Adolph L’Arronge
Mein Leopold
Volksstück in 3 Akten

Personen

[3] Personen.

    • Zernickow, Amtsrichter.

    • Natalie, dessen Frau.

    • Marie,
    • Anna,
    • Emma, deren Töchter.

    • Gottlieb Weigelt, Schuhmacher-Meister.

    • Clara,
    • Leopold, Referendar, seine Kinder.

    • Minna, Dienstmädchen in Weigelt's Hause.

    • Rudolf Starke, Werkführer bei Weigelt.

    • Mehlmeyer, Klavier-Lehrer.

    • Hempel,
    • Stresow,
    • Lipsky, Gesellen.

    • Wilhelm, Lehrjunge.

    • Krümel, Unteroffizier.

    • Schwalbach, Kaufmann.

    • Mielisch.

    • Schmidt.

    • Gottlieb,
    • Carl, Knaben.

    • Eine Wäscherin.

    • Hausbewohner. Schuhmachergesellen. Gäste. Kellner. Lieferanten.

1. Akt

1. Szene
1. Szene.
Zernickow. Natalie. Marie. Anna. Emma.
Alle sitzen um den Tisch und trinken Kaffee.

ZERNICKOW.

Das muß wahr sein, so reich, wie heute, bin ich noch nie beschenkt worden. Gewiß habt Ihr wieder bis in die Nächte hinein gearbeitet, Euch die Finger wund gestochen?

ANNA.
Mach' dir darum keine Sorge, Vater.
MARIE.
Du weißt ja, wie glücklich es uns macht, dir eine kleine Freude bereiten zu können.
ZERNICKOW.

Ja, das weiß ich, und wenn mich etwas inmitten meiner Zufriedenheit bekümmert, so ist es der Gedanke, daß ich es nicht einmal dahin bringen kann, so viel zu verdienen, daß Ihr, meine guten Kinder, nicht nötig hättet, für fremde Leute zu arbeiten. Mein Gehalt reicht leider kaum für das Notwendigste.

NATALIE.

Du hast gar nicht nötig, dich zu beklagen, Alter. Wir sind Gottlob alle gesund, wir haben satt zu essen.

MARIE.
Dann mußt du ja auch bald Rat werden.
ZERNICKOW.
Na, damit hat's gute Wege; es sind Aeltere, auch wohl Verdienstvollere da.
ANNA.
Du bist zu bescheiden, Vater.
[5]
NATALIE.

Die Mädchen haben ganz recht, du setzest dich immer hintenan, du denkst nie an dich. Wir haben erst gestern darüber gesprochen – dein schwarzer Rock ist nun schon vier Jahre alt, er ist ganz aus der Mode gekommen.

ZERNICKOW.
Aber er ist noch heil.
NATALIE.
Ganz egal, du mußt dir einen neuen Rock machen lassen.
ZERNICKOW.
Es geht nicht, Mutter, so viel ist nicht übrig.
EMMA.

Es ist unerhört, daß der Staat seinen intelligentesten Beamten nicht einmal so stellt, daß er moderne Röcke tragen kann.

ZERNICKOW.

Das verstehst du nicht, Hanswurst. Der Staat braucht Beamte, aber der Beamte braucht keinen Staat. Wenn Ihr die Mode mitmacht und Euch putzt, so hat das gewissermaßen seine Berechtigung – Ihr seid junge Mädchen, wollt heiraten, müßt also Eure Netze ausstellen.

EMMA
mit komischer Empfindlichkeit.

Netze ausstellen? Oho, Herr Amtsrichter, das haben so liebreizende junge Damen, wie wir, gar nicht nötig.

ZERNICKOW
lächelnd.
Na, na?
EMMA.
Wenn wir wollten, könnten wir alle Tage heiraten.
ZERNICKOW.
Ich wäre begierig zu wissen, wen?
EMMA.
Wen? Na, da ist erstens der Sohn unseres Hauswirts, ein sehr hübscher junger Mann.
NATALIE.
Ach, Emma, schwatze doch keinen Unsinn.
MARIE.
Ich dächte auch –
ZERNICKOW.
Bildest du dir wirklich ein, daß der sich um Euch bekümmert?
EMMA.

Von Einbildung kann hier gar nicht die Rede sein, ich weiß es genau, daß Herr Weigelt junior schon seit mehreren Wochen jedesmal, wenn er ausgeht und wieder nach Hause kommt, seine Blicke mit lebhaftem Interesse auf dieses Fenster richtet. Wen sein Auge hinter der Gardine sucht, weiß ich nicht, aber doch jedenfalls Eine von uns Dreien.

ANNA
achselzuckend.
Ich kenne den Herrn gar nicht.
NATALIE.

Und ich sage dir, wenn er sich wirklich um Eine von Euch bewerben sollte – woran er gewiß gar nicht denkt – ich würde mich doch sehr besinnen, ehe ich »Ja« sagte.

EMMA.
Und warum?
[6]
NATALIE.
Der Herr Referendarius Weigelt erfreut sich gar keines guten Rufes.
MARIE.

Ich glaube, liebe Mutter, du bist mit deinem Urteil doch wohl etwas zu vorschnell. So viel ich weiß, oder vielmehr gehört habe, trifft die Schuld für den etwas zweifelhaften Ruf des Sohnes mehr den Vater. Er hängt mit einer wahren Affenliebe an ihm, hat ihn verhätschelt und verzogen und von Jugend auf jeden seiner Wünsche, fast noch ehe er ausgesprochen war, erfüllt. Die überschwängliche Empfehlung des Vaters erweckt gegen den Sohn eine Antipathie, welche – so glaube ich wenigstens – durchaus nicht gerechtfertigt ist.

EMMA.

Na, da habt Ihr's ja! Marie wirft sich zu seinem Verteidiger auf – das ist die Harmonie verwandter Seelen – sie ist es, der seine Fensterpromenaden gelten.

MARIE
aufstehend.
Ich finde deine Späße sehr unpassend, liebe Emma.
EMMA
steht ebenfalls aus und umarmt Marie – gutmütig.
Du bist mir doch nicht etwa böse?
MARIE
leise, sehr erregt.
Ich bitte dich, höre auf, du marterst mich.
EMMA
erstaunt.
Wie?!
ZERNICKOW.
Nun, Marie, was ist das? Bist du schon fertig mit dem Frühstück?
MARIE.
Ja, ich habe heute die Küche und muß dafür sorgen, daß der Geburtstagsbraten auf's Feuer kommt.

Rasch ab durch die Mitte.
2. Szene
2. Szene.
Vorige, ohne Marie.

ZERNICKOW.
Na, Hanswurst, ist dein Appetit auch schon gestillt?
EMMA.

Durchaus nicht, Väterchen, ich werde jetzt erst anfangen dem Napfkuchen Ehre anzutun. Setzt sich wieder an den Tisch.

ANNA
zu Emma.
Du, was hatte denn Marie? War sie wirklich böse?
EMMA.

Bewahre! Aber Ihr wißt ja, wie sie ist. Von dem Kuchen essend. Ihr gutes Herz kann es nicht zugeben, daß man über irgend jemand etwas Schlechtes sagt.

[7]
NATALIE.
Das ist eine sehr lobenswerte Eigenschaft, viel hübscher, als wenn man sich über jemand moquiert.
EMMA.

Das soll gestichelt sein, ich weiß schon, aber es stimmt nicht. Da ist zum Beispiel unser Chambreganist, der Herr Mehlmeyer, über den Ihr Euch immer lustig macht.

ZERNICKOW.
Der närrische Kauz mit den langen Haaren?
ANNA.
Der überall, wo er geht und steht, Klavier spielt –
NATALIE.
Von dem man keine andere Antwort kriegt, als Triller und Passagen –
EMMA
welche unruhig auf ihrem Stuhle hin- und herrückt.

Seht Ihr, seht Ihr! Da seid Ihr schon im besten Zuge. Und ich – was tue ich? Ich stimme nicht mit ein in Eure moquanten Bemerkungen, im Gegenteil, ich sage: Herr Mehlmeyer ist ein sehr interessanter Mann, ein genialer Künstler. Außerdem hat er Aussichten, sehr gute Aussichten: eine reiche Tante in Bremen, einen reichen Onkel in Hamburg und einen reichen Bruder auf den Südseeinseln. Wenn Einer stirbt, erbt er was.

NATALIE.
Emmchen, sprich nicht so laut; wenn er dich hörte, könnte er am Ende glauben, daß –
EMMA.
Was? Daß ich nicht »Nein« sagen würde, wenn er mich fragte, ob ich ihn heiraten will?
NATALIE
vorwurfsvoll.
Aber Emma!
EMMA
näher an den Tisch rückend, geheimnisvoll.

Kinderchen, Scherz bei Seite, ich habe Ahnungen – paßt auf, es ereignet sich was. Neulich, als wir zusammen vierhändig spielten, machte er allerlei verfängliche Anspielungen. Wenn meine rechte Hand im Diskant zu tun hatte, suchte seine linke Hand immer den Baß, und wenn ich mit dem einen Fuß den Pianodämpfer drückte, drückte er mit dem andern Fuß immer den Fortezug. Ihr sollt sehen, er macht mir nächstens einen Antrag.

NATALIE.
Ach, du bist närrisch.
ANNA.
Ich finde das nicht sehr anständig.
EMMA
piquiert.
Was?
ANNA.
Daß Ihr nicht nur vierhändig, sondern auch vierfüßig spielt.
EMMA
aufspringend.
Hör' mal, das muß ich mir verbitten.
ZERNICKOW.
Na, na, wollt Ihr Euch auch zanken?
[8]
NATALIE.

Es wäre besser, Ihr wähltet Euch anderen Unterhaltungsstoff, als junge Männer, die Euch eigentlich gar nichts angehen. Da Ihr aber den Herrn Mehlmeyer aufs Tapet gebracht habt, so wollen wir auch nicht vergessen, daß heute der Erste ist und ihn durch eine kleine Nota daran erinnern.

ZERNICKOW.
Nicht doch, Natalie, das könnte er übelnehmen.
NATALIE.

Alterchen, das ist mein Ressort, das verstehst du nicht. Wenn ich den jungen Herrn nicht allmonatlich daran erinnerte, daß er seine Miete zu bezahlen bar, würde ich manchmal mit dem Hausstandsgeld zu kurz kommen. Zu Anna. Hat die Aufwärterin schon sein Frühstück geholt?

ANNA.
Nein.
NATALIE.

Dann will ich ihm gleich die Rechnung mitschicken. Anna, hole mir doch von der Kommode drinnen mein Notizbuch, in dem die kleinen Auslagen stehen.

ANNA
aufstehend.
Ja.
NATALIE.
Bringe auch Papier und das Schreibzeug mit.
ANNA
ab nach rechts.
ZERNICKOW
sieht nach der Uhr.

Der Tausend! Es ist ja schon beinahe halb neun Uhr; ich werde mich ankleiden und aufs Gericht gehen. Steht auf.

NATALIE.
Wann kommst du zum Essen?
ZERNICKOW.

Na, ich denke bis zwei Uhr zu Hause zu sein. Ich werde mich bemühen, die Parteien möglichst schnell abzufertigen. Im Vorbeigehen Emma auf die Schulter klopfend. Na, Hanswurst, woran denkst du?

EMMA
aus ihren Gedanken auffahrend.
Ich? An gar nichts. Ich werde in die Küche gehen und Marie beim Kochen helfen.

Anna kommt zurück; sie bringt Papier, Schreibzeug und das Notizbuch mit und stellt alles vor Natalie auf den Tisch.
ZERNICKOW.

Du auch? Sapperlot! Da darf ich mich wohl auf lukullische Genüsse vorbereiten? Ich bin sehr neugierig. Ab nach rechts.


Emma und Anna räumen das Kaffeegeschirr zusammen und gehen damit durch die Mitte ab.
EMMA
währenddessen bei Seite.
Ich muß jedenfalls erfahren, was das mit Marie und dem jungen Weigelt für eine Bewandtnis hat. Ab.
3. Szene
[9] 3. Szene.
Natalie. Dann Mehlmeyer.

NATALIE
schreibend.

Miete für einen Monat: 24 Mark – Frühstück: 6 Mark. Nun die Auslagen.Schlägt das Notizbuch auf. Es klopft an der Türe links. Klopfte da nicht jemand? Es klopft wieder. Das ist an Herrn Mehlmeyer's Tür. Herein!


Mehlmeyer tritt von links ein. Er trägt ein Nachthemd ohne Kragen und Manschetten, er hat den Rock bis an den Hals zugeknöpft und sucht zu verbergen, daß er noch nicht Toilette gemacht hat. Mehlmeyer hat ein dünnes Schnurrbärtchen und lange blonde Haare, die ihm öfters über die Stirn ins Gesicht fallen; er wirft die Haare dann mit einer raschen Kopfbewegung zurück. Fast unaufhörlich trällert er Melodien und Passagen vor sich hin, auch bewegen sich seine Finger dabei, als ob er Klavier spielte. Wenn er in der Nähe eines Möbelstückes steht, so trommelt er, leise summend, auf demselben herum; auch selbst Personen, mit denen er im Gespräch ist, berührt er, in Gedanken immer Klavier spielend, mit den Fingern. Doch wird der Darsteller des Mehlmeyer zu bedenken haben, daß er darin nicht zu weit geht und durch
Uebertreibung nicht etwa die komische Wirkung abschwächt.
MEHLMEYER
sich höflich verbeugend.
Ich wünsche guten Morgen, Frau Amtsrichter. Wirft die Haare zurück.
NATALIE.
Guten Morgen, Herr Mehlmeyer. Sie sind ja heute früh bei Wege?
MEHLMEYER.

Früh? Allerdings – ja, wenn man bedenkt, daß ich diese Nacht – Dudilie! Markiert in der Luft mit beiden Händen eine Passage.

NATALIE.
Wie?
MEHLMEYER.

Wir hatten gestern Abend nach dem Konzert noch eine gehörige Kneip – ein Festessen hatten wir – ja. Da haben wir fest gegessen und gesessen.

NATALIE
lächelnd.
Wahrscheinlich auch getrunken.
MEHLMEYER
vergnügt.
Richtig, getrunken und gejeu – geschehen ist nichts weiter, nein. Didideldeldum!
NATALIE.
Was verschafft mir denn die Ehre Ihres frühen Besuches? Wollen Sie nicht Platz nehmen?
MEHLMEYER.
Ich bin so frei. Setzt sich an den Tisch. Ah, Kuchen, Blumen –
NATALIE.
Es ist heute der Geburtstag meines Mannes – Betonend. der erste Juni.
MEHLMEYER.
Der Geburtstag des Herrn Amtsrichters? Ich gratuliere von Herzen.
NATALIE.
Mein Mann ist am ersten Juni geboren.
[10]
MEHLMEYER.

Am ersten Juni – so? Ich bin am zwanzigsten Oktober geboren. Wie gesagt, ich gratuliere. Dudideldum. Führt eine Passage auf dem Tisch aus und wirft dabei eine der Blumenvasen auf die Erde.

NATALIE
erschrocken.
Ach!
MEHLMEYER
aufstehend und die Vase wieder aufnehmend.

Entschuldigen Sie, ich dachte gerade an die neue Sonate von Brahms. Ich sage Ihnen, da sind ein paar verflixte Oktavensprünge drin. Sehen Sie, ich kann doch wahrhaftig was greifen – Hält ihr seine ausgespannte rechte Hand vors Gesicht. aber –

NATALIE
abwehrend.
Bitte, das interessiert mich gar nicht.
MEHLMEYER.
So?
NATALIE.
Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mich auf einen Augenblick ungestört ließen.
MEHLMEYER
zurücktretend.
Mit Vergnügen.
NATALIE.
Ich bin eben dabei, Ihre kleine Monatsrechnung zusammenzustellen.
MEHLMEYER.

Ah, sehr angenehm. Bei Seite. Das könnte mir gerade noch fehlen. Eine scheußliche Situation! Drinnen sitzt meine Wäscherin und will die Oberhemden nicht eher hergeben, als bis ich neun Mark berappt habe. Wo soll ich heute neun Mark herkriegen – nach solch' pechöser Nacht! Der Bube hat nicht ein einziges Mal eingeschlagen. Aber meine Wäsche muß ich haben – ich kann doch nicht im Nachthemd ausgehen und Stunden geben. Ob ich mich der Alten anvertraue? Die Leute scheinen ganz gut situiert zu sein. Ich möchte es versuchen. Lalalabumbum!

NATALIE
welche bisher an den Fingern gerechnet und dann geschrieben hat, steht auf.
So, hier ist die kleine Nota. Ich wollte sie Ihnen eigentlich mit dem Frühstück hineinschicken –
MEHLMEYER
sich verbeugend, wobei ihm das Haar ins Gesicht fällt.
O, Sie sind zu aufmerksam.
NATALIE.

Nun können Sie sie ja gleich in Empfang nehmen. Miete, Kaffee, kleine Auslagen – zusammen sieben und dreißig Mark vierzig Pfennige.

MEHLMEYER
die Rechnung einsteckend.
Sehr schön, ich danke.
NATALIE
betonend.
Sieben und dreißig Mark vierzig Pfennige!
MEHLMEYER.
Jawohl, sieben und dreißig Mark vierzig Pfennige. Noch neun Mark dazu, das wäre dann zusammen –
[11]
NATALIE.
Wie?
MEHLMEYER.
Ach so! Tief Atem holend. Gnädige Frau – Rasch. kennen Sie die neue Sinfonie von Mahler?
NATALIE
verwundert den Kopf schüttelnd.
Nein.
MEHLMEYER.

Nein? – schade! Aber Ihr Fräulein Tochter, Fräulein Emma – ja, die kennt sie. Wir haben sie neulich vierhändig gespielt. Dideldidum! O, Fräulein Emma ist sehr musikalisch.

NATALIE
bei Seite.
Wie kommt er denn auf Emma?Laut. Nun, ich denke, Sie wollten mich um etwas bitten?
MEHLMEYER.

Ganz recht – ja. Wenn ich nämlich vorhin sagte: Neun Mark dazu, so meinte ich – sehen Sie, gnädige Frau, es ist scheußliches Pech, daß der Bube nicht ein einziges mal – Nein, ich wollte sagen, nur eine momentane Verlegenheit; denn am Ende – ich habe eine reiche Tante in Bremen, einen reichen Onkel in Hamburg und einen reichen Bruder auf den Südseeinseln. Wenn Einer stirbt, erbe ich was. Jawohl. Ist näher getreten und berührt unwillkürlich mit den Fingern Natalien's Schulter. Diese sieht ihn erstaunt an, und er weicht zurück. Entschuldigen Sie.

NATALIE
bei Seite.
Der Mensch kommt mir heute ganz sonderbar vor. Sollte die Emma vielleicht doch Recht haben?
MEHLMEYER
bei Seite.
Ich verheddere mich immer mehr und komme nicht zum Ziel. Laut. Gerade heraus, Frau Amtsrichter –
NATALIE.
Nun?
MEHLMEYER
Mut fassend, indem er nach links zeigt.
Meine Wäscherin ist drinnen.
NATALIE.

Ach so! lassen Sie sich gar nicht stören. Wir können unser kleines Geldgeschäft auch später abmachen. Guten Morgen, Herr Mehlmeyer. Ab nach rechts.

MEHLMEYER
sich verbeugend.
Es war mir sehr angenehm.
4. Szene
4. Szene.
Mehlmeyer. Dann Emma. Später die Wäscherin.

MEHLMEYER.

Donnerwetter! Das habe ich dumm angefangen – sie hat gar nichts gemerkt. Aber ich muß meine Hemden haben, und der alte Cerberus drinnen gibt sie nicht her ohne Berappung. Zählt sein Geld. Fünfzig Pfennige – sechszig Pfennige – noch ein Pfennig und ein Knopf – das reicht nicht. Was fange ich nur an?

[12]
EMMA
durch die Mitte.

Nein, wer hätte das gedacht von der stillen Marie – ein heimliches Liebesverhältnis! Erblickt Mehlmeyer und schreit auf. Ha!

MEHLMEYER
Emma bemerkend.
Ach, Fräulein Emma! Habe ich Sie erschreckt?
EMMA.
Ich habe allerdings nicht vermutet, Sie hier zu finden.
MEHLMEYER.
Ich hatte eine kleine Unterredung mit Ihrer Frau Mutter.
EMMA.
Ach so. Setzt sich an den Arbeitstisch am Fenster; bei Seite. Was mag er nur gewollt haben?
MEHLMEYER
bei Seite.

Es ist zwar ein kühner Gedanke, aber – in der Not frißt der Teufel Fließen – ich möchte es beinahe wagen. Laut. Ich störe Sie doch nicht bei der Arbeit?

EMMA.
Durchaus nicht.
MEHLMEYER.

Dann bin ich so frei – auf einen Augenblick. Nimmt sich einen Stuhl und setzt sich neben Emma. Mein Fräulein, ich weiß nicht, wie Sie über mich denken? Dudeldideldum!

EMMA
lächelnd.
O, ich habe großen Respekt vor Ihrer Virtuosität.
MEHLMEYER.

Sie sind sehr gütig, sehr liebenswürdig – wahrhaftig! Und wenn ich wüßte, daß ich Ihnen, ohne Sie zu erzürnen, etwas sagen dürfte –

EMMA.
Warum denn nicht? Bei Seite. Das klingt ja gerade, als wollte er –
MEHLMEYER.

Sehen Sie, zuerst wollte ich eigentlich mit Ihrer Frau Mutter darüber sprechen, nun möchte ich es aber lieber Ihnen sagen.

EMMA.
Ich glaube auch, daß das richtiger ist.
MEHLMEYER.

Sie glauben? Um so besser! Wir sind uns ja auch am Ende nicht mehr so ganz fremd – Trillert eine Passage auf der Lehne ihre Stuhles.

EMMA.
O nein.
MEHLMEYER.

Ich habe Ihnen, glaube ich, schon über meine Verhältnisse gesprochen: ich habe eine reiche Tante in Bremen, einen reichen Onkel in Hamburg und –

EMMA
fortfahrend.
– einen reichen Bruder auf den Südseeinseln. Wenn Einer stirbt, erben Sie was.
MEHLMEYER.
Erbe ich was – richtig. Es fragt sich nur, ob Sie darauf hin, das heißt, ob Ihnen diese Sicherheit –
[13]
EMMA
bei Seite, erfreut.

Es ist richtig, er will mir einen Antrag machen. Laut. Herr Mehlmeyer, ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von mir, daß Sie glauben, ich möchte mein Leben lang die Hände in den Schoß legen. Wir sind zur Häuslichkeit erzogen, ich bin an die Arbeit gewöhnt und habe mir schon manches hübsche Taschengeld verdient.

MEHLMEYER
näher rückend.

Wirklich? Das freut mich sehr. Lalala! Bei Seite. Sie kommt mir halb und halb entgegen – gutes Mädchen! Laut. Mein Fräulein, Fräulein Emma! Wie soll ich es Ihnen sagen? Ich befinde mich in einiger Verlegenheit –

EMMA.
O, Sie! ein Künstler, der so viel mit Damen umgeht –
MEHLMEYER.
Eigentlich poussiere ich mehr den Buben.
EMMA
erstaunt.
Wie?!
MEHLMEYER.
Ich spreche schon wieder dummes Zeug. Aber ich will Mut fassen und Ihnen unumwunden alles gestehen.
EMMA
bei Seite.
Darauf warte ich ja.
MEHLMEYER
ergreift ihre Hand.
Liebe Emma!Schlägt einen Triller in Emma's Hand.
EMMA
zusammenzuckend.
Nicht doch, das kitzelt.Zieht ihre Hand zurück.
MEHLMEYER.
Entschuldigen Sie. Bei Seite. Schade! Jetzt war ich gerade so weit.
DIE WÄSCHERIN
steckt den Kopf durch die Seitentür links.
Na, wie ist das, Herr Mehlmeyer? Lange warte ich nun nicht mehr. Schlägt heftig die Tür zu.
EMMA
erstaunt.
Was war das?
MEHLMEYER.
Das war – das ist es ja eben – Ergreift wieder ihre Hand. Liebe Emma –
EMMA
bei Seite.
Kein Zweifel, er liebt mich!
MEHLMEYER.
Werden Sie mir auch nicht böse sein?
EMMA
verschämt zur Erde blickend.
Warum denn böse?
MEHLMEYER.
Nun – Rasch einen Anlauf nehmend. Borgen Sie mir zehn Mark.
EMMA
aufspringend.
Was?! Weiter wollen Sie nichts von mir?
MEHLMEYER
ebenfalls aufstehend.

Nein. Die Dame, welche sich soeben gemeldet hat, ist meine Wäscherin; sie will die Oberhemden nicht ohne Berappung hergeben, und ich bin momentan ganz blank. So, nun ist's raus. Dudeldidum!

[14]
EMMA
gewaltsam ihren Zorn niederkämpfend.
Mein Herr! Sie – Sie – o, pfui!
MEHLMEYER
kleinlaut.
Sie sind mir also doch böse?
EMMA
höhnisch lachend.

Böse? O nein, durchaus nicht. Bitte, es wird mir eine große Ehre sein. Oeffnet den Nähtisch. Da, da, nehmen Sie doch – drei, sechs, neun, zehn Mark. So, Sie – Sie, pfui! Schämen Sie sich. Bei Seite; vor Aerger ihr Taschentuch zerrend. Schändlich! Ich erwarte eine Liebeserklärung, und er pumpt mich an. Es ist empörend!Zornig ab durch die Mitte.

MEHLMEYER.

Ein gutes Mädchen, die Emma – sie tut zwar ein bischen böse, aber sie hat mir die zehn Mark doch gegeben. Sie würde mir vielleicht noch mehr gegeben haben, wenn ich es verlangt hätte. Na, ein andermal! Vorläufig bin ich froh, daß ich meine Oberhemden einlösen kann. Tralala! Trällernd ab nach links.

5. Szene
5. Szene.
Weigelt durch die Mitte eintretend.
Weigelt, ein derber Handwerksmeister, etwa 50 Jahre alt, dunkles Haar, sehr rüstig. Er trägt große goldene Ringe, mit denen er kokettiert, eine dicke Uhrkette und altmodischen Rohrstock mit vergoldetem Knopf. Sein Auftreten ist ein sehr sicheres und selbstbewußtes.

Auftritts-Lied.


WEIGELT.
Mein Leben kennt bloß eine einz'ge Wonne,
Und dafür geb' ich Alles in den Kauf.
Mein Sohn, mein Leopold, ist meine Sonne,
Mein ganzer Mensch geht in dem Vater auf.
Ich habe zwar noch eine Tochter Kläre,
Sie ist, ich weiß es, auch ein gutes Kind;
Allein, wie ich mir auch dagegen wehre,
Für ihre guten Seiten bin ich blind.
Meine einzige Passion
Ist mein Sohn!

Ich rauche nicht und schnupfe nicht und esse
Bescheiden selbst das einfachste Gericht;
Daß ich nicht trinke, zeigt der Nase Blässe,
Auch in ein Wiener Café geh' ich nicht.
[15] Ich gehe nicht mit Flinte oder Angel
Nach Wildpret oder Fische auf die Jagd;
Ich geh' auch in einen Tingeltangel
Und auch nicht an die Börse, wo es kracht.
Meine einzige Passion
Ist mein Sohn!

Mein Vater war Schuster, hatte Vermögen und einen einzigen Sohn – gerade wie ich. Aber was hat er für mich getan? Gar nischt. Er hat mir aufwachsen lassen, wie und so lang ich wollte, dann hat er sich hingelegt, is gestorben und hat mir nischt hinterlassen, als sein Geld und die Kunst, aus Leder, Pech und Draht Stiebeln zu machen. Ich bin – Sich umsehend. allein kann ich es mir ja gestehen – ein ganz ungebildeter Mensch; ich befinde mir in einem ewigen Kampf mit der Grammatik. Und das is mein Schmerz. O, warum gab es in meiner Jugend noch keinen gütigen Magistrat, der nachlässige Eltern zwung – zwängte – zwickte. – Zum Publikum. Da sehen Sie's – Energisch. zwong, ihre Kinder in die Schule zu schicken?! Aber so bin ich aufgewachsen als reiner Naturmensch. Wenn ich sage, Naturmensch, dann meine ich, ohne Gumminasium, ohne Universum. Dafür habe ich mir aber gelobt: Gottlieb, sagte ich mir, wenn du mal Nachkommenschaft kriegst, und es is ein Junge, denn soll er lernen, was in ihm ringeht, damit er sich nich, wie sein Vater, zu schämen braucht vor einem dämlichen Schusterjungen, der orthodox schreiben kann. Und so kam es auch. Freudestrahlend. Mein Leopold! Das is ein andrer Kerl wie ich – ja! Studiert hat er sogar – jux utri – utri – na egal, jux hat er studiert – ja! Minister kann er werden, wenn er will – ja! Aber wie ich den Bengel auch lieb habe, des glaubt keen Mensch nich. Was er sich wünscht, das kriegt er – man hat es ja dazu! Mein Sohn, mein Leopold, soll mal anders von mir denken, wie ich von meinem Vater. Er weiß auch nich, wie schlecht ich mit die Grammatik stehe. Bewahre! Mein Tochter Kläre schreibt meine Briefe und liest mir die Zeitung vor, so daß ich immer Bescheid weiß, was in die Welt vorgeht. Auch 'ne Bibliothek habe ich – ja! Schiller und Goethe! Und die kann ich sehr gut von einander unterscheiden. Schiller habe ich nämlich in Rinds- und Goethe in Schweinsleder binden lassen, und auf Leder versteh' ich mir – ja!

6. Szene
[16] 6. Szene.
Weigelt. Zernickow.

ZERNICKOW
von rechts, zum Ausgehen angekleidet, mit Hut und Stock.

Entschuldigen Sie, Herr Weigelt, daß ich Sie warten ließ. Meine Tochter sagt mir, daß Sie mich zu sprechen wünschen?

WEIGELT.
Das stimmt.
ZERNICKOW
nach der Uhr sehend.
Nun, ein Viertelstündchen habe ich wohl noch Zeit, dann muß ich aufs Gericht.
WEIGELT.
Darum handelt es sich ja gerade.
ZERNICKOW.
Ich verstehe nicht recht –?
WEIGELT.

Ich werde Ihnen das gleich klar machen.Setzt sich auf den am Nähtisch stehenden Stuhl und deutet auf den anderen, daneben stehenden Stuhl. Bitte, setzen Sie sich doch.

ZERNICKOW.
Sie sind sehr gütig. Setzt sich.
WEIGELT.
Es handelt sich nämlich um meinen Sohn, meinen Leopold. Sie kennen meinen Sohn?
ZERNICKOW.
Nur von Ansehen.
WEIGELT.
Aber was für ein Ansehen – nicht wahr? ein schöner Mensch!
ZERNICKOW
lächelnd.
Gewiß, gewiß.
WEIGELT.
Er is auch bei's Gericht – Refferendarius. Sie werden ihn wohl kennen?
ZERNICKOW.
Nur dem Namen nach.
WEIGELT.
Aber was für einen Namen – wie? Er is jetzt schon der Berühmteste bei's ganze Kammergericht.
ZERNICKOW.
So?
WEIGELT.

Das is ja bekannt. Also mein Sohn äußert neulich mal den Wunsch, daß er gerne ein Reitpferd haben möchte. Natürlich habe ich mir gleich nach eins umgesehen. Das werden Sie begreifen, nich wahr?

ZERNICKOW.
Warum nicht! wenn man die Mittel dazu hat!
WEIGELT.

Für meinen Sohn is mir nischt zu teuer. Aber einen Stall muß ich ihm doch bauen; darum habe ich nu den Korbmacher Müller, der auf'n Hof wohnt, gekündigt.

ZERNICKOW
mitleidig.
Hm! Der Mann hat eine große Familie!
WEIGELT.

Nicht wahr? Sechs Kinder, das Geschrei den ganzen Tag – man is ja froh, wenn man solche Leute [17] los is. Aber was sagt der Mensch? »Ich ziehe nich«, sagt er. Wie gefällt Ihnen die Frechheit?

ZERNICKOW.
Ja, ist denn sein Kontrakt abgelaufen?
WEIGELT.

Bewahre! Denn hätte ich doch nich zu kündigen brauchen. Ich nehme noch die Rücksicht und sage: »Herr Müller«, sage ich, »es handelt sich um meinen Sohn.« Und was gibt der Mensch mir zur Antwort? »Det is mir schnuppe,« sagt er und schmeißt mir die Türe vor der Nase zu. Nanu werde ich doch wild. »Kläre,« sage ich zu meine Tochter, lies mir mal den Mietskontrakt vor.

ZERNICKOW
unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrückend und nach der Uhr sehend.
Ich begreife nur nicht, was ich –?
WEIGELT.

Warten Sie man, jetzt kommt's. §8, Nr. 3: »Es darf kein eiserner Ofen gebraucht, kein Rohr in den Kachelofen geleitet werden.« Nu hatte ich ihm. In seine Wohnung steht nämlich ein eiserner Ofen und das Rohr geht durch den Kachelofen. Ich verklage ihm also auf Exmistion.

ZERNICKOW
kopfschüttelnd.
O!
WEIGELT.
Sie meinen, ich gewinne nich? Daran is gar nich zu zweifeln, zumal Sie die Sache unter sich haben.
ZERNICKOW.
Ich?
WEIGELT.

Na ja. Heute um Elfe is Termin. Ich ließ mir heute früh von meine Tochter nochmal die Vorladung vorlesen, und da steht unten drunter: Amtsrichter Zernickow. Das sind Sie doch?

ZERNICKOW.
Allerdings.
WEIGELT.

Na, sehen Sie, besser konnte sich das ja gar nicht treffen. Sie als Mieter werden wissen, was Sie mir als Wirt schuldig sind.

ZERNICKOW.
O, ich dächte: nichts; ich bezahle an jedem Quartalsersten pünktlich meine Miete –
WEIGELT.
Na, das versteht sich ja von selbst. Wenn ich sage, schuldig, denn meine ich Respekt, Hochachtung.
ZERNICKOW
aufstehend.
Mein werter Herr Weigelt, ich bin Richter und muß nach Recht und Gewissen, unparteiisch –
WEIGELT
ebenfalls aufstehend.

Unparteiisch – natürlich! Sie werden bedenken, daß ich mir auch sehr rücksichtsvoll gegen Ihnen benommen habe.

ZERNICKOW.
Inwiefern, wenn ich fragen darf?
[18]
WEIGELT.
Meinen Sie, ich weiß nicht, daß Sie eine Wohnungszulage bekommen haben?
ZERNICKOW.
Nun, das ist ja kein Geheimnis.
WEIGELT.
Ich habe aber bis jetzt noch keinen Gebrauch davon gemacht.
ZERNICKOW.
Wovon?
WEIGELT.
Na, von die Wohnungszulage, ich habe Ihnen noch nich gesteigert.
ZERNICKOW.

Ah, das ist eine eigentümliche Auffassung. Aber wie gesagt, Herr Weigelt, es tut mir leid, ich muß aufs Gericht.

WEIGELT.

Ich will Ihnen auch nich länger aufhalten. Sie wissen ja nun, woran Sie sind. Begleitet Zernickow bis zur Tür. Der Müller muß unter jeder Bedingung exmistiert werden; erstens wegen die Frechheit gegen mir, und dann, weil es sich um ein Vergnügen für meinen Sohn handelt – das ist die Hauptsache.

ZERNICKOW
schon in der Tür.

Ich wiederhole nochmals, Herr Weigelt, daß ich nach Recht und Gewissen prüfen und entscheiden werde. Ab durch die Mitte.

7. Szene
7. Szene.
Weigelt allein.

WEIGELT.

So ist es! Wenn er sagt, prüfen und entscheiden, dann meint er natürlich verurteilen und exmistieren. Das wäre auch noch schöner, wenn mir so'n lumpiger Mieter abhalten wollte, für meinen Sohn einen Pferdestall zu bauen! Was kauf' ich ihm bloß für eine Sorte? Einen Trakehner Hengst, oder eine englische Vollblutstute? Nee, das is noch nich fein genug, ein Arabier muß es sein – richtig, ein Arabier!


Singt.

Das schönste Tier, das muß mein Lepold kriegen,
Von Nußbaumholz bau' ich fürs Pferd den Stall,
Und Sprungmatratzen drin, um drauf zu liegen,
Von Silber das Geschirr auf jeden Fall.
Und das Menu – wir können's ja bezahlen –
Muß Huster liefern. Aber, wie bekannt,
[19] Sind die Arabier echte Orientalen;
Drum nehm ich Krafft 1 als Futter-Lieferant.
Meine einzige Passion
Ist mein Sohn!

Er geht durch die Mitte ab.
Der Zwischen-Vorhang fällt.

Verwandlung

1. Szene
1. Szene.
Minna. Hempel. Stresow. Lipsky. Schustergesellen.

STRESOW.
Wie lange wird heute gearbeitet?
LIPSKY.
Bloß bis fünfe, dann ist Versammlung im Lokalverein.
STRESOW.
Du meinst, im Vereinslokal bei Lindemann?
LIPSKY.
Das ist dasselbe. Beide ab in die Werkstatt rechts.
HEMPEL
kneift Minna, welche mit Ordnen des Zimmers beschäftigt ist, in die Wange.
Morgen, Minna.
MINNA
ihn leicht auf die Hand schlagend.
Nanu? Was soll diese Zudringlichkeit!
HEMPEL.
Das ist Koalitionsfreiheit. Kennen Sie die Gewerbeordnung nicht?
MINNA.
Ich richte mir bloß nach die Gesindeordnung. Wenn Sie kneipen wollen, dann gehen Sie bei Lindemann.

Die Gesellen lachen und entfernen sich ebenfalls nach rechts.
2. Szene
2. Szene.
Minna. Hempel.

HEMPEL.
Warum sind Sie denn heute so grob zu mir, Minneken?
MINNA.
Heute? Bin ich sonst vielleicht höflicher zu Ihnen gewesen?
[20]
HEMPEL.
Wenn auch nicht zu mir, aber zu Andern. Gestern Abend zum Beispiel sah ich Sie im Hausflur –
MINNA
rasch.
Das war mein Cousin!
HEMPEL.
So, so. Dann hörte ich so ein eigentümliches Geräusch, wie –
MINNA.

Das war ein Abschiedskuß – er verreist. Herr Hempel, von Ihrer Ehrenhaftigkeit als Schuster erwarte ich, daß Sie reinen Mund halten.

HEMPEL.
Wenn Sie wünschen, daß ich den Mund halten soll, müssen Sie ihn mir verschließen.
MINNA.
Womit?
HEMPEL.
Mit demselben Siegel, welches Sie dem Cousin aufgedrückt haben.
MINNA.
Ich sollte eigentlich nicht, aber – Tritt einen Schritt näher zu ihm heran.
HEMPEL
küßt Minna.
3. Szene
3. Szene.
Vorige. Wilhelm.

WILHELM
den Rest eines Butterbrotes verzehrend, ist schon einen Augenblick früher eingetreten.
Er sieht den Kuß und sagt. 'Morgen!
MINNA
fährt erschreckt zurück.
Ach!
HEMPEL
sich umwendend.

Was platzt denn der dumme Bengel da herein wie eine Bombe? Du hast wohl lange keinen Knieriem gekostet? Na warte!Aergerlich ab nach rechts.

WILHELM.
Das ist ja 'ne nette Aufführung. Das werd' ich der Fräulein Meistern erzählen.
MINNA.
Das wirst du nicht tun.
WILHELM.
Gerade. Gleich geh' ich 'rein. Wendet sich nach der zweiten Tür links.
MINNA
ihn aufhaltend.
Willem, sei nich boshaft; ich gebe Dir 'n Zehnpfennigstück.
WILHELM.
Was ick mir davor koofe!
MINNA.
Zigarren.
WILHELM.
Sie fassen mir bei meine schwache Seite; aber ich lasse mir nich überrumpeln.
MINNA.
Was willst Du denn noch?
WILHELM.

Ich verlange Kommunismus, Gleichberechtigung. Der Geselle soll nischt vor mir voraus haben – ich will auch 'n Kuß.

MINNA.
Ach, Du bist ein dummer Junge.
[21]
WILHELM.
Meinen Sie? Das wollen wir mal sehen.Wendet sich nach links.
MINNA.
Bleib' doch. Ich sage ja, diese Männer! Es is einer wie der andere.
WILHELM
wischt sich mit der Schürze den Mund und küßt Minna.
4. Szene
4. Szene.
Vorige. Leopold.

LEOPOLD
aus der ersten Tür links, mit Hut und Spazierstöckchen, sehr elegant und modern gekleidet.
Guten Morgen.
MINNA
schreit auf.
Ach!
WILHELM
läuft rasch in die Werkstatt ab.
LEOPOLD
lächelnd.
Ich habe Sie wohl gestört, Minna?
MINNA
verschämt.

Ach, junger Herr, wie können Sie nur so was denken! Der Willem is ja noch ein Kind. Er hatte mir bloß etwas besorgt, und da –

LEOPOLD.

Da haben Sie ihm Ihren Dank abgestattet – ich finde das ganz in der Ordnung. Mit dem Anziehen der Handschuhe beschäftigt. Der Handschuh geht wieder nicht zu. – Haben sie vielleicht eine Haarnadel, liebe Minna?

MINNA.

Ja wohl, junger Herr. Zieht eine Nadel aus ihrem Haar. Erlauben Sie? Bemüht sich, Leopold's Handschuh zuzuknöpfen.

LEOPOLD
währenddessen.
Wilhelm hatte wohl ein Briefchen an Ihren Bräutigam besorgt?
MINNA.
O, nicht doch. Wie sollte ein armes Dienstmädchen zu so etwas kommen!
LEOPOLD.
Nun, ich dächte, das käme doch zuweilen vor?
MINNA.
Na ja, es macht sich vielleicht – einen Schatz habe ich auch schon.
LEOPOLD.
Ach so! Wer ist denn das?
MINNA.
Er dient auch.
LEOPOLD.
Wo denn?
MINNA.
In der Kaiser-Franz-Kaserne. So, jetzt ist er zu.
LEOPOLD
Minna ans Kinn fassend.
Ich danke Ihnen. Er küßt sie.
5. Szene
5. Szene.
Vorige. Clara.

CLARA
aus der zweiten Tür links.
Guten Morgen, Leopold.
MINNA
schreit erschreckt auf.
Ha! Läuft durch die Mitte ab.
[22]
LEOPOLD
verdrießlich zu Clara.
Höre mal, das war ganz überflüssig, daß du so hier hereinplatzest und das arme Mädchen erschreckst.
CLARA.

Lieber Leopold, ich möchte Dich bitten, etwas weniger vertraulich mit unserem Dienstmädchen zu verkehren. Das bischen Respekt, welches eine Dienstherrschaft heutzutage noch genießt, geht dadurch ganz verloren. Dann schickt es sich auch nicht, für dich am allerwenigsten.

LEOPOLD.

Warum soll gerade ich mir ein so großes Gewissen daraus machen, ein hübsches Mädchen zu küssen? Das sehe ich durchaus nicht ein.

CLARA
verlegen.
Weil –
LEOPOLD.
Nun, weil –?
CLARA.

Leopold, sei mir nicht böse – du hast auf deinem Tisch einen offenen Brief liegen lassen – ich habe einen Blick hineingeworfen, er interessierte mich sehr. Da ist der Brief. Gibt ihm einen Brief. Die mir unbekannte Marie beruft sich in diesem Briefe auf deine Schwüre ewiger Treue und Liebe. Hat sie ein Recht dazu – woran wohl nicht zu zweifeln ist –, dann ist es unrecht von dir, das erste beste Dienstmädchen zu küssen.

LEOPOLD
ärgerlich bei Seite, indem er den Brief zerknittert und einsteckt.

Daß ich den Wisch auch liegen lassen mußte! Laut. Ich muß dir sagen, daß es mir durchaus nicht angenehm ist, auf Schritt und Tritt von deiner Spionage verfolgt zu werden.

CLARA.
Pfui, Leopold! Weich. Das habe ich nicht um dich verdient.
LEOPOLD.
Tu' mir den einzigen Gefallen und werde nicht sentimental. Will gehen.
CLARA.

Sei unbesorgt, ich will dich nicht verscheuchen, im Gegenteil, ich möchte dich so gern an uns, an das Haus fesseln; und darum hat mich die Entdeckung, daß du liebst, daß du dein Herz an ein Mädchen verschenkt hast, mit freudiger Hoffnung erfüllt. Weiß der Vater davon?

LEOPOLD.
Wie käme ich dazu, ihm zum Vertrauten meiner Liebschaften zu machen!
CLARA.
Nun, wenn du heiraten willst –
LEOPOLD.
Heiraten? Hahaha! du bist wirklich sehr komisch, Clara.
CLARA.
Wie? Du denkst also nicht ans Heiraten?
[23]
LEOPOLD.
Nein, solche Dummheiten kommen mir durchaus nicht in den Sinn.
CLARA
bei Seite.
Das arme Mädchen!
LEOPOLD
sich nach rechts wendend.
Ist der Vater in der Werkstatt?
CLARA.
Nein, er ist aufs Gericht gegangen.
LEOPOLD.

Sapperlot! Was hat der Alte denn auf dem Gericht zu suchen? Etwa mich? Damit würde er kein Glück haben.

CLARA.
Er will den Korbmacher, welcher auf dem Hofe wohnt, exmittieren lassen.
LEOPOLD
gleichgültig.
So? warum denn?
CLARA.
Das solltest du nicht wissen?
LEOPOLD.
Wie käme ich dazu?
CLARA.

Der Vater will aus den Räumen, welche die arme Familie bewohnt, ein Stallgebäude für dein Reitpferd machen lassen.

LEOPOLD.
Ach, richtig, das hat er mir erzählt.
CLARA.

Leopold, die Leute sind sehr arm, sie haben eine große Familie – möchtest du nicht dem Vater gut zureden? Wenn er es bei Gericht durchsetzt, ist der arme Mann mit Weib und Kindern obdachlos. Ein Wort von dir würde genügen.

LEOPOLD.

Mein Gott, man kann doch nicht für alle armen Leute Obdach schaffen! Sie werden eine andere Wohnung finden.

CLARA
bittend.
Sei nicht so herzlos.
LEOPOLD.

Ich sehe schon, du hast heute deinen larmoyanten Tag – dagegen ist nicht anzukämpfen. Aber du wirst wohl nichts dagegen haben, wenn ich mir lustigere Gesellschaft aufsuche. Guten Morgen, Clara. Ein Liedchen trällernd, ab durch die Mitte.

CLARA
ihm nachrufend.

Leopold! – Mit einem Seufzer. Er hört mich nicht, er ist ein kalter, selbstsüchtiger Mensch. Was Wunder auch! Die blinde Liebe meines Vaters hat ihn dazu erzogen. Ab zweite Tür links.

6. Szene
6. Szene.
Rudolf Starke allein.

RUDOLF
einfach aber sauber gekleidet, auf dem Kopf eine Mütze, tritt lebhaft durch die Mitte ein.

Niemand mehr hier? sie sind [24] schon alle wieder bei der Arbeit? Um so besser! Geht an die Seitentür rechts und ruft. Willem! Kommt vor. Ich bin während der Frühstückspause eine Weile auf der Straße 'rumgelaufen und endlich zu einem Entschluß gekommen. Jetzt bin ich einig mit mir – heute geht's los.

7. Szene
7. Szene.
Rudolf. Wilhelm.

WILHELM
von rechts.
Haben Sie mir gerufen, Herr Starke?
RUDOLF.
Ja. Zieht sich den Rock aus.
WILHELM.
Aha, nu gibt's Keile. Hält sich den Kopf.
RUDOLF.
Da, trage den Rock und die Mütze in die Werkstatt und bring' mir meine Schürze.
WILHELM
verwundert.
Weiter nichts?
RUDOLF.
Du kannst mir auch den Stiefel von meinem Tisch mitbringen, den Pechdraht und die Ahle.
WILHELM.
Wollen Sie denn hier arbeiten?
RUDOLF.
Was geht das dich an?
WILHELM
retirierend, bei Seite.
Nu kommt's.
RUDOLF.
Halt's Maul und bring' mir die Sachen. Fix!
WILHELM
bei Seite.
Na – er haut ja nicht? Da muß was passiert sein. Ab nach rechts.
RUDOLF
mit großen Schritten auf- und abgehend.

Wenn ich aber nu abblitze? Was denn? Egal! Einmal muß ich es doch probieren, ich finde eher keine Ruhe.

WILHELM
von rechts.
Hier, Herr Starke, ist die Schürze. Gibt ihm die Lederschürze.
RUDOLF.
Gut. Bindet die Schürze um.
WILHELM.
Und den Stiebel?
RUDOLF
deutet auf einen neben dem Tisch rechts stehenden Stuhl.
Dorthin. Höre mal, Willem, ich habe was vor, was Wichtiges.
WILHELM
erstaunt.
Ah?
RUDOLF.
Ja. Du kannst mir den Daumen halten.
WILHELM
greift nach Rudolfs Hand.
Warum nicht? Geben Sie her.
RUDOLF.

Ach, dämlicher Junge! Wenn ich sage, du sollst mir den Daumen halten, dann heißt das, du sollst deinen Daumen halten.

[25]
WILHELM.
Ach so! Wenn Sie nu aber zu mir sagen: Halt dein Maul, heißt das denn auch –?
RUDOLF
ausholend.
Du wirst gleich 'n Katzenkopp besehen.
WILHELM
zurückweichend.
Es ist doch richtig.
RUDOLF.
Was ist richtig?
WILHELM.
Die Gesellen sagen, Sie wären die lebendige Uhr in der Werkstatt.
RUDOLF.
Wieso?
WILHELM.
Weil Sie alle halbe Stunde schlagen.
RUDOLF
drohend.
Bengel!
WILHELM
läuft nach rechts ab.
RUDOLF.

Ich bin etwas aufgeregt, das ist gerade die richtige Stimmung. Nu los! Geht energisch an die zweite Tür links und klopft an.

8. Szene
8. Szene.
Rudolf. Clara.

CLARA
von innen.
Wer ist da? Herein!
RUDOLF
öffnet die Tür ein wenig und spricht in das Zimmer hinein.
Ich bin es, Fräulein Clara, ich wünsche guten Morgen.
CLARA
von innen.
Guten Morgen, Herr Starke. Wollen Sie nicht näher treten?
RUDOLF
etwas verlegen.

Ja – das heißt, ich wollte eigentlich fragen, ob Sie heute nicht, wie gewöhnlich hier ein bischen nähen oder stricken? Ich würde mir dann die Freiheit nehmen, Ihnen Gesellschaft zu leisten, daß heißt, wenn –

CLARA
auftretend, ein Strickzeug in der Hand.
Warum wollen Sie denn nicht in mein Zimmer kommen?
RUDOLF.
Das täte ich schon ganz gern, aber – am Ende könnten die Leute glauben – Stockt verlegen.
CLARA.

Daß wir Heimlichkeiten miteinander hätten? Lächelnd. Schwerlich, lieber Herr Starke. Wie sollten Sie in solchen Verdacht kommen? Ich bin ja eine alte Jungfer.

RUDOLF
abwehrend.

O, bitte, bitte, so war das nicht gemeint – im Gegenteil! Sehen Sie, hier bin ich nahe bei der Werkstatt, und wenn was vorfällt –

CLARA.
Es scheint demnach, als hätten Sie mir was zu sagen?
RUDOLF.
Ja, sehr was wichtiges.
[26]
CLARA.
Da bin ich begierig. Setzt sich an den Tisch rechts.
RUDOLF.

Wenn Sie erlauben, arbeite ich dabei – ich kann dann besser reden. Setzt sich ebenfalls an den Tisch, nimmt den Stiefel zwischen die Knie und arbeitet eifrig. Sie wissen doch, Fräulein Clara, ich habe vorigen Monat meine Schwester verheiratet?

CLARA.
Gewiß, ich war ja auf der Hochzeit.
RUDOLF.

Sehen Sie, so lang' die ledig war, dachte ich immer, ich müßte auch ledig bleiben; denn Vermögen habe ich doch nich, und wenn man mal verheiratet is, denn fallen doch so allerlei Kleinigkeiten vor – das macht Sorgen, und ich wollte mir nich mehr Sorgen machen, ehe ich nich meine Schwester ordentlich versorgt hatte.

CLARA.

Sie sind ein braver Mensch, ein guter Bruder, Herr Starke. Ich wünschte, ich hätte auch solchen Bruder.

RUDOLF
erfreut.
Wahrhaftig?
CLARA.
Ganz gewiß.
RUDOLF.

Na, sehen Sie, die Male is nu gut versorgt; ihr Mann ist ein ordentlicher Mensch, hat ein gutes Geschäft – und was will man mehr?! Derethalben könnte ich nu meintswegen auch an mich denken.Pause. Sagten Sie was?

CLARA
nicht vom Strickzeug aufsehend.
Nein.
RUDOLF.

Sehen Sie, für's Kneipen bin ich nich, und wenn man nich in's Wirtshaus geht, dann fühlt man sich allein zu Haus so ungemütlich. Die Male is doch nu auch nich mehr da – und mit abgerissene Knöpfe und Löcher in der Wäsche geht man doch nich gerne –

CLARA.
Das heißt, Sie wollen sich auch verheiraten?
RUDOLF.
Richtig, das möchte ich.
CLARA.
Nun, es wird Ihnen nicht schwer fallen, eine ordentliche und gute Hausfrau zu finden.
RUDOLF.

Na, das sagt sich so. Es is wohl wahr, es gibt eine Menge Mädchens, aber ich verstehe das Courschneiden nich, ich könnte nich lange auf die Suche gehen. Am liebsten griffe ich die Erste, Beste 'raus, das heißt die Nächste. Gerade so, wie der Schutzmann, der mich packte, weil ich in der vordersten Reihe stand, am Palais, bei Kaisers Geburtstag. Der Schutzmann schrie immer: Zurück! Und schließlich packte er mich denn am Kragen. Ich bin ja unschuldig, sagte ich, die da hinten drängeln. Das weiß ich wohl, sagte er, aber so weit kann ich nich langen. – Sehen [27] Sie, Fräulein Clara, so geht es mir auch, ich kann auch nich so weit langen; wenn mir nich ein Mädchen vor der Nase steht, so daß ich bloß zuzugreifen brauche, dann würde nie was daraus werden.

CLARA.
Haben Sie denn schon eine Wahl getroffen?
RUDOLF.
Na ja, ich wüßte schon, welche ich möchte. Aber ob sie mich will!
CLARA.
Haben Sie denn noch nicht angefragt?
RUDOLF.
Nee. Sehen Sie, ich bin doch sonst gewiß kein feiger Kerl, aber dazu – dazu – fehlt mir die Courage.
CLARA.

Ei was! Ein Mann, wie Sie, kann dreist überall anklopfen; jedes brave Mädchen wird sich geehrt füllen.

RUDOLF.
Meinen Sie?
CLARA.
Ja, das meine ich.
RUDOLF
noch eifriger den Pechdraht auseinander ziehend und ohne zu Clara aufzusehen.

Na, wenn Sie meinen, dann möchte ich wohl so frei sein und bei Ihnen, Fräulein Clara, anfragen, ob Sie mich heiraten wollen?

CLARA
läßt vor Schreck das Strickzeug an die Erde fallen, stößt einen lauten Schrei aus und sinkt in den Stuhl zurück.
Ha!
RUDOLF
wirft den Stiefel fort und springt auf.

Herrjeh, was ist denn? Na ja, da liegt sie – ohnmächtig vor Schreck über meine Frechheit. Gießt sich Wasser aus einer Karaffe in die Hand und bespritzt Clara einige Male das Gesicht, aber ohne sich ihr zu nähern. Ich dachte mir's wohl – aber es schad't nischt. Einmal mußte ich es doch probieren, und nun weiß ich doch, woran ich bin.

CLARA
sich mit dem Taschentuch das Gesicht abtrocknend.
Bitte, hören Sie auf. Es war sehr unrecht von Ihnen, Herr Starke, solchen Scherz mit mir zu treiben.
RUDOLF
erstaunt.
Scherz?
CLARA.

Ich habe meine jüngeren Jahre der Erziehung meines Bruders gewidmet, wenn auch, wie ich leider selber eingestehen muß, mit wenig Erfolg. Daß ich jetzt nicht mehr in den Jahren bin, einem Manne, einem Manne, wie Ihnen, begehrenswert zu erscheinen, das weiß ich allein; darum aber brauchen Sie mich nicht durch Ihren Spott zu kränken.

RUDOLF.

Hören Sie mal, Fräulein Clara, so müssen Sie die Geschichte nich drehen. Wenn Ihnen mein ehrlich gemeinter Antrag nicht paßt, was ich wohl vorausgesehen [28] habe, dann können Sie ja ganz einfach sagen: Nein, Herr Starke, ich danke; Sie sind mir zu grob, zu ungebildet, zu arm – was weiß ich! Aber mir ins Gesicht sagen, daß ich Scherz mit Ihnen treibe, daß ich Sie verspotte – das kann ich mir nicht gefallen lassen.

CLARA
ängstlich, zweifelhaft.
Herr Starke, Sie – Sie wollten im Ernst –?
RUDOLF.
Was denn?
CLARA
zögernd.
Mich – heiraten?
RUDOLF.

Na ja, ist das denn ein so großes Verbrechen? Ich dachte, Sie würden es vielleicht gemerkt haben, daß ich Ihnen gut bin, so recht von Herzen gut. Und weil Sie immer so freundlich zu mir waren, dachte ich – na, es war dumm von mir, reden wir nicht weiter davon. Nimmt den Stiefel unter den Arm und will nach der Werkstatt gehen. Entschuldigen Sie, Fräulein Clara.

CLARA
vor Freude weinend.
Hahaha! Herr Starke – Rudolf –
RUDOLF
sich umwendend.
He?
CLARA.
So bleiben Sie doch. Streckt ihm zögernd die Hand entgegen.
RUDOLF.
Was machen Sie denn für ein Gesicht. Wie sehen Sie mich denn an? Gerade, als ob –
CLARA
nickt lächelnd mit dem Kopf.
RUDOLF.

Schockschwerebrett! Wirft den Stiefel gegen eine Türe, läuft zu Clara und ergreift heftig ihre Hand. Sie sagen nicht Nein? Sie wollen meine Frau werden?

CLARA
verbirgt ihren Kopf an seiner Schulter.
RUDOLF.

Hurra! Umfaßt Clara, dreht sie herum, setzt sie dann auf einen Stuhl und fällt vor ihr auf die Knie nieder. Clara, liebste Clara! Mir ist kannibalisch wohl – ich könnte Bäume ausreißen vor Vergnügen. Kleine Pause.

CLARA.

Ich begreife nur immer noch nicht, wie Sie dazu gekommen sind, sich in mich zu verlieben, mich heiraten zu wollen?

RUDOLF.

O, ich liebe Sie schon lange, ich wußte es bloß nicht. Aber als mir der Gedanke gekommen war, daß ich auch eine Frau, einen eigenen Hausstand haben möchte, da sagte ich gleich zu mir: Keine Andere, wie die Clara. Ich glaubte ja nicht, daß Sie einwilligen würden. Nun haben Sie es aber doch getan – und das werde ich Ihnen nie vergessen.

[29]
CLARA.
Aber mein Vater –
RUDOLF
aufstehend.
Dem werden wir natürlich gleich Bescheid sagen – wir wollen nu auch nich mehr lange fackeln.
CLARA.
Was wird er nur dazu sagen?
RUDOLF.

Na, was soll er sagen? Wenn Sie einwilligen, kann er doch nichts dagegen haben. Ich bin ein anständiger, ehrlicher Kerl, ich verstehe mein Handwerk – wir werden schon unser Auskommen finden. Heute, gleich, noch in dieser Stunde werde ich mit ihm sprechen. Verlegen. Fräulein Clara, vorhin in der Ueberraschung, bei der unverhofften Freude – da habe ich vergessen, Ihnen einen Kuß zu geben. Darf ich jetzt vielleicht –?

CLARA.

Lieber Rudolf, ich habe mit freudigem Herzen eingewilligt, die Ihre zu sein und will mich bemühen, Sie so glücklich zu machen, wie Sie es verdienen. Umarmt ihn.

RUDOLF
küßt Clara.

Meine Cläre! Sie sind jetzt meine verliebte Gelobte – gelobte Verliebte – nein, geliebte Verlobte, und ein schlechter Kerl will ich sein, wenn ich Ihnen je eine trübe Stunde mache. Ich ziehe mir den Rock an und dann halte ich, wie sich's gehört, bei dem Alten an. Auf Wiedersehen, meine liebste, herzallerliebste Braut. Faßt ihren Kopf zwischen beide Hände, drückt einen herzhaften Kuß auf ihre Lippen, wie sie dann noch einmal küssen, sagt aber, zurückweichend: »Nachher!« und geht rasch nach rechts ab.

CLARA
Rudolf nachsehend.

Mir ist, als ob ich träume. Wie hätte ich auch so viel Glück erhoffen können? Der gute, liebe Mensch! Mir ist es jetzt erst recht klar, wie gut auch ich ihm bin.

9. Szene
9. Szene.
Clara. Weigelt.

WEIGELT
reißt die Mitteltür auf und wirft sie, ärgerlich eintretend, hinter sich ins Schloß.
Solche Unverschämtheit is noch nich dagewesen!
CLARA.
Wie?
WEIGELT.
So lange ich Hauswirt hin, is mir das noch nich passiert.
CLARA.
Was ist denn geschehen, Vater?
WEIGELT
ohne auf sie zu hören.

So'n Mensch! So'n verhungerter Amtsrichter, den ich für lumpige 350 Taler die ganze halbe vierte Etage bewohnen lasse – so'n Mensch untersteht sich, mir so zu kommen.

[30]
CLARA.
Du warst auf dem Gericht?
WEIGELT.
Ja, ich war auf dem Gericht.
CLARA
erwartungsvoll.
Nun?
WEIGELT
die Fäuste ballend.
Abgewiesen bin ich mit meine Klage.
CLARA
bei Seite.
Gott sei Dank!
WEIGELT.

Ich hätte nich das Recht, zu exmistieren.Höhnisch. Ich als Hauswirt nich das Recht, zu exmistieren! Na, wenn das Mode würde, da möchte ja der Deibel Hauswirt sein.

CLARA
beruhigend.
Aber lieber Vater –
WEIGELT.

Und die Gründe, die Gründe – das is das Schönste! Es wäre erwiesen, daß der Kachelofen in Müllers Wohnung so miserabel is, daß man nich drin heizen kann, also könnte es ihm auch kein Mensch verwehren, wenn er einen eisernen Ofen brennt. So'n Quatsch! Und das soll ich mir ruhig gefallen lassen? Drohend. Na warte!

CLARA.
Du solltest doch bedenken, lieber Vater –
WEIGELT.
Setz' dir mal hin und schreibe.
CLARA.
Aber –
WEIGELT
ärgerlich.
Schreibe, sage ich.
CLARA
setzt sich an den Tisch links und nimmt aus der Schublade Papier, Tinte und Feder.
An wen soll ich denn schreiben?
WEIGELT.

Das wirst du schon hören. So soll ihm noch kein Mensch die Wahrheit gegi – gegei – gegogen haben. Also, fange mal an. Diktiert. »Mein Herr! Sie haben heute vor das öffentliche Amtsgericht die Unverschämtheit gehabt –« In den Brief sehend. Wo steht Unverschämtheit?

CLARA.
Hier.
WEIGELT.
Is es auch deutlich?
CLARA.
Ja. Aber?
WEIGELT.

Weiter! Diktiert. »die Unverschämtheit gehabt, mir in Gegenwart eines gewöhnlichen Hofmieters in meine Autorität –« In den Brief sehend. Wo steht Autorität?

CLARA.
Hier.
WEIGELT.

Is jut. Diktiert. »– in meine Autorität zu blamieren. Das kann natürlich nich so hingehen. Zuerst kündige ich Ihnen hiermit; bis dahin aber werde ich Ihnen zeigen, was ein richtiger Wirt zu bedeuten hat. Ihren Chambreganisten erlaube ich nich mehr, der muß' raus.«

CLARA.
Geht das auf Herrn Mehlmeyer?
[31]
WEIGELT.
Ja.
CLARA.
Aber was hat dir denn der arme Pianist getan?
WEIGELT.

Was, Pianist! Er paukt, daß man es drei Straßen weit hört. Aber ganz egal, er muß 'raus. Schreibe weiter. Diktiert. »Im übrigen werden wir uns vor das Kammergericht weiter sprechen.« So, nu werde ich unterschreiben. Gib her. Will Clara die Feder fortnehmen.

CLARA.
Nein, Vater, den Brief kannst du nicht abschicken.
WEIGELT.
Warum nich?
CLARA.
Du beleidigst damit den Herrn Amtsrichter.
WEIGELT.
Das will ich ja grade.
CLARA.

Bedenke doch, sein Urteilsspruch – mag er dich auch im Augenblick verletzen – kommt einer armen Familie zu gute.

WEIGELT.
J, sieh mal! Die Bagage ist dir wohl mehr an's Herz gewachsen, als dein eigener Bruder?
CLARA.
Allerdings, wenn es Sich nur um eine Befriedigung seiner Launen handelt –
WEIGELT.

Willst du vielleicht wieder auf Leopold schimpfen? Drohend. Du, du weißt, das vertrage ich nich. Er is mein Herzensjunge, und er wird seinen Pferdestall kriegen, darauf verlaß dir. Nach dem Briefe langend. Nu gib her.

CLARA
abwehrend.
Du bereitest dir selber große Unannehmlichkeiten, wenn du den Brief absendest.
WEIGELT.
Das ist meine Sache. Her damit!
CLARA
steht auf, energisch.
Selbst auf die Gefahr hin, dich böse zu machen – ich kann es nicht zugeben. Sie zerreißt den Brief.
WEIGELT
starrt sie eine Weile verblüfft an.
Ah! Du unterstehst dir?! Tritt einen Schritt näher auf Clara zu und holt wie zum Schlage aus.
CLARA
weicht zurück und streckt abwehrend ihre Hände Weigelt entgegen.
10. Szene
10. Szene.
Vorige. Rudolf.

RUDOLF
im Rock, die Mütze in der Hand, tritt in demselben Augenblick von rechts ein, als Weigelt drohend auf Clara zugeht.
Er tritt rasch zwischen ihn und Clara. Nanu! Nanu! Was sind denn das für verdächtige Bewegungen?
[32]
WEIGELT.
Was wollen Sie? Scheren Sie sich in die Werkstatt!
CLARA.
Nein, Rudolf, bleiben Sie. In Ihrer Gegenwart wird es mein Vater nicht wagen, mich zu schlagen.
RUDOLF.
Schlagen? Die Clara schlagen! Und warum?
WEIGELT.
Weil sie ein boshaftes Ding ist, das ihren Bruder verleumdet.
RUDOLF.

Ach so, der Zierbengel ist wieder der Zankapfel. Hören Sie mal, Herr Weigelt, es ist ein Skandal, daß Sie sich von Ihrer Affenliebe so weit verblenden lassen, daß –

WEIGELT
die Arme in die Seiten stemmend.
Mensch! Was untersteht Er sich?
RUDOLF.

Richtig, ich spreche, als ob ich schon zur Familie gehöre. Zu Clara. Ach so, der weiß noch garnischt, wie? Nu, daß ich es kurz mache: die Clara und ich, wir haben uns vorhin verlobt, und ich bin eben gekommen, bei Ihnen um Ihre Tochter anzuhalten.

WEIGELT.
Nanu brat' mir aber einer 'n Storch! Ich habe wohl nich richtig gehört?
CLARA.
Es ist so, wie er sagt, Vater; ich habe eingewilligt, sein Weib zu werden.
WEIGELT.
Mädchen, bist du verrückt? Du willst den Menschen da heiraten?
RUDOLF.
Und warum nicht?
WEIGELT.
So einen Menschen, der, der –
RUDOLF.
Na?
WEIGELT.

Der bei's letzte Schlachtfest – wenn ich sage Schlachtfest, denn meine ich Sedanfeier – knüppeldickevoll nach Hause gekommen ist und alle Mädchens umarmt und geküßt hat, sogar mir? Ein Mensch, der nichts hat und nichts ist, ein ganz ordinärer Schuster!

RUDOLF
ruhig.
Hören Sie, Ihnen pickt er wohl? Was sind Sie denn anders, wie'n Schuster?
WEIGELT.

Daß ich nichts andres bin, wie ein Schuster, ist nicht meine Schuld; ich kann es meinem Vater heute noch nicht verzeihen, daß er mir nicht wenigstens Doktor oder so was hat werden lassen. Darum aber werde ich noch lange nicht zugeben, daß sich meine Tochter wegwirft. Wenn ich sage wegwirft, denn meine ich Ihnen.

CLARA.
Vater, du beleidigst mich, wenn du so nichtachtend von Herrn Starke sprichst.
[33]
WEIGELT.
Herr Starke ist ein Schustergeselle, mein Geselle, dem ich hiermit mein Haus verbiete.
CLARA.

Vater, überlege, was du tust. Wenn du Herrn Starke das Haus verbietest, trennst du dich auch von – mir ich werde ihn nicht verlassen.

WEIGELT
achselzuckend.
Geh doch, ich halte dir nicht.
CLARA
das Gesicht mit den Händen bedeckend.
O, mein Gott!
RUDOLF.
Ruhig, Clara, es wird so schlimm nicht kommen.
11. Szene
11. Szene.
Vorige. Leopold.

LEOPOLD
rasch durch die Mitte.

Was geht denn eigentlich hier im Hause vor? Fast alle Mieter sind auf dem Hofe versammelt; als ich vorbeikam zischelten sie sich untereinander zu: Das ist er! Das ist er! Und dabei sahen die Leute so drohend aus, als führten sie etwas gegen mich im Schilde.

WEIGELT.

Es soll sich bloß einer unterstehen! Die ganze Bande jage ich raus. Wahrscheinlich hat sie der Korbmacher aufgehetzt. Ach, du weißt noch gar nich, Leopold, sie haben mir angewiesen aufs Amtsgericht mit die Exmistion. Nu gehen wir ans Kammergericht, nich wahr?

LEOPOLD
zerstreut.
Gewiß, gewiß.
WEIGELT.

Aber das is noch nich alles an Neuigkeiten heute, du wirst noch mehr zu hören kriegen. Da, sieh mal hin, dein Fräulein Schwester und der Herr Schustergeselle Starke wollen sich heiraten.

LEOPOLD.
Nicht möglich?!
WEIGELT.
Das habe ich auch gesagt. Is dir schon so eine Frechheit von einem simplen Schuster vorgekommen?
RUDOLF
drohend.
Herr!
CLARA
fällt Rudolf in den Arm.
LEOPOLD.

Ich begreife nur Clara nicht. Daß dem Herrn Starke dein Vermögen sehr begehrlich erscheint, ist am Ende nicht zu verwundern.

RUDOLF.
J, da soll ja gleich –
CLARA
hält Rudolf abermals zurück.
WEIGELT.

Siehste, Leopold, auf den Gedanken bin ich noch gar nich gekommen. Aber du hast ganz recht, mein Geld sticht ihm in die Nase. Und ich will mir auch nich lumpen lassen.

[34]
LEOPOLD
bei Seite.
Wie?
WEIGELT
zu Clara.

Dabei bleibt's: Wenn du den Menschen heiratest, sind wir geschiedene Leute. Aber das Vermögen, das deine Mutter ins Haus gebracht hat – die 10000 Taler – sollst du haben. An dem Tage, wo du Hochzeit machst, werde ich das Geld für dich eintragen lassen auf mein Haus.

LEOPOLD
bei Seite.
Oho, so war's nicht gemeint.
RUDOLF.
Behalten Sie Ihr Geld, ich will Ihr Geld nicht.
WEIGELT.
Ich lasse mir von Ihnen nischt schenken, Sie – Sie – Erbschleicher!
RUDOLF
sich von Clara losmachend.

Nun ist's aber genug. Ich will mich – um Clara's willen – zusammennehmen, sonst würde ich Ihnen und Ihrem sauberen Herrn Söhnchen anders auf den Pelz rücken!

WEIGELT.
Leopold, gib mir deinen Stock. Nimmt Leopolds Spazierstöckchen und hält ihn abwehrend gegen Rudolf.
LEOPOLD
flüchtet sich hinter Weigelt.
RUDOLF.

Soviel aber will ich Ihnen doch sagen: Vergessen tue ich Ihnen den Schimpf, den Sie heute angetan haben, nie.

WEIGELT
zeigt nach der Mitteltür.
Raus! Ale beide!
CLARA.
Vater! Läuft zu Weigelt und fällt, bittend ihre Hände erhebend, vor ihm auf die Knie.
WEIGELT.
Du hast die Wahl zwischen uns und ihm.
CLARA.
Ich kann nicht anders, Vater.
WEIGELT.
Dann geh!
RUDOLF
hebt Clara auf und führt sie zur Seite.

Steh' auf, Clara. Denken Sie an mich, Herr Weigelt, es könnte doch vielleicht mal die Stunde kommen, wo Sie Sehnsucht hätten, Ihre Tochter zu umarmen. Aber dann geht der Weg an mir vorbei. Daß es mit ihrem prahlerischen Reichtum nicht gar zu lange dauert, dafür wird Ihr Früchtchen von Sohn schon sorgen. Und wenn Sie Hungerpoten saugen! Ehe Sie nicht vor mir auf den Knien liegen, wie Ihr Kind vor Ihnen gelegen hat, eher essen Sie in meinem Hause kein Stück Brot. So – Seine Mütze aufsetzend. jetzt komm, Clara! Ab mit Clara durch die Mitte.

LEOPOLD
gezwungen lächelnd.
Es ist zu lächerlich!
WEIGELT
ebenso.
Nich wahr, Leopold, zu lächerlich? Hahaha!
12. Szene
[35] 12. Szene.
Vorige. Mehlmeyer.

MEHLMEYER
rasch durch die Mitte.

Wo ist der Wirt? Auf Weigelt zugehend. Ah, Sie? Nicht wahr? Mein Herr, Ihnen steht eine kleine Überraschung bevor.

WEDELT
barsch.
Was wollen Sie?
MEHLMEYER.

Als ich eben über den Hof kam, hörte ich, daß die Mieter über ein Ständchen beraten, welches sie Ihnen bringen wollen. Ich wollte Sie nur benachrichtigen, damit Sie sich auf eine kleine Danksagung und auf das nötige Traktament vorbereiten können.

WEIGELT
den Stock schwingend.
Das Traktament sollen Sie gleich haben.
MEHLMEYER.

Der Stock – famos! Geben Sie her.Nimmt ihm den Stock aus der Hand. Den werde ich als Dirigentenstab benutzen. Aber nun ein erhöhter Platz? Ah, da! der Tisch! Springt auf den Tisch rechts. So, jetzt wären wir so weit.

WEIGELT.
Hat sich denn heute Alles gegen mir verschwi – verschwo – verschwört?!
13. Szene
13. Szene.
Vorige. Minna.

MINNA
rasch durch die Mitte.

Herr Weigelt, sie kommen – fast alle Mieter, der Leierkasten-Mann aus dem Keller voran. Sie wollen gratulieren. Ist denn heute Ihr Geburtstag?

WEIGELT.
Du läßt keinen Menschen 'rein, schließe die Tür zu.
MINNA.
Da sind sie schon.
14. Szene
14. Szene.
Vorige. Müller, dessen Frau und sechs Kinder. Ein Leierkasten-Mann mit Orgel. Diverse Mieter. Einer trägt ein großes Plakat mit der Inschrift: »Hoch lebe das Amtsgericht!« Während des nachfolgenden Gesanges erscheinen [36] noch die Schustergesellen, darunter Hempel, Stresow und Lipsky und Wilhelm aus der Werkstatt.

Schlußmusik.


Mehlmeyer, auf dem Tische, gibt mit dem Stock das Zeichen, Alle singen.

ALLE.
Hoch soll das Amtsgericht leben,
Es lebe hoch!

Alle drängen sich um Weigelt und verhöhnen ihn mit lautem Geschrei.
Der Vorhang fällt rasch.

Ende des ersten Aktes.

2. Akt

1. Szene
1. Szene.
Minna. Verschiedene Lieferanten. Handwerker. Ein Kellner.

MINNA.

Meine Herren, ich verstehe Ihre zarte Anspielung. Sie wollen sagen, wenn Sie recht bald das Geld für Ihre Rechnungen kriegen, würden Sie sich einen kleinen Abzug zu meinen Gunsten gefallen lassen.

ERSTER LIEFERANT.
So ist es, wertes Fräulein.
ZWEITER LIEFERANT.
Nicht, daß wir es so nötig brauchten, aber man hat doch bei den schlechten Zeiten auch Verluste.
MINNA.

Halten Sie mich für so ungebildet, daß ich nicht wüßte, was ein Krach zu bedeuten hat? Legt die Rechnungen, welche ihr die Lieferanten eingehändigt haben, auf den Tisch links. Verlassen Sie sich auf mich, ich werde dafür sorgen, daß Ihre Rechnungen noch heute bezahlt werden.

DIE LIEFERANTEN
drängen sich um Minna.
Mein liebes Fräulein – im Voraus unseren Dank.
MINNA
vornehm grüßend.
Auf Wiedersehen, meine Herren.
2. Szene
2. Szene.
Minna allein.

MINNA.

Ein ganz hübscher Posten hier als Wirtschafterin im Hause – das ist garnicht zu leugnen. Nur Vater und Sohn, kein weibliches Wesen außer mir, keine [38] Marktkontrolle, wie früher bei Fräulein Clara – da gibt es nie Zank; selbst bei dem gewagtesten Schmu immer Zufriedenheit und Eintracht. So'n einträgliches Leben habe ich noch nie geführt.

3. Szene
3. Szene.
Minna. Krümel durch die Mitte.

KRÜMEL
Unteroffizier, mit derbem Ton.
Guten Morgen, Minna.
MINNA
sich umwendend.

Nu sieh Einer, mein Krümel! Wissen Sie, daß ich mich beinahe erschreckt habe? Wie können Sie denn so ungeklopft eintreten?!

KRÜMEL.
Ich weiß ja, daß um diese Zeit noch keiner von die Langschläfers auf die Beine ist.
MINNA.
Wie kommen Sie überhaupt zu dieser sonderbaren Stunde hierher?
KRÜMEL.
Wieso sonderbare Stunde? Es ist ja neun Uhr.
MINNA.
Ja, aber morgens und nicht abends.
KRÜMEL.

Richtig, ich werde aber heute Abend auch kommen. Wenn es Ihnen paßt, wollen wir außerhalb ein warmes Souper essen.

MINNA.
Herrje, Krümel, Sie wollen mich traktieren?
KRÜMEL.

Gewissermaßen – ja. Der eine Koch aus die neue Restauration hat in meine Kompagnie gedient und mir deshalb zu einem warmen Gänsebraten mit Bier eingeladen. Sie gehen doch mit?

MINNA.
Wenn ich Urlaub kriege, ja.
KRÜMEL.

Schön, punkte neun bin ich da. Grüßt militärisch. Guten Morgen, Minna. Macht Kehrt und will abmarschieren.

MINNA.
Ganze Kompagnie halt, kehrt!
KRÜMEL
führt das Kommando aus.
MINNA.

Sagen Sie, Herr Krümel, müssen Sie denn immer den Unteroffizier rausbeißen? Können Sie sich bei mir nicht etwas zivilierter benehmen?

KRÜMEL.
Wie meinen Sie das?
MINNA.
Ich meine, wenn man eine so schöne Braut hat, dann erlaubt man sich auch einen Kuß an ihr.
KRÜMEL.
Allerdings, aber die sonderbare Stunde –
MINNA.
Wieso sonderbare Stunde? Es ist ja neun Uhr.
KRÜMEL.
Ja, aber morgens, nicht abends.
[39]
MINNA.
Ach was, das ist ganz egal; die Zärtlichkeit bindet sich an keine Stunde.
KRÜMEL.
Dann bin ich so frei. Küßt sie. Adieu, Minna.

Marschiert durch die Mitte ab.
4. Szene
4. Szene.
Minna. Dann Weigelt.

MINNA.

In der Feurigkeit läßt mein Krümel vielleicht manches zu wünschen übrig, das ist richtig; dagegen ist er kugelfest in der Treue, und eine gemäßigte Zärtlichkeit mit Ausdauer ist immer solider.

WEIGELT
in einem eleganten Schlafrock, von rechts.
Minna!
MINNA.
Ach, der Herr Weigelt.
WEIGELT.
Ist mein Sohn schon aufgestanden?
MINNA.
Ich glaube, nein.
WEIGELT.
Schade, ich habe Hunger.
MINNA.
Wollen Sie denn nicht alleine frühstücken?
WEIGELT.
Nee, weißt du, das möchte Leopold am Ende übel nehmen; er is ja so wenig zu Hause –
MINNA.
Er wird wohl viel auf's Gericht zu tun haben.
WEIGELT.

Natürlich, natürlich. Du glaubst gar nicht, wie fleißig der Junge is. Paß mal auf, was der noch für 'ne Karriere macht.

MINNA.
Hier. Hat die verschiedenen Rechnungen vom Tisch genommen und präsentiert sie Weigelt.
WEIGELT.
Was hast du denn da?
MINNA.
Rechnungen.
WEIGELT.
Für mich?
MINNA.
Ja. Das heißt, eigentlich sind sie für den jungen Herrn. Die Leute möchten gern ihr Geld haben.
WEIGELT.

Das wird wohl nich so eilig sein. Setzt sich an den Tisch rechts. Leg man dahin, ich werde mit Leopold drüber sprechen.

MINNA.
Das würde ich doch nich tun an Ihrer Stelle.
WEIGELT.
Was denn?
MINNA.

Die Leute auf ihr Geld warten lassen; das würde dem jungen Herrn, glaube ich, gar nicht angenehm sein.

WEIGELT.

So? Meinst du? Na, gib mal her. Nimmt aus der Tasche eine alte Brille ohne Gläser, setzt dieselbe auf die Nase und läßt sich von Minna die Rechnungen zeigen. Er liest, langsam buchstabierend. »Ein schwe – schwerer –«

[40]
MINNA
welche ihm über die Schulter sieht, korrigierend.
– schwarzer –
WEIGELT.

Richtig – schwarzer »Spi – Spitz – Meyer und Wolf.« Was, ein schwarzer Spitz von Meyer und Wolf? 590 Mark. Donnerwetter, das is ein teurer Spitz!

MINNA.
Ein schwarzer Spitzen-Ueberwurf.
WEIGELT.
Ach so! Trägt denn mein Sohn so was?
MINNA.
Wohl nich; aber es gibt Da – darum doch Leute, die das tragen.
WEIGELT.
So? Nimmt eine andere Rechnung. »Ein Bra – Brazel – mit – Brillen.« Wie?!
MINNA.
Ein Bracelet mit Brillanten.
WEIGELT.
Meine Brille taugt nichts mehr.
MINNA.
Es sind ja gar keine Gläser d'rin, Herr Weigelt!
WEIGELT
die Brille abnehmend.

Wahrhaftig! Nu kannst du dir denken, wie schlecht meine Augen sind – das habe ich gar nich gesehen. Minna die Rechnung gebend. Was kostet denn das Brazel mit Brillanten?

MINNA.
970 Mark.
WEIGELT.
Donnerwetter!
MINNA.
Soll ich weiter lesen?
WEIGELT.

Nee, laß man, ich will doch erst mit Leopold sprechen. Bei Seite. Wenn er nur käme, mir knurrt der Magen schon.

MINNA.
Herr Weigelt, ich wollte Ihnen auch noch bitten –
WEIGELT.
Was?
MINNA.
Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich heute Abend mit meinem Bräutigam ein Stündchen ausgehe?
WEIGELT.
Heute? Mitten in der Woche?
MINNA.
Na, wenn Sie nich wollen! Ich werde jetzt den Kaffee bringen.
WEIGELT.
Ja. Das heißt, nein, mein Sohn –
MINNA.

Ach, tun Sie doch nich immer, als ob Sie sich vor dem jungen Herrn fürchten. Der is so gut, der tut Ihnen nischt.

WEIGELT
lächelnd.
Ja, gut is er.
MINNA.

Und so'n netter Mensch! Nee, wie der gestern wieder reizend aussah in dem neuen grauen Anzug – wie'n Baron.

WEIGELT
freudestrahlend.

Nicht wahr? Ich sage dir, es [41] is ein ordentliches Vergnügen, mit ihm über die Straße zu gehen, alle Leute gucken ihm nach. Wenn ich sage Leute, denn meine ich die Damens. Die verliebten Blicke, die sie ihm zuwerfen, solltest du bloß sehen. Das geht immer so – so.

MINNA.
O, Herr Weigelt, wem sagen Sie das! Meinen Sie denn, mein Krümel wäre nich eifersüchtig?
WEIGELT.
Hehehe. Wirklich? – Sage mal, wolltest du lange ausbleiben heute Abend?
MINNA.
Bewahre, bloß ein Stündchen.
WEIGELT.
Na, denn kannst du gehen.
MINNA.
Nee, Sie sind doch zu gut. Es is gar kein Wunder, daß Ihnen der junge Herr so liebt.
WEIGELT
rasch.
Du meinst also, daß mir mein Sohn, mein Leopold, liebt?
MINNA.

Na, das is 'ne Frage – das sieht doch Jeder.Nach links horchend. Ich glaube übrigens, er ist jetzt aufgestanden.

WEIGELT.
Ja? Na, denn bring man schnell das Frühstück, damit er nich warten muß.
MINNA.

Gleich. Beite Seite, im Abgehen. Das wußte ich doch, daß ich den Alten 'rumkriege; den muß man bloß ins richtige Fahrwasser bringen. Ab durch die Mitte.

5. Szene
5. Szene.
Weigelt. Dann Leopold. Später Minna.

WEIGELT
nachdenkend.

Sie meint, es sieht Jeder, daß er mir liebt – ich weiß nicht, manchmal kommt es mir vor – Ach was, das sind dumme Gedanken, wer wird sich mit sowas quälen!

LEOPOLD
tritt von links ein.
WEIGELT
Leopold bemerkend.
Da is er ja. Geht auf ihn zu. Guten Morgen, Junge. Du hast aber heute lange geschlafen?
LEOPOLD
gähnend.
Ja, ich war müde, ich bin spät nach Hause gekommen.
WEIGELT.
Du siehst auch 'n bischen blaß aus. Du bist doch nich unwohl?
LEOPOLD.
Nein.
WEIGELT.
Am Ende strengst du dir zu sehr mit arbeiten an?
[42]
LEOPOLD.
Nein.
WEIGELT.
Aber warum bist du denn so blaß?
LEOPOLD.
Mein Gott, man sieht nicht einen Tag wie den andern aus. Ist das Frühstück noch nicht da?
WEIGELT.

Minna wird es gleich bringen. Etwas verlegen. Gucke mal, Leopold, da sind 'ne Masse Rechnungen gekommen.

LEOPOLD
sich nachlässig auf einen Sessel werfend.
So?
WEIGELT.
Möchtest du sie nich einmal durchsehen?Gibt ihm die Rechnungen.
LEOPOLD
die Rechnungen oberflächlich prüfend.
Ja – das hat alles seine Richtigkeit. Die Rechnungen sind ja aber noch nicht quittiert?
WEIGELT
rasch.
Du hast sie also schon bezahlt?
LEOPOLD
erstaunt.
Ich? Wie käme ich dazu? Seit wann führe ich die Kasse?
WEIGELT.
Na, ich dachte bloß, weil ich dir doch vorgestern Tausend Mark gegeben habe –
LEOPOLD.

Als Taschengeld. Verlangst du etwa, daß ich von meinem Taschengeld auch die notwendigsten Bedürfnisse bestreite?

WEIGELT.

Nee, nee, das Allernotwendigste nich; aber – Die Rechnungen nehmend. sieh mal, ein Spitzenüberwurf und Brillantarmbänder, das is doch eigentlich – Stockt verlegen.

LEOPOLD.

Was? Das sind kleine Präsente, die man notwendigerweise machen muß, wenn man sich in der eleganten Welt bewegen und sich nicht lächerlich machen will.

WEIGELT
begütigend.
Na ja, du mußt das ja besser wissen, ich meinte auch bloß –
LEOPOLD
trommelt unruhig mit den Fingern auf dem Tisch herum.
WEIGELT.
So, da kommt der Kaffee.
MINNA
durch die Mitte mit einem Kaffeebrett, auf dem Tassen, Kanne u.

s.w. und eine Zeitung liegt; sie serviert das Frühstück auf dem Tisch rechts. Guten Morgen, junger Herr.

LEOPOLD
verdrießlich und kurz.
Guten Morgen.
MINNA
bei Seite.

Der scheint bei schlechter Laune zu sein. Aha! Die Rechnungen! Der Alte muß aber doch 'rausrücken. Ab durch die Mitte.


Weigelt und Leopold sitzen an dem Tisch rechts und frühstücken.
WEIGELT
essend.
Leopold, wer war denn das Mädchen, mit die du gestern Mittag nach'n Tiergarten fuhrst?
LEOPOLD.
Welches Mädchen?
[43]
WEIGELT.

Sie trug lange blonde Locken, so viel ich in der Geschwindigkeit sehen konnte. Ihr habt mir ja beinah übergefahren.

LEOPOLD.
Die Dame war ein sehr achtbares Mädchen, meine Freundin.
WEIGELT.

Das heißt, wenn du sagst Freundin, denn meinst du – Schelmisch drohend. Du Schwerenotsbengel! Das is wohl die, die schwarze Spitzen und Brillanten trägt, he?

LEOPOLD.

Lieber Vater, das ist heute schon das zweite Mal, daß du dich in sehr auffallender Weise über meine kleinen Depensen mokierst. Es scheint demnach, als ob meine Besorgnisse nicht unbegründet wären?

WEIGELT.
Besorgnisse? Was hast du für Besorgnisse?
LEOPOLD
lauernd.
Ich fürchte, daß es mit deiner Kasse schlecht bestellt ist?
WEIGELT
ausweichend.

Na, na, es wird wohl noch reichen. Freilich – Gutmütig. Du nimmst mir das nicht übel, Leopold – ein bischen viel gibst du aus.

LEOPOLD
ärgerlich.
Da haben wir's ja.
WEIGELT.
Du wirst doch nu bald 'ne Anstellung bekommen.
LEOPOLD
höhnisch.
Eine Anstellung! Und wenn ich nun auch wirklich Assessor würde, was vorderhand noch gute Wege hat –
WEIGELT.

Azessor! Siehste, Leopold, das würde mir riesig freuen – erstens die Ehre, und denn das Gehalt. Was kriegst du denn da?

LEOPOLD.
Nach und nach vielleicht so viel, daß ich meinen Nachtwächter fürs Türaufschließen bezahlen kann.
WEIGELT
verblüfft.
Ach, du spaßt wohl? Da stände sich ja ein Nachtwächter besser, als –
LEOPOLD.

Allerdings, wenn du wünschest, daß ich von einem Assessorgehalt existieren soll, dann wäre es besser gewesen, du hättest mich, anstatt jura studieren zu lassen, geehrt, wie man mit dem Pechdraht hantiert.

WEIGELT
ein Stück Semmel im Mund, verschluckt sich vor Schreck und würgt an dem Bissen.
Ach, der Bissen ist mir in die unrechte Kehle gekommen.
LEOPOLD.

Gerade heraus, lieber Vater, wenn deine Mittel nicht dazu ausreichen, dann hättest du mich nicht an ein unabhängiges Leben gewöhnen, mich nicht in dem Gedanken lassen sollen, daß ich der Sohn eines reichen Mannes [44] sei. Jetzt wird es mir schwer fallen, meinen Gewohnheiten zu entsagen.

WEIGELT.
Das verlange ich ja auch gar nicht.
LEOPOLD.

Ich weiß es aber, daß deine Vermögensverhältnisse durchaus nicht so glänzend sind, wie du mich glauben machen möchtest. Warum hast du dein Haus am Kurfürstendamm verkauft?

WEIGELT.

Warum? Weil – weil mir die Gegend da draußen am Grunewald zu unsicher war. Du weißt doch, jede Woche is einer angefallen und abgemurkst worden –

LEOPOLD.

Wenn du wenigstens bei dem Verkauf die dreitausend Mark gerettet hättest, welche du unnützerweise Clara an den Hals geworfen hast.

WEIGELT
vorwurfsvoll.
Leopold! Clara ist deine Schwester.
LEOPOLD.

Sie hat sich von uns losgesagt, deine Großmut war hier ganz überflüssig. Wenn ich aber den Verkauf des Hauses auch gelten lassen wollte, das Schlimmste ist, daß du auch dein Geschäft aufgegeben hast. Es war doch sehr einträglich, du hattest eine große Kundschaft – und dann bist du doch am Ende noch ein Mann in den besten Jahren, so rüstig und kräftig – ich begreife gar nicht, wie du dich so ganz ohne Arbeit wohl fühlen kannst.

WEIGELT
eine Tasse in der Hand, hat während Leopolds Rede wiederholt versucht, dieselbe an den Mund zu bringen und daraus zu trinken.

Es gelingt ihm indessen nicht, er läßt die Tasse zitternd hin und her balanzieren, sie fällt zu Boden und zerbricht.

LEOPOLD.
Was gibt's denn?
WEIGELT
sich mit dem Rockärmel über die Augen fahrend.

Nichts nichts. Mir ist bloß was in die Augen gepflogen, und – und da habe ich die Tasse fallen lassen. Bückt sich auf die Erde und hebt die Scherben auf.

LEOPOLD.

Es war notwendig, daß wir uns einmal ohne Rückhalt aussprachen. Und da dies nun geschehen, will ich dir auch sagen, daß ich meinerseits schon Mittel und Wege gefunden habe, die Situation zu klären.

WEIGELT.
Ganz aufrichtig, Leopold, das verstehe ich nicht.
LEOPOLD.

Die Sache ist sehr einfach. Da ich auf eine ausreichende Unterstützung von dir nicht mehr rechnen kann, so habe ich mich entschlossen, ein Opfer zu bringen.

WEIGELT
erfreut.
Du willst dir mehr einschränken?
LEOPOLD
unwillig.

Nein, das ist es eben, was du[45] nicht begreifst – ich kann meine Lebensgewohnheiten nicht ändern, und – ich will es auch nicht.

WEIGELT.
Wie meinst du denn das mit dem Opfer?
LEOPOLD.
Das beste Auskunftsmittel ist eine reiche Partie – ich werde mich verheiraten.
WEIGELT.
Was du sagst! Du bist also verliebt?
LEOPOLD.

Durchaus nicht. Aber das Mädchen, welches ich heiraten will, ist bis über beide Ohren in mich verliebt.

WEIGELT
nachdenklich.
So, so. Dann ist also sie eigentlich das Opfer.
LEOPOLD.

Nein, meine Freiheit ist es, die ich in den Kauf gebe. Ich habe bereits bei Herrn Schwalbach um die Hand seiner Tochter angehalten; er hat mir zwar noch keine bestimmte Zusage gemacht, aber Emilie ist sein einziges Kind, sie liebt mich, und ich wüßte nicht, was er an mir auszusetzen haben sollte.

WEIGELT.
Nee, das wüßte ich auch nicht. Also Schwalbach heißt er. Was ist er denn?
LEOPOLD.

Er ist Kaufmann, sehr reich; er hat mir versprochen, dich heute zu besuchen – jedenfalls, um das Nähere über die Heirat mit dir zu besprechen. Sei klug, Vater, und vor allen Dingen laß ihn nicht merken, daß es mit unsern Finanzen schlecht bestellt ist. Du handelst nicht nur in meinem, sondern auch in deinem eigenen Interesse, wenn du dafür sorgst, daß die Hochzeit bald, sehr bald stattfindet. Ich will mich jetzt ankleiden. Guten Morgen. Vater. Wendet sich nach links.

WEIGELT.
Leopold!
LEOPOLD
sich umwendend.
Hm?
WEIGELT.
Du hast heute so sonderbar mit mir gesprochen, wie noch nie –
LEOPOLD.

Lieber Vater, wenn du über das, was ich dir gesagt habe, ruhig nachdenkst, wirst du mir für meine Offenheit Dank wissen.

WEIGELT.
Das wäre möglich, aber –
LEOPOLD.
Hast du mir noch etwas zu sagen?
WEIGELT.

Ja. Holt tief Atem, als ob er etwas sagen wollte, hält wieder inne und spricht in verändertem Ton. Ich wollte bloß fragen, ob man sich auf den Mielisch, den du mir empfohlen hast – du weißt doch, zum Vorlesen und Briefeschreiben, weil meine Augen so schwach sind – ob man sich auf den Menschen auch verlassen kann?

[46]
LEOPOLD.
Gewiß, gewiß. Was veranlaßt dich zu dieser Frage?
WEIGELT.
Na, er kommt mir seit einiger Zeit so sonderbar vor.
LEOPOLD
bei Seite.

Oho, das wird bedenklich, da heißt's auf der Hut sein! Laut. Du kannst ganz unbesorgt sein, Mielisch ist ein sehr zuverlässiger Mensch.

WEIGELT.
Na, dann bin ich ja beruhigt.
LEOPOLD.

Vergiß nicht Herrn Schwalbach. Nicht wahr, du wirst ihn nicht eher fortlassen, als bis der Tag der Hochzeit bestimmt ist?

WEIGELT.
Laß mir man machen.
LEOPOLD
Weigelt die Hand reichend.
Und du bist mir nicht mehr böse?
WEIGELT.

Mein Leopold, mein Junge! Wie werde ich dir böse sein! Nimmt Leopolds Kopf zwischen beide Hände und küßt ihn herzlich.

LEOPOLD
geht rasch nach links ab.
6. Szene
6. Szene.
Weigelt. Dann Emma und Marie.

WEIGELT.

Er hat doch ein gutes Herz. Und der Verstand – ah! Wie er merkt, daß das Geld alle wird – ich mag ihm gar nicht sagen, wie alle es wird. Na, wenn der olle Schwalbach wirklich so reich is, dann is ja für ihn gesorgt, und ich –? Ach was, Leopold hat ganz recht, ich bin ja noch rüstig und kräftig, ich kann auch wieder arbeiten. Wenn ihm man nischt abgeht, das is die Hauptsache.

EMMA
Marie an der Hand nach sich ziehend, durch die Mitte.
Komm nur herein, Du hörst ja, er ist zu Hause.
WEIGELT
sich erstaunt umwendend.
Nanu? Was ist denn das für ein Besuch!
EMMA.

Herr Weigelt, ich weiß nicht, ob Sie noch die Ehre haben, uns zu kennen? Ich bin Fräulein Emma Zernickow, und dies ist meine Schwester Marie.

WEIGELT.
Zernickow? Die Amtsrichterstöcher?
EMMA.
Sie irren sich, wir sind Rat geworden.
WEIGELT
barsch.

Was wollen Sie von mir? Wie kommen Sie überhaupt hier rein? Bei mir wird niemand unge – un – ungemolden vorgelassen.

[47]
EMMA.
Wann haben Sie wohl die Güte, unsern Besuch Ihrem Herrn Sohn anzumelden.
WEIGELT.
Mein Sohn ist augenblicklich nicht momentan.
EMMA.

Wenn Sie damit sagen wollen, daß Herr Weigelt junior nicht zu Hause sei, so müssen Sie mir schon erlauben, Sie Lügen zu strafen, denn die Jungfer Köchin draußen hat uns des Gegenteils versichert.

WEIGELT.
Was haben Sie mit meinem Sohn zu sprechen?
EMMA.
Es bleibt Ihnen unbenommen, dieser Unterredung beizuwohnen.
WEIGELT.
Da bin ich doch neugierig. Geht an die Seitentür links. Leopold, komm doch mal 'n Augenblick 'raus.
EMMA
zu Marie.
Marie, du zitterst ja, setze dich doch.
MARIE.
Wozu soll dieser Schritt führen? Du hättest mich nicht überreden sollen –
EMMA.

Laß mich nur machen. Drängt sie auf einen Stuhl. Zu Weigelt. Sie erlauben doch, mein Herr, daß meine Schwester von Ihrer freundlichen Einladung, Platz zu nehmen, Gebrauch macht?

WEIGELT
bei Seite.
Was das Balg für 'ne boshafte Zunge hat!
EMMA.
Wie meinen Sie? Sie haben uns gar keinen Stuhl angeboten, meine Schwester soll wieder auf stehen?
WEIGELT.
Nein, meinetwegen kann sie sitzen bleiben.
EMMA.
Das glaube ich; deswegen sind wir eben hier.
7. Szene
7. Szene.
Vorige. Leopold.

LEOPOLD
zum Ausgehen angekleidet, von links.
Was gibt's denn? Erblickt die Damen, bei Seite. Alle Wetter! Die Marie!
WEIGELT.
Leopold, kennst du diese Damen? Sie wollen mit dir sprechen.
EMMA.

Die Bekanntschaft meiner Schwester wird der junge Herr wohl nicht ableugnen; und was mich anbetrifft, so soll er mich sogleich kennen lernen. Ich bitte nur für einige Minuten um Ihre Aufmerksamkeit, damit ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen kann.

WEIGELT.
Was für 'ne Geschichte?
EMMA.
Es ist eine alte Geschichte, wie unser Landsmann Heine sagt, vielleicht dem Namen nach kennen.
[48]
WEIGELT.
Ich kenne viele Heine's, wer weiß, welchen Sie meinen!
LEOPOLD.
Mein Fräulein, werde ich endlich erfahren, was Sie von mir wünschen?
EMMA.

Eine Kleinigkeit, mein Herr, eine einfache Erklärung. Sie haben, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, meiner Schwester Marie versprochen, sie zu heiraten.

WEIGELT
erstaunt.
Wie?! Leopold, hast du wirklich –?
LEOPOLD.

Nun ja, ich habe allerdings mit Fräulein Marie eine kleine Bekanntschaft gehabt; wenn ich aber gewußt hätte, daß sie dieses Verhältnis so ernst nehmen würde –

MARIE.
Leopold!
EMMA.

So ernst! Sie haben ganz recht, die Sache ist ja eigentlich nur spaßhaft. Ein Mädchen, welches den Liebesschwüren eines jungen Mannes glaubt und sich grämt und abhärmt, wenn sie sich betrogen sieht – das ist lächerlich. Wir aber, aus dem simplen Hause Zernickow, sind nun einmal so. Da ich jedoch nicht zugeben kann, daß meine Schwester ihr junges Leben vertrauert um eine so alltägliche Geschichte, um einen leichtsinnigen, liederlichen Burschen –

WEIGELT.
Oho!
LEOPOLD.
Mein Fräulein –
EMMA
sehr freundlich.

Ich möchte die Herren bitten, mich ausreden zu lassen. In früherem Ton. Ich sagte, um einen leichtsinnigen, liederlichen Burschen, dem ein gebrochenes Mädchenherz nicht mehr gilt, wie eine leere Champagnerflasche – so habe ich ihr versprochen, sie durch eine Radikalkur zu heilen. Zu Leopold. Mein Herr, sagen Sie meiner Schwester gefälligst, daß die Härte des Gesetzes Sie hindert, alle Mädchen, mit denen Sie – wie Sie sich auszudrücken belieben – eine kleine Bekanntschaft haben, zu heiraten; daß Sie also notwendigerweise an allen – ausgenommen die Eine, welche ich durchaus nicht beneiden will – zum Betrüger werden müssen. Und ich bin überzeugt, meine Schwester wird endlich einsehen, wie unwürdig es ist, sich und ihre Familie zu bekümmern um einen Menschen, wie – Mit einer verächtlichen Handbewegung. Sie!

LEOPOLD
mit verhaltenem Aerger.

Mein Fräulein, wenn ich Ihnen antworten wollte, müßte ich fürchten, die Rücksichten außer Acht zu lassen, welche Ihr Geschlecht beanspruchen kann. Ich überlasse es darum meinem Vater, Ihnen zu antworten.

[49]
WEIGELT.
Was soll ich denn sagen?
LEOPOLD.

Sage den Damen, daß du noch heute den Besuch meines Schwiegervaters erwartest. Eilig ab durch die Mitte.

MARIE
das Gesicht verhüllend.
O, mein Gott!
8. Szene
8. Szene.
Vorige. Ohne Leopold.

WEIGELT
zu Marie.
Es is richtig, liebes Kind, mein Leopold is so gut wie Bräutigam. Kennen Sie den reichen Schwalbach?
MARIE
weinerlich, sich die Augen reibend.
Nein.
WEIGELT.

Der is es; oder vielmehr seine Tochter – sie is furchtbar in meinen Sohn verliebt. Also da werden Sie wohl einsehen –

EMMA.

Sie sind wirklich zu freigibig mit Ihren Trostgründen, mein werter Herr Weigelt. Aber bemühen Sie sich nicht weiter; hoffentlich wird sich meine Schwester jetzt selber zu trösten wissen. Marie, du tätest mir einen Gefallen, wenn du vorauf gingest; ich möchte mit diesem Herrn noch ein paar Worte entre nous sprechen, ich komme dann gleich nach.

MARIE.
Ich weiß nicht, Emma, was hier noch zu sprechen wäre?
EMMA.
Ich sage dir das später. Bitte, geh. Drängt Marie zur Mitteltür.
MARIE
ab durch die Mitte.
9. Szene
9. Szene.
Weigelt. Emma.

WEIGELT
bei Seite.

Die Kleine ist mir unangenehm, und dabei kann ich nicht 'mal von Herzen grob zu ihr sein, sie hat so'n paar Augen –

EMMA.

Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, mein Herr. Meine Schwester Marie besitzt diverse Briefe Ihres Herrn Sohnes. Es wäre mir wünschenswert, diese Briefe auszutauschen gegen diejenigen, welche Ihr Herr Sohn von meiner Schwester empfangen hat.

WEIGELT.

Warum denn? Ihre Schwester scheint mir ein sehr gutes Mädchen zu sein, sie wird meinem Sohn gewiß nichts Unrichtiges geschrieben haben.

[50]
EMMA.

O nein, sie schreibt orthographisch richtig. Es ist auch nicht der Inhalt der Briefe, welcher ihr Schande machen könnte, sondern die Adresse.

WEIGELT
mit dem Finger drohend.
Sie, das ist wieder 'ne Malice. Sie sind überhaupt eine kleine, dreiste Person.
EMMA
lächelnd.
Finden Sie?
WEIGELT.

Ja, ja. Ich werde Leopold fragen, ob er Briefe hat und ob er sie 'rausgeben will – damit Basta! Im übrigen kann ich von Ihrem geehrten Besuch keinen Gebrauch mehr machen, ich muß jetzt an meine Toilette gehen, denn ich erwarte heute noch verschiedene Leute. Wenn ich sage verschiedene Leute, dann meine ich –

EMMA
ruhig.
Gespenster.
WEIGELT.

Ach was, Gespenster! Sehr vornehme, sehr reiche Leute erwarte ich. Vornehm. Bon soir, Mamsell. Will nach rechts abgehen.

EMMA.

Sie entschuldigen, das ist wohl ein kleines Mißverständnis? Bon soir heißt nämlich guten Abend und da wir jetzt vormittags elf Uhr haben –

WEIGELT
ärgerlich.
Das ist ganz egal. Dann meine ich bon – bon – bon was anders. Morgen! Ab rechts.
EMMA
macht Weigelt einen tiefen Knix und geht dann laut lachend durch die Mitte ab.
10. Szene
10. Szene.
Minna allein.

MINNA
tritt von links ein.

Was mögen wohl die Amtsrichterstöchter hier gewollt haben? Ich habe doch gewiß gute Ohren, aber so dichte Türen sind mir noch gar nicht vorgekommen.


Geht an den Tisch rechts und setzt das Kaffeegeschirr zusammen.
11. Szene
11. Szene.
Minna. Leopold. Schwalbach.

LEOPOLD
tritt mit Schwalbach durch die Mitte ein.

Wie freue ich mich Herr Schwalbach, daß ich Sie noch getroffen habe. Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie Ihr Versprechen so bald erfüllen.

SCHWALBACH.
Ich halte immer Wort, auf die Minute.
LEOPOLD.

Gewiß, Ihre Pünktlichkeit ist sprichwörtlich. [51] Minna, schnell, sagen Sie meinem Vater, daß Herr Schwalbach da sei.

MINNA
bei Seite.
Wer is denn das? Kenne ich gar nich. Ab rechts.
LEOPOLD.
Wollen Sie nicht gefälligst Platz nehmen?
SCHWALBACH.
Danke.
LEOPOLD.
Fräulein Emilie befindet sich doch wohl?
SCHWALBACH.
Ja.
LEOPOLD.

Die Stunden, die ich nicht bei ihr sein kann, werden mir zu Ewigkeiten. O, wenn Sie meiner Ungeduld doch bald ein Ziel setzen wollten!

SCHWALBACH.
Hm! wollen sehen.
LEOPOLD.
Da ist mein Vater.
12. Szene
12. Szene.
Vorige. Weigelt. Minna von rechts.

WEIGELT
auffallend modern gekleidet.
Herr Schwalbach, ich habe die Ehre.
SCHWALBACH
mit einer leichten Verbeugung.
Diener, Herr Weigelt.
WEIGELT.
Was darf ich Ihnen vorsetzen?
SCHWALBACH.
Wie?!
WEIGELT.

Wir müssen doch ein Glas Wein zusammen trinken. Vielleicht ein kleines Chateauchen, direkt aus Lafitte?

SCHWALBACH.
Danke.
WEIGELT.

Oder Champagner? Natürlich, Champagner! Minna, hole mal 'ne Pulle Röderer. Zu Schwalbach. Er kost't jetzt 10 Mark, aber Sie brauchen sich gar nich zu genieren – alles im Keller.

SCHWALBACH.
Ich trinke niemals Wein.
WEIGELT.
Ach, schade!
SCHWALBACH.
Ich setze voraus, daß Ihnen der Zweck meines Gesuches bekannt ist?
WEIGELT.
Gewiß, gewiß. Minna!
MINNA.
Herr Weigelt?
WEIGELT.
Drücke dir.
MINNA
bei Seite.

Es ist abscheulich! wenn nur die Türen nicht so dicht wären. Mit dem Kaffeegeschirr ab durch die Mitte, sie läßt die Zeitung auf dem Tische liegen.

13. Szene
[52] 13. Szene.
Vorige. Ohne Minna.

LEOPOLD.

Vielleicht Ist es Ihnen erwünscht, Herr Schwalbach, mit meinem Vater allein zu sprechen? Soll ich mich entfernen?

SCHWALBACH.
Nein. Das, was ich Ihrem Herrn Vater zu sagen habe, geht ja Sie am meisten an.
WEIGELT.

Sehr richtig. – Schwalbach ein Zigarrenetui präsentierend. Zigarre gefällig? Echt importiert, 540 Mark. Wenn ich sage 540 Mark, denn meine ich per Mille.

SCHWALBACH.
Danke, ich rauche nicht.
WEIGELT.

Sie rauchen auch nicht? Aber essen tun Sie doch? Vielleicht ein Caviarsemmelchen mit Lachs, oder so was?

SCHWALBACH.
Bitte, kommen wir zur Sache, meine Zeit ist gemessen.
LEOPOLD
schiebt Schwalbach einen Stuhl hin; dieser setzt sich und dankt Leopold mit einer leichten Kopfbewegung.
SCHWALBACH.

Ihr Herr Sohn hat um die Hand meiner Tochter Emilie angehalten. Dieser Antrag kam mir nicht unerwartet, denn meine Tochter hatte mir schon vorher erklärt, daß sie in einer Verbindung mit Ihrem Sohne das Glück ihres Lebens sehen würde.

WEIGELT
hat sich ebenfalls einen Stuhl genommen und dicht neben Schwalbach gesetzt.

Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich sollte es zwar in seiner Gegenwart nicht sagen, aber – Schwalbach halb ins Ohr flüsternd. es ist ein ausgezeichneter Mensch.

LEOPOLD.
Aber Vater!
WEIGELT.
Das hast du gehört? Zu Schwalbach. Was sagen Sie zu die Ohren?
SCHWALBACH.

Sie können sich wohl denken, daß ich als vorsichtiger Geschäftsmann und gewissenhafter Vater vorher Erkundigungen einziehen muß, ehe ich mein Jawort gebe.

WEIGELT.
Und deshalb kommen Sie zu mir? Das ist vernünftig, da sind Sie an der richtigen Quelle.
SCHWALBACH.

Ich habe mir erlaubt, auch anderweitig Erkundigungen einzuziehen, und ich muß offen gestehen, das, was ich über Ihren Herrn Sohn erfahren habe, ist nicht gerade das Vorteilhafteste.

LEOPOLD
überrascht.
Wie?!
WEIGELT.
Verleumdung! Es hat ihn einer angeschwärzt!
SCHWALBACH.

Ich prüfe zu genau, als daß man jemand [53] bei mir anschwärzen könnte; ich lasse mir aber auch ebensowenig etwas weißmachen, und wenn Ihr Herr Sohn von Ihren glänzenden Vermögensverhältnissen gesprochen hat –

WEIGELT.
Das stimmt, das Vermögen ist da. Wirft sich stolz in den Sessel zurück.
SCHWALBACH.

Sie täuschen sich hierüber vielleicht selbst, Herr Weigelt. Aber gleichviel, ich lege keinen allzu großen Wert auf die Vermögensumstände meines zukünftigen Schwiegersohnes.

WEIGELT
Schwalbach vertraulich auf die Kniee klopfend.
Es ist ja auch Nebensache. Wenn einer so viel Geld hat wie Sie!
SCHWALBACH.
Sie vermuten also, daß ich reich bin?
WEIGELT.
Kleiner Schäker! Als ob mir Leopold das nicht gleich gesagt hätte!
SCHWALBACH.
So?
LEOPOLD
bei Seite.
Er wird noch Alles verderben.
SCHWALBACH.
Nun, Herr Leopold hat ganz recht, wenn er in meiner Tochter eine reiche Erbin sieht.
LEOPOLD.
Herr Schwalbach, Sie werden mir hoffentlich glauben, wenn ich versichre, daß nicht dieser Umstand –
SCHWALBACH.
Bitte, unterbrechen Sie mich nicht.
WEIGELT.
Jawohl, Leopold, was red'st du dazwischen? Wir sind gerade im besten Zuge.
SCHWALBACH.
Vor allen Dingen bestimmt die Moral, die Ehrenhaftigkeit des Charakters den Wert des Mannes.
WEIGELT.
So ist es, und mein Leopold ist ein Muster.
SCHWALBACH.

Ich muß leider widersprechen. Aber wenn Ihr Herr Sohn ein etwas leichtes, sogar frivoles Leben führt, so trifft die Schuld dafür zum Teil auch wohl Sie, Herr Weigelt.

WEIGELT
erstaunt.
Mir?
SCHWALBACH
lächelnd.

Ja, Sie. Sie sind, wenn auch vielleicht nur aus übergroßer Zärtlichkeit und Liebe, zu nachsichtig, zu vertrauensvoll gewesen; indessen ein Vater hat ernste, strenge Pflichten für die Erziehung seiner Kinder.

WEIGELT.
Ich habe auch alles Mögliche getan.
SCHWALBACH.
Aber doch wohl umsonst.
WEIGELT.

Im Gegenteil, es hat 'ne Masse Geld gekostet. Aber das schad't nischt, und wenn es noch mehr kostet – ich gebe alles für meinen Leopold, und wenn ich als Bettler sterben soll!

SCHWALBACH.

Als Bettler sterben, wäre noch nicht das [54] Schlimmste, wenn Sie nur nicht als Bettler leben müssen. Aufstehend. Doch kommen wir zum Ziele. Ich will glauben, daß aufrichtige Liebe einen jungen Mann, selbst wenn er bis dahin ein sehr leichtfertiges Leben geführt hat, zur Umkehr, zu ernsten, soliden Gedanken kräftigen kann. Ich will auch kein grausamer Komödienvater sein, der dem Herzenswunsche seines einzigen Kindes starren Eigensinn entgegensetzt.

WEIGELT.
Das wär' auch gemein.
SCHWALBACH.

Aber – das gebietet mir meine Pflicht – erst muß ich überzeugt sein, daß die Liebe Ihres Sohnes zu meinem Kinde eine wirklich aufrichtige ist, und daß sie ihn anspornt, mit der Vergangenheit abzuschließen, ein neues Leben zu beginnen, sich eine Stellung zu erringen, in welcher er seine Fähigkeiten und Kenntnisse, sich selbst und der Gesellschaft zum Nutzen, verwerten kann.

WEIGELT.
O, mein Leopold hat sehr gute Aussichten.
SCHWALBACH.

Für gute Aussichten, mein lieber Herr Weigelt, braucht man ein Perspektiv, aber keine Frau. Ich verlange Beweise, Tatsachen. Und bis dahin muß ich – so leid es mir auch meiner Tochter wegen tut – Nein sagen.

LEOPOLD.
Das heißt –?
SCHWALBACH.

Das heißt, junger Mann, ich erlaube Ihnen, um meine Emilie zu werben, oder besser, sie sich zu erwerben. Versuchen Sie es, ich will Sie gern dabei unterstützen. Adieu! Weigelt die Hand reichend. Mein lieber Herr Weigelt –

WEIGELT.

Alles in schönster Ordnung, wir sind einig. Ob das nu ein paar Wochen länger dauert, darauf kommt's ja nich an. Es war mir sehr angenehm – ich werde Ihnen das Geleite geben.

SCHWALBACH.
Sie sind zu freundlich.
WEIGELT.
Bitte, bitte. Geleitet Schwalbach unter vielen Komplimenten zur Mitteltür hinaus und folgt sodann.
14. Szene
14. Szene.
Leopold allein.

LEOPOLD
erregt auf- und abgehend.

Ist das nicht zum Tollwerden? Auch dieser letzte Rettungsanker soll reißen? Nein, dreitausendmal Nein! Emilie liebt mich, sie liebt mich leidenschaftlich – vielleicht könnte man sie überreden? – Ja, das muß glücken. Was der Alte mir nicht freiwillig geben[55] will, das werde ich ihm abtrotzen. Es soll mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, mich für diese Stunde zu revanchieren. Ab links.

15. Szene
15. Szene.
Weigelt. Mielisch.

Weigelt tritt durch die Mitte ein, Mielisch folgt ihm.

WEIGELT.
Na, Mielisch, kommen Sie herein. Haben Sie die Sache besorgt?
MIELISCH.
Alles bestens besorgt.
WEIGELT.
Sie haben also das Geld?
MIELISCH
überreicht Weigelt ein geschlossenes Couvert.
Wohlgezählte 6000 Mark. Die Abrechnung vom Bankier liegt dabei.
WEIGELT.

6000 Mark? Da verliere ich ja beinahe die Hälfte! Sieht das Couvert flüchtig durch und steckt es dann ein.

MIELISCH.

Es ist traurig, aber wer verliert heutzutage nicht! Die Zeitung nehmend. Soll ich Ihnen die Börsennachrichten vorlesen?

WEIGELT.

Nee, das neuste Politische. Ich komme heute ausnahmsweise in gebildete Gesellschaft – wenn ich sage, ausnahmsweise, denn meine ich, sehr gebildete, wo viel von Politik gesprochen wird. Da muß man Bescheid wissen Setzt sich links.

MIELISCH.

Gewiß. Bei Seite. Es kitzelt mich, den alten Schwachkopf einmal ordentlich anzuführen. Warum auch nicht? Da ich mich doch morgen aus dem Staube machen muß –

WEIGELT.
Na, was gibt es Interessantes?
MIELISCH
scheinbar aus der Zeitung lesend.

»Die Reise des Papstes nach Berlin ist nunmehr beschlossene Sache; derselbe wird am 13. künftigen Monats hier eintreffen.«

WEIGELT.
Was? der Papst kommt nach Berlin?
MIELISCH.

Wissen Sie denn das nicht? Sie waren gestern sehr beschäftigt, als ich kam, Sie wollten die Zeitung selber lesen?

WEIGELT.
Richtig, ich erinnere mir, es stand gestern schon was davon d'rin. Also er kommt wirklich?
MIELISCH.

Es werden ja schon Vorbereitungen getroffen. Liest. »Zu den in Aussicht genommenen Festlichkeiten dürfte in erster Reihe eine großartige Parade auf dem Tempelhofer [56] Felde gehören; außerdem soll die erste Aufführung des neuen Ballets bis zur Ankunft des Papstes aufgeschoben werden.«

WEIGELT.
Nee, das hätte ich aber nich gedacht!
MIELISCH.
Ich auch nicht. Beide Seite. Dummkopf!
WEIGELT.
Sonst noch was Interessantes?
MIELISCH.
Nicht viel, außer der Affäre mit Bebel 2.
WEIGELT.
Was is denn mit Bebel los?
MIELISCH.

Wie? Herr Weigelt, das wissen Sie nicht? Es scheint, als ob Sie die gestrigen wichtigen Nachrichten ganz übersehen haben?

WEIGELT.
Ich war allerdings ein bischen zerstreut. – Aber lesen Sie man.
MIELISCH
lesend.

»Es bestätigt sich, daß bei der engeren Wahl zwischen Herrn Bebel und Singer Ersterer den Sieg davongetragen hat.«

WEIGELT.
Wie denn? Für den Reichstag?
MIELISCH.
Aber Herr Weigelt! Bebel ist doch für den französischen Thron in Aussicht genommen.
WEIGELT
verblüfft.
Was?
MIELISCH.
Nun ja, die Wiederherstellung des Kaiserreichs ist doch beschlossene Sache.
WEIGELT.
Und Bebel soll –?
MIELISCH.
Kaiser von Frankreich werden.
WEIGELT
rutscht vor Schreck vom Stuhl herab und setzt sich auf die Erde.
Nu bitt' ich aber zu grüßen.
MIELISCH
eilt zu Weigelt.
O, Sie haben sich doch nichts weh getan?
WEIGELT.
Nichts? Na, das will ich grade nich sagen, aber bedeutend ist es nich.
MIELISCH
hilft ihm auf.
Haben Sie heute sonst noch etwas für mich zu tun?
WEIGELT.

Ja, hier haben Sie ein Pack Rechnungen, die könnten Sie mal durchsehen und zusammenziehen, wie viel es im ganzen macht. Gibt ihm die Rechnungen.

MIELISCH.
Sogleich.
WEIGELT
im Abgehen.
Also Bebel Kaiser von Frankreich? Nee, wer hätte das gedacht? Ab rechts.
16. Szene
[57] 16. Szene.
Mielisch. Leopold.

LEOPOLD
tritt von links auf und will, ein Liedchen trällernd, durch die Mitte abgehen.
MIELISCH
tritt Leopold in den Weg.
Es freut mich ganz ausnehmend, Sie bei so guter Laune anzutreffen.
LEOPOLD
barsch.
Was wollen Sie?
MIELISCH.
Ihrer gütigen Empfehlung verdanke ich diese angenehme Stellung.
LEOPOLD.
Schon gut, ich verlange keinen Dank.
MIELISCH.
Und ich möchte doch so gern, daß Sie mich zu Dank verpflichten.
LEOPOLD
stutzend.
Was heißt das?
MIELISCH.
Ich bitte um zweitausend Mark.
LEOPOLD.
Sind Sie toll?
MIELISCH.

Beinahe scheint es so, denn ich sehe immerwährend Kriminalbeamte hinter mir. Jeden Augenblick fürchte ich, eine schwere Hand auf meiner Schulter lasten zu fühlen und eine rauhe Stimme zu hören, welche mir in die Ohren schreit: Im Namen des Gesetzes! Ich möchte diesem unheimlichen Gedanken gern entfliehen, aber wohin soll man seine Flucht lenken, wenn man kein Geld hat? Ich bitte um zweitausend Mark.

LEOPOLD.
Lassen Sie mich in Ruhe, ich habe selber kein Geld.
MIELISCH.

O, das ist schlimm. Dann weiß ich meinem bedrängten Gewissen nicht anders Ruhe zu schaffen, als daß ich offen bekenne, daß ich durch Ihre, leider so verführerische, Ueberredungskunst zum Mitschuldigen einer Fälschung geworden bin. Ihren liebenswürdigen, guten Herrn Vater, welcher im Lesen und Schreiben etwas hinter den Anforderungen der Zeit zurückgeblieben ist, zu veranlassen, daß er seinen ehrlichen Namen, anstatt, wie er glaubte, unter einen Brief, auf einen Wechsel setzte! O, wer weiß, mit welcher Summe Sie dieses Akzeptchen ausgefüllt haben?

LEOPOLD.
Ich habe den Wechsel gar nicht benutzt, ich habe ihn zerrissen.
MIELISCH.

Das ist hübsch von Ihnen. Aber mein Gewissen läßt mir doch keine Ruhe, ich werde Ihrem Herrn Vater alles gestehen.

[58]
LEOPOLD
bei Seite.
Auch das noch! Laut. Mielisch, Sie sind ein Schurke. Sie sollen die zweitausend Mark haben.
MIELISCH.
Wann?
LEOPOLD.
Morgen.
MIELISCH.
Dann werde ich den Druck meines Gewissens noch einen Tag zu ertragen suchen.
LEOPOLD
bei Seite.
Jetzt bleibt mir keine Wahl mehr. Schnell zu Emilie!

Eilt durch die Mitte ab.
Der Zwischenvorhang fällt.

Verwandlung [1]

1. Szene
1. Szene.
Zernickow. Natalie. Marie. Anna. Emma. Mehlmeyer. Rudolf. Clara. Alle an einem Tische rechts. Herr Schmidt an einem Tische links. Kellner. Gäste.
Ein sehr lebhaftes, bunt bewegtes Leben.

RUDOLF
auf den Tisch klopfend.
Kellner, noch ein Seidel!
CLARA.
Rudolf, wirst du auch nicht zu viel trinken? Du weißt, du kannst nicht viel vertragen.
RUDOLF.

Potztausend, Cläre, heute, wo uns der Herr Rat Zernickow die Ehre gibt, mit uns zu kneipen, soll ich mir doch nicht etwa Zwang antun? Nee, das kannst du nicht verlangen; heute mußt du dich schon d'rauf gefaßt machen, daß ich ein bischen über die Schnur haue.

ZERNICKOW.

Ja, Frau Starke, heute müssen Sie uns ein wenig die Zügel schießen lassen. Ich kriege von meiner Alten auch Absolution, – Zu Natalie. nicht wahr?

NATALIE.

Ich bitte dich, Carl, trinke ja nicht zu viel. Bedenke, daß wir uns in einem öffentlichen Lokal befinden; und wenn du einen Spitz hast, dann weinst du immer.

ZERNICKOW.
Einstweilen aber lache ich und bin sehr vergnügt; du siehst also, es hat noch keine Gefahr.
ERSTER KELLNER
an den Tisch rechts tretend.
Die Herrschaften haben geklopft?
[59]
RUDOLF.
Ja, ein frisches Seidel.
ZERNICKOW.
Mir auch!
RUDOLF
Mehlmeyer zurufend.
Na, und Sie, Fritze?
MEHLMEYER
sitzt mit dem Rücken halb dem Publikum zugewendet, neben Emma, deren Taille er mit dem linken Arm umfaßt hält, indem er eifrig mit ihr spricht; gleichzeitig trommelt er auf der Schulter der auf der anderen Seite neben ihm sitzenden Anna eine Passage.
Dudeldidum!
RUDOLF.
He, Mehlmeyer!
ANNA
Mehlmeyer auf die Hand schlagend.
Aber Fritz!
MEHLMEYER
auffahrend.
Ja, was gibts?
RUDOLF.
Ob Sie auch noch ein Seidel wollen?
MEHLMEYER.
Natürlich.
ERSTER KELLNER.
Schön. Nimmt die leeren Gläser und gebt ab.
RUDOLF.
Na, Fritze, Sie phantasieren wohl wieder mit Emma?
EMMA.

Im Gegenteil, wir beschäftigen uns mit sehr reellen Dingen; wir überlegen, wieviel Geld wir brauchen, um Hochzeit zu machen.

RUDOLF.

Gar nichts, wenn Ihr Euch lieb habt. Dann geht es auch so, nicht wahr, Cläre? Umarmt Clara und küßt sie.

ALLE
lachen und rufen.
Bravo!
CLARA
verlegen.
Aber Rudolf! Ich fürchte, du hast schon zu viel getrunken.
RUDOLF.
Weil ich dich küsse? Schlechtes Weib, du! Bin ich etwa weniger zärtlich, wenn ich nüchtern bin?
ZERNICKOW.

Es ist wahr, Ihr führt ein Leben wie die Turteltauben. Weinerlich. So was stimmt mich immer weich. Streckt seinen Arm nach Natalie aus. Natalie, wo bist du denn.

NATALIE
rückt etwas weiter mit ihrem Stuhl.
Carl, ich bitte dich!
2. Szene
2. Szene.
Vorige. Minna. Krümel.

KRÜMEL
tritt mit Minna am Arm von rechts auf und setzt sich mit ihr an den leeren Tisch in der Mitte.
Heda, Kellner!
ZWEITER KELLNER.
Sie befehlen?
KRÜMEL.
Kennen Sie den Koch Lehmann!
ZWEITER KELLNER.
O ja.
KRÜMEL.
Dann sagen Sie ihm mal, daß der Unteroffizier Krümel mit seiner Braut da ist.
ZWEITER KELLNER.
Sonst wünschen Sie nichts?
[60]
KRÜMEL.
Er wird Ihnen schon Bescheid sagen.
ZWEITER KELLNER
bei Seite.
Sonderbar! Ab.
CLARA.
Nein, ich täusche mich nicht. Steht rasch auf und geht zu Minna. Minna!
MINNA
freudig überrascht.
Ach, Fräulein Clara. Nee, entschuldigen Sie, Frau Starke. Zeigt auf Krümel. Das ist mein Bräutigam.
KRÜMEL
steht auf und grüßt Clara militärisch.
CLARA
dankt leicht.
Es freut mich. Halbleise zu Minna. Minna, du dienst noch beim Vater?
MINNA.
Gewiß.
CLARA.
Wie geht es ihm? Ist er wohl?
MINNA.
Na und ob! Munter wie ein Fisch im Wasser.
CLARA.
Und mein – Stockt. Bruder?
MINNA.
Der junge Herr? Der ist immer lustig.
CLARA.
Spricht mein Vater wohl zuweilen von – mir?
MINNA.

Von Ihnen? Wenn ich aufrichtig sein soll, nein. Ich habe es wohl mal versucht, aber da is er fuchswild geworden – Sie wissen ja – Deutet auf Rudolf.

CLARA
seufzend.
Ach ja!
RUDOLF.
Na, Clara, wo läufst du denn hin?
CLARA
legt, gegen Minna gewendet, den Finger auf den Mund und tritt wieder an den Tisch rechts.
RUDOLF.
Mit wem sprachst du denn da?
CLARA.
Es ist die Minna, du weißt ja, die früher bei uns diente.
RUDOLF.

Und die jetzt –? Du, ich will nicht hoffen, daß Du hinter meinem Rücken Intriguen machst? Du kennst mich, in dem Punkt laß ich nicht mit mir spaßen.

MARIE.
Was habt ihr denn?
CLARA.
O nichts, nichts.
3. Szene
3. Szene.
Vorige. Weigelt.

WEIGELT
tritt aus dem Hintergrunde links auf.
Der olle Schwalbach is noch nich da. Und nirgends ein leerer Tisch?
ERSTER KELLNER
zeigt auf den Tisch links.
Wollen Sie vielleicht hier Platz nehmen?
WEIGELT.

Ja, das ginge, da kann man gleich die Eingangstüre übersehen. Geht nach dem Tisch links und bemerkt Minna. Nanu, da ist ja Minna?

[61]
MINNA
freundlich grüßend.
Guten Abend, Herr Weigelt.
WEIGELT.
Wie kommst du denn hierher?
MINNA.
Sie haben mir ja erlaubt, auszugehen.
WEIGELT.
Aber in dies Lokal –?
MINNA.
Es is jetzt das feinste, Herr Weigelt.
WEIGELT.
So? Bei Seite. Das is ja 'ne hübsche Gesellschaft für mich.
ERSTER KELLNER
zu Weigelt.
Sie wünschen?
WEIGELT.
Einstweilen bloß Bier.
ERSTER KELLNER.
Sogleich.
WEIGELT
setzt sich an den Tisch links, an welchem Schmidt sitzt.
Guten Abend, mein Herr.
SCHMIDT
hält eine Zeitung in der Hand und schläft; er antwortet nicht.
CLARA
bemerkt Weigelt und fährt erschrocken zusammen.
Mein Gott!
ALLE
an dem Tisch rechts durcheinander.
Was gibt's? Was ist geschehen?
CLARA
leise zu Rudolf.
Rudolf, ich bitte dich, sieh dorthin. Deutet auf Weigelt.
RUDOLF
Weigelt bemerkend.

Na, was weiter! Ein neuer Gast, den ich nicht kenne und den du auch nicht kennst, hörst du? Wir sind hier in einem öffentlichen Lokal, in dem man sich gefallen lassen muß, mit Gott weiß wem zusammen zu sitzen, sonst –! Steht auf.

CLARA
erfaßt Rudolfs Hand und sieht ihn bittend an; er setzt sich wieder.
WEIGELT
ist bei Rudolfs letzten Worten aufmerksam geworden, hat seine Augen nach rechts gewendet und springt auf.

Schwerebrett! Bin ich da in eine Falle geraten? Da is ja meine – die ganze Sippschaft! Wie sie mich anglotzen. Soll ich gehen? Nein. Was habe ich nötig, vor ihnen auszureißen. Erst recht nicht! Setzt sich wieder.

ZERNICKOW.

Ach, das ist eine unangenehme Störung. Wir waren so vergnügt, und jetzt – Weinerlich. Das verstimmt mich.

WEIGELT.

Ich gucke doch nu nich hin, aber ich fühle es, daß sie alle nach mir hersehen. Wenn ich mir nur verstecken könnte. Halt, die Zeitung! Nimmt Schmidt die Zeitung aus der Hand. Mein Herr, Sie erlauben wohl?

SCHMIDT
erwachend.
Was fällt Ihnen denn ein? Sehen Sie nicht, daß ich die Zeitung lese?
WEIGELT.
Sie schlafen ja.
[62]
SCHMIDT.
Ich habe aber noch nicht ausgeschlafen.Nimmt sich die Zeitung wieder.
CLARA.
Rudolf, laß uns nach Hause gehen.
RUDOLF.

Was fällt dir ein? Jetzt bleiben wir erst recht. Absichtlich laut. Ich verzehre hier mein Geld, das ich mir durch meine Arbeit verdient habe; ich kann jedem Menschen dreist in die Augen sehen. Trinkt rasch sein Bier aus und ruft dann. Kellner, noch ein Seidel!

WEIGELT.
Der Kerl will mir ärgern. Nur unbefangen. Zu Schmidt. Mein Herr, was halten Sie vom Papst?
SCHMIDT
einen grunzenden Ton von sich gebend.
Hm!
WEIGELT.
Sie wundern sich auch, daß er nach Berlin kommt, nich wahr?
SCHMIDT.
Wer?
WEIGELT.
Na, der Papst. Haben Sie es denn nich gelesen?
SCHMIDT.
Wo?
WEIGELT.

Na, da in der Zeitung steht es ja, gleich hier auf die erste Seite. Zeigt auf eine Stelle in der Zeitung.

SCHMIDT
sieht hin.
Das ist ja die Lotterieliste.
WEIGELT.

Suchen Sie man, Sie haben es gewiß übersehen. Es wird ja schon ein neues Ballett für ihn einstudiert.

SCHMIDT
betrachtet Weigelt ängstlich und rückt etwas weiter.
WEIGELT.
Was halten Sie denn von Bebel?
SCHMIDT.
Wieso?
WEIGELT.
Na, ob er nach Paris gehen wird – er soll doch da Kaiser werden.
ERSTER KELLNER.
Hier, ein Seidel. Stellt vor Weigelt ein Glas Bier hin.
SCHMIDT
steht auf und retiriert ängstlich.

Herrjeh, der muß irgendwo entsprungen sein – ich danke! Kellner, bezahlen! Gibt dem Kellner Geld und entfernt sich dann rasch, immer scheue Blicke auf Weigelt werfend.

4. Szene
4. Szene.
Vorige ohne Schmidt.

WEIGELT.

So, nu is der Tisch leer. Legt den Stuhl, auf welchem Schmidt gesessen hat, um. Wenn ich mir mit Schwalbach nich hier verabredet hätte, ich bliebe doch nich. Wenn er nur Wenigstens bald käme.

KRÜMEL
zum zweiten Kellner.
Hören Sie mal, Kellner, wie ist das? Bringen Sie das Essen noch nicht?
[63]
ZWEITER KELLNER.
Sie haben ja noch nichts bestellt.
KRÜMEL.
Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen zum Koch gehen.
ZWEITER KELLNER.

Ach, wenn Sie was haben wollen, dann müssen Sie es bei mir bestellen. Bitte, hier ist die Karte. Legt Krümel die Speisekarte vor.

5. Szene
5. Szene.
Vorige. Schwalbach.

SCHWALBACH
tritt sehr erregt von rechts auf, blickt suchend umher, bemerkt Weigelt und tritt rasch auf ihn zu.
Da sind Sie ja.
WEIGELT
sichtlich erfreut.

Ach, Schwalbachchen! Na, Sie kommen aber spät. Sie sind ja ganz außer Atem? Ja, die Treppen sind nich ohne.

SCHWALBACH
sehr erregt und laut.
Mein Herr!
WEIGELT.
Verpusten Sie sich doch erst ein bischen.Hält ihn einen Stuhl hin.
SCHWALBACH.
Ihr Sohn ist ein – ein niederträchtiger Bube!
WEIGELT läßt den Stuhl fallen.
Was sagen Sie da?!
CLARA
aufspringend.
Leopold!
RUDOLF
hält Clara zurück.
Sitzen bleiben.
SCHWALBACH.

Wissen Sie, was er getan hat? Er hat meine Tochter überredet, mich zu bestehlen – er wollte mit ihr entfliehen. Das saubere Bürschchen hat es indessen vorgezogen, sich allein aus dem Staube zu machen; aber die sechstausend Mark, die sie mir entwendet, die hat er mitgenommen – der Dieb!

WEIGELT.

Herr! Ergreift sein Glas mit einer Bewegung, als wollte er es Schwalbach an den Kopf werfen, besinnt sich aber, zwingt sich gewaltsam zum Lächeln, führt das Glas mit zitternder Hand an die Lippen und trinkt das Bier aus. Kleine Pause.

RUDOLF.

Bah! Was ist da weiter! Der junge Herr hat sich in der Eile vergriffen und statt des Mädchens das Geld erwischt.

CLARA
vorwurfsvoll.
Rudolf!
WEIGELT
sich gewaltsam zur Ruhe zwingend.

Herr Schwalbach, ich sollte Ihnen eigentlich böse sein, daß Sie so schlecht von meinem Sohn denken. Allerdings hatte er die Absicht, mit Ihrer Tochter zu fliehen, weil Sie heute Morgen so grausam zu ihm waren. Aber er dachte, es würde Ihnen unangenehm sein, darum hat er es unterlassen.

[64]
SCHWALBACH.
Er ist aber fort?
WEIGELT.
Eine kleine Geschäftsreise –
SCHWALBACH
höhnisch.
So? Und mein Geld, meine sechstausend Mark?
WEIGELT.

Die hat er mir gebeten, Ihnen zurückzugeben. Hier sind sie. Reicht Schwalbach das Kuvert, welches ihm Mielisch früher gegeben hat. Bei Seite. Das ist das Letzte!

RUDOLF.
Ich möchte wetten, daß der Alte lügt.
SCHWALBACH
hat das Geld gezählt.

Es mag gut sein. Selbstverständlich, mein Herr, kann von einer Gemeinschaft zwischen uns nicht mehr die Rede sein. Leben Sie wohl. Ab.

6. Szene
6. Szene.
Vorige ohne Schwalbach.

WEIGELT
läßt sich langsam auf den Stuhl nieder und stützt den Kopf in beide Hände.
KRÜMEL
zu dem zweiten Kellner, mit dem er sich in Streit befindet.
Wie können Sie von mir Zahlung verlangen? Ich sage Ihnen doch, Lehmann hat mir eingeladen.
ZWEITER KELLNER.

Ach was, darauf kann ich mich nicht einlassen. Minna sucht den Streit zu schlichten, zieht schließlich ihr Portemonnaie und zahlt selber.

RUDOLF.
Nur keinen Streit! Immer lustig – dafür sind wir hier.
WEIGELT.
Ich weiß nich, mir ist so duselig im Kopf. Ob das die vielen Lichter machen?

Melodram.


Weigelt steht auf, wankt, als ob er fallen würde, und hält sich an der Stuhllehne fest. Minna und Krümel eilen auf Weigelt zu und unterstützen ihn.
CLARA
welche jede Bewegung ihres Vaters ängstlich beobachtet hat, springt auf, als sie ihren Vater wanken sieht, und schreit.
Mein Vater!
RUDOLF
erhebt sich ebenfalls und ergreift Claras Hand.
Du hast keinen Vater mehr, Du gehörst zu Deinem Mann.
[65]
WEIGELT
zu Minna und Krümel, sich gewaltsam aufrichtend.

Was wollt Ihr denn? Laßt mich doch, mir ist nichts – nichts – gar nichts.

Das Orchester fällt mit der Melodie des Auftrittsliedes ein, Weigelt versucht zu singen: »Meine einzige Passion ist –« Die Stimme versagt ihm, er wankt, von Minna und Krümel unterstützt, ab. Clara verfolgt Weigelt mit ängstlich besorgten Blicken, Rudolf hält Clara mit der Hand fest, so daß sie nicht von der Stelle kann. Sämtliche Personen an dem Tische rechts bilden eine teilnahmsvolle Gruppe.


Der Vorhang fällt.

Ende des zweiten Aktes.

3. Akt

1. Szene
1. Szene.
Weigelt. Emma hinter der Szene.

WEIGELT
auffallend gealtert, mit ganz weißem Haar, in sehr abgetragener Garderobe, sitzt an dem Schustertisch neben dem geöffneten Fenster und arbeitet emsig.

Duett.

EMMA
singt hinter der Szene.
Der Mensch ist gar dumm, wenn er glaubt,
Der Reichtum allein sei das Glück,
Was heute der Zufall uns schenkt,
Nimmt morgen vielleicht er zurück.
Ich bin nicht an Luxus gewöhnt
Und hab' ihn auch niemals ersehnt.
Kenne nicht Neid,
Kenne nicht Leid,
Bin vergnügt auch im einfachen Kleid.
WEIGELT.
Macht dir mal
Auf Erden gar nichts mehr Plaisier,
Greife zur Arbeit –
Du wirst sehn, die hilft schleunigst dir.
[67] Trocken Brot,
Selbst wenn du etwas mäklig bist,
Schmecken wird's,
Wenn du es nach der Arbeit ißt.
EMMA.
Tralala! Tralala!
WEIGELT.

Die kleine Lerche da unten is ein wahrer Schatz for mir. Wenn ich so spät bis in die Nacht 'rin geschustert habe und denn morgens nicht aus die Federn kann – wenn ich sage Federn, denn meine ich Strohsack – dann weckt mir immer der lustige Gesang und erinnert mir, daß es Zeit is, an die Arbeit zu gehen. Und ich habe Eile, übermorgen is schon der Erste, und mir fehlen an die fünfzehn Mark noch zwei Mark sechzig Pfennige. – Es is doch ein guter Kerl, der David, daß er sich mit funfzehn Mark monatlich begnügt. Freilich, ich hätte den Alimentations-Eid leisten können, daß ich nischt habe, und dann hätte ich den Wechsel gar nicht zu bezahlen brauchen; oder, wenn ich gesagt hätte, daß der Wechsel gefälscht war –? Pfui Gottlieb, du bist ein gemeiner Kerl, du wärst imstande, dein eigen Fleisch und Blut ins Zuchthaus zu bringen. Pfui Deibel! Kleine Pause. Dann lächelnd. Aber ich brauche mir ja nich zu schimpfen, ich tu' es ja nich – nee! An den Fingern zählend. Vier Tausend fünf Hundert Mark habe ich für die Möbel und den andern Krimskrams gekriegt, fünf Jahre jeden Monat fünfzehn Mark macht neun Hundert Mark, nu fehlen bloß noch sechs Hundert Mark. Wenn ich die abgearbeitet habe, denn bin ich fertig zum Abrutschen; wenn dann zu mir der liebe Gott sagt: Gottlieb, komm, denn hält mir nischt mehr zurück. Aber bis dahin: Immer feste!Er arbeitet eifrig. Wenn der Mensch noch so ehrlich is und er hat keinen ehrlichen Namen, denn is er ein Lump. Und das soll mir keiner nachsagen.

2. Szene
2. Szene.
Weigelt. Minna.

MINNA
im Umschlagetuch, einen Korb am Arm, tritt ein.
Morgen, Herr Weigelt. Na, schon wieder an die Arbeit?
WEIGELT.

Natürlich, Minna. Es freut mich sehr, daß du kommst, aber du darfst es mir nicht übel nehmen, wenn ick mir nich stören lasse.

[68]
MINNA.
Bewahre, ich habe auch gar nicht lange Zeit.
WEIGELT.

Lang' dir doch den Fauteuil von da hinten her und setz' dir 'n bisken zu mir, wir können ja denn doch plaudern.

MINNA
holt den zerbrochenen Stuhl und setzt sich neben Weigelt.
Wenn Sie erlauben, Herr Weigelt, dann bin ich so frei.
WEIGELT.
Was machst du denn Minna? Geht das Budiker-Geschäft gut?
MINNA.

Na, so ziemlich, man muß bei die Zeiten zufrieden sein. Wir haben uns jetzt auch 'n Mittagstisch eingerichtet für Gäste.

WEIGELT.
So? Was habt Ihr denn für Gäste?
MINNA.

Na, ein paar arme Studenten, Droschkenkutscher, ein früherer Bankdirektor – so allerlei durcheinander.

WEIGELT.
Und das rentiert sich?
MINNA.
Sehr viel bleibt gerade nich übrig, aber man macht das Lokal doch populär.
WEIGELT.
Und dein Mann? Deine Kinder?
MINNA.
Alles wohl, Gott sei Dank.
WEIGELT.
Das is die Hauptsache.
MINNA
verlegen.
Herr Weigelt, ich hätte wohl eine Bitte an Ihnen –
WEIGELT.
Man zu! Du wirst dir doch nicht genieren?
MINNA.

Ich habe nämlich heute für unsern Mittagstisch einen Gänsebraten riskiert. Nu will man doch gern sicher sein, ob man bei die Gäste keine Schande einlegt; darum möchte ich wohl ein sachverständiges Urteil hören. Sie sind doch Kenner, wenigstens von früher – Rasch. Wollen Sie die Gans nich mal probieren? Holt aus dem Korbe eine Gänsekeule und präsentiert sie Weigelt.

WEIGELT
schielt nach der Gänsekeule und atmet wollüstig den Duft ein.

Hm! Ah! Dein Vertrauen schmeichelt mir sehr, und wenn du wirklich meinst, daß mein Urteil maßgebend is –?

MINNA.
Gewiß, Herr Weigelt, gewiß.
WEIGELT.

Dann fühle ich mir sogar verpflichtet –Greift nach der Gänsekeule und beißt hinein. Hm! Ach! Sehr gut, Minna, sehr gut. Kauend. Weißt du wohl, daß ich keine Gans mehr zu sehen gekriegt habe, seitdem du von mir fort bist?

MINNA
seufzend.
Ja, ja, die Zeiten haben sich geändert.
[69]
WEIGELT.

Na und ob! Früher zum Beispiel war mir meine silberne Uhr nich gut genug und ick ließ sie vergolden; nachher mußte ick die goldene Uhr wieder versilbern.

MINNA.
Aber 'n bischen besser könnten Sei's doch haben, Herr Weigelt, wenn Sie man wollten.
WEIGELT.
Wie meinst du das?
MINNA.
Erstens haben wir Ihnen doch so oft gebeten, bei uns zu essen, wenigstens den Sonntag.
WEIGELT.

Du weißt, ick gehe nich gern unter Menschen; und dann habe ich auch gar keine Zeit, viel auszugehen, ich muß arbeiten.

MINNA.
Sie müssen sich doch aber mal Ruhe gönnen und 'n bischen Zerstreuung. Das find Sie sich schuldig.
WEIGELT
halb für sich.
Wenn ich weiter keinem was schuldig wäre, wie mir, dann ginge das, aber so –
MINNA.

Und wenn Sie nu auch nich zu uns kommen wollen, es leben doch noch andere Leute, die Ihnen näher stehen, ganz nahe, Ihre –

WEIGELT
hat während Minnas Worten immer heftiger auf die Sohlen welche er bearbeitet, geklopft, und zwar absichtlich, um ihre Stimme zu übertönen.
Er steht jetzt auf. So, die Sohlen sind fertig.
MINNA
ebenfalls aufstehend, bei Seite.
Davon will er nischt hören, der alte Eigensinn!
WEIGELT.
Minna, du hast mir doch nich verraten?
MINNA.
Herr Weigelt, ich habe Ihnen versprochen, zu schweigen, und ich werde mein Versprechen halten.
WEIGELT.

Dann ist's gut. Jetzt kommen die Riester auf die Stiefeletten von Fräulein Laura, die in die erste Etage wohnt. Nimmt einen Damenstiefel und setzt sich wieder an die Arbeit.

MINNA.
Wenn Sie doch wenigstens etwas mehr für Ihre Gesundheit tun möchten, Herr Weigelt?
WEIGELT.
O, ich bin ganz gesund.
MINNA.

Sie müssen sich besser pflegen. Nimmt eine Flasche Wein aus dem Korb. Sehen Sie, hier wäre ein Pülleken Rotwein, den mein Krümel neulich angesetzt hat.

WEIGELT.
Wein? Wo denkst du hin, das is viel zu kostspielig für mich.
MINNA.

Er is ja nich so teuer, wir beziehen die Besinge Blaubeeren billig von außerhalb. Probieren Sie mal, ja?

WEIGELT.

Nee, Minna, ick will mir gar nich an spirituelle Genüsse gewöhnen. Reines Wasser is das Beste, dabei bleibt der Kopp klar.

[70]
MINNA
legt seufzend die Flasche wieder in den Korb.
Wenn Sie aber auch gar nischt von mir annehmen wollen!
WEIGELT
freundlich.

Doch, Minneken, doch. Sorge man für viel Arbeit, die nehme ich immer an. Ich verlange ja nich, daß ihr die neuen Stiefel bei mir machen laßt, aber die Flickereien – du hast mir jetzt lange nischt gebracht.

MINNA.
O, ich will gleich zu Hause nachsehen, morgen komme ich wieder.
WEIGELT.
Du willst schon gehen?
MINNA.
Es is Zeit, ich muß in die Küche. Adieu, Herr Weigelt.
WEIGELT.
Adieu, Minna. Hält ihr die Hand hin.
MINNA
verlegen.
O! Wischt ihre Hand an der Schürze ab.
WEIGELT
besieht seine schwarze Hand und sagt dann lächelnd.
Wisch dir nachher ab.
MINNA
schüttelt Weigelt kräftig die Hand.

Adieu!Im Abgehen bei Seite. Es is doch ein Jammer, einen reichen Mann zu sehen, der noch ärmer is, als unsereins. Ab.

3. Szene
3. Szene.
Weigelt allein.

WEIGELT.

Die Minna is eine gute Person. Ich habe ihr wohl verstanden, wem sie mit die andern Leute meinte, die mir näher stehen. Aber nee, ich will nich! Ja, wenn ich nich so runtergekommen wäre – wenn ich sage runtergekommen, meine ich eigentlich raufgekommen; denn früher wohnte ich bloß eine Treppe und jetzt fünfe. Ich habe mir zu hoch verstiegen. Aber das sind ganz überflüssige Gedanken, die mir von die Arbeit abhalten, und ich will mir nich abhalten lassen und bloß an Laura's Riester denken. Arbeitet.

4. Szene
4. Szene.
Weigelt. Emma.

EMMA
in einem einfachen Kleide, mit Schürze und Morgenhäubchen, tritt leise ein.

Hier muß es sein. Richtig, da sitzt der Schuster. Es scheint ein ganz alter Mann zu sein? Räuspert sich laut. Hm! Hm!

WEIGELT
aufblickend.

He? Da is ja Jemand. Fräulein Laura am Ende? Nee, doch nich. Vielleicht ein neue Kundschaft. Steht auf. Sie wünschen, mein Fräulein?

[71]
EMMA.

Ich bin verheiratet, mein Herr, ich wohne hier im Hause, unter Ihnen, und wollte Sie fragen, was – Bei Seite. Mir ist doch, als hätte ich das Gesicht schon gesehen?

WEIGELT.
Nun, was?
EMMA.

Mein Mann ist ein bischen furchtsam; ich bin es vielleicht weniger, aber man grault sich doch, wenn man des nachts, wenn alles im Hause still ist, immerfort so ein einförmiges Geräusch hört. Es kommt von hier oben, und darum wollte ich mich erkundigen, was Sie des nachts machen?

WEIGELT.
Das is 'ne sonderbare Frage. Ich arbeite.
EMMA.
Mitten in der Nacht?
WEIGELT.

Ja, mein liebes Madamchen. Der Tag hat bloß zwölf Stunden, das is zu wenig für'n armen Flickschuster. Aengstlich. Aber Sie wollen sich doch nich etwa beim Wirt beklagen? O, tun Sie das nich, er kündigt mir am Ende, und –

EMMA.

Auch die Stimme kommt mir so bekannt vor, Mein Gott, Sie sind doch nicht? – Entschuldigen Sie, es ist mir so, als hätten wir uns gekannt, vor längeren Jahren – mein Vatersname ist Zernickow, Emma Zernickow.

WEIGELT
erschrickt und wendet sich ab.
Ach so!
EMMA.
Und Sie? Ja, Sie sind es – Herr Weigelt.
WEIGELT
schweigt.
EMMA.
Sie schweigen? Ich irre mich also?
WEIGELT
finster.
Nein, Sie irren sich nich.
EMMA.
Aber diese Veränderung – wie es hier aussieht!
WEIGELT.
Soll ich mir für meine Flickschufterei vielleicht 'n Laden Unter'n Linden mieten?
EMMA.
Verzeihen Sie die Frage: es geht Ihnen wohl sehr schlecht?
WEIGELT.
Wenn es Ihnen Vergnügen macht zu hören, ja.
EMMA.

Vergnügen? O, Sie glauben gar nicht, wie mich diese Entdeckung traurig macht. Es verstimmt mich, es schnürt mir die Kehle zu, ich werde keines meiner lustigen Lieder mehr herausbringen.

WEIGELT.
Wie? Dann sind Sie wohl die kleine Lerche, die jeden Morgen unter meinem Fenster zwitschert?
EMMA.
Mein Gesang stört Sie? O, ich will es lassen.
WEIGELT.

Nicht doch, im Gegenteil, ich habe mir sogar immer gewünscht, den kleinen Racker, der so viele lustige Lieder kann – Sie nehmen's doch nich übel? – mal zu sehen. Finster. Also Sie sind's?!

[72]
EMMA.

Wenn Sie das gewußt hätten, dann würden Sie wohl nicht den Wunsch gehabt haben, den kleinen Racker bei sich zu sehen – das wollen Sie doch sagen?

WEIGELT
bestimmt.

Ja. Freundlich. Aber da es nu doch mal geschehen is, bin ich nich weiter böse drum. Ich verspreche Ihnen sogar, mich des Nachts möglichst ruhig zu verhalten; aber ganz kann ich das Arbeiten nich einstellen.

EMMA.
Herr Weigelt, wenn das Ihre Tochter wüßte –
WEIGELT
rasch.
Sie kennen Clara? Sie verkehren mit ihr?
EMMA.
Ich eigentlich weniger; aber meine Schwester Marie.
WEIGELT.

Ja, richtig, die Marie! Es hat mir damals recht leid getan – Sie wissen ja, was ich meine – denn Ihre Schwester gefiel mir recht gut. Die ist jetzt auch wohl verheiratet?

EMMA.
Nein, sie hat es vorgezogen, eine alte Jungfer zu werden.
WEIGELT.
O, warum denn?
EMMA.
Sie will es zwar nicht eingestehen, aber wir Alle wissen es, sie liebt immer noch Ihren Sohn.
WEIGELT
freudig Emmas Hand küssend.
Wirklich? Ach, das is hübsch von ihr, sehr hübsch. – Mit einem Seufzer. Schade drum!
EMMA.
Herr Weigelt, ist es wahr, daß Ihr Sohn in Amerika ist?
WEIGELT.
Seit fünf Jahren – in Amerika oder anderswo, ich weiß es nich.
EMMA.
Sie haben also gar keine Nachricht von ihm?
WEIGELT
schüttelt den Kopf.
EMMA.
Ach, Sie sind recht zu beklagen!
WEIGELT.
Ich? Wieso? Weil sich mein Sohn nicht mehr um mir bekümmert? Daran bin ich selber schuld.
EMMA.
Sie, der Sie sich für ihn aufgeopfert haben?
WEIGELT.

Eben darum! Mein Leopold is von Jugend auf daran gewöhnt worden, nichts auf der Welt mehr zu lieben als sich. Was kann er dafür, daß ich so'n Esel war und ihm so 'ne schlechte Erziehung gegeben habe? Ich will gar nich beklagt sein, ich habe mir die Suppe eingebrockt, ich muß sie auch ausessen. Freilich, bitter schmeckt sie, das is richtig.

EMMA.
Aber Clara?
[73]
WEIGELT.
Still davon. Wenn Sie sie kennen, wird sie Ihnen auch gesagt haben, was ich ihr getan habe.
EMMA.
Ach, das ist ja längst vergessen.
WEIGELT.

Nee, so was vergißt sich nich. Und wenn sie auch wollte – aber sie hat einen Mann, und der haßt mir – er hat auch ein Recht dazu. Ich will mir nich zwischen die Beiden drängen.

EMMA.
Sie verkennen Herrn Starke, er ist ein braver, biederer Mann.
WEIGELT.

Kindchen, wenn sich zwei Männer mal so gegenüber gestanden haben, wie wir beide, das gibt 'n Knax, der läßt sich schwer wieder heilen.

EMMA.
Hätten Sie denn gar keine Sehnsucht, Ihre Enkelkinder einmal zu umarmen und zu küssen?
WEIGELT
wehmütig.
Meine Enkel!
EMMA.
Zwei prächtige Knaben, der eine heißt Gottlieb.
WEIGELT
mit freudestrahlendem Gesicht.

Gottlieb! Grade wie ich. Hahaha! Er lacht, nach und nach immer heftiger, bis sich das Lachen in ein leises Schluchzen verwandelt. Er sinkt auf dem Arbeitsschemel nieder und trocknet sich die Augen. – Kleine Pause. Es muß hier rauchen.

EMMA
tritt leise näher, kniet neben Weigelt auf die Erde nieder und singt.
O, schäme dich der Träne nicht,
Verbirg nicht scheu dein Angesicht.
Das ist ja grad' das Menschenherz:
Es weint in Freuden und im Schmerz.
O, glaube nicht, du seist kein Mann,
Weil noch dein Auge weinen kann.
Was sich hier drin im Herzen regt,
Das hat ja Gott hineingelegt.

Das Alter naht, dein Haar erbleicht,
Bald ist des Lebens Ziel erreicht;
Und wenn auch Kraft dem Körper fehlt,
Dir bleibt, was ihn bewegt, beseelt.
O, schäme dich der Träne nicht,
Die Liebe ist's, die daraus spricht.
Was sich hier drin im Herzen regt,
Das hat ja Gott hineingelegt.
WEIGELT
Emma freundlich anblickend.
Also Gottlieb heißt er?
EMMA.
Ja, Herr Starke wollte zwar anfangs nicht –
[74]
WEIGELT.
Das glaube ich wohl.
EMMA.

Aber da kam die schwere Stunde, in der kein Mann seiner Frau etwas abschlägt, da bat sie ihn, wenn's ein Knabe wird, soll er Gottlieb heißen. Er, in seiner Herzensangst, sagte »Ja«, und wenn er einmal »Ja« gesagt hat, dann bleibt's dabei.

WEIGELT
nachdenkend.
Gottlieb! Lächelnd. Is der Junge nett?
EMMA.
Ein freundliches, offenes Gesicht und ein gutes Herz hat er.
WEIGELT.
Das hat er von ihr, von der Cläre.
EMMA
aufstehend.

Papa Weigelt, ich habe eine Idee. Schräg gegenüber von Claras Wohnung ist eine Konditorei; wenn wir dorthin gingen und eine Stunde abpaßten, wo Starke nicht zu Hause ist –?

WEIGELT
aufstehend.
Was haben Sie vor? Sie wollen mich in sein Haus führen? – Nee!
EMMA.

Wenn Sie nicht wollen! Sie könnten ja auch in der Konditorei warten, ich hole dann die Kinder herüber, den kleinen Gottlieb –

WEIGELT.
Den kleinen Gottlieb!
EMMA.

Ueberlegen Sie sich die Sache, ja? Oder nein, es ist abgemacht. Heute nachmittag gehen wir, jetzt kann ich nicht, ich muß dafür sorgen, daß mein Mann etwas zu essen findet, wenn er vom Stundengeben nach Hause kommt. Also auf Wiedersehen, Herr Weigelt.

WEIGELT
halb in Gedanken.
Aus Wiedersehn.
EMMA
kehrt wieder um.

Herr Weigelt, als ich Sie vorhin wiedersah, so – so ganz anders wie früher, da fiel es mir schwer aufs Herz, daß ich Ihnen vor fünf Jahren einmal – Sie wissen doch – so unangenehme Dinge sagen mußte. Damals ging's nicht anders; heute aber möchte ich das gern wieder gut machen. Sie kommen mit, heute Nachmittag, nicht wahr, Großpapachen?

WEIGELT
freundlich lachend.

Großpapachen? Er nickt mit dem Kopf. Ja, ich komme mit. – Großpapachen! Er sieht Emma freundlich ins Gesicht. Beide lachen sich an, sie wirft ihm einen Kußfinger zu und läuft rasch ab.


Der Zwischenvorhang fällt.

Verwandlung [2]

1. Szene
1. Szene.
Rudolf. Marie sitzen an einem links stehenden Tisch und trinken Kaffee. Clara am Büffet, schneidet für die neben ihr stehenden Knaben Gottlieb und Carl Butterbrote.

MARIE
Rudolf einen Brief zurückgebend, welchen sie soeben gelesen hat, halbleise.

Ach, Herr Starke, es klingt doch alles so aufrichtig, so ehrlich. Glauben Sie noch nicht, daß er ein anderer Mensch geworden ist?

RUDOLF
den Brief einsteckend.
Ja, ich glaube es, die Not ist eine gute Schule.
MARIE.
Und Sie wollen ihn noch immer nicht auffordern, zurückzukommen?
RUDOLF.

Nicht eher, als bis ich Beweise habe, daß er wirklich ein charakterfester Mann geworden ist, dem man ein so weichmütiges Ding, wie Sie sind, ohne Besorgnis anvertrauen kann.

MARIE.
Wer spricht denn von mir! Ich habe längst Verzicht geleistet.
RUDOLF
ihr lachend drohend.
Na, na, nicht lügen.
CLARA
sich umwendend.
Was habt Ihr denn da wieder für Heimlichkeiten? Das kommt mir nun bald verdächtig vor.
RUDOLF.
Nicht neugierig sein, Cläre, es handelt sich vielleicht um eine Geburtstagsüberraschung für dich.
CLARA.
Ach, das sind Finten!
GOTTLIEB.
Mutter, ich habe Hunger!
CLARA.
Gleich, gleich!
CARL.
Für wen ist denn die große Stulle?
CLARA.
Für dich, Carlchen. Gibt ihm ein Butterbrot.
CARL.
Ach, bloß so klein? Setzt sich auf die Erde und ißt.
RUDOLF.
August!
GOTTLIEB
zu Clara.
Meint der Vater mich?
CLARA.
Natürlich Gibt ihm auch ein Butterbrot.
RUDOLF.
August, komm' mal her!
GOTTLIEB
zu Rudolf gehend.
Was gefällig, Vater?
CLARA
vorkommend.
Warum nennst du den Jungen immer August? E heißt doch Gottlieb.
[76]
RUDOLF.
Er heißt Gottlieb August, er mag sich an beide Namen gewöhnen.
CLARA.
Ach was! Der Junge wird noch ganz irre!
RUDOLF.
An mir? Ich denke, nicht. August, geh' mal in die Werkstatt und sage Hempel'n er möchte herkommen.
GOTTLIEB.
Gleich, Vater. Ab nach links.
2. Szene
2. Szene.
Vorige. Ohne Gottlieb.

CLARA.
Ich muß dir sagen, Rudolf, daß ich dir ernstlich böse bin.
RUDOLF.
So?
CLARA.
Ja. Hast du mir nicht versprochen, daß der Knabe Gottlieb heißen soll?
RUDOLF.
Gewiß, und er ist auch so getauft worden.
CLARA.
Aber du nennst ihn nicht Gottlieb.
RUDOLF.
Habe ich dir das versprochen?
CLARA.
Schäme dich, du, der du immer prahlst, daß dein Wort eine Brücke sei, fester wie Holz und Eisen.
RUDOLF
ist aufgestanden und faßt Clara um die Taille.
CLARA
wendet schmollend den Kopf ab.
RUDOLF.
Du bist also sehr unglücklich, einen so schlechten Mann zu haben?
CLARA.
Ach, geh' nur.
RUDOLF
schelmisch.
Du hast Stunden, in denen du bereust, meine Frau geworden zu sein?
CLARA
wendet sich rasch um und umarmt ihn.
Nein, gewiß nicht.
3. Szene
3. Szene.
Vorige. Gottlieb. Hempel von links.

GOTTLIEB.
Vater, hier ist Herr Hempel.
CLARA
macht sich rasch von Rudolf los und setzt sich neben Marie auf das Sopha.
RUDOLF.
Hören Sie mal, Hempel, wer hat mir denn die neuen Stiefel gemacht?
HEMPEL.
Ich glaube, der Dresdener.
RUDOLF.

Ich habe noch extra gebeten, Ihr sollt meine Hühneraugen schonen – es ist ein Skandal, daß ich in meiner eigenen Werkstatt nicht ein Paar ordentliche Stiefel kriegen kann. Ich werde sie mir noch selber machen müssen.

[77]
HEMPEL.
Nicht doch, Meister, ich werde Ihnen Maß nehmen, und dann können wir ja 'n neuen Leisten machen.
RUDOLF.

Ja, nachher. Nimmt vom Tisch ein paar Geldrollen. Es ist Sonnabend heute. Hier, zahlen Sie den Wochenlohn aus. Der Lipsky ist ja wohl einen Tag fortgeblieben?

HEMPEL
entschuldigend.
Ja, am Mittwoch, als wir seine Frau begraben haben.
RUDOLF.

Ich weiß. Leise zu Hempel. Schieben Sie ihm den Zwanzigmarkschein mit unter den Lohn.Drückt Hempel einen Schein in die Hand. Aber sorgen Sie dafür, daß er sich nicht bei mir bedankt.

HEMPEL.
Ach, Meister, Sie sind doch –
RUDOLF.
Still! Nachher können Sie mir Maß nehmen.
HEMPEL
geht ab nach links.
RUDOLF
auf der rechten Seite zu Gottlieb.
Hast du deine Aufgaben schon gemacht?
GOTTLIEB.
Ja, die ganze Tafel voll.
RUDOLF.
Dann kannst du mit Carl ein Stündchen auf dem Hof spielen.
CLARA.
Gottlieb!
GOTTLIEB
zu Rudolf.
Meint die Mutter mich?
RUDOLF.
Natürlich, geh' hin.
GOTTLIEB
zu Clara gehend.
Was befiehlst du, Mutter?
CLARA.
Gieb gut auf Carlchen Acht, wenn Ihr auf den Hof geht; seid nicht so wild.
GOTTLIEB.
Aber Ball dürfen wir doch spielen?
CLARA.
Ja, aber keine Fensterscheiben einwerfen.
GOTTLIEB
Carl, der noch immer an der Erde sitzt, bei der Hand nehmend.
Komm, wir gehen 'raus.Geht mit Carl ab durch die Mitte.
4. Szene
4. Szene.
Vorige ohne die Kinder.

CLARA
zu Marie.
Also ich soll nichts von Euren Heimlichkeiten erfahren?
MARIE.
Ich darf nichts sagen, frage deinen Mann.
CLARA.
Ach der! Bis man aus dem Brummbär ein Wort herauskriegt!
RUDOLF.
Vielleicht laß ich mich doch erbitten.
MARIE
aufstehend.
Ach ja, tun Sie's, mich drückt es so wie so, daß ich vor Clara solch Geheimnis haben soll.
[78]
CLARA
ebenfalls aufstehend.
Ihr macht mich immer neugieriger.
MARIE
zu Rudolf.
Soll ich Euch allein lassen?
RUDOLF
lächelnd.
Na, das hat doch nicht solche Eile.
MARIE.

Ja, ja. Clara wäre am Ende wirklich imstande und dächte – nein, das ist dummes Zeug. Aber sagen Sie ihr alles, es ist besser so. Adieu, ich sehe Euch heute Abend noch. Ab durch die Mitte.

5. Szene
5. Szene.
Vorige. Mehlmeyer.

MEHLMEYER
tritt durch die Mitte ein, begegnet Marie, flüstert ihr etwas ins Ohr und legt dann zum Zeichen, daß sie schweigen soll, den Finger auf den Mund.
MARIE
schüttelt den Kopf und geht rasch ab.
CLARA
während dessen zu Rudolf.
Nun, du abscheulicher Geheimniskrämer?
RUDOLF.
Oho, wenn du so anfängst und dich nicht aufs Bitten legst, erfährst du gar nichts.
CLARA.
Ach, quäle mich doch nicht länger.
RUDOLF.
Na, meinetwegen. Also –
CLARA
spitzt neugierig die Ohren.
MEHLMEYER
vortretend.
Ich störe doch nicht?
CLARA
zurückfahrend, bei Seite.
Ach, das ist aber ärgerlich. Setzt sich auf das Sopha und nimmt ein Strickzeug zur Hand.
RUDOLF.
Der Tausend, Mehlmeyer! Ein seltener Besuch.
MEHLMEYER.
Aber sehr angenehm, nicht wahr? Meine Frau ist auch da.
CLARA.
Die Emma? Wo denn?
MEHLMEYER.
Sie hat die Jungens abgefaßt, das heiß sie spielt mit ihnen draußen auf dem Hof.
CLARA.
Kommt sie denn nicht herein?
MEHLMEYER.
Jawohl, gleich, sie hat nur noch einen kleinen Gang.
RUDOLF.
Na, wie geht's in der Ehe?
MEHLMEYER.

O, ich danke, recht gut. Wenn ich nur nicht so viel Stunden geben müßte, oder wenn ich sie wenigstens zu Hause geben könnte! Aber vier Treppen klettern die jungen Damen nicht gern. Leise zu Rudolf ihn auf die Seite führend. Du, Starke, ich habe dir was zu sagen; meine Frau hat eine Entdeckung gemacht. Dudeldidum!

[79]
RUDOLF.
Wirklich? Ah, da gratuliere ich.
MEHLMEYER.
Ach, dummes Zeug! Ich muß es dir allein sagen, wenn deine Frau geht.
RUDOLF.
Damit wirst du wohl vorderhand kein Glück haben, sie wartet auch auf eine Entdeckung.
MEHLMEYER.

Dann komm' mir nach; ich erwarte dich nebenan bei Wagner. Apropos, was ich dich fragen wollte – Trommelt eine Passage auf Rudolf's Schulter. Du nimmst es doch nicht übel, daß ich dir das Geld noch nicht wiedergegeben habe?

RUDOLF.
Was für Geld? Du bist mir ja nichts schuldig.
MEHLMEYER.

Nein? Ach, das freut mich. Ich dachte, weil ich schon alle Bekannte – Dudeldidum! Dann kannst du mir wohl zehn Mark pumpen?

RUDOLF.
Sitzt du schon wieder drin?
MEHLMEYER.

Nur so 'ne vorübergehende Verlegenheit. Du weißt ja, ich habe eine reiche Tante in Bremen, einen reichen Onkel in Hamburg und einen reichen Bruder auf den Südsee-Inseln. Wenn einer stirbt –

RUDOLF
fortfahrend.
Erbe ich was.
MEHLMEYER.
Nee, ich. Auf seinem Hut trillernd. Also, du willst nicht?
RUDOLF.
Nachher, wir werden sehen. Wozu brauchst du das Geld?
MEHLMEYER
legt seinen Arm in Rudolf's Arm.

Weißt du, ich will meiner kleinen Frau eine große Freude machen. Sie beklagte sich gestern Abend, daß ich so schlechte Zigarren rauche; übermorgen ist ihr Geburtstag, da möchte ich ihr so ein kleines Kistchen schenken – feine Regalias – ich rauche sie ihr vor.

RUDOLF.
Das ist allerdings sehr liebenswürdig von dir.
MEHLMEYER.

Die Sache ist also abgemacht.Drückt Rudolf die Hand und geht zu Clara. Adieu, Frau Starke, ich spreche nachher wieder vor und hole Emma ab. Dudeldidum.


Ab durch die Mitte.
6. Szene
6. Szene.
Rudolf. Clara.

CLARA
rasch aufstehend.
Endlich ist er fort. Nun schnell, ehe uns wieder Jemand stört.
RUDOLF.
Nicht so aufgeregt. Setze dich ruhig hierher und höre mir zu. Führt Clara zu einem Stuhl rechts.
[80]
CLARA
setzt sich.
RUDOLF.
Es sind jetzt fünf Jahre her, daß dein Bruder plötzlich verschwunden ist.
CLARA
aufspringend.
Leopold?!
RUDOLF.

Ruhe! Drückt sie sanft wieder auf den Stuhl. Niemand hatte etwas von ihm gehört, und er war so gut wie verschollen. Da, vor ungefähr einem Jahre, kriege ich einen Brief von einem früheren Bekannten, der vor längerer Zeit übers Meer geschwommen war, um sein Glück in der neuen Welt zu versuchen. Mein Bekannter hatte drüben die Bekanntschaft eines anderen Bekannten gemacht und glaubte, es würde mich interessieren, wenn er mir über ihn Mitteilung machte.

CLARA
aufstehend, sehr erregt.
Du hast Nachrichten von Leopold?
RUDOLF
drückt sie wieder auf den Stuhl nieder.

Ich war allerdings neugierig genug, diese Korrespondenz fortzusetzen, und so erfuhr ich denn nach und nach, daß der junge Taugenichts allerdings hart vom Schicksal zwischen die Scheeren genommen worden ist, aber doch, wie es scheint, eine sehr heilsame Kur durchgemacht hat. Er hat gelernt, zu arbeiten, sich nützlich zu machen. Nach allerlei abenteuerlichen Unternehmungen ist er schließlich auf den Handel gekommen. Na, dachte ich mir, ein Handelsmann, mag er es noch so ehrlich meinen, wenn er kein Geld hat, ist ein Lump. Da habe ich denn meine paar Kröten genommen – viel habe ich ja nicht – und habe sie rübergeschickt.

CLARA
sitzen bleibend und bittend ihre Hände nach Rudolf ausstreckend.
Rudolf, ich bitte dich, martere mich nicht. Was ist aus Leopold geworden?
RUDOLF.

Ich hoffe, ein braver Kerl. Und wenn ich dir raten soll – du weißt, ich habe deine dreißig Tausend Mark nie angerührt –, dann gib ihm das Geld; ich glaube, es würde gute Zinsen tragen.

CLARA.

Und wenn du zehnmal Ruhe sagst, ich kann mich nicht mehr halten. Springt auf. Du lieber, guter, einziger Mann! Fällt ihm um den Hals.

RUDOLF.
Na, na, Cläre, erwürge mich nur nicht. Die Geschichte ist noch gar nicht zu Ende.
CLARA
sich die Augen trocknend.
Wie?
RUDOLF.
Der Junge hat noch alte Liebschaften im Kopf.
CLARA.
Liebschaften? Doch nicht etwa die Marie?
[81]
RUDOLF.

Warum nicht? Und das gefällt mir eigentlich an ihm. Zieht den Brief aus der Tasche und gibt ihn Clara. Da, lies mal den Brief.

CLARA.

Mein Gott, ich bin ganz wirr vor Freuden. Was soll denn nun geschehen? Du hast gewiß etwas mit ihm vor? O, sage mir alles.

RUDOLF
abwehrend.

Ruhe – später. Zuerst geh' in dein Zimmer – lies in Ruhe deinen Brief – dann können wir uns ja aussprechen. Jetzt habe ich auch einen kleinen Gang.

CLARA
streckt Rudolf die Hand entgegen.

Rudolf, wenn ich manchmal auch ein bischen brummig bin, nicht immer so, wie du's gerne möchtest, sei mir nicht böse – ich habe dich doch so lieb, so lieb, ich kann's gar nicht sagen.

RUDOLF
sie sanft von sich drängend.
Geh' Alte, geh', ich weiß schon, wie ich mit dir d'ran bin.
CLARA
geht nach der Tür rechts, als sie dieselbe öffnet, tritt ihr Emma entgegen, legt den Finger auf den Mund und deutet in das Zimmer.
Clara stößt einen halb unterdrückten Schrei aus. Ha!
RUDOLF
erschrocken.
Was gibt's? Was ist dir?
CLARA.

O, nichts, nichts, ich bin so aufgeregt, ich will schnell den Brief lesen. Eilig ab nach rechts. Man hört die Tür schließen.

7. Szene
7. Szene.
Rudolf allein.

RUDOLF
während er den Rock wechselt.

Nanu, sie schließt sich ein? Haha! Sie will sich durchaus nicht stören lassen bei der interessanten Lektüre. Wie sie sich freut, daß aus dem Leopold noch ein ordentlicher Mensch geworden ist! Na, ein Wunder ist's auch; denn der Junge hat schon von der Jugend an auf den Taugenichts losgesteuert. Ich erinnere mich noch, alle Augenblicke sah man den Bengel anders ausstaffiert! Heute in schwarzem Sammet, morgen in buntem Matrosenanzug. Es wurde ordentlich studiert, immer neue Trachten zu erfinden. Auf die beste für ihn, eine Tracht Prügel, sind sie nie gekommen. Ab durch die Mitte.

8. Szene
[82] 8. Szene.
Emma, dann Weigelt. Gottlieb. Carl.

EMMA
öffnet vorsichtig die Tür rechts und spricht zurück.
Die Luft ist rein, er ist fort. Sie tritt ein.
WEIGELT.

Carl auf dem Arm, Gottlieb an der Hand, tritt ebenfalls von rechts ein, furchtsam. Sie meinen also, daß ich es wagen kann?

EMMA.

Hier zu bleiben? Gewiß. Clara will einen Augenblick allein sein, um einen wichtigen Brief zu lesen, und die Jungens lassen ihr keine Ruhe. Na, habe ich meine Sache gut gemacht?

WEIGELT.
Bis jetzt, o ja, sehr gut. Wenn nur – Sieht sich ängstlich um.
EMMA.
Ach, wer wird so ängstlich sein! Uebrigens hat ihn jetzt mein Mann beim Wickel und bereitet ihn vor.
WEIGELT.
Herrjeh, Sie wollen ihm doch nicht sagen daß ich –?
EMMA.
Natürlich. Meinen Sie denn, daß die Kinder es nicht ausplaudern würden?
WEIGELT
hat sich auf einen Stuhl rechts gesetzt und die Kinder auf die Kniee genommen.
Ja, das ist wohl möglich. Sage mal, Gottlieb, hast du denn gewußt, daß du einen Großvater hast?
GOTTLIEB.
Na, so dumm werde ich doch nicht sein! Alle Kinder haben ja einen Großvater.
CARL.
Ich auch.
WEIGELT.
Ja, Du auch. Zu Gottlieb. Die Mutter hat dir's wohl erzählt?
GOTTLIEB.
Die Mutter? Nein, die hat immer geweint, wenn ich nach dem Großvater gefragt habe. Und der Vater –
WEIGELT.
Na, was hat dein Vater gesagt?
GOTTLIEB.
Ich weiß nicht, ob ich es wiedersagen darf?
WEIGELT.
Man zu, ich kann 'nen Puff vertragen. Also?
GOTTLIEB.
Er hat gesagt, du wärst zu stolz, um mit uns umzugehen.
WEIGELT.
Zu stolz! Na, wenn es weiter nischt wäre, darüber würden wir uns schon einigen.
GOTTLIEB.
Du bleibst also jetzt bei uns?
WEIGELT.
Schwerlich, dein Vater kann mich nich leiden.
[83]
GOTTLIEB.

O doch! Mein Vater ist gegen alle Menschen gut, er kann bloß die Gesellen nicht leiden, die zu viel trinken. Trinkst du auch zu viel?

WEIGELT.
Nee, mein Junge, ich esse nich mal zu viel.
RUDOLF
von draußen.
Nein, das ist nicht möglich!
EMMA
welche an der Mitteltür gehorcht hat.
Das ist seine Stimme.
GOTTLIEB.
Der Vater kommt. Springt auf die Erde.
WEIGELT
steht auf und stellt Carl an die Erde.
Ich wünschte, ich wäre in meiner Bodenkammer.
9. Szene
9. Szene.
Vorige. Rudolf. Mehlmeyer.

RUDOLF
tritt sehr erregt durch die Mitte ein.
MEHLMEYER
folgt Rudolf und spricht leise mit Emma.
GOTTLIEB
läuft Rudolf entgegen.
Vater!
RUDOLF
sieht Weigelt starr an, bei Seite.
Er ist es wirklich. Zu Gottlieb. Geh hinaus, nimm den Bruder mit.
GOTTLIEB.
Bist du böse?
RUDOLF
barsch.
Geht, sage ich.
GOTTLIEB.
Komm, Carl. Nimmt Carl bei der Hand und geht furchtsam mit ihm durch die Mitte ab.
10. Szene
10. Szene.
Vorige ohne Gottlieb und Carl.

WEIGELT
verlegen die Mütze in der Hand drehend und sich zu einem Lächeln zwingend.
Herr Starke –
RUDOLF
bei Seite.
Er sieht zum Erbarmen aus.Laut. Was wollen Sie hier?
WEIGELT.
Ich? Ich wollte – ich suchte –
RUDOLF.
Sie suchen Arbeit, nicht wahr?
WEIGELT.
Arbeit? Bei Ihnen?
RUDOLF.

Ich wüßte nicht, was Sie sonst hier zu suchen hätten. Melden Sie sich in der Werkstatt Zeigt nach links. dort, bei dem Obergesellen Hempel, Sie kennen ihn ja.

WEIGELT
eingeschüchtert.

Ja, richtig, Hempel – den – kenne ich. Mit langsamen Schritten nach links gehend. Dann – will ich – in – die – die Werkstatt gehen – gehen. –

[84]
RUDOLF
kämpft mit sich selbst und macht eine Bewegung, als wollte er Weigelt zurückhalten, sagt aber dann leise und energisch.
»Nein«! Und tritt zur Seite.
WEIGELT
geht nach links ab.
11. Szene
11. Szene.
Vorige ohne Weigelt.

EMMA.
Herr Starke, was haben Sie getan?!
MEHLMEYER.
Ich habe nie geglaubt, daß du so hartherzig sein kannst.
RUDOLF
erregt auf und ab gehend.
Hartherzig! Wißt ihr nicht, daß dieser Mann mich beschimpft, mich auf den Tod beleidigt hat!?
EMMA.
Er ist alt, schwach und hilflos.
RUDOLF.

Ja, ja – aber ich hab's geschworen, daß er kein Stück Brot in meinem Hause essen soll, ehe er nicht vor mir auf den Knieen gelegen, wie seine Tochter vor ihm, als er sie zum Hause hinausstieß meinetwegen – meinetwegen! Wild. Ich hab's geschworen, und – und – Weich. ach, ich wünschte, ich hätt's nicht getan.

12. Szene
12. Szene.
Vorige. Clara.

CLARA
von rechts, freudig.

Ich habe gelesen, ich weiß jetzt alles. O, Rudolf, dir verdanke ich die Rettung meines Bruders. Eilt zu Rudolf.

EMMA.
So bitte ihn, daß er sich auch deines Vaters erbarmt.
CLARA.
Rudolf, du weißt? Du hast ihn gesehen? Wo ist mein Vater?
MEHLMEYER.

Er hat ihn in die Werkstatt geschickt; aber ich glaube nicht, daß der alte Papa da lange aushalten wird.

CLARA
angstvoll.
Was heißt das?
RUDOLF.
Clara, erinnerst du dich der Stunde, wo ich dich zum Weib begehrte?
CLARA.
An diese Stunde denkst du jetzt?
RUDOLF.

Ich werde sie nie vergessen. Clara, nimm, was du willst, alles, was ich habe, gib es ihm – aber, [85] dein Vater und ich können nicht unter einem Dache hausen. Ich hab's geschworen.

CLARA.
In überwallendem Zorn. Dein Herz wußte nicht, was dein Mund sprach.
RUDOLF.

Laß mich! Und läge dieser Schwur auch wie ein Fluch mein Leben lang auf meiner Brust – eher will ich diesen Alp ertragen, als vor mir selbst zum Lügner werden.

CLARA
die Hände ringend.
O, über diesen Starrsinn!
13. Szene
13. Szene.
Vorige. Hempel, dann Weigelt.

HEMPEL
mit einem Maß in der Hand, von links.
Meister, soll ich Ihnen jetzt Maß nehmen?
RUDOLF.

Maß nehmen! Ja wohl, Hempel, kommen Sie. Zieht den rechten Stiefel aus. Sie wissen ja, wo mich der Schuh drückt.

EMMA
leise.

Jetzt weiß ich's auch, und ich will ihn von dem Druck erlösen. Läuft zur Tür links, öffnet dieselbe und winkt Weigelt.

MEHLMEYER
läuft Emma nach.
Was willst du denn?
EMMA.
Du wirst schon sehen.
WEIGELT
tritt von links ein.
CLARA
eilt ihrem Vater entgegen.
EMMA
zu Rudolf, unbefangen.
Sie brauchen ein Paar neue Stiefel, nicht wahr?
RUDOLF.
Ja. Nehmen Sie's übel, wenn ich mir in Ihrer Gegenwart Maß nehmen lasse?
EMMA.

Bewahre, wir sind ja alte Freunde. Aber ich dachte, da Sie doch Herrn Weigelt Arbeit geben wollten – Herr Hempel, geben Sie mir doch das Maß.

HEMPEL
gibt ihr erstaunt das Maß.
Das Maß? Hier.
EMMA.
So könnte er, dacht ich, gleich ein Probestück machen.
ALLE.
Wer?
CLARA.
Mein Vater?!
EMMA
weigelt das Maß hinhaltend.
Bitte, bitte.Leise. Sie tun es für Clara.
WEIGELT
lächelnd.

Ja, warum sollte ich auch nich! Es is ja keine Schande, es is ja mein Geschäft.Nimmt das Maß und kniet langsam vor Rudolf nieder. Darf ich um den Fuß bitten?


Alle folgen mit gespannter Aufmerksamkeit dieser Szene.
[86]
EMMA
steht hinter dem Stuhl, auf welchem Rudolf sitzt, und beugt ihren Kopf über die Lehne, Weigelt bittend ansehend.
RUDOLF
betrachtet den vor ihm knieenden Weigelt mit starren Blicken.
EMMA
klopft Rudolf auf die Schulter und flüstert ihm lächelnd zu.
»Ehe er nicht vor mir auf den Knieen liegt« – Ihm mit dem Finger drohend. War's nicht so?
RUDOLF
mit dem Ausbruch größter Freude.

Ja, ja!Streckt seine Arme in die Höhe, erfaßt Emma's Kopf und küßt sie herzlich. Das vergesse ich Ihnen mein Lebtage nicht, Sie, Sie – Hanswurst, wie Sie Ihr Vater immer nannte. Er springt auf.

WEIGELT
hält Rudolfs rechten Fuß fest.
RUDOLF.

Aber, Papa Weigelt, Schwiegervater, lassen Sie mich doch los, und stehen Sie auf. Er hüpft umher. Nicht den Fuß, die Hand will ich Ihnen geben. Wir haben uns ja noch nicht einmal richtig begrüßt – nach so langer Zeit! Hebt Weigelt in die Höhe und streckt ihm die Hände entgegen.

WEIGELT
erstaunt zu Rudolf.
Is das wirklich Ihr Ernst? Sie können vergessen?
RUDOLF.

Ja, ja, sehen Sie mir das denn nicht an? Die alten Geschichten sind begraben, sein Sie mir willkommen in meinem Hause. Drückt Weigelt die Hand.

MEHLMEYER.
Die Dissonanz löst sich auf, Dideldidum! Er holt mit beiden Händen aus.

Melodram.


Nach Mehlmeyers letzten Worten fällt das Orchester mit einem leisen Quartettsatz ein, welcher in die Schlußmusik überleitet.
WEIGELT
zu Clara, welche neben ihn getreten ist.
Cläre, du hast doch Recht gehabt, daß du lieber mir aufgabst, als ihn; er is besser, als –
CLARA
einfallend.
Besser, als du glaubtest, ja. Er ist es auch, der Leopold gerettet hat.
WEIGELT.
Mein Leopold! mein Sohn! Er lebt? er is gesund?
CLARA.

Mehr als das, er ist durch Rudolfs Unterstützung ein braver Mensch geworden und wird in vielleicht nicht allzulanger Zeit wieder ganz der unsre sein.

WEIGELT.

Mein Leopold! Seht Ihr, seht Ihr, Ihr habt's nie glauben wollen, aber ich hab' es immer gesagt: es steckt ein guter Kern in dem Jungen.

14. Szene
[87] 14. Szene.
Vorige. Marie mit Gottlieb und Carl an der Hand, durch die Mitte.

GOTTLIEB.
Vater, ich wollte nicht, aber Tante Marie sagt, wir könnten wieder reinkommen.
RUDOLF
hat sich inzwischen wieder den Stiefel angezogen.
Ja, das könnt ihr. Komm her, Gottlieb.
GOTTLIEB.
Meinst du mich?
RUDOLF.
Natürlich. Komm her und frage deinen Großvater, ob er bei uns bleiben will.
GOTTLIEB
zu Weigelt.
Willst du?
WEIGELT.

Ja, ich bleibe. Zu Rudolf. Es is gewiß edel von Ihnen, daß Sie mir nischt nachtragen und mir so bei sich aufnehmen; und ich bin Ihnen auch dankbar dafür, so lang ich lebe, ganz gewiß. Aber, Rudolf, daß Sie meinem Jungen, meinem Leopold beigestanden und geholfen haben, dafür werde ich Ihnen auch noch dankbar sein, wenn ich nich mehr lebe. Mögt ihr mir nu auslachen, oder nich, aber mein Leopold –!

MARIE
ist näher getreten und hat leise ihre Hand auf Weigelts Schulter gelegt.
WEIGELT
wendet sich um, erkennt Marie und sagt, ihr lachend zunickend.
Hahaha! Die Marie! Die begreift mir, nich wahr? Singt.
Meine einzige Passion
Ist mein Sohn!

Alle bilden um Weigelt eine teilnahmsvolle Gruppe. Hempel steht bescheiden im Hintergrund.
Der Vorhang fällt.

Ende.

[88]
Fußnoten

1 Krafft ist ein bekannter jüdischer Koch.

2 Diese Namen können beliebig geändert werden.

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TextGrid Repository (2012). L'Arronge, Adolph. Dramen. Mein Leopold. Mein Leopold. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DAF8-C