, als man eines Tages zwei fremde Landstreicher und Diebe ergriff, welche der König Bubu vor sich führen ließ. Er entsetzte sich nicht wenig, als er in ihnen seine beiden Brüder erkannte, denen er entlaufen war; sie aber erkannten ihn nicht, und hätten eher des Himmels Einfall vermuthet, als daß der große König, vor dessen Füßen sie sich niederwarfen, und um Gnade flehten, ihr kleiner Bruder Bubu sey.

»Was?« sagte er zu ihnen mit einem zornigen Blicke, »ihr Schelme untersteht euch, mich um Gnade zu bitten? Ich habe euch nicht kommen lassen, um euch zu begnadigen, sondern euch zum Tode zu verurtheilen; denn könnt ihr leugnen, daß ihr euern jüngsten Bruder Bubu ermordet habt?«

»Ach nein!« erwiederten sie zitternd; »wir haben ihn nicht ermordet, er ist uns entlaufen, und wir wissen nicht, wohin er gekommen ist.«

[113] »Und warum ist er euch entlaufen, und warum habt ihr ihn nicht aufgesucht? sprecht, warum nicht?«

Da wußten sie vor Angst nicht, was sie antworten sollten, und meinten, es hätte ihm nicht länger bei ihnen gefallen.

»Ich weiß Alles!« sagte Bubu. »Er entlief euch, weil er durch eure unbrüderliche Härte dazu gezwungen ward, und daher habt ihr euch seines Todes schuldig gemacht.«

Jetzt konnten sie nicht weiter leugnen, und gestanden ihr Unrecht ein, und flehten nochmals um Gnade.

»Nun hört,« sagte der König; »ich will Gnade vor Recht ergehen lassen. Ich bin euer Bruder Bubu. Ihr habt immer schlecht an mir gehandelt, doch hat der Himmel Alles zu meinem Besten gewendet. In der blauen Schachtel, die ihr mit Gewalt öffnen wolltet, stak meine Stadt, mein Volk und mein ganzes Königreich; in einem einzigen Jahre bin ich zu meiner jetzigen Größe herangewachsen. Ich stehe vor euch als König, und ihr vor mir als verurtheilte Landstreicher und Diebe. Wäret ihr als arme, ehrliche Leute zu mir gekommen, so würde ich euch nicht nur Alles, was ihr an mir Böses verübt habt, gern verzeihen, sondern euch auch dem ganzen Hofe als meine Brüder vorstellen, und euch zu hohen Würden erheben; so aber muß ich mich eurer schämen, und kann euch keine andere Gnade erweisen, als euch eure Freiheit zu schenken. Damit ihr aber nicht mehr nöthig habt zu stehlen, will ich euch Jedem funfzig tausend Thaler mitgeben, jedoch müßt ihr sogleich mein Königreich verlassen, und niemand sagen, daß ich euer Bruder bin.«

Die beiden Brüder konnten sich nicht genug verwundern über Bubu's Größe und seine gute Gesinnung. Sie fühlten wohl, daß er mehr an ihnen that, als sie verdient hatten. Hätte er ein böses Herz gehabt, so hätte er sie [114] Beide können hinrichten lassen; er vergalt ihnen aber Böses mit Gutem. Da gingen sie in sich, und bereueten ihre Fehler, und baten ihn um Vergebung für Alles, was sie unrecht an ihm gethan hätten.Bubu söhnte sich wieder mit ihnen aus, und bot ihnen brüderlich die Hand, und sagte: »Ich habe Alles vergeben, nur bessert euch, und führt euch brav und rechtschaffen auf, und ihr werdet immer einen guten Bruder an mir finden.« Darauf entließ er sie mit reichen Geschenken.

Bald, nachdem dies vorgefallen war, erhielt der König Bubu einen Besuch von seiner Pathe, der Fee Selma, welcher er sein ganzes Königreich zu verdanken hatte. Sie kam in der Nacht, mitten durch die Luft, auf einem leichten und prächtigen, mit vier fliegenden Löwen bespannten Wagen gefahren. Vor ihr her, über ihr und hinter ihr, flogen große leuchtende Kugeln, die wie Sonnen die ganze Stadt erleuchteten. Als sie sich auf dem Schloßplatz niederließ und ausstieg, konnte man nicht genug die Pracht ihres Gewandes und die Juwelen bewundern, die auf ihrem Kopfputz, an ihrem Halse, an ihrer Brust und an ihren Armen und Fingern blitzten. Der König eilte ihr entgegen, und führte sie mit einer andern jungen und schönen Dame, die sie bei sich hatte, die Schloßtreppe hinauf. Nach einigen Tagen heirathete Bubu die schöne fremde Dame, da sie sich Beide sehr lieb gewonnen hatten, und sie feierten ihre Vermählung mit großer königlicher Pracht.

So war nun Bubu nicht nur ein glücklicher König, sondern auch ein glücklicher Ehegemahl, und all dies Glück hatte er seiner gütigen Beschützerin, der Fee Selma, seiner guten Gesinnung und seiner braven Aufführung zu verdanken.

[115] 19. Das singende Rohr.

  • Das Singende Rohr. (Johann Heinrich Lehnert: Mährchenkranz für Kinder)
    Das Singende Rohr.

Es lebte einmal ein König, in dessen Reiche war ein großer Wald, worin sich ein ungeheures wildes Schwein aufhielt, welches das ganze Land verheerte, und Kinder und Erwachsene tödtete. Keiner war seines Lebens vor ihm sicher, und weder Jäger noch Hund wollte mehr darauf losgehen: denn Alle, die es gewagt hatten, denen hatte das Schwein mit seinen Hauzähnen den Leib aufgerissen, so daß sie unter den größten Schmerzen ihren Geist aufgeben mußten. Sogar des Königs einziger Sohn, der ein sehr tapferer Prinz war, und den Eber mit seinem Spieße verfolgt hatte, war von demselben zerrissen worden, so daß ihm nur noch eine einzige Tochter übrig blieb, welche sehr schön war, und einmal das Reich nach ihres Vaters Tode erben sollte.

Darum ließ der König ausrufen: Wer das wilde Schwein erschlüge, und es todt vor des Königs Füße legte, der sollte seine Tochter zur Gemahlinn haben.

Als dies bekannt wurde, da kamen viele Fürsten und Grafen, und andere vornehme Herren von fern und nah, und versuchten es mit dem wilden Schweine, aber sie mußten das Wagestück mit dem Leben bezahlen.

Nun lebten aber auch zwei Brüder in dem Lande, von denen war der älteste Herr eines Guts, das er von dem Vater ererbt hatte. Niemand mochte ihn leiden, denn er war übermüthig und ein stolzer Prahler. Sein jüngerer Bruder diente bei ihm als Schäfer, und mußte die Heerden auf dem Felde hüten. Alle aber, die ihn sahen, hatten ihn lieb, denn er war sanft und freundlich und von schönem Ansehen.

[116] Einmal schickte diesen sein Bruder in die Stadt; da hörte er ausrufen, daß der König demjenigen seine Tochter geben wollte, der den Eber erschlüge.

Als er das hörte, so hatte er keine Ruhe und Rast mehr in seinem Herzen, sondern ging auf das Schloß, und ließ sich bei dem Könige melden, daß er es unternehmen wollte.

Das war dem Könige sehr gelegen, und er ließ ihn vor sich kommen. Als er aber des Jünglings große Jugend und Schönheit sah, jammerte ihn seiner, und er suchte es ihm auszureden. Doch da des Königs Tochter da saß, welche schöner war als der Tag, und ihn mit ihren himmelblauen Augen so freundlich anblickte, so ließ er sich nicht abbringen von seinem Vorhaben, sondern ritt zurück auf das Gut, und sagte zu sei nem Bruder, daß er morgen früh mit dem Tage in den Wald gehen, und den Eber aufsuchen wollte. Da lachte ihn der Bruder aus, und fragte, ob er denn dächte, daß das wilde Schwein ein Lamm wäre, das sich mit dem Hirtenstabe lenken ließe? Aber der jüngere Bruder ließ sich nicht irre machen, sondern meinte, er wolle sein Glück versuchen, vielleicht daß es ihm mit dem Eber gelänge. »Nun gut!« sagte darauf der ältere Bruder, der ihm das Glück nicht gönnte, daß er den Eber erschlagen, und dann des Königs Tochter heirathen möchte; »nun gut, so ziehe hin, ich will dich begleiten, und die Gefahr mit dir theilen.« Denn er gedachte in seinem Herzen: Wenn Noth am Mann ist, so bist du zu Pferde, und dein Gaul kann dich bald aus der Gefahr tragen; der Bruder mag dann zusehen, wie er davon kommt.

Also zogen sie am folgenden Morgen hinaus in den Wald, der Eine zu Fuß, der Andere zu Pferde. Als sie aber in das Holz kamen, da ging dem älteren Bruder, welcher zu Pferde saß, die Reise zu langsam. Darum sprach [117] er: »Ich will voran reiten, folge du mir nur nach; wenn ich das Schwein sehe, will ich in das Horn stoßen, und dir ein Zeichen geben.« Und damit sprengte er davon, so daß ihn sein Bruder bald aus dem Gesichte verlor.

Dieser aber ging, den Wurfspieß in der Hand, getrost vorwärts: denn er vertrauete auf die Behendigkeit und Geschicklichkeit seiner Glieder. Mit einem Male sah er im Wege auf der Erde ein altes, buckligtes Mütterchen liegen, kaum eine Elle hoch; das hatte Holz aus dem Walde geholt, und war von seinem Bruder umgeritten worden, und konnte nun vor der Last, die auf dem Rücken gebunden war, nicht wieder aufkommen. Da bat ihn das Mütterchen, daß er ihr aufhelfen möchte. Weil er nun sehr mitleidig war, so reichte er ihr die Hände, und hob sie in die Höhe, und da er sie bluten sah, so nahm er sein Tuch aus der Tasche, und verband ihre Wunden. Hierauf langte er seine Flasche vor, und gab ihr einen Schluck Wein zu trinken, daß sie sich stärkte.

Da fragte ihn das kleine Mütterchen, warum er denn eigentlich in den Wald gekommen wäre, und wozu er den Wurfspieß in der Hand führte?

Als sie nun von ihm hörte, daß er gekommen wäre, das wilde Schwein zu erlegen, sprach sie: »Aus eigener Kraft wirst du es nicht vollbringen, aber komm mit mir hinter den Berg, so soll es dir leicht werden.« Da folgte er ihr nach hinter den Berg in eine Höhle, wo es hinabging, wie in einen Keller; und als sie daselbst angekommen waren, so merkte er wohl, daß die Frau eine Unterirdische war, vom Geschlecht der Zwerge: denn es standen viele kleine Erdmännerchen am Feuer, und schmiedeten Eisen. Sie hatten eben eine Lanzenspitze gemacht, die nahm die Frau, und steckte sie ihm an den Spieß, und sprach: »Wonach du hiermit werfen wirst, das wirst du treffen und tödten. Gehe nun, [118] und verrichte dein Werk! Ohne mich wärst du verloren gewesen, wie die Andern.«

Der schöne Jüngling nahm dankend das Geschenk aus der Hand der Zwerginn, verließ die Höhle, und ging zurück in den Wald. Noch war er nicht weit gegangen, als auch der wilde Eber ihm entgegen kam. Da hob er eiligst seinen Spieß, und warf ihn dem Schweine gerade in den Rachen. Das stürzte nun wüthend auf ihn zu, rannte dabei aber das Eisen sich noch tiefer in das Herz, und stürzte todt zu seinen Füßen nieder. Der Eber aber war so groß und schwer, daß er ihn nicht zu tragen vermochte.

Als er nun so hin und her sann, wie er es wohl machte, daß er ihn vor den König brächte, da kam sein Bruder geritten. Der war sehr erstaunt, als er den Eber todt da liegen sah, und freuete sich sehr, und sprach: »Laß uns aus Bäumen eine Schleife machen, und das Unthier darauf legen, dann wollen wir das Pferd davor spannen, und so das Schwein in die Stadt ziehen lassen.« So geschah es auch.

Es wurde aber Nacht, ehe sie die Stadt erreichten, und als sie an die Brücke kamen, die über den Fluß geht, der zwischen dem Walde und der Stadt fließt, so schlug der ältere Bruder den jüngeren todt, damit er den Ruhm hätte, das Schwein erlegt zu haben, und die Königstochter heirathen könnte. Das sah niemand, weil es Nacht war. Er aber verscharrte den Bruder unter der Brücke, und fuhr nun mit dem Schweine weiter in die Stadt zur Königsburg.

Hier stellte er sich am folgenden Morgen vor den König, zeigte das erschlagene Unthier, und erdichtete eine weitläufige Erzählung von seiner Heldenthat. Darauf bat er, daß ihm nun auch die Königstochter als versprochener Preis gegeben würde.

Der König war hocherfreut, als er das ungeheure Thier [119] todt zu seinen Füßen liegen sah, und ließ seiner Tochter sagen, daß sie kommen, und den kühnen Helden begrüßen, und ihm ihre Hand reichen sollte. Da diese nun meinte, daß es der schöne Jüngling wäre, den sie früher bei ihrem Vater gesehen hatte, so freute sie sich heimlich im Herzen. Als sie aber seinen Bruder sah, weinte sie, und fragte, wo der Andere geblieben wäre? Da antwortete er, daß er dieses nicht wisse, indem sie nicht zusammen, sondern jeder in einer andern Gegend des Waldes gejägt hatten. Er sey daher wohl möglich, daß er irgend wo zwischen den Bergen, von dem Eber zerrissen, liegen möchte.

Da weinte die Prinzessinn noch mehr, denn sie empfand gegen den Bruder mehr Widerwillen, als Zuneigung. Weil aber der König an sein Wort gebunden war, so half ihr all ihr Widerstreben nichts, und sie mußte ihn heirathen.

So lebten sie wohl ein Jahr, aber je länger sie bei einander lebten, je mehr wurde das Herz der Königstochter von ihrem Gemahle abgewandt: denn er war hart und finster. Darum ging sie ihm auch aus dem Wege, wo sie nur immer konnte, und weinte im Stillen.

Um diese Zeit geschah es, daß einmal ein Schäfer aus der Gegend über die Brücke ging, wo der Mörder seinen Bruder erschlagen und begraben hatte. Da er nun unter dem Bogen der Brücke Rohr wachsen sah, so stieg er hinunter, um sich eine Pfeife zu schneiden. Hier kam er an eine Stelle, wo die Stengel ungewöhnlich stark emporgeschossen waren. Er wußte aber nicht, daß an diesem Orte die Gebeine des erschlagenen Jünglings lagen. Darum schnitt er sich eine Rohrstaude aus, nahm sie in seine Hand, und ging damit zu seiner Heerde. Hierauf setzte er sich unter einen Baum, und machte sich die Flöte. Nachdem er Alles wohl zugerichtet, und die Löcher eingeschnitten hatte, setzte er sie an seinen Mund, um sie zu versuchen. Wie [120] erstaunte er aber, als die Flöte sogleich ganz deutlich dieses Lied sang:


Ich armes Rohr!

Aus Todtenbein

Schoß ich hervor,

Am Brückenstein;

Da schlug mein Bruder mich todt,

Vom Blute so roth,

Und grub mich ein,

Wohl um das Schwein,

Wohl um des Königs Töchterlein.


Seine Mitgesellen, die auf dem Felde waren, liefen zusammen, als sie das ungewohnte, wehmüthige Lied hörten, und baten den Schäfer, dasselbe zu wiederholen. So oft er aber die Flöte an die Lippen setzte, erklang jedes Mal wieder das vorige Lied, das letzte Mal immer noch trauriger, als das erste.

Dies Wunder machte Aufsehen in der ganzen Gegend, und kam auch vor die Ohren des Königs. Der befahl sogleich, daß der Schäfer zu ihm kommen sollte. Und als er erschien, mußte er die Flöte blasen, welche unter den wehmüthigsten Tönen wiederum sang:


Ich armes Rohr!

Aus Todtenbein

Schoß ich hervor,

Am Brückenstein;

Da schlug mein Bruder mich todt,

Vom Blute so roth,

Und grub mich ein,

Wohl um das Schwein,

Wohl um des Königs Töchterlein.


Das kam dem Könige verdächtig vor, und er fragte den Schäfer, wo er das Rohr zu der Flöte geschnitten hätte? Dieser zeigte den Ort an, worauf der König mit seinen Leuten sich nach der Brücke hinaus begab, und nachgraben ließ. Da fanden sie den Leichnam des erschlagenen Bruders in der Erde eingescharrt. Hierauf nahm der König [121] den Mörder in's Verhör, und ließ ihn, da er sein Verbrechen eingestanden, von der Brücke in's Wasser stürzen, wo er auch ertrank. Die Gebeine des Bruders ließ er auf dem Gottesacker vor der Stadt begraben, und Blumen auf das Grab pflanzen, welche die Königstochter mit ihren Thränen begoß. Von Stund' an aber hörte die Flöte auf zu singen, man mochte darauf blasen, so viel man wollte.

20. Der Knabe und der Vogel.

In einer großen Handelsstadt lebte einmal ein reicher Kaufmann, dem zu seinem Glücke nichts weiter fehlte, als ein Sohn, denn er hatte keine Kinder. Endlich wurde er auch dieses Glückes theilhaftig; seine Frau gebar ihm einen lieben muntern Knaben, zur Freude des ganzen Hauses.

Als nun das Tauffest gehalten wurde, erschien auch eine Fee, um dem Täufling ihre Geschenke darzubringen. Sie trat zu den Aeltern, und sagte: »Ich könnte ohne Mühe die ganze Wiege eures Kindes mit den köstlichsten Edelsteinen, Diamanten, Rubinen, Saphiren und Smaragden überschütten; aber ihr seyd schon reich genug. Reichthum, ohne die Gabe, ihn nützlich anzuwenden, macht nicht glücklich; darum beschenke ich euern Sohn mit Lebhaftigkeit des Geistes und schneller Fassungsgabe. Dies Beides wird ihn in den Stand setzen, sich nicht nur einen Schatz trefflicher Kenntnisse zu erwerben, sondern die erworbenen Kenntnisse auch gehörig anzuwenden!«

Hierauf verschwand die Fee. – Der Vater, ein eifriger Handelsmann, war mit diesem unsichtbaren Angebinde der Fee nicht ganz zufrieden, und meinte zu seiner [122] Frau, sie hätte dem Kinde wohl ein werthvolleres Geschenk machen können. Die Edelsteine, deren sie erwähnt, wären nicht zu verachten gewesen, und da er auch mit Juwelen handle, so würde er sie mit großem Vortheil verkauft haben, und sein Söhnlein hätte von dem Geldertrag ansehnliche Zinsen ziehen können.

Bei dem Knaben aber entwickelten sich schnell die Geschenke der Fee. Er zeigte im sechsten Jahre einen bewundernswerthen lebhaften Geist; Alles, was er sah und hörte, prägte sich seinem Gedächtnisse tief ein, und er that oft den Aeltern und Bekannten, selbst Fremden, die des Handels wegen zu dem Vater kamen, solche Fragen mit kindlicher Treuherzigkeit, daß die Befragten oft in Verlegenheit geriethen, was sie ihm darauf antworten sollten. Alle bewunderten das kluge und wißbegierige Kind, am meisten aber die Mutter, deren Liebling es um so mehr war, da es keine Geschwister hatte.

Die Folge dieser mütterlichen Liebe war aber, daß sie dem Söhnchen allen Willen ließ, jeden seiner kleinen Wünsche befriedigte, und allen seinen Launen und thörichten Einfällen nachgab. Der Vater und die Hausgenossen folgten ihrem Beispiele, um es nur mit der Mutter nicht zu verderben, und sich bei ihr einzuschmeicheln.

Die Fee, die immer ein wachsames Auge auf den Knaben gehabt hatte, erschien einst der Mutter, und stellte ihr vor, das sie dem Knaben durch ihre allzugroße Nachgiebigkeit sehr schade, sie müsse seinen Willen frühzeitig zügeln, und ihm keine Unarten nachsehen: denn sonst würde ihr Angebinde, statt ihn glücklich zu machen, ihm zu seinem Verderben gereichen.

Die Mutter wagte es nicht, der Fee, aus Furcht vor ihrer Macht, gerade zu in's Gesicht zu widersprechen; sie beschönigte ihre Nachsicht mit ihrer Liebe, und versicherte, [123] daß ihr Söhnchen noch nichts Schädliches begehrt, und nicht Tadelnswerthes gethan habe.

Die Fee ermahnte nochmals die Mutter zur Strenge gegen den Knaben, und bat sie dringend, ihn nicht durch unzeitige Nachgiebigkeit zu verwöhnen, und sein Herz durch eine verkehrte Erziehung zu verderben. – Die Mutter aber achtete wenig auf diese wohlgemeinten Ermahnungen der Fee, und dachte, sie hätte sich um die Erziehung ihres Sohnes nicht zu bekümmern.

An das prächtige, fast palastartige Haus des reichen Kaufmanns stieß ein sehr schöner, großer Garten, geschmückt mit den mannichfaltigsten Bäumen und Stauden; hier wechselten Palmen mit Myrthen und Lorbeerbäumen, Orangen mit Mandelbäumen, blühende Fliederstauden mit Jasmin, und hochstämmige Rosenbäume trugen Blumen und Knospen, roth, weiß und gelb. Auf zierlich abgesteckten Beeten prangten Lilien, Tulpen, Nelken, Narcissen und andere liebliche Blumen; das bescheidene Tausendschön, das blaue Veilchen, die duftende Reseda, die buntbestäubten Aurikel bekränzten diese Beete, und süße Wohlgerüche entstiegen den Kelchen.

In diesem Garten pflegte der Knabe in der schönen Jahreszeit, sobald der Lenz begann, seine Blüthen zu verstreuen, bis der Herbst wieder das Laub von den Bäumen streifte, und die gereifte Purpurtraube gepflückt und zur Kelter gesammelt war, zu spielen. Hier sprang er umher, schlug den Ball, oder haschte Schmetterlinge und Maikäfer, pflückte sich Blumen, und ließ, wenn es später im Jahre war, und die Winde schon stärker weheten, Drachen an einem langen seidenen Faden in die Luft fliegen.

Einst sprang der Knabe in diesem anmuthigen Garten gegen Abend fröhlich umher, und belustigte sich am Werfen mit einem Ball. Dieser flog in ein Gebüsch von Flieder [124] und Rosen. Er wollte den verlorenen Ball dort wieder hervorziehen, aber als er auf dem grünen Rasen kniete, und die kleine Hand in das Laub des Gebüsches streckte, wohin der Ball geflogen war, und der ihm noch roth und gelb entgegen schimmerte, rauschte ein kleines Vögelchen aus dem Dickicht hervor, und setzte sich dicht neben ihn auf eine blühende Rose.

Das Vögelchen war so klein und leicht, daß es die Rose tragen konnte, ohne entblättert zu werden, oder einzuknicken. Sein Gefieder schimmerte in allen Farben des Regenbogens, wie Gold und Edelsteine. Es zwitscherte süße Töne, sah den Knaben mit seinen kleinen, hellleuchtenden Augen sehr freundlich an, und nickte dabei mit dem kleinen, buntbefiederten Köpfchen, als wollte es gleichsam sagen: Da bin ich, greif' mich! –

Der Kleine vergaß hierüber seinen Ball, und verwandte kein Auge von dem schönen Vögelchen. Es erwachte in ihm die Begier, es zu besitzen; er greift nach ihm, um es zu erhaschen, aber der befiederte Gartenbewohner hüpfte von Zweig zu Zweig, doch immer nur so weit, daß er vor einem raschen Angriff des Knaben gesichert ist.

So neckte ihn der Vogel unablässig, und der Knabe wurde dadurch nur noch eifriger, ihn zu verfolgen. Jetzt waren sie bis an das äußerste Ende des Gartens gekommen, der an einen, durch einen Zaun getrennten, großen Wald stieß. Hier flog der Vogel auf die Spitze eines Spaliers dieses Zaunes, und als der Knabe, schon ganz ermüdet, nach ihm greifen wollte, verließ er diesen Sitz, und rettete sich auf den untersten Zweig des Baumes, der im Walde diesem Zaun zunächst stand.

Hier begann das lose Vögelchen auf's Neue sein muthwilliges Spiel mit dem Kleinen, und sein zwitschernder Gesang kam diesem wie eine Art Spott vor, daß er [125] nun, durch den Zaun getrennt, vor seinen Nachstellungen sicher sey.

Dies entflammte bei dem feurigen Knaben die Begier nach dem Besitz des Vogels noch stärker, wie zuvor. Vater und Mutter, und alle ihre Hausgenossen und Umgebungen hatten immer jeden seiner Wünsche befriedigt, und jetzt sollte ein kleiner, unbedeutender Vogel sich gegen ihn widerspenstig bezeigen? Das konnte er nicht ertragen; er bot also alle seine Kräfte auf, sich durch das Gitter des Zauns zu zwängen. Aber so klein und schlank er auch war, so waren die Stäbe doch zu dicht neben einander, und so unbeweglich befestigt, daß alle Anstrengungen seiner kindischen Kräfte es nicht vermochten, nur Einen von seiner Stelle zu rücken. Der Vogel schien diesen fruchtlosen Bemühungen mit Ruhe zuzusehen, und sein Gesang aus der kleinen Kehle klang fort, wie ein höhnendes Ha! ha!

Das verdroß den Knaben noch mehr. Er versuchte über den Zaun zu klettern; mit vieler Mühe erreichte er die Spitze desselben, sprang dann hinunter, blieb aber an einem der Zacken des Gitterzauns mit dem feingewebten Gewande hängen, und zerriß es in Fetzen. Dieser Umstand schmerzte ihn zwar, doch vergaß er ihn bald über den Vogel, der ihn ganz furchtlos emporklettern und herunterspringen sah, ohne sich nur im mindesten von dem Zweige zu entfernen, auf welchem er saß. Er hatte sogar jetzt das Köpfchen unter die Flügel gesteckt, als wenn er schliefe, und der Knabe zweifelte nicht, ihn jetzt sicher zu erhaschen. So wie er aber die Hand nach dem, zum Schein schlummernden, Vogel ausstreckte, rauschte dieser empor, und wählte einen andern entfernten Zweig zu seinem Sitz.

Unmuthig über diese fehlgeschlagene Bemühung beschloß der Knabe, seinen Vorsatz auszuführen, es koste, was es wolle. Der Vogel aber lockte ihn immer tiefer in den Wald, [126] der mit jedem Schritte immer unwegsamer und finsterer wurde. Die Dämmerung trat ein: kaum schimmerte ihm noch das glänzende Gefieder in dem Dunkel des Hains, wie ein leuchtendes Marieenwürmchen, und er würde die Spur des Vogels ganz verloren haben, hätte dieser nicht durch seine Töne sich ihm mehr verrathen, als durch den Glanz seiner Federn.

Plötzlich trat eine rabenschwarze Nacht ein; Wolken hatten den Himmel umzogen; die Sonne war untergegangen, und ein fernher rollender Donner, und das Leuchten der Blitze verkündigten ein herannahendes Gewitter. Ein Sturm erhob sich, feurige Blitze durchkreuzten die schauervolle Finsterniß, und ein heftiger Gewitterregen strömte vom Himmel herab. Der Vogel war verschwunden; auch hatte der Knabe in dieser Angst gar nicht weiter an ihn gedacht; sein einziger Wunsch war nur, aus der Wildniß wieder in das älterliche Haus sich zu flüchten; aber seine Kräfte waren erschöpft; er sank ohnmächtig unter einen Baum, dessen Zweige unter dem Toben des Sturmes erseufzten.

Da der Knabe bei dem herannahenden Gewitter nicht wieder aus dem Garten in das Haus zurückgekommen war, so eilten Vater und Mutter dorthin, um ihn aufzusuchen. Vergebens riefen sie ihn mit Namen; keine Antwort erfolgte. Sie kamen endlich bis zu dem Zaun und der Gegend, wo ihr Sohn übergestiegen war. Hier fanden sie einige herumliegende Fetzen seines zerrissenen Kleides, und kamen ihm dadurch auf die Spur.

Mit Laternen versehen mußten nun alle Diener und Dienerinnen des ganzen Hauses den Wald durchstreifen, um den verlorenen Sohn wieder zu finden. Die Mutter lief immer voran, denn ihre Angst um den Liebling ihres Herzens war am größten. Endlich entdeckte sie ihn sanftschlafend unter einem Baume, weckte ihn auf, schloß ihn vor [127] Freuden fest in ihre Arme, und bedeckte ihn mit Küssen mütterlicher Zärtlichkeit.

Jetzt war auch der Vater hinzugekommen, und nachdem der Rausch der ersten Freude des Wiedersehens vorüber war, begannen beide Aeltern, am meisten aber die Mutter, dem Sohne Vorwürfe zu machen, wie er sich so leichtsinnig und verwegen aus dem Garten hätte wagen können. Er erzählte Alles, wie es ihm ergangen sey, und bedauerte nur, als er sich gerettet sah, daß er den Vogel nicht erhascht habe.

Da erschien die Fee, und sagte: »Alles dieses war mein Werk, um dich, Kind! zu belehren, daß die Begierde, jeden Wunsch zu befriedigen, den Menschen nach und nach, statt zu beglücken, oft in großes Verderben stürzt. Nur der wird in späteren Jahren glücklich und zufrieden seyn, der schon in der Kindheit lernt, gehorchen und entbehren. Lerne demnach, deine Wünsche und Begierden einzuschränken und zu zügeln. Ich würde dir, zur Erinnerung an diese Lehren, und an die Erfahrung, die du gemacht hast, als du so ungestüm den Vogel verfolgtest, und ihn für jeden Preis haben wolltest, diesen gerne jetzt geben, aber das ist unmöglich: denn dieser Vogel war – ich selbst!«

21. Der kleine Däumling.

Vor Zeiten war einmal ein armer Holzhacker und seine Frau, die hatten sieben scharmante Kinder, lauter Jungen, von welchen der jüngste sieben Jahre alt seyn mochte. Die vielen Kinder machten ihnen viele Sorge, da noch keins von allen etwas verdienen konnte. Noch mehr Kummer machte [128] es aber dem armen Manne, daß der jüngste Sohn nicht allein sehr schwach und zärtlich, sondern, wie er einfältig glaubte, auch etwas dumm und beschränkt war, welches jedoch keineswegs sich so verhielt. Zwar war der Knabe sehr klein, und als er zur Welt kam, nicht größer wie ein Daumen, weswegen man ihn denn auch immer nur den kleinen Däumling nannte; dabei war er aber gar nicht dumm, vielmehr sehr pfiffig, und weit klüger als seine Brüder, obwohl er wenig sprach, und im Gegentheil mehr hörte und aufmerkte.

Nun geschah es, daß ein schweres, sehr theures Jahr kam: denn die Ernte war ganz mißrathen, und die Aeltern, der Däumling und die andern sechs Kinder mußten jetzt oft hungrig zu Bette gehen.

Eines Abends waren die Kinder schon alle schlafen gegangen, aber der Holzhauer saß noch mit seiner Frau am Feuer, und sprach mit beklommenem, schwermüthigem Herzen von der schlimmen Zeit und der Noth, mit welcher sie zu kämpfen hatten. »Frau,« sagte er dann mit einem tiefen Seufzer, »was soll aus unsern armen Kindern werden? Die müssen wir wohl dem lieben Gott befehlen, der für sie sorgen wird, da wir es nicht mehr können! Ich will sie morgen mit in den dicksten Wald führen, und Reisholz auflesen lassen, und mich dann heimlich davon machen. Den Rückweg finden sie gewiß nicht! Und wenn sie auch im Walde umkämen, so ist's doch besser, als wenn wir sie vor unsern Augen so langsam sollen verschmachten sehen!«

»Wie!« rief die Frau, »du wolltest deine Kinder aussetzen, und von wilden Thieren fressen lassen? Das kann ich nimmermehr zugeben.«

Traurig zuckte der Mann die Achseln, und nachdem er seiner Frau Alles noch einmal vorgestellt hatte, wie es doch ganz unmöglich sey, die vielen Kinder zu ernähren und vor [129] dem Hungertode zu schützen, so willigte sie endlich weinend in seinen Vorschlag ein, und legte sich bekümmert zu Bette, und betete zu Gott, daß er doch helfen möge.

Der kleine Däumling hatte aber nicht geschlafen, und wohl bemerkt, daß die Aeltern von ihm und seinen Geschwistern sprachen; er war daher leise von seiner Schlafstelle aufgestanden, und unter des Vaters großen Holzschemel heimlich und unbemerkt gekrochen, und hatte da Alles genau mit angehört. Als nun die Aeltern sich niederlegten, ging auch er wieder in sein Bette, schlief aber die ganze Nacht nicht, sondern sann hin und her, was wohl unter solchen Umständen am gerathendsten zu thun seyn möchte.

Ohne seinen Brüdern etwas zu sagen, weil er sie nicht ängstigen wollte und sie auch noch so sanft schliefen, stand er ganz früh auf, sobald der Tag graute, ging an einen Bach, und sammelte sich da alle Taschen voll weißer Steinchen, und eilte damit wieder nach Hause zurück.

»Kommt, Kinder!« sagte ein Stündchen darauf der Vater; »ihr sollt mit mir in den Wald gehen, und dort dürres Reisholz lesen.« Somit ging's fort in den Wald; klein Däumling ließ sich aber nichts von dem merken, was er vorhatte.

Jetzt waren sie so tief in das Dickicht gekommen, daß man nicht zehn Schritte weit sehen konnte. »Leset hier!« sagte der Vater, »ich werde noch etwas weiter in den Wald hineingehen, und euch zu rechter Zeit abholen.« Aber der Vater holte sie nicht, sondern hatte sich ganz heimlich nach Hause geschlichen.

Da nun der Vater nicht kam, wurde den Kindern in dem dicken, dichten Walde sehr bange; sie fingen an, gewaltig zu weinen, zu heulen und zu schreien; nur der kleine Däumling schrie nicht, denn er wußte wohl, wie er sich wieder aus dem Walde herausfinden wollte. Er hatte nämlich [130] die kleinen weißen Bachkiesel, die er mit sich genommen, auf den Weg hingestreut, und so konnte er den Rückweg nicht verfehlen. »Seyd nur ruhig,« sagte er zu den weinenden Brüdern, »ich bringe euch sicher und gewiß nach Hause.« Und das that er auch. Unterwegs aber hatte ihnenDäumling Alles erzählt, was die Aeltern am Abend mit einander gesprochen, und als sie nun vor dem älterlichen Hause angelangt waren, traueten sie sich nicht hineinzugehen, sondern horchten vor der Thüre, was Vater und Mutter wohl sagen möchten.

Mit diesen hatte sich indeß eine Veränderung zugetragen: denn eben, als der Vater mit den Kindern nach dem Walde gegangen war, hatte der Herr des Dorfes zehn Thaler geschickt, welche er dem Holzhacker schon seit lange für Arbeitslohn schuldig gewesen, und die die armen Leutchen schon für verloren geglaubt hatten. Die Auszahlung dieser Schuldpost war für die Armen, die fast Hungers starben, eine große Hülfe in der Noth. Sogleich nach Empfange des Geldes ging die Frau zu einem Fleischer, und da es schon lange her war, daß sie nichts Ordentliches gekocht hatte, so kaufte sie in ihrer Freude drei Mal mehr ein, als für sie und ihren Mann nöthig war.

Wie sie nun am Abend sich gütlich gethan, und sich recht satt gegessen, und noch viel übrig geblieben war, da fing die Frau an zu weinen, und sagte: »Ach, wo mögen jetzt unsere armen Kinder seyn! O, wie würden sie essen, wenn sie hier wären! Nur du bist schuld« – fuhr sie zu ihrem Manne fort, – »daß wir sie nicht mehr haben; jetzt werden sie im Walde umherirren, und vielleicht von den Wölfen zerrissen.« Dies Klagelied wiederholte sie so oft, daß der Mann endlich ungeduldig wurde, und ihr mit harten Worten drohte, still zu schweigen. Aber die Frau [131] ließ sich nicht beruhigen; und schrie nur desto lauter: »Ach, meine armen Kinder! wo mögen meine armen Kinder seyn!«

Dies hörten die Kinder an der Thüre, und schrieen Alle auf ein Mal: »Hier sind wir! Hier sind wir vor der Thüre!«

Da lief die Mutter hin, und öffnete die Thür, und ließ sie herein. »Ach, meine lieben Kindlein,« sagte sie mit Freudenthränen, »wie froh bin ich, daß ihr wieder da seyd.« Und Vater und Mutter herzten und drückten die Kinder, und dankten Gott, daß sie Alle wieder ohne Schaden da waren, und ließen sie an den Tisch sich setzen, und sich satt essen: denn es war noch genug da.

Als aber die zehn Thaler in der theuern Zeit bald zu Ende gingen, da ging auch die Freude der armen Leute zu Ende, und die alte Noth brach wieder in's Haus ein, und die alte Angst wieder in's Aelternherz. Vater und Mutter hielten daher wieder heimlichen Rath, was nun zu thun sey, und sie fanden keinen an dern, als den, die Kinder abermals in den Wald zu führen, aber viel tiefer hinein, als das erste Mal.

Obschon sie dies ganz heimlich mit einander besprachen, so entging es doch dem kleinen Däumling nicht, und er dachte, er wolle sich und die Brüder mit den Kieseln schon zum zweiten Male nach Hause helfen. Aber leider gelang es ihm nicht, denn als er am Morgen ganz frühe aufstand, um sich weiße Steinchen zu suchen, da fand er die Hausthür fest verschlossen, und wußte nicht, was er nun thun sollte. Indeß besann er sich auf ein anderes Hülfsmittel. Ehe der Vater die Kinder in den Wald führte, gab die Mutter an jedes ein großes Stück Brot, und Däumling dachte nun, sich seines Brotes dies Mal so zu bedienen, wie neulich der kleinen Steine. Er krümelte es deswegen [132] still auf den Weg hin, und dachte: Nun wollen wir doch wieder nach Hause kommen.

Aber es gelang nicht. Denn als der Vater sie heimlich verlassen, und Däumling nun vergnügt die Brüder den Weg zurückführen wollte, waren keine Brotkrümchen mehr zu sehen, denn die Vögel hatten sie aufgefressen. Ach, da wurden sie Alle sehr betrübt, und weinten und schrieen gar erbärmlich, und verirrten sich in ihrer Angst immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Dazu wurde es Nacht; es brach ein Sturm mit gewaltigem Heulen, Brausen und großem Platzregen los, und das Geheul gieriger Wölfe glaubten sie auch schon zu hören. – Jetzt wußte Däumling keinen andern Rath, als auf einen Baum zu klettern, um nachzusehen, ob sich nicht irgend wo eine Wohnung entdecken ließ. Er war auch wirklich so glücklich, in weiter Ferne tief im Walde einen schwachen Lichtschimmer zu erspähen. Nun stieg er herab, und ging mit seinen Brüdern auf die Gegend zu, wo das Licht geschienen hatte, und nach langem, mühsamen Umhertappen in der Finsterniß sahen sie es endlich wieder durch die Nacht schimmern, kamen mit vieler Mühe und Noth an das Haus, in welchem das Licht war, und klopften an. Ein altes Mütterchen öffnete die Thüre und fragte, was sie wollten. Da jammerten sie, und klagten alle Noth und Angst, die sie ausgestanden hatten, und baten um ein Nachtlager. »Ach,« sagte die Frau, indem sie weinend und bedauernd die armen Jungen betrachtete, »ach, wie beklage ich euch! Wißt, hier ist das Haus des Popanzes, der alle Kinder, die er erwischt, auffrißt, weil sie sein liebster Leckerbissen sind. Wo soll ich euch also hinstecken, ohne daß er euch auswittere, weil er Menschenfleisch auf viele Schritte weit riecht.«

»Ach, liebe Mutter!« wimmerte der kleineDäumling, der für die andern das Wort führte, »was sollen [133] wir denn nun anfangen? denn draußen werden wir auch von hungrigen Wölfen zerrissen. Sollte denn der Popanz gar nicht zu erweichen seyn? Ach, lieber Gott, helft uns doch; wir können ja auch nicht mehr weiter!«

Weil nun die Frau des Popanzes gut und mitleidig war, und die Kinder sie dauerten, so entschloß sie sich, dieselben bis zum nächsten Morgen vor ihrem Manne zu verbergen, und nahm sie in's Haus, und ließ sie am Feuer, an welchem ein ganzer Hammel zum Abendbrote des Popanzes gebraten wurde, sich erwärmen und trocknen.

Kaum waren sie trocken, und hatten den schärfsten Hunger etwas gestillt, so wurde auch schon an die Hausthüre gedonnert. Das war der Popanz! Die Frau steckte hastig die Kinder unter ein großes Bette, und machte die Thüre auf.

»Wo ist das Essen? Und ist der Wein abgezogen?« Das war seine erste Frage, als er in die Stube trat. Die Frau bejahete es, worauf er sich an den Tisch setzte, und den ganzen Hammel auffraß, obschon er noch ziemlich roh und blutig war, was ihm aber nur um so besser schmeckte.

»Frau,« sagte er plötzlich, indem er mit seiner vortrefflichen Riechnase schnupperte, »Frau, ich wittere Menschenfleisch!«

»Das wird das Kalb seyn, welches ich zu morgen geschlachtet habe,« antwortete die Frau.

»Nein, nein!« schrie der Popanz mit gewaltiger Stimme, »ich wittere frisches, junges Menschen fleisch!« Er schnupperte, und fand die armen Jungen unter dem Bette, und zog sie, einen nach dem andern, hervor.

»Hoh, Hoh!« rief er grimmig, »also willst du mich anführen? Warte, dich will ich zuerst fressen, und diese junge Brut dann hinterdrein! Es muß einen herrlichen Leckerbissen geben!« Der Mund wässerte ihm schon, und [134] er nahm das wohlgeschliffene scharfe Schlachtmesser, das er immer mit sich führte, und wollte flugs die Kleinen abgurgeln.

Die Kinder fielen ihm zu Füßen, und wimmerten und flehten; umsonst! Da stellte ihm die Frau vor, daß er ja noch zu essen genug habe, ein Kalb, zwei Hammel und ein halbes Schwein, und wenn er die Kinder nun auch noch sogleich schlachten wollte, das viele Fleisch nur verderben würde.

»Frau, da hast du Recht!« erwiederte er, und ließ das schon gehobene Schlachtmesser wieder sinken. »Dazu kommt,« setzte er hinzu, »daß ich mir zu morgen ein Paar gute Freunde gebeten habe, damit wir einmal einen vergnügten Tag zusammen haben. Na, füttere die Krabauters, und bringe sie in's Bette; morgen früh sollen sie dran!«

Vergnügt, daß es ihr gelungen war, die Kinder zu retten, gab die gute Frau ihnen zu essen; aber die armen Kleinen konnten nichts genießen vor lauter Furcht.

Unterdeß hatte sich der Popanz wieder an den Tisch gesetzt, und da er sehr freudig war, so viel herrliche Leckerbissen im Hause zu haben, trank er heute Abend ein Gläschen zu viel, so daß er bald, ein Bißchen benebelt, das Bette suchen mußte.

Der Menschenfresser hatte aber sieben Töchter, die noch Kinder und sehr häßlich von Ansehn waren, obschon sie eine hübsche feine Haut hatten, welches daher kam, daß sie rohes Fleisch speisten, wie ihr Vater. Zwar waren sie noch nicht so bösartig, wie der alte Popanz, doch hatte man alle Hoffnung, daß sie es werden würden; denn schon jetzt bissen sie mit ihren scharfen Zähnen gern die Kinder, und saugten ihnen mit ihren großen Mäulern das Blut aus. Diese sieben Mädchen lagen alle zusammen in einem [135] großen Bette, und schliefen, und statt der Nachtmützen hatten sie goldene Kronen auf den Köpfen.

In derselben Kammer stand ein anderes, eben so großes Bette. In dieses legte die Frau des Popanzes die sieben Knaben.

Wie nun Alles schlief, der Popanz und seine Frau, die kleinen Popanzmädchen und Däumlings Brüder, da stand dieser, dem einfiel, der alte Popanz könne wohl über Nacht noch Appetit bekommen, ein oder ein Paar Kinder zu speisen, oder sie zu schlachten, ganz stille auf, schlich zu dem Bette hin, worin die Mädchen lagen, und nahm ihnen leise die goldenen Kronen von den Köpfen, und setzte ihnen dafür seine und seiner Brüder Mützen, die Kronen aber sich und seinen Geschwistern auf.

Und richtig, wie er gedacht hatte, geschah es auch. Um Mitternacht wachte der alte Menschenfresser auf, und da er ein Mann war, der nicht gern auf den andern Tag verschob, was er denselben noch thun zu können meinte, so stand er auf, und sagte vor sich hin: Wollen mal sehen, was die kleinen Krabauters machen. Nun tappte er im Finstern in der Kammer herum, und kam an das rechte Bette, wo die Knaben lagen, greift aber zur völligen Sicherheit, weil es noch dunkel war, auf die Köpfe der Kleinen, und fühlt die goldenen Kronen. »Ei, ei!« murmelt er vor sich hin, »da hätte ich was Sauberes machen können; fürwahr, ich habe doch wohl gestern Abend ein oder zwei Becherchen zu viel getrunken!«

Damit ging er nach dem andern Bette, wo seine Popänzchen schliefen, und da er auf den Köpfen der Schlafenden die Mützen fand, brummte er: »Ach, da sind sie ja! Nun, ihr Bürschchen, dies Mal sollt ihr mir nicht davon kommen.« Und somit nimmt er sein Schlachtmesser [136] gurgelt ihnen die Kehlen ab, saugt das Blut ein, und legt sich wieder in's Bette.

Der kleine Däumling hatte dies Alles bemerkt, und sobald er den Menschenfresser wieder schnarchen hörte in seinem Bette, weckte er schnell die Brüder, und sagte zu ihnen: »Steht auf, und zieht euch geschwind an, wir müssen fort!« Erschrocken sprangen die Brüder in die Höhe, stiegen durch das Fenster in den Garten, überkletterten die Gartenmauer, und liefen den noch übrigen Theil der Nacht in großer Angst, von dem Menschenfresser eingeholt zu werden, durch den Wald nach Hause. Sie hatten, zu ihrer großen Freude, den rechten, wohlbekannten Weg getroffen, wie sie am Morgen sahen.

Als gegen Morgen der Popanz aufwachte, rief er seine Frau, und sagte zu ihr: »Frau, gehe in die Kammer, und mache die kleinen Schlingel recht hübsch zurechte!«

Sehr erstaunt über die Freundlichkeit ihres Mannes ging die Frau: denn sie glaubte nichts anders, als ihr Mann meinte, sie solle die Kinder recht gut anziehen, aber ach! wie entsetzte sie sich, als sie hinkam, und ihre sieben Töchter im Blute schwimmend fand. Vor Schreck fiel sie in Ohnmacht. Da sie nun nicht wieder herunter kam, so glaubte der Popanz, sie möchte mit dem Zurichten seiner Leckerbissen nicht fertig werden können, und ging ihr nun nach, um ihr zu helfen. Er erschrak aber fast nicht weniger, wie seine Frau, als er sah, was er angerichtet hatte, und ganz außer sich vor Wuth, schwur er, fürchterlich an den entlaufenen Jungen sich zu rächen.

Um indeß seine Frau wieder zu sich selbst zu bringen, lief er eiligst fort, holte einen großen Topf mit Wasser, und goß ihr denselben über den Kopf.

Als die Frau dadurch aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht war, gebot er ihr, ihm seine Meilenstiefeln zu holen; [137] seine geschlachteten Kinder aber auf den Mittag zurecht zu machen, denn todt seyen sie nun doch einmal, und Menschenfleisch schmecke gar zu gut.

Die Frau holte die Meilenstiefeln, womit bei jedem Schritte eine Meile zurückgelegt wurde. Er zog sie an, und lief nun so schnell und wild umher, daß Alles erschrak, am meisten aber die armen Jungen, welche kaum noch hundert Schritte von der Hütte ihrer Aeltern entfernt waren, und den Menschenfresser von Berg zu Berg, über Thäler und Ströme, wie über Maulwurfshügel und Rinnsteine hinwegschreiten sahen.

Zum Glück bemerkte der kleine Däumling in diesem ängstlichen Augenblick ein überhängendes Felsstück, unter welches er sich mit seinen Brüdern auf ein Häufchen niederdrückte, und nun beobachtete, was der Popanz vornahm.

Dieser, der von dem weiten Wege sehr ermüdet war, – denn mit Meilenstiefeln zu gehen, greift etwas an! – sah sich nach einem Ruheplatze um, und da der Felsen, unter welchem die Kinder stacken, ihm zum Ausruhen sehr geeignet schien, so legte er sich ein Bischen hin, und schlief alsbald ein, wobei er so grimmig schnarchte, daß Feld und Wald wiederhallten.

Jetzt hieß der kleine Däumling seine Brüder vollends nach Hause eilen, er selbst aber schlich sich zu dem Schläfer hin, zog ihm die Stiefeln aus und sich an. Zwar waren sie ihm ein wenig groß und weit, aber da sie gefeit waren, so paßten sie ihm doch, und er konnte ganz herrlich darin marschiren.

Nun war gerade Krieg; da konnte er seine Meilenstiefeln vortrefflich gebrauchen. Der König nahm ihn zu seinem Courier an, und er brachte nun die Nachrichten vom feindlichen Heere in einigen Minuten. Er bekam von den Briefen, die die Frauen an ihre Männer, und die Mädchen [138] an ihre künftige Ehegatten schrieben, und von den Briefen, die er wieder mit zurücknahm, ein gar großes Geld; wie er denn auch vom König sehr ansehnlich belohnt wurde. Hierauf kehrte er wieder zu den Seinigen zurück, versorgte sie reichlich, und lebte mit ihnen noch lange in Wohlstand und Freude.

22. Schneewittchen.

Es saß einmal eine Königinn zur Winterszeit, als draußen Schnee lag, am Fenster, und stickte an einem Tuche, das in einem Rahmen von schwarzem Ebenholz gespannt war. Da stach sie sich mit der Nähnadel in den Finger, daß es blutete, und machte das Fenster auf, und ließ das Blut auf den Schnee tropfen. Und weil das Rothe in dem Weißen so schön aussah, so dachte sie: Hätte ich doch ein Kind, so weiß, wie Schnee, so roth, wie Blut, und die Augen so schwarz, wie dieser Rahmen! Und bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so roth wie Blut, und hatte Augen so schwarz wie Ebenholz, darum wurde es Schneewittchen genannt.

Aber bald starb ihre Mutter; da nahm die Schwester derselben, welche auch eine Königinn war, dieselbe zu sich an Kindes Statt, denn sie hatte keine eigenen Kinder.

Anfangs hatte Schneewittchen es recht gut bei ihr, und würde es auch immer so gut gehabt haben, wenn sie nicht so überaus schön gewesen wäre. Das gönnte ihr aber die Königinn nicht; denn bisher war sie die Allerschönste im Lande gewesen, und wollte es auch bleiben.

Sie hatte aber in ihrer Schlafstube einen Spiegel,[139] wenn sie vor denselben trat, ehe Schneewittchen heranwuchs, und fragte:


Spiegel, Spiegel an der Wand,

Wer ist die Schönst' im ganzen Land?

so hatte jedes Mal der Spiegel geantwortet:

Ihr seyd die Schönst' im ganzen Land.


Jetzt aber, als Schneewittchen größer wurde, war es anders, und wenn die Königinn den Spiegel fragte:


Spiegel, Spiegel an der Wand,

Wer ist die Schönst' im ganzen Land?

so antwortete der Spiegel:

Sonst wart Ihr die Schönste hier,

Jetzt ist Schneewittchen tausendmal schöner, als Ihr!


Da die Königinn den Spiegel also sprechen hörte, ward sie blaß vor Neid, und von Stund' an haßte sieSchneewittchen, und wenn sie dieselbe ansah und gedachte, daß sie durch deren Schuld nicht mehr die Schönste in der Welt heißen sollte, so kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum. Da ließ ihr der Neid keine Ruhe; sie rief einen Jäger, und sagte zu ihm: »Führe Schneewittchen hinaus in den Wald an einen weit abgelegenen Ort, da stich sie todt, und bringe mir zum Zeichen, daß du meinen Befehl gehörig vollbracht hast, des Mädchens Herz und Leber mit.«

Da nahm der Jäger Schneewittchen, und führte sie tief hinein in den Wald; als er aber den Hirschfänger gezogen, und eben zustechen wollte, da fiel sie auf die Knie, und weinte und bat, er möchte sie leben lassen, sie wollte auch nimmermehr zurückkommen, sondern in dem Walde fortlaufen.

Den Jäger jammerte ihrer, weil sie so schön war, und er gedachte: Die wilden Thiere werden sie doch bald fressen; ich bin froh, daß ich sie nicht zu tödten brauche! Und da gerade ein junger Frischling gelaufen kam, stach er den nieder, nahm Herz und Leber heraus, und brachte sie der Königinn [140] zum Wahrzeichen, daß er Schneewittchen todt gestochen hätte.

Schneewittchen aber war nun in dem großen Walde mutterselig allein, so daß ihr recht angst und graulich wurde, und fing an zu laufen und zu laufen über die spitzen Steine, und durch die Dornen, den ganzen Tag. Endlich, als die Sonne untergehen wollte, kam sie an ein kleines Häuschen. Das Häuschen gehörte sieben Zwergen, die waren aber nicht zu Hause, sondern bei ihrer Arbeit im Bergwerke. Schnee wittchen ging hinein, denn sie war so müde, so hungrig und durstig, und fand Alles darin nur klein, aber doch niedlich und reinlich. Da stand ein Tischlein mit sieben kleinen Tellern, und neben jedem Teller lag ein Löffelchen, ein Messerchen, und ein Gäbelchen, und ein Becherchen stand auch dabei, und, wie es sich für kleine Leutchen paßt und schickt, so waren alle Geräthe, und also auch die sieben kleinen Bettchen, die an der Wand in der Reihe neben einander standen.

Schneewittchen, weil sie so unschuldig und arglos war, und nicht dachte, es könne ihr jemand das übel nehmen, und weil sie auch so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerchen ein wenig Gemüse und Brot, trank aus jedem Becherchen einen oder zwei Tröpfchen Wein, und weil sie so müde war, wollte sie sich schlafen legen. Da versuchte sie die sieben Bettchen nach einander; aber keines wollte ihr passen, bis auf das siebente und letzte; darauf legte sie sich, und schlief ein.

Als es Nacht war, kamen die sieben Zwerge von ihrer Arbeit nach Haus, und steckten ihre sieben Lichtlein an; da sahen sie, daß jemand in ihrem Hause gewesen war. Der erste sprach: »Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?« Der Zweite: »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?« Der Dritte: »Wer hat von meinem Brötchen genommen?« [141] Der vierte: »Wer hat von meinem Süppchen gekostet?« Der fünfte: »Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?« Der sechste: »Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?« Der siebente: »Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?«

Danach sah der erste sich um, und sprach: »Wer hat in meinem Bettchen gelegen?« und so Alle weiter bis zum siebenten. Wie der nach seinem Bette sah, fand er Schneewittchen darin liegen und schlafen. Da kamen die Zwerge alle gelaufen, und schrieen vor Verwunderung, und holten ihre sieben Lichtlein herbei, und betrachteten Schneewittchen. Sie weckten das liebe Kind aber nicht auf, sondern ließen es schlafen im Bettchen, und gingen recht leise und sanft, damit sie nicht möchte erwachen. Und der siebente Zwerg, in dessen Bettchen das liebe unschuldige Kindlein so sanft schlummerte, legte sich zu den übrigen Zwergen, bei jedem eine Stunde, und da war die Nacht herum.

Als nun am Morgen Schneewittchen aufwachte, fragten die Zwerge, wer sie wäre, und wie sie sich in ihr Haus gefunden hätte? Da erzählte sie ihnen, wie die Königinn sie habe umbringen wollen, der Jäger ihr aber das Leben geschenkt, und wie sie den ganzen Tag gelaufen, bis sie endlich in dies Häuschen gekommen wäre.

Da hatten die Zwerge Mitleid mit ihr, und sagten: »Wenn du unsern Haushalt verwalten, und kochen, nähen, waschen, das Haus kehren, die Betten machen und stricken willst, und Alles ordentlich und reinlich halten, so sollst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen; Abends kommen wir nach Hause, da muß der Tisch gedeckt, und das Essen fertig seyn; am Tage aber sind wir im Bergwerke, und graben Gold, da bist du allein; hüte dich nur vor der Königinn, vor der du immer noch nicht sicher bist, und laß niemand herein.«

[142] Schneewittchen blieb nun bei den Zwergen; aber die Königinn meinte, sie wäre todt, und folglich wäre sie wieder die Schönste im Lande. Darum trat sie Morgens vor den Spiegel, und fragte:


Spiegel, Spiegel an der Wand,

Wer ist die Schönst' im ganzen Land?

Da antwortete der Spiegel:

Ihr seyd die Schönste hier,

Aber Schneewittchen bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner, als Ihr!


Als das die Königinn hörte, erschrak sie, und sah wohl, daß sie betrogen worden, und der JägerSchneewittchen nicht getödtet hätte. Weil sie nun wußte, daß die sieben Zwerge draußen im Walde hinter den sieben Bergen wohnten, so schloß sie gleich, daß Schneewittchen sich zu denselben gerettet haben müßte, und sann von Neuem darauf, wie sie dieselbe tödten möchte: denn so lange der Spiegel nicht sagte, daß sie die schönste Frau im Lande wäre, hatte sie keine Ruhe. Sie verkleidete sich deshalb selber in eine alte Krämerinn, färbte ihr Gesicht ganz gelb, daß sie auch kein Mensch erkannte, und ging hinaus vor das Zwerghaus. Sie klopfte an die Thür, und rief: »Macht auf, macht auf, ich bin die alte Krämerfrau, die schöne Waare feil hat!«Schneewittchen öffnete das Fenster, und guckte hinaus. »Was habt Ihr denn?« fragte sie. »Schnürband, liebes Kind,« sagte die Alte und holte eines hervor, das war von gelber, rother und blauer Seide geflochten; »willst du das haben?« – »Ei ja,« sprachSchneewittchen, und dachte: die alte gute Frau kann ich wohl hereinlassen, die meint es redlich; sie riegelte also die Thüre auf, und erhandelte sich das Schnürband. »Aber wie bist du denn so lose geschnürt,« sagte die Alte; »komm, ich will dich einmal schnüren, wie es ordentlich seyn muß.«

Schneewittchen stellte sich vor sie hin. Da nahm [143] sie das Schnürband, und schnürte ihr die Brust so fest damit, daß ihr der Athem verging, und sie für todt hinfiel. Darüber war die Alte zufrieden, und ging fort.

Als die Zwerge um Mitternacht heimkamen, da erschraken sie sehr: denn ihr liebes Schneewittchen lag todt auf dem Boden. Aber sie merkten bald, daß die böse Mutter müsse da gewesen seyn, hoben das schöne Kind in die Höhe, und da sie sahen, daß es so fest geschnürt war, schnitten sie das Schnürband entzwei – und siehe! nach und nach athmete es wieder, und schlug die Augen auf. Da freueten sich die Zwerge sehr, und ermahnten und batenSchneewittchen, doch keinen Menschen wieder in's Häuschen zu lassen.

Als nun die Königinn nach Hause gekommen war, trat sie wieder vor den Spiegel, und sagte:


Spiegel, Spiegel an der Wand,

Wer ist die Schönst' im ganzen Land?

Der Spiegel antwortete:

Ihr seyd die Schönste hier,

Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner, als Ihr!


Sie erschrak, daß das Blut ihr all zum Herzen lief, da sie merkte, daß Schneewittchen wieder lebendig geworden wäre, und sann den ganzen Tag und die ganze Nacht, wie sie es doch anfangen wollte,Schneewittchen an das Leben zu kommen. Darum verkleidete sie sich in einen hausirenden Kaufmann, setzte sich einen falschen Bart an, und machte sich ganz unkenntlich; dann nahm sie ein Kästchen mit Waare unter den Arm, und ging so hinaus hinter die Berge. Unter der Waare hatte sie aber einen stark vergifteten Kamm, damit wollte sie Schneewittchen umbringen.

Als sie an das Häuschen der Zwerge gekommen war, klopfte sie an die Thüre. Aber Schneewittchen rief: »Ich darf niemand hereinlassen!« Da sie aber durch das [144] Fenster gesehen hatte, daß es ein Mann war, so ließ sie die Furcht fahren, weil er ihr so sehr zuredete, und machte auf. Nun zog die verkleidete Königinn den vergifteten blinkenden Kamm hervor, steckte ihr denselben in die Haare, und so tief in die Haut, daß das Mädchen niederfiel, und todt war. »Nun wirst du liegen bleiben!« sagte die Königinn, und ging mit einem erleichterten Herzen davon.

Die Zwerge aber kamen zur rechten Zeit nach Hause, und da sie sahen, was geschehen war, zogen sie den giftigen Kamm aus den Haaren. Da schlugSchneewittchen die Augen auf, und war wieder lebendig, und versprach den Zwergen, sie wolle gewiß niemand wieder einlassen.

Indessen stellte sich die Königinn wieder vor ihren Spiegel, und fragte:


Spiegel, Spiegel an der Wand,

Wer ist die Schönst' im ganzen Land?

Und der Spiegel antwortete:

Ihr seyd die Schönste hier,

Aber Schneewittchen bei den Zwergen ist tausendmal schöner, als Ihr!


Als das die Königinn wieder hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. »Schneewittchen soll sterben,« rief sie aus, »und wenn es mir das Leben kostet!« Und damit ging sie in ihre heimlichste Stube, wohin niemand kommen durfte, weil sie ihre bösesten Giftkünste hier trieb, und vergiftete den schönsten, rothbäckigsten Apfel, den sie finden konnte, auf der rothen Seite mit dem schrecklichsten Gifte, die andere grüne Seite aber blieb unberührt. Hierauf verkleidete sie sich als Bauerfrau, legte mehrere Aepfel in einen Tragekorb, worunter auch der vergiftete befindlich war, und ging so zu der Wohnung der Zwerge. Sie klopfte an die Thüre. Schneewittchen aber rief aus dem Fenster: »Ich darf Keinen hereinlassen, die Zwerge haben es mir [145] verboten.« – »Nun, wenn Ihr nicht wollt,« sagte die Bäuerinn, »so kann ich Euch nicht zwingen. Meine Aepfel werde ich doch wohl noch los werden. Da, einen will ich Euch zur Probe schenken.« – »Nein, ich darf nichts Geschenktes nehmen, die Zwerge wollen es nicht haben!« antworteteSchneewittchen. Da sprach die Alte: »Ihr mögt Euch wohl fürchten – nun so will ich den Apfel entzwei schneiden; seht da, die eine Hälfte esse ich hier, kostet Ihr die andere,« und damit reichte sie ihr die rothe Seite des Apfels hin. Da ließ sichSchneewittchen endlich bereden, nahm die Hälfte des Apfels durch das Fenster hin und biß hinein, doch kaum, daß sie einen Bissen in den Mund genommen hatte, so fiel sie todt zur Erde nieder.

Die Königinn aber freuete sich, ging nach Hause, und fragte den Spiegel:


Spiegel, Spiegel an der Wand,

Wer ist die Schönst' im ganzen Land?

Da antwortete er:

Ihr seyd die Schönst' im ganzen Land!


»Nun habe ich Ruhe,« sprach sie, »da ich wieder die Schönste im Lande bin, und Schneewittchen wird dies Mal wohl todt bleiben.«

Als die Zwerge des Abends aus dem Bergwerke nach Hause kamen, da lag das liebe Schneewittchen auf dem Boden, und war todt. Sie löseten ihr Schnürband, sahen zu, ob sie nichts Giftiges in ihren Haaren fänden – Alles umsonst! sie war todt, und blieb todt. Darum legten sie dieselbe auf eine Bahre, und setzten sich alle sieben daran, und weinten drei Tage lang. Aber als sie nun die Leiche begraben wollten, da sahen sie, daß Schneewittchen noch gar nicht wie eine Todte aussah, sondern noch ganz frisch war, und die schön weißen und rothen Backen noch hatte. Deshalb ließen sie einen Sarg von Glas machen, zu welchem [146] die Luft konnte, und legten sie hinein, daß man sie sehen konnte, schrieben auch mit goldenen Buchstaben ihren Namen und ihre Abstammung darauf, und Einer blieb jeden Tag zu Hause und bewachte den Sarg.

So lag Schneewittchen eine lange, lange Zeit im Sarge, und verwesete nicht, war auch so weiß wie Schnee, und so roth wie Blut, und wenn sie die Aeuglein hätte aufthun können, so wären sie so schwarz wie Ebenholz gewesen: denn sie lag da, als wenn sie schliefe.

Einmal kam ein junger Prinz, der sich auf der Jagd weithin verirret, und nun in dem Walde verspätet hatte, wo das Haus der Zwerge stand. Er trat hinein, um in demselben zu übernachten.

Als er nun in der Stube war, und Schneewittchen in dem gläsernen Sarge liegen sah, worauf die sieben Lichtlein so recht ihren Schein warfen, konnte er sich nicht satt an ihrer Schönheit sehen, und las die goldene Inschrift, und erfuhr nun, daß sie eine Königstochter wäre. Da bat er, sie möchten ihm denselben schenken, denn er könnte nicht leben, ohne sie zu sehen, er wolle sie so hoch halten und ehren, wie sein Liebstes auf der Welt. Da waren die Zwerge mitleidig, und gaben ihm den Sarg. Der Prinz aber ließ ihn in sein Schloß tragen, und auf seine Stube setzen; er selber saß den ganzen Tag dabei, und konnte die Augen nicht abwenden. Wenn er aber ausgehen mußte, und Schneewittchen nicht sehen konnte, so ward er traurig, konnte auch keinen Bissen essen, wenn der Sarg nicht neben ihm stand. Die Diener aber, die beständig den Sarg herumtragen mußten, waren unwillig darüber, und Einer hob einmal, als der Prinz nicht zu Hause war, den Sargdeckel auf, richtete Schneewittchen in die Höhe und sagte: »Um so eines todten Mädchens willen wird man den ganzen Tag gejagt und geplagt!« und dabei gab ihr [147] der unverschämte Mensch einen tüchtigen Schlag in den Rücken.

Da flog plötzlich dem todten Schneewittchen der vergiftete Apfelzapf, den sie hinunter geschluckt hatte, aus dem Schlunde, und alsbald war sie wieder lebendig.

Da ging er hin zu dem Prinzen, und erzählte ihm, was vorgefallen war. Der aber wußte sich vor Freude gar nicht zu fassen, eilte hin, nahm Schneewittchen an die Hand und in die Arme, und sie ward seine Braut, und die Hochzeit bestellt. Dazu wardSchneewittchens gottlose Pflegemutter auch eingeladen. Diese aber wußte und ahnete nichts. Als sie sich nun zur Hochzeit schmückte, und vor den Spiegel trat, fragte sie:


Spiegel, Spiegel an der Wand,

Wer ist die Schönst' im ganzen Land?

Da antwortete der Spiegel:

Ihr seyd die Schönste hier,

Aber des Königs Braut ist tausendmal schöner, als Ihr.


Als sie dies hörte, erschrak sie, und es ward ihr so angst und beklommen, daß sie es nicht sagen konnte. Doch trieb sie der Neid, daß sie auf der Hochzeit die Königsbraut sehen wollte. Als sie ankam, sah sie, daß es Schneewittchen war, und sank vor Schrecken beinahe in Ohnmacht.

Aber die Zwerglein waren auch auf der Hochzeit, und weil sie dachten, daß Strafe seyn müßte, hatten sie Pantoffeln von Eisen geschmiedet, und hatten sie glühend gemacht. Diese mußte die Königinn anziehen, und darin tanzen, bis sie todt war. Sie wurde von Allen verabscheut, Schneewittchen aber hatte alle Welt lieb.

[148] 23. Die drei Gärtnerssöhne.

Ein König hatte einen wunderschönen Garten, und in dem Garten stand ein großer, weitgeasteter Baum, der trug alljährlich viel goldene Aepfel. Es wußte kein Mensch, wie der Baum in den Garten gekommen war; aber er stand nun daselbst seit Menschengedenken, und es war, so weit seine Aeste reichten, ein Gitter von starken Eisenstäben um denselben, und zu der Gartenthüre hatte niemand den Schlüssel, als der König. So konnte nicht leicht ein Apfel entwendet werden, der reif geworden war, und von dem Baume abfiel. Der König aber ließ die Aepfel nicht abpflücken, sondern sie mußten abfallen: denn je reifer sie geworden waren, desto feiner war das Gold.

Nun begab es sich, daß in einem Jahre doch einmal ein Apfel nach dem andern fortkam. Darüber ward der König sehr ungehalten, und forschte nach, wer seine Goldäpfel ihm stähle; aber er brachte es nicht heraus.

Da befahl er dem Gärtner, er solle des Nachts unter dem Baume wachen, und genau Acht haben, ob er den Dieb nicht erhaschen könne. Das that der Gärtner auch treulich, und setzte sich heimlich unter den Baum, und schauete sorgfältig umher, ob er niemand entdecken könnte. Als aber Mitternacht kam, da überfiel ihn der Schlaf, und er wollte ein wenig einnicken: denn er meinte, wenn der Dieb käme, so würde er leicht wieder aufwachen. Darüber schlief er fest ein, und als der Morgen anbrach, erwachte er, und zu seinem großen Schreck war der schönste Apfel fort.

Nun sollte in der nächsten Nacht des Gärtners ältester Sohn wachen. Der begab sich nach dem Baume, setzte sich nieder, und dachte: Dir soll der Dieb nicht entkommen. [149] Aber um Mitternacht wurde auch er müde, und schlief ein, und als er am Morgen erwachte, fehlte wieder ein Apfel. Da ward der König sehr zornig, und schickte des Gärtners zweiten Sohn nach dem Baume; aber dem ging's nicht besser, wie seinem Vater und seinem älteren Bruder; auch er schlief ein, und am Morgen war wieder ein Apfel fort.

Nun mußte der jüngste Sohn wachen. Der hatte das vorausgesehen, und hatte schon vom Nachmittag bis zum Abend geschlafen, und ging dann hin unter den Baum, und weil er nicht müde war, schlief er auch nicht ein. Da sah er, als es schon Mitternacht geworden war, beim Mondschein einen Vogel durch die Luft daherrauschen, der schimmerte wie lauter Edelgestein. Als der Vogel nun eben einen Apfel abpicken wollte, nahm der jüngste Gärtnerssohn seine Armbrust, und schoß einen Bolzen auf den Vogel. Der Bolzen traf den Vogel nicht recht, sondern schoß ihm nur eine Feder aus, die nahm er auf, und überbrachte sie am Morgen dem König.

Der König aber war sehr erstaunt, als er von dem wunderschönen Vogel hörte, und betrachtete die Feder, und hielt sie gegen die Sonne, und fand bald, daß sie von großem Werthe seyn müsse. Je mehr er aber die Feder betrachtete, desto größer ward auch seine Begierde, den ganzen Vogel zu besitzen, und er sann hin und her, wie er ihn wohl erhalten könne. Niemand aber wußte, wo der Vogel zu finden sey.

Da erbot sich der älteste Sohn des Gärtners, den Goldvogel aufzusuchen, und begab sich auf den Weg. Er kam bis an einen Wald, und sah an dessen Rande einen Fuchs sitzen. »Dich will ich belauern!« dachte er, nahm seine Armbrust, und legte den Bolzen darauf.

»Schieß nicht auf mich,« sagte der Fuchs; »ich weiß, wohin du gedenkst, und will dir guten Rath geben, den goldenen [150] Vogel zu bekommen.« Aber der Gärtnerssohn dachte: Was will dir ein so unvernünftiges Thier rathen. Er nahm also den Bogen, und drückte den Bolzen ab; aber er fehlte, und der Fuchs lief eilends in den Wald hinein.

Des Abends kam der Bursche in ein Dorf; da standen zwei Wirthshäuser einander gegenüber, und eines davon sah gar schlecht und ärmlich aus, aber in dem andern ging es gar lustig her mit Tanzen und Spielen. Da hinein ging er, lebte in Saus und Braus, und vergaß darüber den Vogel und die Heimath.

Da der älteste Sohn nicht wiederkam, zog der zweite aus, den Vogel und den Bruder zu suchen. Der kam auch an den Wald, und als er den Fuchs sitzen sah, legte er den Bolzen auf die Armbrust, und wollte nach ihm schießen. Der Fuchs aber sagte zu ihm: »Schieß nicht auf mich, ich will dir auch einen guten Rath geben, wie du zu dem Goldvogel kommen kannst.« Der Gärtnerssohn hörte aber nicht darauf, und schoß den Bolzen ab, ohne den Fuchs zu treffen, welcher wieder waldein lief. Da ging der Bursche weiter, und als er zu den beiden Wirthshäusern kam, sah er seinen Bruder im Fenster dessen stehen, wo es so lustig und herrlich herging. Der Bruder aber rief ihn, und sagte: »Bruder, komm herein, hier giebt es viel Lust und Vergnügen!« Da ging er hinein, tanzte und trank, spielte und lärmte, und vergaß Vogel und Heimath.

Nun bat der jüngste Gärtnerssohn seinen Vater, daß er ihn möchte reisen lassen, vielleicht wäre er so glücklich, den Goldvogel zu finden, und auch die Brüder wieder mitzubringen. Der Vater aber wollte das ungern zugeben, und dachte, er würde auch ausbleiben: denn es möchte ihm ein Unglück zustoßen, wie es die beiden andern würde betroffen haben; aber der Sohn ließ nicht nach mit seinen Bitten, da erlaubte er ihm endlich, daß er abziehen könne.

[151] Als er nun unterwegs war, und auch an den Wald kam, sah auch er den Fuchs sitzen, und dachte: Den könntest du wohl schießen. Doch der Fuchs merkte sein Vorhaben, und sagte: »Schieß nicht auf mich!« Da ließ der junge Gärtnerssohn seinen Bogen nieder, und antwortete: »Nein, ich will dich nicht schießen, du hast mir ja nichts zu Leide gethan, warum sollt' ich dich tödten!«

»So will ich dir auch einen guten Rath geben!« sagte darauf der Fuchs; »ich weiß, was du suchst, nämlich den Vogel und die Brüder. Die Brüder aber findest du im nächsten Dorfe in einem Wirthshause, wo es gar herrlich hergeht. Da kehre nicht ein, sondern in dem Wirthshause gegenüber, das nach gar nichts aussieht. Ich aber will dich dorthin bringen, weil du so gutmüthig bist. Setze dich nur auf meinen rauchen Schwanz, da kannst du deine Kräfte sparen.«

Das that auch der Jüngste, setzte sich auf den Schwanz des Fuchses, und in kurzer Zeit waren sie im Dorfe. Da stieg der Gärtnerssohn ab, und kehrte in das unansehnliche, geringe Wirthshaus ein, wo kein wildes Lärmen und Schwärmen war, aber Ordnung und Reinlichkeit und gesunde Kost.

Am andern Morgen stand der Fuchs wieder auf dem Wege, und sagte: »Ich will dich zu dem Schlosse bringen, wo der Goldvogel ist, und du sollst ihn erlangen, wenn du mir folgst. Ich bringe dich auf meinem Schwanze bis nahe an das Schloß. Vor dem Schlosse wird ein großer Haufen Soldaten liegen, die allesammt schlafen und schnarchen. Geh' du nur mitten durch sie hin, sie werden gewiß nicht erwachen; dann gehe weiter im Schlosse, bis du in eine Stube kommst, wo der Goldvogel im hölzernen Käfig sitzt. Daneben hängt aber ein Käfig von Gold, in den sollst du den Goldvogel nicht stecken. Das merke dir wohl;[152] hörst du? sonst möchte es dir schlimm ergehen! Und nun setze dich auf!«

Als sich der jüngste Gärtnerssohn aufgesetzt hatte, ging es sausend vorwärts über Stock und Stein, und gegen Mittag waren sie schon am Schlosse, und die Soldaten schliefen, und Alles im Schlosse schlief. Da ward es dem jungen Burschen leicht, hindurch zu kommen bis zu dem Saale, wo der Vogel nur in einem schlechten Holzkäfig hing, obwohl sich neben demselben ein prächtig glänzender Goldkäfig befand. Er nahm den Holzkäfig herab, und der Vogel blieb ganz ruhig sitzen. »Ei,« dachte er, »der schöne Vogel in dem schlechten Käfig, das ist auch nicht recht; ich will ihn nur in den schönen Goldkäfig setzen, der schickt sich besser für ihn.« Darauf nimmt er den Goldkäfig, und will nun den Vogel greifen; der aber schlägt gewaltig mit den Flügeln, und fängt an, sich jämmerlich zu gebehrden. »Das kann schlimm werden!« dachte der Gärtnerssohn, und setzte den Goldbauer eiligst wieder fort, und nahm den hölzernen, worin der Vogel ganz ruhig sitzen blieb, und ging damit ab.

Vor dem Schlosse aber stand der Fuchs, und freuete sich, als er den Jüngling mit dem Goldvogel im hölzernen Käfig kommen sah, und versprach, ihn auf dem Rückwege zu begleiten, damit er ihm mit seinem Rathe beistehen könne, wenn er etwa in Noth gerathen möchte.

Als sie so mit einander gingen, und in einen Wald kamen, sagte der Fuchs zum Gärtnerssohne: »Schieße mich todt, und haue mir dann Kopf und Schwanz ab; mehr verlange ich nicht von dir für meinen Rath und Beistand.«

»Ei!« sagte der Jüngling, »das wäre ein schöner Lohn für deine Liebe und Treue! Nein, ich kann dich nicht tödten, du lieber, guter Fuchs.«

»Nun,« erwiederte der Fuchs, »wenn du durchaus[153] nicht willst, so will ich dir noch einen guten Rath geben: Nimm deine Brüder nicht mit dir, denn die sind falsch, und setze dich an keinen Brunnenrand.« Damit ging er in den Wald.

Als nun der dritte Sohn in das Dorf kam, wo er zuerst eingekehrt war, erfuhr er, daß seine Brüder in dem prächtigen Wirthshaus viel Lärm und Unfug getrieben, und weil sie all ihr Geld durchgebracht, und nichts mehr gehabt hätten, den Wirth zu bezahlen, so wären sie in's Gefängniß geworfen, wo sie noch säßen. Da empfand der Jüngste Mitleid, und es jammerte ihn derselben, und sprach: »Sie sind doch immer brave Bursche gewesen, nur das Vergnügen hat sie verdorben; ich will sie wieder frei kaufen, und mit mir nehmen.«

Das that er auch, und nahm die Brüder mit sich. Unterwegs aber hielten diese heimlichen Rath, um dem jüngsten Bruder den Vogel wegzunehmen, und ihn dann dem Könige zu überbringen, ohne daß dieser es erführe, wer eigentlich den Vogel gefunden habe.

Als sie nun im Walde an einem Brunnen lagerten, setzte sich der Jüngste an den Brunnenrand; da stürzten ihn die beiden Brüder rücklings in den Brunnen hinab, und zogen ab mit dem Vogel, und brachten ihn zum König, und sprachen, sie hätten ihn erbeutet, und erhielten dafür große Ehre und Macht. Aber der Vogel saß ganz still, und pfiff nicht.

Als aber der jüngste Bruder bis an das Wasser des Brunnens hinabgesunken war, da dachte er an das Wort des Fuchses, und sagte: »Ich bin doch recht dumm gewesen, daß ich nicht guten Rath befolgt habe, nun muß ich hier elendiglich umkommen.«

»Nein,« sagte der Fuchs, der gleich wieder da war, »ich bringe dich durch einen unterirdischen Gang wieder [154] an's Tageslicht, wenn du mir gelobst, mich nachmals zu tödten, und Kopf und Schwanz abzuhauen.« Das gelobte er nun, und wurde von dem Fuchs herausgebracht; und als er nun den Fuchs getödtet, und mit ihm gethan hatte nach seinem Verlangen, siehe, da stand mit einem Male ein wunderschöner Prinz vor ihm.

Der Prinz aber ging sogleich mit ihm zum Könige, und erzählte ihm Alles, wie es sich zugetragen hatte. Da wurde auch der Vogel recht lustig, und flatterte umher, und pfiff ganz allerliebst. Die Brüder aber fielen vor dem Könige nieder, und baten um Gnade. Der König jedoch ließ sie zur Strafe in's Gefängniß werfen; den Jüngsten dagegen erhob er zu hohen Ehren, und gewann ihn sehr lieb, und hielt ihn wie seinen eigenen Sohn.

24. Das gutmüthige Mäuschen.

  • Das Gutmüthige Mæuschen. (Johann Heinrich Lehnert: Mährchenkranz für Kinder)
    Das Gutmüthige Mæuschen.

Es war einmal ein König und eine Königinn, die waren gar herzensgut, und bemühten sich auf alle Weise, ihre Unterthanen recht glücklich zu machen, daher ihr Land auch allenthalben das glückliche Land hieß.

In ihrer Nachbarschaft aber regierte ein abscheulicher König, der an nichts Gefallen hatte, denn an Mord und Blutvergießen, und Elend und Greuel wohnten in seinem Reiche.

Dieser fiel nun mit seinem wilden Kriegsheer in das glückliche Land ein, obwohl ihm der gute König nie etwas zu Leide gethan hatte, und verbreitete überall Angst und Schrecken: denn wohin er kam, verheerte er Alles, und wüthete mit der größten Grausamkeit. Der gute König war [155] ihm zwar mit seiner Armee entgegen gezogen, aber er hatte zu wenig Kriegsvolk, und verlor die Schlacht, und in derselben zugleich auch sein Leben.

Als die gute Königinn dies hörte, erschrak sie so sehr, daß sie krank wurde, und sich in's Bette legen mußte.

Bald aber kam der Wüthrich mit seinen Soldaten in der Stadt an, wo die Königinn krank danieder lag, ging zu ihr auf's Schloß, und befahl ihr, sie solle sogleich aufstehen und ihm folgen. Da sie hierüber aber so in Angst gerieth, daß sie kein Glied bewegen konnte, riß er sie bei ihren schönen langen Haaren aus dem Bette, ließ sie hinter sich auf sein großes schwarzes Pferd setzen, und trabte davon. Gewiß würde er die Unglückliche haben aufhängen lassen, wenn er nicht gehört hätte, daß sie bald ein Kind zur Welt bringen würde, das wunderschön seyn sollte. Er beschloß daher, wenn es ein Prinz wäre, ihn mit der Mutter erwürgen zu lassen, wäre es aber ein Mädchen, so solle es seinen einäugigen Sohn heirathen, der zwar noch klein, aber doch schon an Gestalt und Herzen ein wahres Ungeheuer war.

Die Königinn wurde nun in einem festen Thurm in einer elenden Kammer eingesperrt, wo sie des Nachts auf einem schlechten Strohlager liegen, den ganzen Tag aber spinnen mußte, und nichts zu essen bekam, als ein Paar Händchen voll Erbsen, die in bloßem Wasser geweicht waren, und ein kleines Stücklein Brot.

Voll Ungeduld zu wissen, ob ein Knabe oder ein Mädchen zur Welt kommen würde, bat der böse König eine Fee zu Gaste, und ging mit ihr in den Thurm der kranken Königinn, um sich von ihr dar über Gewißheit geben zu lassen. Die Fee jammerte es, als sie die bleiche, kranke und schöne Frau auf ihrem Strohlager so sanft und geduldig liegen sah, und sprach ihr heimlich Trost und Muth zu; dem Könige[156] aber sagte sie, er werde dieselbe eine schöne Tochter bekommen.

»Das rettet ihr das Leben!« sagte der Tyrann. »Trifft jedoch die Wahrsagung nicht ein, und ist das Mädchen nicht schön, so laß ich sie an einen Baum hängen, und an ihrem Halse ihr Kind.«

»O wie unglücklich bin ich!« jammerte die Königinn. »Ist das Kind nicht schön, so werden wir beide umkommen, und ist es schön, so muß es den abscheulichen Prinzen heirathen, und zeitlebens unglücklich seyn. Ach, was soll ich anfangen, und wie soll ich mein Kind retten, wenn es geboren ist?«

Eines Tages saß die arme Königinn auch in Thränen an ihrem Rocken, wehklagend und jammernd, als ein niedliches Mäuschen daher geschlüpft kam, und nach Brosamen suchte. »Du liebes, kleines, hungriges Ding,« sagte die Königinn sehr traurig, »hier suchst du vergebens, wo ich selbst fast verhungern muß; suche du da, wo du etwas finden kannst.« Die Maus aber hüpfte ganz lustig hin und her, machte Männchen, und that gar nicht scheu.

»Da!« sagte die Königinn, »noch hab' ich zwei Erbsen, die will ich dir geben, obwohl ich sie selbst gern äße!« und damit warf sie ihm die Erbsen hin, welche das Mäuschen verzehrte. Als aber die Königinn wieder auf ihren Tisch sah, stand auf demselben ein gebratenes Rebhuhn, und feines Weißbrot lag daneben.

»Ei,« sagte die Königinn, »das ist gewiß von der mitleidigen Fee, die mich in meinem Kerker mit dem Tyrannen besucht und getröstet hat.« Sie griff sogleich danach, und es schmeckte ihr ganz vortrefflich. Als sie sich aber halb gesättigt hatte, dachte sie wieder an ihr Kind, das in wenigen Tagen zur Welt kommen sollte, und da fing sie an, [157] bitterlich zu weinen, und ließ das Essen stehen. »Ach,« seufzte sie tief, »ist denn keine Rettung für uns?«

Da holte das Mäuschen ein Paar Halme aus dem Strohsacke, und ließ die Halme dann liegen.

Da sann die Königinn hin und her, was wohl das Mäuschen damit habe sagen wollen. »Meinst du vielleicht,« sagte sie nach einem Weilchen, »es ließe sich ein Körbchen aus Stroh für das Kind flechten? und ein Seil, das Körbchen daran vom Thurme herabzulassen, damit es ein Vorbeigehender an sich nähme? – Ja, fürwahr, das wird gehen!«

Die Königinn wurde ordentlich vergnügt über diesen Gedanken, und fing fleißig an zu flechten, erst an dem Körbchen, dann an dem Seil, und da sie kein Stroh mehr in dem Strohsacke hatte, schleppte ihr das Mäuschen viel Strohhalme zu, die es durch sein Löchelchen hereinzog. Es bekam jetzt so viel Erbsen und Brosamen, als es nur wollte, und dafür standen immer auf dem Tische viel bessere Gerichte, nahrhaft und wohlschmeckend.

Eines Tages sah die Königinn aus dem Fenster, um zu untersuchen, wie lang das Seil seyn müsse, um das Kind daran herablassen zu können. Da ging zum Glück eben eine alte ehrbare Frau vorbei, die sahe hinauf, und sagte: »Ich weiß deine Noth wohl, du arme Gefangene, und bin bereit, dir zu dienen.« Darüber ward die Königinn sehr erfreut, und bat sie, alle Abende unter das Fenster zu kommen, wo sie nächstens ein Kind am Seile wolle herablassen, dessen möchte sich dann die Frau wohl annehmen, sie wolle es ihr gut vergelten, wenn ihr nur Gott erst aus dem Thurme würde geholfen haben.

»Nach Geld und Gut frage ich nicht,« erwiederte die Alte, »denn ich habe so viel, als ich brauche; aber ich habe zuweilen ein seltsam Verlangen, ein fettes Mäuslein zu [158] speisen. Fange doch einige, und tödte sie, und wirf sie mir vom Thurme herab, so will ich dafür mich deines Kindes erbarmen.«

»O ich Unglückliche! Es ist nur ein einziges Mäuschen auf meiner Kammer, das ist so freundlich und zuthulich, und ist meine einzige Gesellschaft. Mein Herz würde mir brechen, wenn ich es tödten sollte!«

»So?« sagte die Alte spöttisch. »Nun, wenn du deine Maus lieber hast, als dein Kind, so ist es mir auch recht; ich will schon noch Mäuse anderswo finden!« Damit ging sie murrend davon.

Aber die Königinn war nun untröstlich, und sah das Essen nicht auf ihrem Tische, und das freundliche Mäuschen nicht, das in der Kammer umherspielte.

In der Nacht brachte die Königinn ein wunderschönes Kind zur Welt, welches ein Mädchen war. Sie küßte es mit tausend Thränen, und jammerte: »Ach, wer wird dir nun helfen, du kleiner, holder Engel? Ach, ich muß von dir scheiden!«

Sie legte das Kind in's Körbchen, und band das Körbchen an's Seil. Sie hatte einen Zettel mit zum Kinde gelegt, darauf stand, es sollte Thränenblüthe heißen, und sey ein sehr unglückliches Kind.

Als sie es nun wollte herablassen, und hatte es noch zuvor geküßt, kam die kleine Maus, und sprang zum Kinde in's Körbchen. Da sprach die Königinn: »Ach, du liebes kleines Thier, du weißt nicht, wie viel du mir kostest. Vielleicht mein armes Kind! Ich sollte dich tödten, aber das konnte ich nicht über's Herz bringen.«

Da that die Maus das kleine Spitzmaul auf, und fing an zu sprechen. Die Königinn aber erschrak gewaltig darüber, weil sie das gar nicht vermuthet hatte. »Wohl [159] weiß ich,« sagte die Maus, »was du gethan hast; es soll dich gewiß nicht gereuen.«

Nach diesen Worten verwandelte sich die Maus. Die kleinen Vorder- und Hinterpfoten streckten sich aus, und wurden Hände und Füße, der kleine Kopf wurde ein Menschenkopf, und Alles an ihr wurde größer und immer größer, und stand zuletzt als Fee da, welche sie mit dem bösen König besucht hatte.

»Königinn,« sprach die Fee, »ich wollte dein Herz nur prüfen, weil mich gleich anfangs dein Unglück jammerte, und ich habe dich sanft und gut gefunden. Ich war die Maus nicht nur, sondern war auch die alte Frau. Nun will ich mich deines Kindes treulich annehmen, und es soll einmal deine Freude und dein Stolz seyn!«

Jetzt ließ die Fee die Kleine am Seile herunter, und verwandelte sich wieder in eine Maus: denn sie mochte wohl nur in dieser Gestalt zum Thurme hinaus können. Die Fee kroch als Maus zum Thurme hinaus, am Seil herab, als sie aber hinab kam, war das Kind fort.

Da kroch sie zitternd wieder zu der Königinn hinauf, und klagte ihr das Unglück, und sagte, das habe ihr die böse Fee Gangrüne angerichtet, die sey ihre Feindinn, die ihr alles Gute verderbe; dabei sey sie sehr mächtig, und man werde ihr das Kind nicht leicht wieder nehmen können. Ueber diese Rede erbleichte die arme Königinn, und die Fee kroch vor Schaam und Kümmerniß in's Mauseloch.

Am andern Morgen kam der böse König, welcher wußte, daß das Kind gekommen seyn müsse, in den Kerker der unglücklichen Mutter, und fragte, wo das Kind sey? Als die Königinn ihm sagte, es sey fort, und eine böse Fee habe es ihr mit List und Gewalt genommen, da wurde er grimmig, und rief wüthend: »Nun sollst du hängen, wie ich es dir gedrohet habe, und ich will dich selbst mit dem [160] Stricke am Baume hinaufziehen, und meine Lust daran haben!«

Hiemit zog er die Königinn an den Haaren hinter sich her nach einem Walde hin, wo er auf einen Baum stieg, und die arme Verlassene am Stricke hinaufziehen wollte. Aber die gute Fee stieß umsichtbar den ruchlosen König vom Baume herab, daß er einen schweren Fall zur Erde that, und sich Arme und Beine heftig zerschlug.

Während ihm nun seine Leute zu Hülfe kamen, führte die Fee die gerettete Königinn in ihrem Luftwagen davon, und behielt sie bei sich und ließ es ihr an nichts fehlen. Die Königinn lebte hier nun ganz zufrieden, denn sie hatte bei der guten Fee ja Alles, was ihr Herz nur verlangen konnte; aber sie war doch oft sehr betrübt, daß sie nicht ihr liebes Kind bei sich hatte, nach welchem ihr Mutterherz große Sehnsucht empfand.

Funfzehn Jahre hatte bereits die Königinn in dieser Einsamkeit zugebracht, als man hörte, der Sohn des bösen Königs, der Prinz Unhold, wie man ihn nannte, wollte sein Gänsemädchen heirathen, die aber wolle ihn durchaus nicht haben; die schönsten, kostbarsten Brautkleider habe er ihr geschenkt, allein sie wolle dieselben nicht anziehen. Darüber wunderte sich alle Welt gar sehr.

Prinz Unhold aber dachte, er wolle das Mädchen zur Heirath schon zwingen, und hatte viele Gäste zur Hochzeit eingeladen, die auch in kurzer Zeit wohl hundert Meilen weit her gekommen waren.

Die gute Fee war auch mit unter den Gästen, denn sie hatte sich wieder in ein Mäuschen verwandelt, und kroch in ein Kämmerchen neben dem Gänsestall, worin das Gänsemädchen wohnte. Da lagen die prächtigsten Kleider, Bänder, Spitzen, Ringe und kostbare Steine auf dem Boden neben dem Mädchen; das Mädchen aber war gar schlecht [161] gekleidet, und dennoch sah es die herrlichen und glänzenden Sachen nicht einmal an.

Jetzt nun trat der Prinz Unhold zum Gänsemädchen, und sagte: »Nun ist's hohe Zeit, du nichtswürdiges Ding; nimm mich und habe mich lieb, oder ich schlage dich todt!« Das Mädchen aber hatte Herz, und antwortete dreist: »Wer kann dich denn lieb haben? Du bist ja gar nicht liebenswürdig, sondern abscheulich. Ja, an Deine häßliche Ungestalt wollte ich mich wohl noch gewöhnen, denn die hast Du Dir nicht selbst gegeben; aber Du bist auch so boshaft und grausam und tückisch. Darum will ich Dich nicht, und mag Dich nicht; schlage mich lieber nur todt, das ist viel besser für mich!«

Der Unhold wußte nicht, was er anfangen sollte, und ging fort. Die kleine Maus aber verwunderte sich über den Muth des Mädchens, noch mehr aber über seine außerordentliche, wunderherrliche Schönheit.

Am andern Morgen trat die Fee in der Gestalt einer Hirtinn zum Mädchen, als es die Gänse wieder hütete, und erkundigte sich nach Allem. Da erzählte die schöne Gänsemagd, daß sie Thränenblüthe heiße, und wäre der bösen Fee Gangrüne entlaufen, die sie immer gepeitscht und gequält hätte ohne Schuld, und nun wäre sie hier ein Gänsemädchen geworden, und wolle das lieber bleiben ihr Lebelang, als den garstigen, bösen Prinzen heirathen, oder sich lieber heut Abend in den finstern Thurm einsperren lassen, und darin bis zum Tode bleiben, wie der Prinz ihr gedrohet habe, wo sie ihn nicht noch heute zum Gemahl nähme.

»Ich weiß nun Alles,« sagte die Hirtinn; »laß Dich nur einsperren, ich will Dir schon helfen.«

Thränenblüthe wurde eingesperrt; aber in derselben Nacht verwandelte sich die Fee in eine Maus, und biß den König jetzt in das eine und jetzt in das andere Ohr, daß [162] das Blut häufig darnach floß. Dann rannte sie behend zu dem Bette des Prinzen, und machte es mit ihm eben so, und zerkratzte ihm noch das Gesicht. Und als der König ein Bißchen wieder eingeschlafen war, biß sie ihn in die Nasenspitze, daß er vor Schmerz gewaltig aufschrie, und die Zunge heraussteckte; da biß sie ihm die Zungenspitze ab, daß er wüthend wurde, und die Maus überall suchen ließ, und selbst mit bloßem Degen suchen half. Die kleine Maus hatte indessen aber schon dem Prinzen Unhold das eine Auge fast ausgebissen, das er noch hatte. Da wurde auch dieser wüthend, und nahm seinen Degen, und rasete, so arg er nur konnte, im Schlosse umher, und hieb links und rechts um sich. Da schimpfte der Vater auf ihn, und schlug ihn mit dem Degen. Das wollte er aber nicht leiden, und hieb und stach nach dem Vater, und der Vater hieb und stach nach dem Sohne. Da rannten sie sich Beide den Degen durch den Leib, und blieben Beide auf der Stelle todt.

Thränenblüthe wurde nun von dem Volke aus dem Kerker erlöst, und zur Königinn ausgerufen, weil sie so schön war, und so viel erlitten hatte, und weil ihr Vater auch ein König gewesen war. Die Mutter wurde nun wieder mit ihrer Tochter vereinigt, und hatten Beide große Freude, als sie einander sahen, und dankten der guten Fee mit herzlicher Rührung für die Hülfe und den Beistand, welchen sie ihnen mit so vieler Liebe und Theilnahme bewiesen hatte. Alle waren nun recht froh und glücklich, und blieben es bis an ihren Tod. Das machte, weil sie so gut waren, und sich nichts Böses zu Schulden kommen ließen.

[163] 25. Die singende Puppe.

Es war einmal eine brave Frau, die hatte ein einziges Söhnchen, das hieß Tomy. Als sie nun auf dem Sterbebette lag, rief sie den achtjährigen Tomy zu sich, und sagte: »Höre, lieber Tomy, ich werde bald sterben; merke also wohl, was ich dir sage. Dort auf meiner Kommode steht eine Pappenschachtel, die trage, sobald ich todt bin, zu deiner Pathe, der guten Fee Klotilde. Sie wird sich deiner annehmen, und als Mutter an dir handeln; nur sey ihr ja recht gehorsam, mein Herzchen, und folge ihr auf den Wink.«

Das versprach Tomy unter vielen Thränen, denn er hatte die Mutter sehr lieb, und es that ihm weh, daß sie bald sterben würde.

Als nun die Mutter todt war, da nahm er die Schachtel auf den Kopf, und ging wehmüthig zu seiner Pathe, der Fee Klotilde, die in einem nahen Walde wohnte.

»Liebe Frau Pathe,« sagte er, als er zu ihr in's Zimmer getreten war, »meine Mutter ist so eben gestorben, und da soll ich dir diese Schachtel bringen.«

»Armer Tomy!« sprach die Pathe, »du hast nun keine Aeltern mehr, und bist ganz verlassen. Ich will fortan deine Mutter seyn, dich ernähren und kleiden, und einen braven Mann aus dir machen, wie dein seliger Vater war. Versprichst du mir aber auch, recht folgsam zu seyn?«

»Ja, gewiß!« versicherte Tomy.

»Eins aber muß ich dir ganz besonders anempfehlen,« fuhr die Pathe fort, »das merke dir wohl. Du darfst nämlich keinem Menschen etwas von dem sagen, was du in meinem Hause siehst und hörst, Kinder dürfen überhaupt niemals aus dem Hause schwatzen. Verstehst du?«

[164] »O ja, liebe Frau Pathe,« betheuerte Tomy; »ich kann schweigen, und will gewiß nichts ausplaudern, was ich bei dir sehe und höre.«

»Nun, das ist brav, mein Kind!« sagte hierauf die Pathe; »wenn du Wort hältst, so sollst du es auch recht gut bei mir haben.«

Bei diesen Worten küßte sie den kleinen Tomy, und setzte ihn an den Tisch, und gab ihm zu essen und zu trinken; die Schachtel aber trug sie in ihre Kammer.

Tomy wurde von der gütigen Fee so liebreich behandelt, so viel gestreichelt und geküßt, daß er sich bald an die neue Mutter gewöhnte, und sich sehr wohl in ihrem Hause befand. Er war aber auch recht artig und folgsam, und lernte fleißig, und dann erst ging er hinaus in's Freie, und vergnügte sich mit andern Knaben, die am Eingange des Waldes zum gemeinschaftlichen Spiele zusammen kamen.

Unter diesen Knaben waren zwei, die es ganz besonders mit Tomy hielten, und bald seine besten Freunde wurden. Beide waren Brüder, und die Söhne eines abscheulichen Menschenfressers, der auch in diesem Walde wohnte, und ein großer Feind der FeeKlotilde war. Das aber wußte Tomy nicht, denn sonst würde er nicht mit ihnen gespielt haben. Auch hatten diese jungen Menschenfresser nichts Gutes im Sinne; sie aßen schon für ihr Leben gern Kinderfleisch, und lauerten nur auf eine gute Gelegenheit, ihn zu erwürgen und zu fressen.

Eines Tages erzählte ihnen Tomy, daß er seiner Pathe eine Pappenschachtel von seiner verstorbenen Mutter gebracht habe; was aber in der Schachtel gewesen sey, wisse er nicht.

»Warum hast du sie denn nicht aufgemacht?« sagten die beiden Knaben; »da mag wohl was Schönes drinn gesteckt haben; wir möchten es auch gern wissen. Höre, [165] Tomy, schleich' dich sacht in die Kammer, und sieh einmal nach, was es ist; nicht wahr, du thust es?«

Tomy versprach es. Als daher einmal die Fee in einem andern Zimmer beschäftigt war, ging er leise in ihre Kammer, sah auf der Kommode die Schachtel stehen, machte sie auf, und guckte hinein; er aber sah nichts, denn die Schachtel war leer.

Als er nun wieder zu den beiden Gespielen kam, und ihnen sagte, daß er umsonst nachgesehen habe, da stellten sie sich sehr verwundert, und sprachen: »Gewiß hat es deine Pathe in ihren hübschen Schrank verschlossen, da mußt du nachsuchen, bis du es gefunden hast; es könnte wohl gar ein Schatz seyn, den dir deine Mutter hinterlassen hat, und den die Fee ungerechter Weise für sich behalten will.«

»Das könnte wohl seyn,« dachte Tomy. »Vielleicht ist meine Mutter nicht so arm gewesen, als sie sich stellte. Ich muß doch sehen, ob ich nicht dahinter kommen kann!«

Nun ereignete es sich, daß eines Tages die Fee ausgegangen war; da durchsuchte er alle Zimmer, und kam auch an den schönen Schrank. Wie erstaunte er aber, als er darin singen hörte! »Was ist das?« sagte er; »ist denn jemand in diesem Schranke eingesperrt?« Er horchte, und hörte deutlich die Stimme eines Mädchens, das aus vollem Halse ganz allerliebst sang. Er konnte aber den Schrank nicht öffnen, und so bekam er auch das Mädchen nicht zu sehen.

Das Alles erzählte er seinen beiden Freunden, die ihn nur noch neugieriger machten, und ihm zuredeten, den Schrank aufzuschließen, und nachzusehen, was das für ein Mädchen sey, die darin so wunderschön sänge.

Bald darauf verreisete die Fee auf ein Paar Tage, und übergab dem kleinen Tomy das Haus, und er mahnte [166] ihn, ja hübsch artig zu seyn, und Alles im Hause in Ordnung zu erhalten, und niemand hinein zu lassen.

»Das ist schön, daß die Pathe fort ist!« sagteTomy; »nun muß ich wissen, wer in dem Schranke so schön gesungen hat.« Aber wie sollte er ihn öffnen? Dies war die Frage: denn die Fee hatte nicht nur den Schrankschlüssel, sondern auch den Schlüssel zur Kammerthüre mit sich genommen. Er ging zu seinen beiden Freunden, und klagte ihnen seine Noth. Die aber gaben ihm ein Zauberstäbchen, womit man ganz leicht alle verschlossenen Thüren öffnen konnte. Das nahm Tomy, und schlug damit an die Kammerthür, die sogleich weit aufflog. Er trat nun hinein, und hörte wieder, wie das erste Mal, in dem Schranke singen, und zwar noch stärker, als damals. Hierauf schlug er mit dem Zauberstäbchen auch an den Schrank, und als sich die Thüren geöffnet hatten, sah er mit Erstaunen eine schöne, reich gekleidete Puppe, ungefähr zwei Spannen lang, die auf einem Brettchen stand, und wie eine Sängerinn, bald den einen, bald den andern Arm bewegte, die Augen verdrehete, den Kopf bald rechts, bald links neigte, und die wunderschönsten Arien mit ungemeiner Geschicklichkeit sang. So klein sie war, so hatte sie doch eine sehr helle Flötenstimme. Sie sah den kleinen Tomy, der sie aufmerksam betrachtete, liebäugelnd an, und sang ihm drei oder vier Liedchen, eines schöner als das andere.

Anfangs fürchtete er sich ein wenig, bald aber machte er sich bekannt mit ihr, nahm sie aus dem Schranke, und setzte sie auf den Tisch, wo sie zu seiner nicht geringen Freude, Dreher und Schleifer, kosackisch und hanackisch tanzte, und Sprünge machte, wie eine Ballettänzerinn. Sie sprach nie, sondern sang beständig, und zwar nicht Worte, sondern nur die Töne der Arien: ha, ha, ha, ha, ha, hi [167] ha, hi ha, da, da, da, da, da, di da, und dann kamen Läufer und Triller mit ungemeiner Schnelligkeit.

Tomy hatte lange seine herzliche Freude an dieser Wunderpuppe. Am Ende aber, als er sie lange genug hatte singen und tanzen sehen, stellte er sie wieder in den Schrank, und lief zu seinen Kameraden und erzählte ihnen, was er gefunden hatte. Diese baten und quälten ihn, auf den Abend die Wunderpuppe mitzubringen, und sie ihnen auch zu zeigen. Der einfältige Tomy versprach es, und freuete sich schon im Voraus auf den Spaß, den sie Alle damit haben würden.

Indessen gingen die beiden jungen Menschenfresser nach Hause, und erzählten ihrem Vater Alles, was sie von Tomy gehört hatten. Dieser war darüber sehr erfreut, und befahl ihnen, dem dummen Tomy die Puppe wegzunehmen, und sie ihm dann zu bringen. »Diese Puppe,« sagte er, »ist von großer Wichtigkeit: denn die Fee Klotilde verdankt ihr einen großen Theil ihrer Macht; ist sie aus ihren Händen, so kann sie mir weniger schaden. Die kleine Figur sollte beiTomy's Mutter stumm bleiben bis zu ihrem Tode, dann aber zu Klotilden gebracht werden, und bei ihr anfangen zu singen; so lange aber die Puppe singen würde, sollte die Fee im Besitze der ganzen Macht seyn.«

Die beiden jungen Unholde versprachen dem Vater, ihm die Puppe zu bringen, und warteten nur auf den Abend, wo Tomy sie ihnen zu zeigen versprochen hatte.

Als es nun anfing zu dämmern, nahm Tomy das Zauberstäbchen, und schlug damit an den schönen Schrank, und nahm die Puppe heraus, und stellte sie auf den Marmortisch, der vor einem großen Spiegel stand. Es war, als ob die Puppe wüßte, daß sie ausgehen sollte; denn sie brachte ihre Haare in Ordnung, setzte ihren Kopfputz zurecht, warf [168] sich einen schönen mousselinenen Shawl um, und fing wieder an zu singen, wie eine Nachtigall. Tomy sah ihr eine Zeitlang mit Vergnügen zu, dann nahm er sie auf den Arm, streichelte und küßte sie, ging mit ihr fort, schloß das Haus hinter sich zu, und suchte seine Kameraden auf.

Diese waren schon alle versammelt, und erhoben ein großes Geschrei und Gelächter, als die Puppe an fing zu singen, zu tanzen, zu springen, und sich herum zu tummeln. Einer nach dem andern trieb seinen Scherz mit ihr, nahm sie auf den Arm, und ließ sie ihre Künste machen; Alle aber jauchzten über ihre Geschicklichkeit und bewunderten sie.

Darüber war es aber Nacht geworden, und die Kinder gingen aus einander. Nur Tomy und die beiden jungen Menschenfresser waren noch allein zurück. Ehe sich aber Tomy versah, sprangen diese schnell mit der Puppe davon, und überbrachten sie ihrem Vater. Tomy lief und schrie und weinte ihnen nach, aber sie waren ihm schnell aus den Augen gekommen, und all sein Schreien und Weinen war umsonst – er erhielt die Puppe nicht wieder.

Voller Angst und Unruhe ging er nun nach Hause zurück, doch als er an Ort und Stelle ankam, hilf Himmel! da war kein Haus mehr; das war in einen großen Schutthaufen zusammengestürzt. »O, ich Unglückskind!« schrie Tomy, »was habe ich gethan! Ich bin Schuld an dem Verderben meiner guten Mutter Klotilde; ich mag nicht länger leben, ich will sterben!«

So sprach er, und lief in der Nacht durch Waldgesträuch und Dornengestrüppe fort, um einen Abgrund zu suchen, daß er sich hinabstürze. Während er so meinte und schluchzte, daß es einen Stein hätte erweichen mögen, begegnete ihm ein Mann, der redete ihn an, und sprach: »Was fehlt dir, Kleiner?« – »Ach,« antwortete Tomy, »ich bin sehr übel daran; ich habe die singende Puppe meiner [169] lieben, guten Frau Pathe verloren.« – »Komm mit mir,« sagte der Mann, »du sollst deine Puppe wieder haben, ich weiß, wo sie ist.«

Da ging Tomy mit, obwohl er den Mann nicht kannte, und ihm in der stockfinstern Nacht nicht einmal in's Gesicht sehen konnte. Sie kamen an ein Haus, das ganz wie eine alte Burg aussah. Der fremde Mann klopfte an, und als die Thür geöffnet war, stieß er den zitternden Tomy hinein. Dieser erschrak nicht wenig, als er beim Lampenschimmer seinen Führer näher betrachtete, und in ihm einen Mann von riesenhafter Gestalt erblickte, mit feuerrothen Augen, einem gräßlichen Gesichte, einem dicken, kohlschwarzen Barte. Auf dem Kopfe hatte er eine hohe Kosackenmütze mit einem Federbusch zur Seite, und unter dem schwarzen Mantel, in den er sich eingehüllt hatte, sahen zwei häßliche, stinkende Bocksfüße hervor. – Es war der Menschenfresser, der Vater seiner beiden Gespielen, die ihm die Puppe weggenommen hatten.

»Sperre mir diesen kleinen bösen Buben unten in meinem Keller ein!« rief er seiner Frau zu; »er ist seiner Pathe ungehorsam gewesen, und hat sie unglücklich gemacht, dafür soll er jetzt gestraft werden. Und da ihm so viel an der singenden Puppe gelegen ist, so soll er sie wohl singen hören, aber sehen soll er sie nicht mehr.«

Die Alte nahm hierauf den armen Tomy, der ganz erbärmlich weinte, beim Arm, und sperrte ihn in den stockfinstern Keller, wo er beständig die Puppe singen hörte, die nur durch eine dünne Bretterwand von ihm getrennt zu seyn schien.

Da hatte nun Tomy Zeit, über seinen Ungehorsam nachzudenken. »Ach,« seufzte er, »was habe ich gethan! Ich versprach meiner guten Pathe, ihr immer folgsam zu seyn, und nichts auszuplaudern, was ich in ihrem Hause [170] sehen und hören würde, und nun habe ich durch meinen Leichtsinn sie gar um die schöne Puppe gebracht, und ihr dadurch vielleicht sehr geschadet. Ach, wie wird mir's ergehen! Ich bin in der Gewalt eines abscheulichen Menschenfressers, der mich ganz gewiß schlachten und fressen wird; doch ich hab's verdient!«

Er fing wieder heftig zu weinen an, und weinte so lange, bis nach einigen Stunden die Kellerthüre aufging, und die beiden jungen Menschenfresser, seine falschen Freunde, zu ihm hereintraten. »Ha, ha!« sagten sie, »du kleines Plaudermaul, bist du nun hier? Du sollst uns gut schmecken, denn wir fressen gern frisches Menschenfleisch, und könnten dich gleich jetzt verzehren; aber wir wollen dich lieber aufsparen, bis morgen zum Frühstück.«

»Ach nein,« rief Tomy, »freßt mich lieber gleich; es geschieht mir recht.«

»Nicht doch,« sagten sie; »du mußt erst Zeit haben, deine Dummheit zu bereuen.«

Damit gingen sie wieder weg aus dem Keller.Tomy aber mußte noch einen ganzen Tag und eine ganze Nacht allein bleiben, und bekam nichts, als ein Stück trockenes Brot, und einen Topf mit Wasser. Er ließ aber Alles stehen, denn er war so voll Angst, daß er nichts essen und trinken konnte.

Am Morgen des andern Tages begab sich der alte Menschenfresser in den Keller, nahm Tomy bei dem Arm, und schleppte ihn die Treppe hinauf. »Bete!« schrie er ihn an, »und bereite dich zum Tode, denn du mußt sterben!«

Da legte Tomy ängstlich seine Hände zusammen, und bat Gott und seine Pflegemutter, ihm seine Fehler zu vergeben. Dann nahm ihn der Menschenfresser auf die Schulter, und trug ihn auf einen hohen Felsen, der von einem [171] stinkenden Sumpf voll Schlamm und Ungeziefer umgeben war; in dem Sumpf aber waren eine Menge gräßlicher Thiere, Kröten, Nattern, Krokodile und dreiköpfige Schlangen.

»Alle die Thiere, die du da unten siehst,« sagte der Menschenfresser zu Tomy, »sind meine Kinder, die deine gottlose Pathe, mir zu Leide, in solch Ungethüm verwandelt hat. Daher ist es billig, daß sie dich fressen.«

Damit nahm er den unglücklichen Tomy, der schon vor Schrecken halb todt war, bei dem einen Beine, und wollte ihn hinabschleudern in den giftigen Sumpf. Der aber schrie in seiner Angst, so laut er konnte: »Erbarme dich, erbarme dich, liebe Mutter! wo bist du?«

Schnell wie der Blitz kam ein kleines altes Weib auf einer geflügelten Katze durch die Luft daher geritten, und berührte den abscheulichen Menschenfresser mit einem Zauberstäbchen, der plötzlich wie versteinert stehen blieb, und sich nicht mehr regen und bewegen konnte. Dann nahm sie ihm schnell den kleinen Tomy, der ohnmächtig geworden war, aus der Hand, und sagte zu dem Ungeheuer: »Wie wagst du, Gottloser! dich an diesem Kinde zu vergreifen, das dir niemals etwas zu Leide gethan hat! Zwar war es ungehorsam gegen mich, und hat deswegen Strafe verdient, allein was gehet das dich an? Deine Kinder habe ich allerdings in Kröten, Nattern und Schlangen verwandelt, sie waren aber auch nichts Besseres werth, denn es war eine gottlose, verworfene Brut. Auch du verdienst kein besseres Loos; darum sey fortan in ein Schwein verwandelt, und deine beiden Knaben, die meinen Tomy so schändlich betrogen haben, sollen als Spanferkel dich begleiten.«

Hierauf berührte die Fee, welche auf ihrer Reise zur Vorsteherinn der Feen ernannt war, und dadurch große Macht erhalten hatte, mit ihrem Zauberstäbchen den Menschenfresser, [172] der nun als ein schmutziges und gefräßiges Schwein den Felsen grunzend hinablief, und sich in dem Sumpf herumwälzte; seine beiden Knaben aber, in Spanferkel verwandelt, schrieen hinter ihm her.

Tomy hatte sich mittlerweile wieder erholt, und nun bekam auch er seinen Theil. »Du ungehorsamer, geschwätziger Junge,« sagte die Fee zu ihm; »du hättest wohl verdient, daß ich dich in einen Staarmatz oder in eine Elster verwandelte. Hattest du mir nicht heilig versprochen, nie aus meinem Hause zu schwatzen, und keinem Menschen zu sagen, was du bei mir sehen und hören würdest? Zum Dank für meine Liebe, mit der ich dich aufnahm und versorgte, hast du mir meine Puppe geraubt, und sie den Söhnen meines ärgsten Feindes gegeben; ist das recht, kleiner Dieb? ist das recht?«

Tomy fiel auf seine Knie, und bat weinend um Vergebung, und versprach, nie wieder so undankbar zu seyn, und seine gute liebe Pathe durch keinen Ungehorsam je wieder zu betrüben.

»Nun, ich will dir verzeihen,« erwiederte die Fee, »wenn du nur Wort hältst, und dich besserst.«

Als Tomy dies nochmals fest versichert hatte, holte die Fee die geraubte Puppe aus dem Hause des Menschenfressers, und verwandelte sie in ein allerliebstes sechsjähriges Mädchen, das sie TochterHerzblatt nannte. Sie erzog sie mit dem kleinenTomy, der sie sehr lieb hatte, und mit ihr spielte, so daß beide recht vergnügt und glücklich lebten. Als aber das hübsche Mädchen achtzehn Jahre alt war, ließ die Fee Beide zu sich kommen, und sagte: »Nun hört, Kinderchen; da ihr euch Beide so gut seyd, und immer so einträchtig und friedlich mit einander gespielt und gelebt habt, so wünsche ich, daß ihr euch heirathet, und als Mann und Frau euch gegenseitig beglücket.« Damit waren Herzblatt [173] und Tomy sehr zufrieden, und die Fee hielt ihnen eine Hochzeit, wie man seit hundert Jahren keine gesehen hatte.

Tomy hatte sein junges, schönes Weibchen außerordentlich lieb. In seinem ganzen Leben aber vergaß er nie die Gefahr, in die er einst durch sie, oder vielmehr durch seine Schwatzhaftigkeit und seinen Leichtsinn gerathen war.

26. Dornröschen.

Eine Königinn hätte so gern, ach so gern ein Kind gehabt, und bekam doch keins, so sehr sie sich auch eins wünschte. Da wurde sie traurig, und weinte und seufzte: »Was hilft uns nun unser schönes Königreich, da wir es keinem eigenen Kinde hinterlassen können?«

Als sie so einmal an einem klaren Bache unter schönen Bäumen hinging, und sah große und kleine Fische im hellen Wasser spielen und sich jagen, und sah die Vögelein ihre Jungen füttern, die über das Nest herauskuckten und pipten, da sagte sie recht traurig: »Ach, die Vöglein haben ihre Kinderchen, und die Fische auch, aber ich – ich habe kein Kind!«

»Sollst eins haben! Sollst eins haben!« rief ein Vöglein vom Baume herab.

»Eine Tochter! Eine Tochter!« rief ein Krebs, der den Kopf aus dem Wasser heraussteckte.

»Ueber's Jahr! Ueber's Jahr!« rief eine Stimme, die sich nicht sehen ließ. Da wurde die Königinn recht froh, und alle Leute im Schlosse freueten sich mit ihr.

Und als das Jahr um war, bekam die Königinn eine Tochter, die nannten sie Röslein. Der König aber stellte [174] ein großes Kindtaufen an, und bat alle Feen, die es im Lande gab, – und das waren sieben, – zu Gevattern, damit eine jede dem Kinde etwas zum Angebinde geben möchte, wie es damals Sitte war, und die kleine Prinzessinn dadurch alle mögliche Vollkommenheiten erhalte.

Als nun die Taufe vorbei war, begaben sich die Gäste in das Schloß des Königs, wo man ein glänzendes Fest zu Ehren der Feen angeordnet hatte. Für jede dieser mächtigen Wesen hatte der König bei ihrem Platze an der Tafel einen goldenen Teller und goldene Messer, Gabel und Löffel, mit Diamanten und Rubinen besetzt, hinlegen lassen.

Als man sich nun aber eben zur Tafel setzte, siehe! da öffnete sich die Thüre noch einmal, und eine alte Fee trat herein, die man vergessen hatte einzuladen, weil sie schon seit länger als funfzig Jahren aus dem Thurme, in welchem sie wohnte, nicht herausgekommen war, weswegen man glaubte, sie sey todt oder gar verzaubert. Zwar ließ der König, sie freundlich bewillkommend, ihr sogleich einen Platz an der Tafel einräumen; aber einen goldenen Teller, und ein goldenes Besteck, wie den andern Feen, konnte er ihr nicht geben, weil gerade nur sieben goldene Teller und Bestecke gemacht worden waren. Daher setzte man ihr drei silberne Teller hin, und die Königinn holte einen Strauß von Diamanten, und legte denselben vor ihre Teller. Die Fee schien hiermit nicht zufrieden zu seyn, denn sie hielt sich fälschlich für zurückgesetzt, und sagte dann recht unwillig und verdrießlich: »Ihr habt mich verachtet, weil Ihr mich nicht einmal eingeladen habt; ich verachte nun auch Euch und Eure Speisen und Diamanten, – ich brauche sie nicht; aber ich sage Euch, ehe Eure Tochter funfzehn Jahre alt seyn wird, soll sie sich mit einer Spindel in die Hand stechen, und todt hinfallen.« Damit entfernte sie sich, ohne weiter Abschied zu nehmen.

[175] Mit Erschrecken hatten Alle den unheilvollen Ausspruch der bösen Fee vernommen, und der König und die Königinn fingen laut an zu weinen und zu klagen. »Beruhigt Euch,« sagte eine junge Fee, die dem Kinde noch nichts zum Angebinde geschenkt hatte, weil sie die böse Absicht der erzürnten Alten gemerkt hatte; »beruhigt Euch! Euer Töchterchen wird nicht sterben. Zwar kann ich das Geschick, welches die Alte hier über die Kleine verhangen hat, nicht ganz abwenden, und Euer Kind wird sich mit einer Spindel verwunden, aber anstatt davon zu sterben, wird sie nur in einen tiefen Schlaf fallen, der hundert Jahre dauern, und aus dem sie ein Königssohn erwecken wird.«

Um das Unglück, welches seinem Kinde prophezeiet war, so viel als möglich zu verhindern, ließ der König bekannt machen, daß bei Lebensstrafe niemand weder mehr mit einer Spindel spinnen, noch überhaupt ein solch gefährlich Ding in seinem Hause halten sollte. Aber was half alle Vorsicht!

Als die Prinzessinn funfzehn Jahr alt war, geschah es, daß ihre Aeltern mit ihr auf eines ihrer Lustschlösser reisten. Während nun hier die Aeltern eines Tages im Garten lustwandelten, ging die Prinzessinn im Schlosse umher, und da sie vor langer Weile nicht wußte, was sie vornehmen sollte, so lief sie von einem Zimmer in's andere, und kam endlich auch an einen Thurm, den sie von Innen besehen wollte. Sie ging also hinein, stieg eine Treppe hinauf, und wieder eine, und dann noch eine, und kam nun zu einer kleinen Thüre, die sie mit dem darin steckenden Schlüssel öffnete. Da trat sie in eine kleine Stube, in welcher ein altes Mütterchen, die niemals etwas von dem Befehle des Königs, nicht mehr mit einer Spindel zu spinnen, gehört hatte, am Rocken saß, und emsig spann. Das hatte sie noch nie gesehen; darum gab sie recht Acht, und sagte: »Ob ich's denn auch wohl könnte?« – »Ja, liebes Prinzeßchen,« [176] sagte freundlich das Mütterlein, »das könnt Ihr nicht wissen, bis Ihr es nicht versucht habt.« Die Prinzessinn wollte es versuchen, nahm der Alten, lebhaft und neugierig wie sie war, die Spindel weg, – stach sich damit in die Hand, und – versank sogleich in einen Todesschlaf.

Laut rief nun die erschrockene Alte um Hülfe. Von allen Seiten lief man herbei, und versuchte, die Prinzessinn wieder in's Leben zurück zu bringen; aber Alles war vergebens! Der König, welcher an die Weissagung der Fee gedachte, und sich damit tröstete, daß dies Alles so hätte kommen müssen, ließ seine Tochter in das schönste Zimmer des Schlosses bringen, und auf ein Paradebett von lauter Gold- und Silberstoff legen. Da lag sie nun, schön wie ein Engel: denn der Todesschlaf hatte ihre blühenden Farben nicht verwischt; noch glühten ihre Wangen wie Incarnat, und ihre Lippen wie Korallen; nur die Augen waren geschlossen, und an den leisen Athemzügen bemerkte man, daß sie nur schlief, und nicht todt war.

Bald erschien auch die gute Fee, welche durch ihre Fürsorge den Tod von der Prinzessin gewendet hatte. Sie war mit Allem, was der König angeordnet hatte, sehr wohl zufrieden; da sie aber eine kluge und voraussehende Person war, so glaubte sie, es möchte die Prinzessinn in einige Verlegenheit setzen, wenn sie nach hundert Jahren aufwachte, und sich dann so allein in dem großen Schlosse sähe. Was that sie? Sie nahm ihr Zauberstäbchen, und berührte Alle, die im Schlosse waren, – nur den König und die Königinn nicht, – die Hofmeisterinnen, die Ehrendamen, die Kammerfrauen und Kammerherren, die Offiziere, Hausmeister, Köche, Küchenjungen, Laufburschen, Wachen, Schweizer, Pagen, Bediente, sogar die Pferde im Stalle, mitsammt den Knechten, die Hunde auf dem Hofe und das Schooßhündchen der Prinzessinn, welches auf ihrem Bette [177] lag; und so wie sie Alle berührt hatte, so schliefen sie auch sammt und sonders ein, um nicht eher wieder zu erwachen, wie ihre Herrinn. Ja, es war zum Erstaunen. Die Bratenwender voll Rebhühner, und der Dreifuß auf dem Herde, ja selbst das Küchenfeuer und die Tauben in der Bratpfanne überließen sich gleichfalls der Ruhe. Und alles dies geschah in einem Augenblick: denn man muß wissen, die Feen sind sehr geschwind in ihren Geschäften.

Nun küßten der König und die Königinn ihr Kind noch ein Mal, und verließen das Schloß, dem sich fortan niemand mehr nähern durfte. Dies Gebot war indeß überflüssig, denn weiter als eine Viertelmeile rund um das Gebäude schoß ein so dichter und wild verwachsener Wald empor, daß weder Mensch noch Thier durch das verschlungene Gesträuch hindurchzudringen vermochte, und man nur aus weiter Ferne die Zinnen und Thürme der Burg wahrnehmen konnte. Ohne Zweifel hatte die Fee dies so veranstaltet, damit kein unbescheidener Neugieriger sich der Prinzessinn nähern, und sie in ihrem Schlafe stören möchte.

Viele Prinzen wußten, daß ein gar schönes und liebliches Röslein im Schlosse war, und kamen und wollten es befreien, wollten mit dem Schwerte die Dornhecken zerhauen, oder sich durchdrängen, aber das half nichts. Blutig gerissen kehrten sie wieder zurück, und manche sollen sogar in den Dornhecken kläglich umgekommen seyn. Seit der Zeit hieß die Prinzeß Röslein nur – Dornröslein.

So stand das Schloß und das Dorngehege nun schon hundert Jahre, und niemand wußte mehr, was in dem Schlosse vorgegangen war, als ein einziger alter Mann im Lande, dem es sein Großvater erzählt hatte, und der in der Nähe des Schlosses wohnte. Als nun eines Tages der Sohn des damals regierenden Königs, der von einer andern Familie stammte, als die schlummernde Prinzessinn, in der [178] Gegend jagte, und über den dunkeln Wald weg die Thürme des alten Schlosses erblickte, da befragte er zufällig jenen alten Mann über die Geschichte dieses Schlosses, und erfuhr von ihm, daß in dem Schlosse die schönste Prinzessinn von der Welt verzaubert sey, hundert Jahre zu schlafen, bis ein ihr bestimmter Prinz sie erlöse.

Den Prinzen setzte diese Nachricht in Erstaunen. Er kam auf den Gedanken, daß wohl er dazu bestimmt seyn möchte, die schöne Schläferinn zu befreien, und getrieben von Ehrgeiz und Sehnsucht beschloß er, sogleich in den Wald zu dringen.

Er ging nach dem Schlosse zu, und wie er vorschritt, bogen sich von selbst die Bäume und Gesträuche seitwärts, also, daß er ganz ungehindert durch das bisher unzugängliche Gestrüpp dringen konnte. So gelangte er endlich über einen weiten Vorplatz zu dem Schlosse. Niemand ließ sich hier sehen, und niemand von seinem Gefolge war bei ihm. Sie hatten ihm nicht folgen können, denn dicht hinter ihm war das Gezweig wieder durch- und in einander gefahren. Ohne sich zu fürchten, trat er in einen großen Vorhof, wo eine schauderhafte Stille herrschte; überall lagen Menschen und Thiere in erstarrendem Schlafe hingesunken. Da sah er die entschlafenen, wachehaltenden Schweizer, noch die Gläser in der Hand haltend, über deren Leerung sie eingeschlafen waren. Weiterhin, nachdem er über einen großen, mit Marmor ausgelegten Hof gegangen war, fand er in der Wachtstube die Garden, das Gewehr auf der Schulter, in Reih' und Glied, schnarchend wie Sägemühlen. Noch weiter lagen und saßen in allen Zimmern Hofleute und Fräulein durch einander, und schliefen wie die Ratten. Endlich gelangte er in ein ganz von Gold glänzendes Gemach, in welchem er auf einem Ruhebette, dessen Vorhänge halb geöffnet waren, das wunderschöneRöslein schlafend erblickte. [179] Zitternd und bewundernd nahete er sich ihr, ließ sich auf ein Knie nieder, und sagte: »Ach, bist du so hold, so gut, als du schlafend aussiehst, so solltest du meinem Herzen recht werth seyn, wärest du auch so wunderschön nicht!«

Es war, als flüsterte es ihm zu: »Küsse leise und zart ihre holdseligen Lippen!« Da beugte er sich nieder, und berührte ihre Lippen leise und sanft; in demselben Augenblick erwachte auch Dornröschen, und sahe ihn gar freundlich an, und sagte: »Seyd mir willkommen als mein Befreier, schon lange erwartete ich Euch mit Sehnsucht.«

Mit dem Erwachen der Prinzessinn waren auch alle übrigen im Schlosse erwacht, und jeder that nun wieder, was seines Amtes war. Alles war Liebe und Friede und Freundlichkeit, und der Prinz und Dornröschen, welche für einander bestimmt waren, begaben sich in das Schloß des Königs, der ihnen sehr gern seinen väterlichen Segen zu ihrer Verheirathung ertheilte.

Der Prinz lebte mit seiner jungen schönen Gemahlinn in großer Eintracht und Freude, und ihr Glück wurde um Vieles noch vermehrt, als der Himmel ihnen schon im ersten Jahre ihrer Ehe eine Tochter schenkte, die sie Aurora nannten, und im folgenden Jahre auch einen Sohn, den sie Tag hießen, weil er noch viel schöner war, als seine Schwester. Die Aeltern liebten diese beiden Kinder auf das zärtlichste, und hüteten sie, wie ihren Augapfel. Und das war auch sehr nöthig, denn die Königinn stammte aus einer Popanzen-Familie, und man wollte bemerkt haben, daß sie schon oftmals ein großes Gelüste nach Menschenfleisch gehabt hätte. Sie war aber ungeheuer reich, und nur deshalb hatte sie der König geheirathet.

Nun geschah es, daß nach einigen Jahren der König starb, und der Prinz den väterlichen Thron bestieg. Bald darauf aber wurde er in einen Krieg mit einem benachbarten [180] Kaiser verwickelt, und mußte ins Feld rücken. Da übergab er einstweilen, nach der Sitte des Landes, seiner Mutter, der verwittweten Königinn, die Herrschaft, und empfahl ihr besonders seine Gemahlinn und Kinder, und bat sie auf das dringendste, ja dafür Sorge zu tragen, daß ihnen nichts zu Leide geschehe. Das versprach ihm auch die Mutter, worauf er, nicht ohne ängstliche Besorgniß, in den Krieg zog.

Kaum aber waren einige Tage verflossen, so sandte die alte Königinn ihre Schwiegertochter mit deren beiden Kindern auf ein altes, abgelegenes Waldschloß, in der Absicht, sie hier ihren abscheulichen Gelüsten zu opfern, und folgte dann selbst nach.

Eines Tages ließ sie, am späten Abend, ihren Haushofmeister zu sich kommen, und sagte zu ihm: »Morgen Mittag will ich die kleine Aurora speisen; hört Ihr?« – »Um Gottes Willen, gnädigste Frau!« rief erschrocken der Haushofmeister. – »Keine Widerrede!« versetzte die Königinn, »und zwar will ich sie mit einer sauern Zwiebelbrühe essen.« – Der arme Mann wagte hierauf nichts zu erwiedern, nahm sein großes Messer, und ging in die Kammer der kleinen Aurora. Diese kam ihm freundlich entgegen gesprungen, fiel ihm liebkosend um den Hals, küßte ihn und sagte: »Ach gewiß bringst du mir schönes Zuckerwerk mit!« Diese holde Freundlichkeit und Unschuld rührte den Haushofmeister bis zu Thränen; er ließ das Messer fallen, und lief auf den Hof, und schlachtete da ein Lämmchen, das er köstlich bereitete, und es der alten Königinn vorsetzte, die es mit großem Wohlgeschmack verzehrte. Die kleine Aurora aber brachte er zu seiner Frau, um sie in einer geheimen Kammer zu verbergen, welche er unten im Hofe hatte.

Acht Tage darauf sprach die alte Königinn abermals zu dem Haushofmeister: »Die kleine Aurora hat mir außerordentlich wohl geschmeckt, nun will ich auch den kleinen [181] Tag speisen; bereitet ihn auf dieselbe Art!« Der Haushofmeister erwiederte kein Wort, sondern dachte: Ich werde dich jetzt wieder täuschen, wie das erste Mal.

Er ging nun zu dem kleinen Tag, der eben einen Degen in der Hand hatte, und sich mit einem großen Affen herumfocht; und gleichwohl war er erst drei Jahre alt. Er brachte ihn auch seiner Frau, um ihn zu der kleinen Aurora zu thun, und statt des Kindes tischte er der alten Königinn ein junges zartes Reh auf, das ihr ganz vortrefflich schmeckte.

Bis jetzt war nun Alles gut gegangen; aber wie erschrak der arme Haushofmeister, als die böse Königinn eines Abends zu ihm sagte: »Ich will nun auch die Mutter von den Kindern essen, und zwar mit derselben Brühe!« Dies Mal war es schon schwieriger, ja fast unmöglich, die Alte zu hintergehen. Die junge Königinn war ohne die hundert Jahre, die sie verschlafen hatte, etwas über zwanzig Jahre alt; ihre Haut war etwas hart, obgleich weiß und schön, und wo sollte er in dem ganzen Thiergarten ein Thier finden, das ihr gliche? Er entschloß sich daher, um das eigene Leben zu retten, die junge Königinn zu schlachten, und ging mit einem großen Messer in ihr Zimmer, wo er ihr dann mit aller Ehrerbietung ankündigte, welchen Befehl er von ihrer Schwiegermutter, der verwittweten Königinn, erhalten habe.

»Thut, wie Euch befohlen ist!« rief die junge Königinn, und hielt ihm den Hals hin; »so werde ich von meinem Kummer erlöst, und meine armen Kinder wiedersehen.« Denn sie hielt sie für todt, weil sie ihr heimlich entführt worden waren.

Den Haushofmeister hatten die Worte der unglücklichen Mutter so gerührt, daß er es nicht über sich vermochte, sie zu tödten. Daher sagte er zu der Königinn: »Nein, [182] nein! Ihr sollt nicht sterben; ich will Euch wieder zu Euern Kindern bringen, die ich vor der Wuth Eurer Schwiegermutter verborgen habe; der Alten aber werde ich eine Hirschkuh zubereiten, vielleicht daß sie auch dies Mal den Betrug nicht entdeckt.«

Er führte hierauf die Königinn in die Kammer zu ihren Kindern, die ihr mit großer Freude um den Hals fielen; dann richtete er eine Hirschkuh zu, und brachte sie der Alten, die sie, in der Meinung, daß es die junge Königinn sey, sehr begierig verzehrte. Nun nahm sie sich vor, dem Könige bei seiner Rückkehr vorzureden, daß seine Gemahlinn nebst den beiden Kindern von den Wölfen angefallen und aufgefressen worden wären.

Als sie aber eines Abends in den Höfen des Schlosses umherschlich, und in das Hintergebäude kam, wo der Haushofmeister wohnte, hörte sie, wie der kleineTag weinte, weil seine Mutter ihm die Ruthe geben wollte, denn er war ungehorsam gewesen; auch die Stimme der kleinen Aurora hörte sie, die für ihren Bruder um Verzeihung bat.

Da ward nun das alte böse Weib gewaltig grimmig, daß man sie so hintergangen hatte, und befahl gleich am andern Morgen mit einer fürchterlichen Stimme, vor welcher Alles zitterte, daß man mitten auf den Hof einen großen Bottig setzen sollte, den sie mit Schlangen, Kröten, Eidechsen und Vipern anfüllen ließ. In diesen Kübel sollte dann die arme Königinn mit ihren beiden Kindern, und dem gutmüthigen Haushofmeister sammt dessen Frau und Magd, gestürzt werden.

Schon standen die Unglücklichen mit auf den Rücken gebundenen Händen da, und schon waren die Henker im Begriff, sie in das abscheuliche Gefäß zu werfen, als plötzlich der König, den man noch gar nicht erwartet hatte, in den Hof geritten kam. Er war ganz erstaunt über das [183] Schauspiel, welches sich ihm hier darbot, und erkundigte sich sogleich, was diese gräßlichen Vorbereitungen bedeuten sollten. Niemand aber wagte es, ihm Auskunft darüber zu geben, als plötzlich die alte Königinn, wüthend über das Fehlschlagen ihrer Rache, sich selbst, vor Aller Augen, in den Bottig stürzte, wo sie sogleich von dem Schlangen- und Krötengezücht gefressen wurde. Der König war hierüber nicht wenig erschrocken, und betrübte sich sehr, denn sie war doch immer seine Mutter; bald aber tröstete er sich in dem Anblick seiner schönen, tugendhaften Gemahlinn und seiner beiden liebenswürdigen Kinder.

27. Die ungleichen Brüder.

  • Die ungleichen Brueder. (Johann Heinrich Lehnert: Mährchenkranz für Kinder)
    Die ungleichen Brueder.

Es lebten einmal zwei Brüder, Rosimond undBramint, die sich aber sehr ungleich waren. Rosimond, der jüngere, hatte ein gutes Herz, liebte seine Aeltern und Geschwister, bewies sich gegen Jedermann gefällig und dienstfertig, und that keinem Menschen etwas zu Leide. Dabei war er sehr klug und verständig, und von Allen geliebt und geachtet, die ihn kannten. Ganz das Gegentheil war sein älterer Bruder Bramint. Der hatte ein sehr häßliches und boshaftes Gemüth, und lebte mit keinem Menschen in Friede: denn er war hart und lieblos, und machte seinen Aeltern nichts als Kummer und Herzeleid. Die Mutter gab sich zwar alle Mühe, ihn zu bessern, aber er blieb, wie er war. Darüber grämte sie sich sehr, und entzog ihm ihre Liebe, weil er sie nicht verdiente.

Da nun Rosimond wegen seiner guten Aufführung und Folgsamkeit von der Mutter sehr geliebt wurde, so haßte [184] ihn sein Bruder Bramint nur noch mehr, und ersann eine schändliche Lüge, um ihn unglücklich zu machen.

Rosimond hatte nämlich einen guten Freund, den Sohn des Nachbars, der ein großer Feind seines Vaters war. Beide Freunde kamen oft zusammen, denn sie waren einander sehr zugethan und ergeben.Bramint nahm daher Gelegenheit, seinen BruderRosimond bei dem Vater zu verleumden und anzuschwärzen. Er erzählte ihm, daß Rosimond nur deswegen so oft in des Nachbars Haus ginge, um ihm alles zu hinterbringen, was in ihrem Hause vorgehe. Das verdroß den Vater, und er verbot daher Rosimond, mit seinem Freunde umzugehen und zu sprechen. Darüber freute sich Bramint, und ersann nun eine noch schändlichere Lüge. Er sagte zu seinem Vater, Rosimond sey wieder in des Nachbars Haus gewesen, und da sey er ihm heimlich nachgeschlichen, und habe gehört, wie Rosimond dem Nachbar versprochen habe, daß er ihn, den Vater, bei einer guten Gelegenheit vergiften wolle.

Als der Vater dies hörte, ward er sehr zornig, und mißhandelte den armen unschuldigen Rosimond auf das grausamste, sperrte ihn darauf drei Tage lang in eine finstere Kammer, und jagte ihn dann aus dem Hause, mit der Drohung, ihn ums Leben zu bringen, wenn er sich unterstände, ihm jemals wieder vor die Augen zu kommen.

Rosimond ging nun, von seiner Mutter betrauert, weinend fort, ohne zu wissen, wohin. Nach langem Umherirren kam er gegen Abend in einen großen Wald. Hier überfiel ihn die Nacht; er legte sich im Eingange einer dunkeln Höhle auf weiches Moos, am Ufer eines klaren Baches, der aus der Höhle floß, und schlief vor Müdigkeit bald ein.

Als er mit Anbruch des Tages erwachte, erblickte er eine schöne Frau in Jagdkleidern, die auf einem weißen [185] Pferde, mit einer prächtigen, goldgestickten Schabracke geschmückt, daher geritten kam. Sie redete Rosimond an, und fragte ihn, ob er nicht einen Hirsch und Hunde habe vorbeilaufen sehen. Er antwortete: »Nein!« und sah dabei betrübt vor sich hin. »Du scheinst sehr bekümmert und niedergeschlagen zu seyn,« sagte die schöne Reiterinn; »was fehlt dir?« Nun erzählte ihr Rosimond, wie es ihm ergangen sey, und daß er nun nicht wisse, was aus ihm werden solle. »Gräme dich nicht,« sprach darauf die Fremde, »ich will dir in deiner Noth hülfreich seyn. Sieh, da hast du einen Ring, der dich zum glücklichsten und mächtigsten Menschen auf Erden machen wird, wenn du ihn immer nur zum Guten, und niemals zum Bösen gebrauchst. Steck' ihn an deinen Finger, und verwahre ihn ja sorgfältig. Sobald du den Demant einwärts kehrst, wirst du unsichtbar seyn; drehest du ihn aber auswärts, so wird man dich sehen. Wenn du ihn an deinen kleinen Finger steckst, so erscheinst du als der königliche Prinz mit einem großen Gefolge von Bedienten; steckst du ihn aber an den Goldfinger, so wirst du deine natürliche Gestalt wieder bekommen.«

Bei diesen Worten jagte die Reiterinn eiligst davon, und Rosimond merkte nun wohl, daß es eine Fee war. Voll Ungeduld, mit seinem wunderbaren Ringe eine Probe zu machen, ging er sogleich nach dem Hause seines Vaters. Als er hier ankam, drehete er den Stein einwärts, und sah und hörte Alles, was darin vorging, ohne daß man ihn gewahr wurde. Er hätte sich nun ohne alle Gefahr an seinem bösen Bruder rächen können; aber das that er nicht, denn dazu war er zu gut; er zeigte sich blos seiner Mutter, die sich herzlich freute, ihn wieder zu sehen, und noch froher ward, als sie hörte, daß sich eine wohlwollende Fee seiner so liebreich angenommen habe.

Hierauf steckte er den Ring an seinen kleinen Finger, [186] und erschien alsbald als der königliche Prinz, von einer Menge prächtig gekleideter Bedienten umgeben, vor seinem Vater.

Dieser erschrak nicht wenig, den königlichen Prinzen in seinem Hause zu sehen, und wußte vor Verlegenheit nicht, was er angeben sollte. Rosimond aber that ganz freundlich, und fragte ihn, wie viel Söhne er hätte. Und als er antwortete, daß er deren zwei habe, so verlangte Rosimond, daß er sie sogleich herbeikommen lassen solle, weil er Willens sey, sie mit an den Hof zu nehmen, um ihr Glück zu machen.

Der Vater gerieth dadurch in neue Verlegenheit, und sagte, als Bramint hereintrat: »Hier, gnädigster Prinz, ist mein älterer Sohn, welchen ich Ihnen vorzustellen die Ehre habe.« – »Aber wo ist denn der jüngere? ich will ihn auch sehen!« fuhr Rosimond fort. »Der ist nicht mehr in meinem Hause,« erwiederte ängstlich der Vater; »er hatte sich gegen mich vergangen, und als ich ihn deshalb züchtigen wollte, lief er davon.« – »So?« sagte Prinz Rosimond; »das habt Ihr nicht gut gemacht; Ihr hättet ihn mit Güte belehren und zurecht weisen, aber nicht fortjagen sollen. Indeß gebt mir nur den älteren mit; Ihr aber folgt zweien von meinen Leuten, die Euch an einen Ort führen werden, den ich ihnen anzeigen will.«

Sogleich führten zwei Leute von der Wache den Vater weg, und brachten ihn in einen Wald. Hier erschien auch die Fee; sie berührte ihn mit ihrer goldenen Zauberruthe, und zwang ihn, in eine finstere Höhle zu gehen. »Hier sollt Ihr so lange bleiben,« sagte sie, »bis Euer jüngerer Sohn Rosimond kommt, und Euch wieder herausholt.«

Um diese Zeit war der Sohn des Königs auf seiner Fahrt nach einer entlegenen Insel, wo er Krieg führen wollte, an unbekannte Küsten verschlagen, und von einem [187] wilden Volke gefangen genommen worden. Darüber betrübte sich der König sehr, denn er glaubte, ihn niemals wieder zu sehen, und alle Unterthanen weinten mit ihm um seinen Verlust.

Rosimond steckte nun seinen Ring an den kleinen Finger, und begab sich in der Gestalt des Prinzen, den man für verloren hielt, an den Hof des Königs. Diese unerwartete Erscheinung des Prinzen setzte Alles in frohes Staunen. Er erzählte nun, wie einige Kaufleute an der Insel, wo er gefangen gehalten wurde, gelandet, ihn mit in ihr Schiff genommen, und glücklich zurückgebracht hätten; ohne ihren hülfreichen Beistand würde er aber gewiß umgekommen seyn. Der König konnte vor Freude, seinen geliebten Sohn wieder zu haben, kein Wort sprechen, und die Königinn umarmte ihn, und weinte vor Rührung. Durch das ganze Reich wurden wegen der Rückkehr des Prinzen große Freudenfeste und Lustbarkeiten angestellt.

Als die Festlichkeiten zu Ende waren, sagte Rosimond, der immer für den wirklichen Prinzen gehalten wurde, zu seinem Bruder Bramint, den er mit an den Hof genommen hatte: »Bramint, du weißt, daß ich dich aus deinem Dorfe hieher gebracht habe, um dein Glück zu machen; aber ich weiß, daß du ein böser Lügner bist, und daß du durch deine Betrügereien deinen Bruder Rosimond unglücklich gemacht hast. Dein Bruder ist jetzt hier versteckt; du sollst mit ihm reden, und er soll dir deine Betrügerei vorhalten.«

Bramint warf sich ihm zitternd zu Füßen, und gestand sein Vergehen. »Gut,« sagte Prinz Rosimond, »du sollst mit deinem Bruder sprechen, und ihn um Vergebung bitten. Er wird sehr großmüthig seyn, wenn er dir verzeiht, denn du verdienst es nicht. Er ist in meinem Kabinett, wo ich ihn dir gleich zeigen will; ich selbst aber werde [188] in ein Nebenzimmer gehen, damit du ganz ungestört mit ihm reden kannst.«

Bei diesen Worten ging Rosimond fort, steckte seinen Ring schnell auf den Goldfinger, und begab sich darauf, in seiner natürlichen Gestalt, durch eine andere Thür in das Kabinett. Als ihn Bramint hier erblickte, schämte er sich so sehr, daß er ihm nicht in die Augen zu sehen wagte; er bat ihn um Vergebung alles Unrechts, was er an ihm begangen habe, und versprach, seine Fehler wieder gut zu machen. Rosimond umarmte ihn mit Thränen, verzieh ihm, und sagte: »Ich bin der größte Liebling des Prinzen, und es kommt blos auf mich an, dich auf Lebenslang in ein Gefängniß werfen, oder gar hinrichten zu lassen; aber ich will nicht Böses mit Bösem vergelten, sondern gegen dich so gut seyn, als du boshaft gegen mich gewesen bist.« Bramint war ganz verwirrt und beschämt durch die Großmuth seines Bruders, und wagte es nicht, ihn seinen Bruder zu nennen.

Hierauf besuchte Rosimond seine Mutter, die schon lange sehnlichst gewünscht hatte, ihren geliebten Sohn einmal wieder zu sehen. Sie empfing ihn mit herzinniger Freude, und Rosimond erzählte ihr alles, was zwischen ihm und seinem Bruder am Hofe vorgegangen war, worüber sie sich nicht wenig verwunderte. Einen ganzen Tag blieb er bei ihr, und gab ihr, als er wieder abreiste, so viel Geld, als sie nöthig hatte: denn der König schenkte ihm oft große Summen, womit er viel Gutes that.

Nun begab es sich, daß der König sich zu einem Kriege gegen einen andern benachbarten König, welcher ungerecht und treulos war, rüsten mußte. Rosimond eilte sogleich an den Hof des feindlichen Königs, machte sich durch seinen Ring unsichtbar, und erfuhr nun alle Geheimnisse der Feinde. Dadurch wurde es ihm leicht, alle ihre Anschläge [189] zu vereiteln, und den Krieg zu seinem Vortheil zu führen. Er selbst stellte sich an die Spitze der Armee, und kommandirte sie so geschickt, daß er den Feind in einem Haupttreffen völlig vernichtete, und bald darauf einen ehrenvollen Frieden schloß.

Diese rühmliche That machte den König überaus glücklich, und er beschloß, Rosimond, den er noch immer für seinen rechten Sohn hielt, mit einer Prinzessinn zu verheirathen, welche die Erbinn eines benachbarten Königreichs war, und an Schönheit und Liebenswürdigkeit ihres Gleichen nicht hatte.

Rosimond war in Verlegenheit, was er hierbei thun sollte, denn er wollte nicht unrecht handeln. Zu seinem Glücke aber erschien ihm die Fee, als er eben auf der Jagd war, in dem Walde, wo er sie das erste Mal gesehen hatte. Er erzählte ihr sogleich das Vorhaben des Königs, und bat sich ihren Rath aus. »Hüte dich, Rosimond,« sagte sie, »dich mit einer Prinzessinn zu vermählen, als ob du der wahre Prinz wärest. Man muß keinen Menschen betrügen, und es ist billig, daß der Prinz, für welchen man dich hält, wiederkomme, und seinem Vater in der Regierung folge. Geh' also, und hol' ihn zurück; die Winde, die ich abschicken werde, sollen dein Schiff nach der Insel führen, wo er sich aufhält. Eile, deinem Herrn diesen Dienst zu thun, und vergiß nicht, als ein ehrlicher Mann, in deinen natürlichen Stand wieder zurückzukehren.«

Rosimond befolgte gern einen so weisen Rath. Er bat sich von dem Könige die Erlaubniß aus, eine Reise, zur Vermehrung seiner Kenntnisse, machen zu dürfen, und begab sich dann zu Schiffe. Die Winde führten ihn bald nach der Insel, wo der wahre Sohn des Königs sich aufhielt, und das Vieh hüten mußte.Rosimond machte sich unsichtbar, und nahm ihn aus der Weide von seiner Heerde [190] weg. Er bedeckte ihn mit seinem Mantel, der eben so unsichtbar war, als er selbst, und befreiete ihn so aus den Händen der grausamen Wilden. Sie stiegen zusammen in das Schiff; andere Winde, welche die Fee wehen ließ, brachten sie bald nach Hause zurück.

Nun begab sich Rosimond in seiner natürlichen Gestalt mit dem Prinzen in das Zimmer des Königs, und sagte; »Allergnädigster König und Herr, Ihr habt mich bisher für Euern Sohn gehalten; ich bin's aber nicht; dies hier ist Euer wahrer Sohn, den ich Euch jetzt wieder gebe.«

Der König, ganz erstaunt, wandte sich an seinen Sohn und sagte: »Wie, mein Sohn, bist du es denn nicht, der meine Feinde überwunden, und einen so rühmlichen Frieden geschlossen hat? Oder ist es wahr, daß Du Schiffbruch gelitten, und in Gefangenschaft gerathen bist, woraus Dich Rosimond befreit hat?«

»Ja, mein Vater,« erwiederte der Prinz; »ungünstige Winde verschlugen mich auf eine Insel, wo ich in die Gewalt der Wilden gerieth, und von ihnen gefangen und zu Hirtendiensten gebraucht wurde. DieserRosimond hat mich auf eine wunderbare Weise aus dieser entehrenden Gefangenschaft befreit, und ihm allein verdanke ich das Glück, Euch und mein liebes Vaterland wieder zu sehen; ihm, und nicht mir, habt Ihr den Sieg über Eure Feinde zu danken.«

Der König wußte nicht, was er hierzu sagen sollte, und es kam ihm Alles unglaublich vor. Da steckteRosimond seinen Ring auf den kleinen Finger, und zeigte sich in der Gestalt des wahren Prinzen. Nun sah der König zwei Menschen vor sich, die er gar nicht unterscheiden konnte: denn der eine war dem andern ganz ähnlich.

Jetzt war der König überzeugt, daß sich Alles so verhalte, wie er eben gehört hatte, und bot dem Rosimond für die ihm geleisteten großen Dienste eine unermeßliche [191] Summe Geldes an. Rosimond aber wollte sie nicht annehmen, und bat den König nur um die Gnade, seinem Bruder Bramint die Bedienung am Hofe zu lassen, die er ihm geschenkt hatte. Er selbst fürchtete sich vor der Unbeständigkeit des Glücks, vor dem Neide böser Menschen, und seiner eigenen Schwachheit. Darum zog er sich vom Hofe zurück, und begab sich wieder in sein kleines Dorf zu seiner Mutter, wo er sich in ruhiger Stille mit dem Landbau beschäftigte.

Auf dem Wege dorthin erschien ihm die Fee im Walde. Sie zeigte ihm die Höhle, worin sein Vater war, und sagte ihm zugleich auch die Worte, die er aussprechen müsse, um ihn in Freiheit zu setzen. Das war für Rosimond eine große Freude: denn er hatte schon längst gewünscht, seinen Vater aus dem finstern Loche zu erlösen, nur hatte es bisher die Fee nicht erlauben wollen. Er trat sogleich an die Höhle, setzte den Vater in Freiheit, und nahm ihn mit sich nach Hause. Hier pflegte er sein, und bereitete ihm ein ruhiges und frohes Alter.

So wurde Rosimond der Wohlthäter seiner ganzen Familie, und genoß das süße Vergnügen, allen denen Gutes zu thun, die ihm hatten Böses thun wollen.

Da er sich nun in seinem stillen Dorfe, bei seiner ländlichen Arbeit, recht glücklich fühlte, und dasselbe nie wieder verlassen wollte, so mochte er auch den Wunderring nicht länger behalten. Er ging daher oftmals in den Wald, wo ihm die Fee schon einige Male so gnädig erschienen war, in der Hoffnung, sie wieder dort anzutreffen. Als er eines Tages sich vor der Höhle niedergesetzt hatte, war er so glücklich, sie plötzlich vor sich stehen zu sehen. Er stand sogleich auf, und überreichte ihr den Ring, indem er sagte: »Hier gebe ich Euch mit vielem Danke den Ring zurück, dessen längerer Besitz mich nur beunruhigen würde: denn er könnte [192] mich leicht in Versuchung führen, meine Einsamkeit zu verlassen, und Dinge zu unternehmen, die mich nur unglücklich machten.«

Die Fee hörte Rosimond mit Wohlgefallen an, und sagte: »Nun gut, wenn du den Ring nicht behalten willst, so will ich ihn deinem Bruder Bramint geben; wir wollen sehen, was für einen Gebrauchder davon machen wird.«

Hierauf begab sie sich in den königlichen Palast, und erschien dem Bramint in der Gestalt einer alten häßlichen Frau, in zerlumpter Kleidung, und sagte: »Ich habe deinem Bruder den Ring, welchen ich ihm gegeben, und wodurch er sich so beliebt und berühmt gemacht hat, weggenommen, und übergebe ihn dir hiemit. Bedenke dich nun wohl, welchen Gebrauch du von demselben machen willst; dem Guten ist er nützlich, aber dem Bösen zum Verderben.«

Bramint hüpfte vor Freuden, und antwortete lachend: »Nur her damit, Mütterchen! ich werde wahrhaftig nicht so ein Narr seyn, wie mein Bruder, der den Prinzen zurückholte, da er hätte an seiner Stelle König werden, und dies große Reich beherrschen können.« – Die Fee sagte kein Wort, und verschwand.

Bramint war nun auf nichts bedacht, als sich durch seinen Zauberring immer mehr Reichthum und Macht zu verschaffen, und alle seine boshaften Begierden zu befriedigen. Er schlich sich ungesehen in die Häuser, verrieth seine vertrautesten Freunde, entwendete Gelder und die kostbarsten Sachen, und offenbarte selbst die wichtigsten Geheimnisse des Königs. Seine unsichtbaren Verbrechen setzten jedermann in Erstaunen.

Der König, welcher seine Unterthanen sehr liebte, und sogar sich selbst verrathen sah, wußte anfangs nicht, was er von allen diesen geheimen Uebeln und Schandthaten denken [193] sollte; aber die unverschämte Frechheit und der Uebermuth des Bramint, und seine täglich wachsenden Reichthümer brachten ihn endlich auf den Verdacht, daß er den wunderbaren Ring seines Bruders haben müßte.

Um dies zu erfahren, mußte sich ein unbekannter Mensch für den Abgesandten eines benachbarten feindlichen Königs ausgeben, und den Bramint heimlich ausforschen. Er ging zu diesem in der Nacht, und bot ihm im Namen des feindlichen Königs große Reichthümer und Ehrenstellen an, wenn er ihm die Geheimnisse des Königs verrathen, und ihm behülflich seyn wolle, daß man diesem Thron und Reich nehmen könne.

Bramint willigte in Alles, und prahlte, daß ihm nichts unmöglich sey. Als der Abgeordnete hierüber seine Verwunderung zu erkennen gab, war Bramint so unbesonnen, sich selbst zu verrathen, indem er erzählte, daß er einen Ring habe, durch den er sich unsichtbar machen könne. »Schön,« sagte der Abgeordnete, »da seyd Ihr der rechte Mann, den mein König gebrauchen kann; er wird Euch Eure Dienste glänzend belohnen.«

Der Abgesandte hinterbrachte nun dem König Alles, was er von Bramint erfahren hatte. Dieser aber wurde von der königlichen Wache sogleich er griffen, und in ein finsteres Gefängniß geworfen. Man fand bei ihm viele Schriften, die seine Verbrechen bewiesen, und auch den Ring, der ihn dazu verleitet hatte.

Rosimond, welcher dies sogleich erfuhr, begab sich an den Hof, um für seinen Bruder um Gnade zu bitten, aber er fand kein Gehör. Bramint wurde öffentlich hingerichtet, und so war der Ring ihm schädlicher, als er seinem Bruder nützlich gewesen war.

Der König gab dem Rosimond, um ihn wegen der Strafe seines Bruders zu trösten, den Ring zurück, als [194] den größten Schatz, den er ihm nur geben könnte. Der betrübte Rosimond dachte aber ganz anders von diesem Geschenk. Er eilte sogleich in den Wald, um die Fee aufzusuchen, und als sie zu ihm trat, übergab er ihr zum zweiten Male den Ring, indem er sagte: »Hier habt Ihr das unglückliche Geschenk zurück, das meinen Bruder in's Verderben gebracht hat. Wehe dem Menschen, der ihn erhält, und ihn nicht recht zu gebrauchen weiß. Das Einzige, warum ich Euch bitte, ist: Diesen Ring keinem von denen zu geben, die mir lieb sind.«

28. Der Widder.

Es lebte einmal ein König, der hatte drei Töchter, welche alle jung und schön waren, und vielen Verstand besaßen; aber die jüngste, welche Hulda hieß, war die liebenswürdigste, und das Goldtöchterchen des Vaters. Er schenkte ihr mehr Kleider und Bänder in einem Monate, als den beiden andern im ganzen Jahre; Hulda aber war so gutmüthig und wohlwollend, daß sie Alles mit ihren Schwestern theilte, und immer in der größten Eintracht mit ihnen lebte.

Nun war der König einmal gezwungen, gegen seine bösen Nachbaren, die in sein Land eingefallen waren, in den Krieg zu ziehen; die drei Prinzessinnen aber blieben zu Hause, und bekamen alle Tage die besten Nachrichten von ihrem Vater. Endlich war es dem Könige gelungen, den Feind zu überwinden, und aus seinem Reiche zu vertreiben. Er schloß einen vortheilhaften Frieden, und kehrte darauf [195] eilig in sein Schloß zurück, wo er mit großem Jubel empfangen wurde.

Die drei Prinzessinnen hatten sich zu seiner Rückkehr schöne Kleider machen lassen, um ihren Vater darin zu bewillkommen. Die älteste ein grünes, die mittelste ein blaues, die jüngste ein weißes. Die Farbe der Edelsteine, mit denen die Kleider besetzt waren, stimmte mit der Farbe der Kleider überein, und so geputzt gingen sie dem Könige entgegen.

Als dieser seiner drei Töchter so schön und vergnügt sah, ward er sehr erfreut, und herzte und küßte sie auf das Zärtlichste, am meisten aber Hulda, sein Goldtöchterchen.

Am andern Tage wurde ein herrliches Gastmahl angestellt, und viele vornehme Herren und Damen vom Hofe dazu eingeladen. Während sie nun Alle da saßen an der glänzenden Tafel, und der König seine Töchter in ihren schönen Kleidern erblickte, fragte er die älteste: »Sage mir doch, warum hast du denn gerade eingrünes Kleid zu meinem Empfange gewählt?«

»Da ich Eure Thaten erfuhr,« antwortete sie, »so glaubte ich, durch die grüne Farbe am besten meine Freude und Hoffnung, Euch bald wieder zu sehen, ausdrücken zu können.«

Der König war mit dieser Antwort zufrieden, und fragte nun seine zweite Tochter, warum sie gerade einblaues Kleid ausgewählt habe.

»Um anzudeuten,« entgegnete die Prinzessinn, »daß ich nie aufhöre, für Euer Bestes zu beten, und weil, wenn ich Euch sehe, ich den Himmel und seine goldenen Sterne zu sehen glaube.«

Diese Antwort gefiel ebenfalls dem König, und er fragte [196] nun auch Hulda, warum sie gerade einweißes Kleid ausgenommen habe.

»Weil ich glaube,« sagte sie, »daß mir die weiße Farbe am besten steht.«

»Wie?« rief der König etwas unwillig, »hattest du denn keine andere Absicht, als dich zu putzen?«

»Ich hatte die Absicht, Euch zu gefallen,« antwortete Hulda, »und mich dünkt, daß es mir nicht zukam, irgend eine andere zu haben.«

Mit dieser Antwort war der König zufrieden, und fuhr dann fort: »Nun sagt mir auch, was ihr die Nacht vor meiner Rückkehr geträumt habt?«

»Ich träumte,« antwortete die älteste, »Ihr brächtet mir ein Kleid mit, das von Gold und Edelsteinen, wie die Sonne, glänzte.« Die mittelste sagte: »Ich träumte, Ihr brächtet mir einen goldenen Rocken mit, um Euch Hemden zu spinnen;« und die jüngste, Hulda, sprach: »Mir hat geträumt, meine zweite Schwester mache Hochzeit, und da kämet Ihr mit einem goldenen Waschbecken mir entgegen, und sagtet: Komm,Hulda, ich will dir Waschwasser auf die Hände gießen.«

Bei diesen Worten Hulda's runzelte der König die Stirne, und ward sehr mißgestimmt. Schweigend stand er auf, und begab sich in sein Schlafgemach, und legte sich zu Bette. Aber er konnte nicht schlafen, denn der Traum seiner jüngsten Tochter lag ihm immer im Sinne. »Ja, ja,« sagte er, »sie möchte wohl gar am Ende ihren Bedienten aus mir machen! Ich wundere mich nun gar nicht, daß sie das weiße Kleid ausgewählt hat, ohne an mich zu denken. Sie denkt an niemand, als an sich. Aber ich will ihren boshaften Anschlägen zuvorkommen.«

Hierauf ließ er seinen Garde-Hauptmann zu sich kommen, und sagte zu ihm: »Ihr habt gestern den Traum gehört, [197] den meine Tochter Hulda erzählte. Er bedeutet mir etwas Außerordentliches, und ich befehle Euch, sie auf der Stelle in den Wald zu führen, und dort um's Leben zu bringen. Zum Beweise aber, daß Ihr meinen Befehl befolgt habt, bringt mir ihre Zunge und ihr Herz; und wenn Ihr mich betrügt, so wartet die schrecklichste Strafe auf Euch.«

Der Hauptmann war erschrocken, als er diesen Befehl vernahm; aber er wagte nicht zu widersprechen, sondern antwortete, daß er die Prinzessinn sogleich wegführen, sie erwürgen, und ihm dann ihr Herz und ihre Zunge bringen wolle.

Er begab sich sogleich in das Zimmer der Prinzessinn, und meldete ihr, daß der König sie zu sprechen verlange. Da erhob sich Hulda eiligst aus ihrem Bette, denn der Tag war noch nicht angebrochen, und folgte dem Hauptmann in den Garten. Da sie aber den König im Garten nicht fanden, und der Hauptmann vorgab, er möchte vielleicht in den Wald hinaus spaziert seyn, so gingen sie auch in den Wald hinein, immer vorwärts. Endlich, nachdem sie schon über eine Stunde gegangen waren, und der Tag heraufdämmerte, blieb der Hauptmann stehen, und sagte zu der Prinzessinn: »Gnädigste Prinzessinn, mir ist von dem Könige, Euerm Vater, ein schrecklicher Befehl zugekommen, der Befehl nämlich, Euch zu erwürgen, und ihm Euer Herz und Eure Zunge zu bringen. Mein Tod ist gewiß, wenn ich ihm ungehorsam bin.«

Die arme Prinzessinn war vor Schreck ganz außer sich; sie erblaßte, und Thränen rollten über ihre Wangen. »Ach,« sagte sie zu dem Hauptmanne, und sah ihn mit Augen an, die einen Felsen hätten rühren können; »ach! solltet Ihr wohl den Muth haben, mich zu tödten, da ich Euch niemals das mindeste zu Leide gethan habe? Und womit habe ich denn den Haß meines Vaters verschuldet, daß [198] er mich will umbringen lassen? Bin ich ihm nicht immer gehorsam gewesen, und ihm mit Liebe und Ehrfurcht entgegen gekommen?«

»Ich kenne Euch nicht anders,« erwiederte der Hauptmann, »als eine gute, folgsame und liebevolle Tochter, und wenn es auf mich ankäme, so sollte Euch nichts Leides geschehen; aber dem Befehl Eures Vaters darf ich nicht entgegen handeln – Ihr müßt sterben!« Bei diesen Worten sank die Prinzessinn ohnmächtig zur Erde. Der Hauptmann aber, der lieber sein eigenes Leben verlieren wollte, als einen so grausamen Befehl auszuführen, entfernte sich in der größten Eile, und überbrachte dem Könige die Zunge und das Herz eines geschlachteten Thieres, ohne daß dieser den Betrug gemerkt hätte.

Als die Prinzessinn aus ihrer Ohnmacht erwachte, sah sie sich ganz allein im Walde, und beschloß sogleich, sich so weit wie möglich von dem Schlosse ihres Vaters zu entfernen, und sich seinen Nachforschungen zu entziehen.

Sie eilte mit starken Schritten durch den Wald; aber der Wald war groß, die Sonne glühte, und Furcht und Müdigkeit hatten sie so ergriffen, daß sie nicht weiter konnte. Sie sah sich allenthalben um, aber nirgends entdeckte sie einen Ausgang; der Wald ward immer dichter, und die Angst der Prinzessinn stieg immer höher.

Endlich hörte sie das Blöken eines Schaafes. »Dem Himmel sey gedankt,« sagte sie, »ganz gewiß weidet ein Schäfer in der Nähe, der mir den Weg nach dem nächsten Dorfe zeigen kann.«

In dieser frohen Hoffnung nahm sie alle ihre Kräfte zusammen, und kam auch bald an die Stelle, wo sie das Schaaf hatte blöken hören. Aber wie groß war ihr Erstaunen, als sie sich mit einem Male auf einer geräumigen Wiese fand, welche rund herum mit Bäumen umgeben war, [199] und als ihr sogleich ein großer Widder in die Augen fiel, dessen Hörner vergoldet und mit Kränzen behangen waren. Um seinen Hals war eine Kette von Diamanten und Perlen geschlungen; Orangenblüthen waren sein Lager, und über ihm war ein seidenes Zeltdach ausgespannt, das ihn gegen die Strahlen der Sonne schützte. Hundert geputzte Widder und Schaafe standen rings um ihn, welche zum Theil goldene Halsbänder trugen, und mit wunderschönen Blumen reich geschmückt waren.

Die Prinzessinn blieb bei diesem Anblicke wie versteinert stehen. Sie suchte mit ihren Augen den Schäfer dieser außerordentlichen Heerde, als der schöne Widder hüpfend auf sie zukam, und zu ihr sagte: »Nähere Dich, holde Prinzessinn, und fürchte dich nicht vor uns friedfertigen Geschöpfen.«

Hulda wußte nicht, wie ihr geschah, als sie den Widder, gleich einem Menschen, sprechen hörte. Indessen merkte sie bald, daß es kein gewöhnlicher Widder seyn könne, sondern daß er verzaubert seyn müsse. Sie faßte also Muth, und als der Widder sie fragte, woher sie käme, und was sie suche, antwortete sie ganz dreist: »Mein Vater hat mich verstoßen, und ich suche eine Freistatt vor seinem Zorne.«

»So komm denn mit mir,« sagte darauf der Widder; »ich biete Dir eine Freistatt an, wo Dich niemand entdecken wird, und wo Du ganz ungestört leben kannst.«

»Ach! ich kann Dir nicht folgen,« antwortete die Prinzessinn, »ich bin so müde, daß meine Füße mir ihren Dienst versagen.«

Der Widder mit den goldenen Hörnern befahl nun, einen Wagen zu holen. Sogleich erschienen sechs Ziegen, die an einen hohlen Kürbis von ungeheurer Größe angespannt waren. Die Prinzessinn setzte sich hinein, und der Widder neben sie, worauf die Ziegen nach einer Höhle zuflogen, [200] deren Eingang mit einem großen Steine verschlossen war.

Der Widder berührte diesen Stein, und die Thür öffnete sich. Er bat die Prinzessinn, hineinzugehen, und diese that es sogleich: denn sie hätte sich wohl, aus Furcht vor den Verfolgungen ihres Vaters, in einen Brunnen gestürzt.

Der Widder führte sie immer tiefer und tiefer hinein, bis auf ein Mal eine weite Ebene, mit den mannigfaltigsten Blumen geschmückt, sich vor ihnen ausbreitete. Sie war von einem breiten Strome von Orangenwasser umgeben, und auf allen Seiten sprangen Quellen von den köstlichsten Weinen hervor, und bildeten Cascaden und liebliche Bäche. Bäume von der sonderbarsten Art bedeckten die Ebene, und trugen die köstlichsten Früchte, an einigen Stellen sogar Zuckerwerk und andere Leckereien.

Es war gerade in der schönsten Jahreszeit, als Prinzessinn Hulda in diese reizende Gegend kam. Sie ward keinen Palast gewahr; aber lange Reihen von Orangebäumen, Jasmin und Rosenhecken bildeten eine Menge Säle und Zimmer, in welchen die prachtvollsten Ruhebetten, Tische, Stühle und andere Geräthschaften standen.

Als Prinzessinn Hulda dies Alles bewundert hatte, sagte der Widder zu ihr: »Dieser Ort gewährt Dir, holde Prinzessinn, alle Sicherheit vor den Verfolgungen Deines Vaters; hier wird Dich niemand aufsuchen und finden; verlaß daher diese Gegend nicht; mit Vergnügen biete ich sie Dir zum Aufenthalt an, und Alles, was Du wünschest, soll Dir gewährt seyn.«

Die Prinzessinn entschloß sich, aus Furcht vor ihrem Vater, zu bleiben, worüber der Widder eine große Freude hatte, und ihr versprach, ihr das Leben so angenehm als möglich zu machen. Er erzählte ihr darauf, daß er ein königlicher Prinz sey, den aber eine böse Fee schon von seiner [201] Kindheit an verfolgt, und ihn, als er sich einst auf der Jagd in diese Gegend verirrt, in einen Widder auf mehrere Jahre verwandelt habe.

Hulda hörte dies mit Verwunderung an, und empfand Mitleiden mit dem unglücklichen Prinzen. Sie faßte Zutrauen zu ihm, und gewöhnte sich immer mehr an seinen Umgang. Hätte sie nur zuweilen ihren Vater und ihre lieben Geschwister sehen können, dann würde sie ganz zufrieden gewesen seyn.

Nun begab es sich eines Tages, daß die Boten, welche der königliche Widder von Zeit zu Zeit auszusenden pflegte, um Neuigkeiten zu erfahren, die Nach richt mitbrachten, daß die älteste Schwester der Prinzessinn Hulda im Begriff wäre, sich zu verheirathen, und daß man die größten Anstalten zu ihrer Hochzeit mache.

Bei dieser Nachricht wurde die Prinzessinn sehr niedergeschlagen und traurig, weil ihr das Vergnügen versagt war, ihre Schwester, die sie so sehr liebte, an jenem festlichen Tage sehen zu können.

Kaum aber hatte der Widder ihren Kummer bemerkt, und erfahren, warum sie so betrübt sey, als er sie recht freundlich anredete, und also sprach: »Noch nie habe ich Dir einen Wunsch versagt, und Alles gern gethan, was Dir Vergnügen machen kann. Ist es also Dein Wunsch, auf der Hochzeit Deiner Schwester zu seyn, so reise dahin, wenn Du willst, nur versprich mir, daß Du auch wieder zu mir kommen willst, denn sonst würde ich vor allzu großer Sehnsucht sterben.«

Hulda war über dies Anerbieten gerührt, und versprach, daß sie gewiß wiederkommen wolle. Darauf gab ihr der Widder eine prächtige Kutsche, mit schönen Pferden und vielen Bedienten, und so gelangte sie bald in den Palast [202] ihres Vaters, wo man eben mit der Feier der Hochzeit beschäftigt war.

Als sie in den Saal trat, wo die Hochzeitgäste versammelt waren, richteten Alle ihre Augen auf sie: denn sie war sehr schön, und ihre Kleider glänzten von Gold und Silber und den köstlichsten Diamanten. Ganz besonders betrachtete sie der König, und sie befürchtete schon, von ihm erkannt zu werden; aber er war von ihrem Tode so fest überzeugt, daß es ihm gar nicht einfiel, daß seine Tochter Hulda es seyn könnte.

Um sich indessen nicht allzu lange aufzuhalten, und dann vielleicht doch wohl erkannt zu werden, eilte sie bei Zeiten unbemerkt hinweg, und ließ ein Kästchen von Korallen und Smaragden zurück, auf welchem mit Diamanten geschrieben stand: »Schmuck für die Braut.« Man öffnete es sogleich, und fand es mit allen nur möglichen Kostbarkeiten angefüllt. Nun war man noch neugieriger geworden, zu wissen, wer die Fremde gewesen seyn möchte, und der König befahl, wenn sie wieder käme, alle Thüren zu verschließen, und sie da zu behalten.

So kurz auch Hulda's Abwesenheit gedauert hatte, so kam sie doch dem Widder und seiner zärtlichen Ungeduld sehr lange vor. Er erwartete sie schon am Ufer einer Quelle im Dickicht des Waldes, und kaum erblickte er sie, als er ihr mit sichtbarer Freude entgegen lief, und ihr seine Unruhe und Ungeduld erzählte. Sie war ebenfalls sehr freundlich gegen ihn, und dankte ihm für das Vergnügen, welches sie durch seine Güte genossen habe.

Einige Zeit darauf verheirathete der König seine zweite Tochter. Schwester Hulda erfuhr es, und bat den Widder um die Erlaubniß, auch diesem Feste beiwohnen zu dürfen. Diese Bitte machte ihn sehr niedergeschlagen, doch war er zu gefällig gegen die Prinzessinn, als daß er sie ihr hätte [203] versagen sollen. Nur machte er ihr zur Bedingung, daß sie ihn nicht vergessen, sondern in Kurzem zu ihm zurückkehren möchte, weil er ohne sie nicht mehr leben könnte.

Das versprach sie auch, und fuhr darauf, prächtig geschmückt, in einer glänzenden Kutsche, und von einer zahlreichen Dienerschaft begleitet, nach dem königlichen Schlosse. Die ganze Versammlung erhob bei ihrem Anblick ein großes Freudengeschrei, und alle drängten sich zu ihr, um sie in der Nähe zu sehen und zu bewundern.

Niemand aber war vergnügter, als der König. Er wandte kein Auge von ihr, und befahl sogleich, alle Thüren fest zuzuschließen, damit sie nicht wieder entkommen könnte. Als die Trauhandlung zu Ende war, und die Lustbarkeiten beginnen sollten, stand die Prinzessinn eilig auf, um sich unter der Menge zu verlieren, und dann sich heimlich zu entfernen; aber wie bestürzt war sie, als sie alle Thüren verschlossen fand!

Der König näherte sich ihr mit der größten Freundlichkeit, und bat sie sehr ehrerbietig und herablassend, ihm das Vergnügen, sie zu sehen, nicht so schnell zu entziehen, sondern das Fest, welches er den Prinzen und Prinzessinnen gebe, durch ihre Gegenwart zu verschönern. Hierauf führte er sie in einen prächtigen Saal, wo der ganze Hof versammelt war, nahm ein goldenes Waschbecken, und ein Gefäß mit Wasser, und reichte es ihr dar, um sich die Hände zu waschen. In diesem Augenblick war sie ihrer Empfindungen nicht mehr mächtig; sie warf sich zu des Königs Füßen, umfaßte seine Knie, und sagte: »Mein Traum ist erfüllt, Ihr habt mir an dem Hochzeittage meiner Schwester Waschwasser angeboten, ohne daß Euch ein Unglück widerfahren wäre.«

Ohne Mühe erkannte jetzt der König seine TochterHulda, deren Züge ihm noch lebhaft vor Augen schwebten. [204] »Ach, meine geliebte Tochter!« rief er aus, indem er sie umarmte, und ihr Gesicht mit seinen Thränen benetzte; »kannst Du meine Grausamkeit vergessen? Ich wollte Deinen Tod, weil ich mir einbildete, Dein Traum bedeute mir den Verlust meiner Krone. Und das soll er auch bedeutet haben. Deine beiden Schwestern sind verheirathet; jede trägt eine Krone, die meinige soll für Dich seyn!« Mit diesen Worten nahm er sie von seinem Haupte, und setzte sie seiner Tochter auf. »Es lebe die Königinn Hulda!« rief er aus, und der ganze Hof stimmte mit ein. Ihre Schwestern eilten herbei, und umarmten sie. Alles war voll Freude und Jubel. Nur Prinzessinn Hulda war, mitten im Genusse ihres Glücks, nicht ganz heiter: denn sie dachte an den Hauptmann, dem sie ihr Leben zu danken hatte, erfuhr aber auf ihr Befragen nach ihm, daß er schon todt sey.

Als man sich zu Tische setzen wollte, gab die Prinzessinn zu verstehen, daß sie nicht länger verweilen dürfe, indem sie um den König Widder in Sorge war, der sich wegen ihres Ausbleibens beunruhigen möchte. Man bat sie aber so herzlich und dringend, daß sie dem allgemeinen Wunsche nachgab, und sich mit der Gesellschaft an der Tafel niederließ.

Nun begehrte der König zu erfahren, was für Abentheuer seiner geliebten Tochter seit dem Tage begegnet wären, an welchem er den grausamen Befehl, sie zu tödten, gegeben hatte. Er gab Hulda seinen Wunsch zu erkennen, und diese erzählte sogleich Alles, was sich mit ihr zugetragen hatte, worüber der König und sämmtliche anwesende Gäste in große Verwunderung geriethen.

Als sie eben von dem Widder erzählte, der sie so bereitwillig und zuvorkommend aufgenommen, und dabei seine Güte und Treue rühmte, und die Zärtlichkeit, mit welcher [205] er ihr zugethan sey, da trat auf ein Mal ein schöner, stattlicher Prinz in den glänzenden Saal, verneigte sich ehrerbietig, und sprach zum Könige: »Verzeihet die Dreistigkeit, mit welcher ich hier eingetreten bin; ich liebe Eure schöne Tochter, die Prinzessinn Hulda, und komme, um ihre Hand zu werben.« Darauf ging er zur Prinzessinn, und sagte: »Reizende Prinzessinn, nicht mehr in der Gestalt eines Widders, sondern in meiner wahren Gestalt stehe ich jetzt vor Euch. Der Zauber, welcher mich gebunden hielt, ist gelöst in demselben Augenblick, wo ich aus Schmerz über Euer Ausbleiben mein Leben aufzugeben dachte. Jetzt hegt mein Herz keinen heißeren Wunsch, als daß Ihr mir Eure Hand reichen, und mir in mein Königreich folgen möget.«

Die Prinzessinn trug kein Bedenken, seinem Wunsche Gehör zu geben, und auch ihr Vater nahm ihn sogleich zu seinem Schwiegersohn. Die Freuden des Festes wurden durch dieses frohe Ereigniß um vieles erhöht. In einigen Tagen wurde die Hochzeit gefeiert, und der junge König reiste darauf mit seiner schönen Gemahlinn in sein Königreich zurück, wo sie beide lange und glücklich lebten.

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Notes
Erstdruck: Berlin (Hasselberg) 1829
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TextGrid Repository (2012). Lehnert, Johann Heinrich. Mährchenkranz für Kinder. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DCAC-8