[1] Zweyte Sammlung

Das wahre Glück ist in der Seele
des Rechtschaffenen

Sir Weldone, ein reicher Englischer Erbe, wurde auf einem Landgut, weit von der Hauptstadt und der Menge ihrer gekünstelten und verdorbenen Menschen, erzogen, so daß er die grosse Welt nur aus der Geschichte alter und neuer Zeiten kannte. Sein Vater gab ihm Grundsätze der Ehre, der Großmuth und der Liebe des Vaterlands, sein Lehrmeister Verachtung der Unwissenheit, und Anhängen an hohe moralische Ideale, seine Mutter edle feine Gefühle für das Schöne der Natur, für Wahrheit und Wohlthätigkeit: Eltern und Lehrer trugen Sorge, daß unter ihren benachbarten Freunden und Bekannten nur diejenige einen vertrauten Umgang genossen, deren Geist und Herz mit Kenntnissen und Tugend geschmükt waren. Die Hausbediente alle, bis auf die Gärtner und Jägerjungen, waren lauter gute und in ihrem Gefach vortrefliche Leute.

[1] Durch diese sorgsame Auswahl der Gesellschaft und Bedienten wollte man den geliebten einzigen Sohn mit lauter Modellen des schäzbaren und untadelhaften in allen Ständen umgeben, damit er durch den, den Kindern gegebenen Nachahmungsgeist nichts als gute und schöne Gesinnungen erlangen, und auch nie nichts anders wählen möge. Die guten Leute erreichten ihren Zweck auf das vollkommenste: denn niemals kam ein junger Mann von beynah zwanzig Jahren mit einem lebhaftern Gefühl für die Verdienste des Wissens und der guten Handlungen in die weite Welt. Er sezte durch fleißiges Studiren den Anbau seines Verstandes mit vielem Eifer fort; und dies war sehr glüklich für ihn, denn sonst würde er mit seinem Herzen noch viel mehr traurige Erfahrungen gemacht haben, weil der äusserliche Schein von Güte, Freundschaft und Edelmüthigkeit ihn oft betrog, seinem offenen und sich mit so viel Inbrunst anheftenden Herzen Kummer gab, und ihn viel von seinem Vermögen kostete. Dann verwundete ihn auch der eitele Stolz und Uebermuth, das Unrecht, rohe Sitten und Niederträchtigkeit. Er sagte einst, da er ganz im Besitz seiner Güter war, und einige Beyspiele der Verderbnis der Sitten und des Körpers gesehen hatte:


[2] Ich bin auch jung – reich – unabhängig – ich liebe auch die Freuden des Lebens – aber möge mich ein früher Tod bey dem ersten Schritt erhaschen, wenn ich das Vergnügen auf dem Weg der Ruchlosigkeit, in einer unedlen That, oder in dem Schlamm einer sittenlosen Ergözlichkeit suchen werde!

Ein andermal rief er aus: –


Mein Vater, seine Freunde und Pächter, seine Bediente und Arbeitsleute waren auch Menschen – Sterbliche wie die ich hier sehe – Sie hatten nicht mehr Geisteskräfte – keine bessere Religion – Sie nährten, kleideten und beschäftigten sich mit den nemlichen Dingen – aber alles trug das Gepräge guter Grundsätze, wovon die Leute hier immer sprechen, und immer anders handeln. –

Er fieng an, Mißtrauen und Abscheu zu fühlen, aber doch siegte immer die angebohrne Güte seiner Seele, so, daß wenn er von einem Menschen sich abwand, er bald wieder die Hand eines andern faßte, der ihm besser und wahrer schien. Endlich aber glaubte er von einem eigenen feindlichen Schiksal verfolgt zu seyn, welches ihm jede Freude des Herzens entzog, und für alles gute, was er wollte und austheilte, nur Mißvergnügen einerndten [3] ließ. Dieser Gedanke sezte sich so fest in seiner Seele, daß er allen Umgang, alle Verbindung abbrach, und nur mit einem treuen Bedienten aus seinem väterlichen Haus einen Theil von Europa durchreißen wollte. Er nahm sehr wenig Gepäcke, und nur eine leichte Callesche für zwey Personen mit sich: der Bediente mußte den nemlichen Rock tragen, wie er, und ihm versprechen, nie mit ihm zu reden, als wenn er ihn was fragte, denn so weit hatte ihn seine Unzufriedenheit mit den Menschen schon gebracht, und die sanfte Neigungen seines Herzens hiengen nur noch an den Gegenständen der Natur und der Kunst. Denn bey schönen Aussichten stieg er aus seinem Wagen, kletterte auf Anhöhen, oder gieng einem freundlichen, einsamen Fußpfad nach, und in Städten besuchte er Naturforscher und Künstler, lernte von den ersten, und kaufte immer schöne Stücke von den letztern. In Bibliotheken und Buchläden sezte er keinen Fuß, weil er mit der moralischen Menschenwelt nicht das mindeste Verhältniß mehr haben wollte. Er dachte,


da Religion, Gesetze und Philosophie in England selbst so wenig dauerhaftes Gute hervorgebracht hätten, so belohne es die Mühe nicht, anderwärts darnach umzusehen –

[4] indem er von andern Nationen noch viel geringer dachte.

Er wollte also nur die sinnliche Welt ganz sehen, ganz wissen, was der menschliche Geist für unser physisches Leben und Vergnügen erfand, und die Würkung davon beobachten. An Orten, wo er ein neues Gebäude in einem edlen Geschmak aufführen sah, oder, wo ein Garten angelegt wurde, von welchem der Plan etwas großes anzuzeigen schiene, da fragte er nach dem Baumeister, oder Gärtner, und suchte sie zu sprechen, um zu sehen, ob die Züge des edlen und schönen wirklich in der Seele des Mannes lagen, oder nur eine Würkung des ohngefähr hingeworfenen Gedankens seyen, worinn der Zeichner etwas neues darstellen wollte. – Mit dieser sonderbaren Stimmung des Geistes, da Sir Weldone den Fortgang der Kenntnisse im Denken, und in den Gesinnungen gar nicht mehr bemerken wollte, sprach er doch mit jedem Bauren und Handwerker, bey denen er einen vorzüglichen Fleiß oder Geschicklichkeit wahrnahm. Denn er wünschte entdecken zu können, welche Handarbeit den besten und tiefesten Eindruck auf den Charakter des Menschen mache, und diese Beobachtung wollte er durch alle Klassen durchsetzen. – In Engelland hatte er schon gesehen, wie roh und unempfindlich Matrosen und [5] Seefahrer wurden, die von Jugend auf mehr in Schiffen, als in Städten gewesen. – Die Schottische Berge und Insuln, das einsame und mühselige Leben ihrer Bewohner – dieß von den Arbeitern in den Minen, und von den Landleuten war ihm bekannt, und er rief sich alle diese Bilder seines Vaterlands zurück, um die von andern Gegenden damit zu vergleichen. Da war dann Lisbon, Neapel, Brest, Amsterdam, und Petersburg auf der Liste bezeichnet, wo er den Gesinnungen der Seeleute nachspüren wollte: – Rom, Paris, Wien, und Berlin waren zu Merkstäben der schönen Künste bestimmt. Fabriken, Acker- und Weinbau, Theateranstalten, öffentliche Belustigungen, große Kirchenfeste zählte er zu mechanischen Bewegungen der Seele, gieng hin, betrachtete den Anstand, die Kleidung, und den Ausdruck in den Gesichtszügen. Er hielt sich auch bey hohen Schulen auf, besuchte die Hörsäle, war aufmerksam, die verschiedene Vorträge und das Bezeugen der Lehrer, und ihren Einfluß auf die jungen Leute zu kennen. – Durch dieß alles sammelte unser Sir Weldone vieles, so ihn zu sicherer Menschenkenntnis führte: aber der finstere Beweggrund, der ihn auf diesen Weg geleitet hatte, war immer Ursache, daß er alles von einer düstern Seite ansah, und also nicht die Hälfte des Guten [6] erblikte, das in allen Dingen liegt – dennoch beurtheilte er das ganze. – Auf diese Art kann auch das edelste Herz eine schiefe Wendung nehmen, eigensinnig und ungerecht werden, wobey dann auch immer das eigene Glück des Lebens verlohren geht, wie es bey Sir Weldone geschah. Denn erst hatte das Mißtrauen sein Herz erkältet, und ihn von aller Seligkeit der Freundschaft und der Liebe fortgerissen, nachdem erstikte er auch großen Theils die Hochachtung, die er für Wissenschaften und Künste genährt hatte, weil sie nach seiner Berechnung zu wenig für die Veredlung und Besserung der moralischen Gefühle würkten. – Er wurde in seinem äussern Betragen trocken und störrisch, so daß man sich oft wunderte, wie ein schöner junger Mann, mit Augen und Zügen voll Geist, so viel bitteres und düsteres in seinen Blicken und Minen zeigen könnte. – Er schrieb in seinem Tagebuch alles auf, was er merkwürdiges gehört, gesehen, und darüber gedacht hatte. – Dieses Tagebuch ist eines der lesenswürdigsten, so je von einem vernünftigen und gefühlvollen Menschen geschrieben wurde: besonders sind die Stücke vortreflich, wo er sich den Empfindungen des Wohlwollens, und der in seiner Seele liegenden Liebe alles Guten und Schönen überließ, und dadurch sein Herz erleichterte, indem [7] er unter seiner angenommenen Feindseligkeit einen drückenden Schmerz fühlte. Oft blikte er mit Sehnsucht auf Menschen, die vertraut und liebend mit einander zu sprechen schienen; er bog sich aus seiner Gutsche heraus, um sie so lange zu sehen, als er konnte. Sein Bedienter, ein verständiger und seinen Herrn aufrichtig liebender Mann, wurde oft ängstlich für ihn besorgt, weil er ihn meistens vor sich hin schauen, und hie und da seufzen hörte – dann auf einmal mit der heftigsten Bewegung um sich blicken sah, wie es auf dem Weg nach Hamburg geschahe, da sie Sonntags Mittag bey schönem Wetter zwischen allen den herrlichen Gärten, und durch die Vorstadt St. Georg reißten, und so viele Familien auf den großen Bänken vor ihren Landhäusern sassen, oder mit jedem Ausdruck der nachbarlichen Treue und Fröhlichkeit miteinander auf- und abgiengen. – Fahr langsam! rief Sir Weldone dem Postknecht zu, und verschlang dann ganz eigentlich mit immerwährendem hin- und hersehen alle die liebevolle Bilder des wahren Menschenlebens, an denen sie da vorüber kamen. Auf einem freyen Platz ausser der Vorstadt ergriff er die Hand seines Dieners: –


Richard! sag! haben sich die Leute wohl aufrichtig lieb?

[8] Warum nicht, theurer Sir! – sie haben alle so gut geschienen –

Da stieß er Richards Hand zurück, und mit bitterm Lächeln wiederholte er –


Ja – gut geschienen – so sah ich viele, die dabey das ärgste Bubenstück in ihrer Seele brüteten. – Liebe – Güte – o ihr Schattenbilder!

rief er mit Zusammenschlagen seiner Hände aus, und schwieg dann wieder mit mehr Düsternheit. Einmal ließ er schnell den Wagen halten, und gieng ein paar Handwerkspurschen zu, die Abschied von einander nahmen, da der zurückbleibende seinem Freund den Bündel auf den Schultern befestigte, den er ihm, als den letzten Liebesdienst, aus der Stadt getragen hatte. Sir Weldone gab jedem etwas Geld, drükte ihnen die Hände, und sagte:


Seyd Freunde! seyd redliche Freunde!

und stieg wieder in seine Callesche Ein andermal rief er bey dem Anblick einer Frau, die ihren Säugling mit inniger Zärtlichkeit küßte –

Mutterliebe! auch du – bist nicht immer treu. Diese traurige Erscheinungen in dem Gemüthe des Sir Weldone machten seinem Richard die größten Sorgen. Er fürchtete entweder eine Zerrüttung seines Verstandes, oder endlich einen Anschlag zu Selbstmord. Er verdoppelte also seine Wachsamkeit, [9] und jedes Kennzeichen der treuen Ergebenheit, so viel er bey dem gebottenen Stillschweigen zeigen konnte, um seinem Herrn wenigstens von einer Seite einen Beweiß von redlicher, ohnunterbrochener Liebe zu geben. Er kannte ihn von dem sechszehnten Jahr an. Immer war Sir Weldone ein menschenfreundlicher Jüngling, voll sanfter Heiterkeit und Offenherzigkeit gewesen: doch da Richard sah, daß die Gesundheit seines Herrn ziemlich gut blieb, so hofte er auch einmal eine Aenderung in seinem Gemüth – aber es gab noch manchen seltsamen Auftritt unter ihnen, ehe diese Zeit kam, wovon nur folgende von Richard aufgezeichnet wurden. Einst kamen sie bey stürmischem Wetter durch ein Gehölze auf einen Berg: es war kalt, und nirgend keine Wohnung zu sehen, doch hörten sie singen, und erblikten zwey Kinder von zwölf bis dreyzehen Jahren unter einem Baum, die dem Regen ganz ruhig zusahen, und ein Hirtenlied für ihre Kühe sangen, die um sie herumweideten. Sir Weldone rief wieder in vollem Eifer halt, und lief den zwey jungen Leuten zu, umarmte und beschenkte sie, kam naß vom Regen, und mit einer Thräne im Aug zurück, grüßte die sich bückende Kinder noch, und sagte auf sie sehend –


[10] Gute Geschöpfe! bey den Stürmen der Natur kann das gute Menschenherz wohl singen, aber wenn Menschen Boßheit unsere Tage trübt, ach dann! –

Er führte einen ledernen Beutel voll Scheidmünze mit sich, wovon Richard den Armen, besonders Arbeitsleuten, die an der Heerstraße fröhnten, austheilen mußte, weil er sie als Sklaven bedauerte, und dabey fürchtete, daß sie über ein ganzes Stük Geld in Zänkerey gerathen, oder nicht jeder einen gleichen Antheil erhalten möchte. Er sagte:


Sie arbeiten auch für mich, und so genießen sie auch einen Dank.

Ein andermal mußten sie, in einem sehr traurig liegenden Dorfe, lange auf Postpferde warten. Sir Weldone gieng aus dem Hause, weil ihm zu viel Leute darinn waren, und schlenderte zwischen Gartenhecken herum einem abgesonderten Hause zu, und sah einen Knaben von vierzehn Jahren blas und wankend unter einigen spät blühenden Kirschbäumen herumgehen. Sir Weldone bog sich über die Hecke, und redete den jungen Menschen an, welcher ihm sagte, daß er schon so lange mit dem Fieber geplagt sey, und sein guter Vater könne ihm nicht viel Arzneyen kauffen, weil die Pfarre sehr arm sey, und er noch sieben andre Kinder zu besorgen [11] habe. – Krankheit und Wahrheit, die in gleichem Maas auf dem jugendlichen Gesichte des Knaben ausgedrükt waren, rührten Sir Weldons Herz, er gab ihm einige Stücke Gold, und sagte ihm liebreich, dafür solle er sich einen Arzt und Arzneyen holen lassen. Die Freude überwältigte den schwachen Jungen, er wollte danken, hielt das Geld in zitternden Händen, und sank endlich hin. Den Augenblick sprang Weldone über die Hecke, faßte den Knaben auf, und suchte ihn zu ermuntern. Der Pfarrer hatte aus seinem Fenster gesehen, daß jemand mit seinem Sohn redete, daß dieser Fremde seinen Arm über das Gesträuche gebogen, und wenige Augenblicke hernach der Junge auf den Knien lag. – Nun eilte er seinem Kind zu Hülfe, und fand den Knaben in den Armen eines schönen wohlgekleideten Fremdlings, dessen Augen mit vieler Empfindung auf den Knaben geheftet waren, und der sanft mit ihm sprach. Der Pfarrer blieb staunend und wundernd stehen, als sein Sohn ihn erblikte, und die Hand mit den Goldstücken in die Höhe hielt –


Vater! – dieser fremde Herr!

aber vor Freude und Mattigkeit nicht mehr sagen konnte. Sir Weldone fieng an:


Mein Herr! ich habe Ihrem guten Sohn etwas [12] zu einem Hülfsmittel gegen das Fieber gegeben, und sein dankbares Herz wurde so sehr bewegt, daß ihm schwach wurde, deswegen unterstütze ich ihn.

Sir Weldons edle Gesichtszüge, der Ton voll wahrer Güte, in welchem er sprach, durchdrang den rechtschaffenen Pfarrherrn – er stammelte:


Gott lohne Ihr Herz – theurer Fremdling! O sagen Sie mir, wer Sie sind!


»Ein redlicher Mann – Sie haben acht Kinder, ich keins – ich bin reich – Sie nicht.«

Während diesen Reden hatte er den Pfarrer betrachtet, und nun suchte er seine Brieftasche, und bat, der Pfarrer möchte ihn in seine Stube führen, wo er einen Brief siegeln wolle, und gieng mit dem Knaben an der Hand langsam dem Haus zu, worinn alle Spuren des Mangels, der Arbeitsamkeit und Reinlichkeit zu sehen waren. Diesen Anblick hatte Weldone gewünscht, als er seine Brieftasche nahm, einen Wechsel zu suchen, den er den acht Kindern bestimmte, da ihn das kummervolle und ehrwürdige Aussehen des Vaters schon eingenommen hatte. Nun schloß er den Wechsel in einen kleinen Brief an den Pfarrer, indem er nur sagte:


Guter Vater! Gott gebe, daß dieses dein Leben versüsse. –

[13] Er schrieb die Adresse des Pfarrers, siegelte den Brief, legte ihn um, und bat, ihn zu besorgen, küßte den kranken Knaben, und eilte wie ein Vogel dem Posthaus zu, wo ihn seine Calesche schon lang erwartete. Er war also schon weit von dem Ort entfernt, ehe der gute Pfarrer, der ihm bis auf die Strasse nachgelauffen war, wieder in seine Stube kam, um dem entflohenen Fremden seinen Dank für das dem Knaben geschenkte Geld in guter Bestellung des Briefs zu bezeugen, – als er aber seinen Namen, und nachher auch den Wechsel fand, mit seiner ganzen Familie eine entzückende Freude genoß, und dem großmüthigen Mann Segen wünschte und erbate.


Ach! möchte jeder Reiche Sir Weldons Herz haben, oder jede gute Seele sein Vermögen!

Der Wechsler schickte ihm den Brief des Pfarrers, und unser Engelländer glaubte, daß der Segen dieser ehrlichen Leute die Grundlage seiner wiederkehrenden Gemüthsruhe geworden sey. – Da sich sein Herz, wieder zu seinen verbrüderten Mitmenschen geneigt, wie der liebte, und wieder lebte. Kurze Zeit nach Empfang dieses Briefs kam er am Ende eines sehr schwülen Tags an das Ufer des R..hns, wo man die Gutschen in einer Fähre überschiffen muß. Diese war gerade mit andern Reisenden abgegangen, [14] und also Sir Weldone verbunden, auf ihre Rückkunft zu warten. Dieß machte ihn etwas ungedultig, doch sah er um sich, und konnte seine Seele ohnmöglich vor dem herrlichen Anblick verschliessen, den er vor sich hatte – der Fluß, die schöne mit Obstbäumen besetzte Felder, die Weinberge, und der am jenseitigen Ufer stehende junge Wald, in welchem die nun schief einfallende Stralen der Sonne das verschiedene Grün der Bäume beleuchteten, und verschönerten: Auf der kleinen abwärts liegenden Insel waren Fischernetze zum trocknen aufgehängt, und zwey Weidenstämme hielten die Wände einer Hütte, welche der Fischer seinem fleißigen Weibe zu lieb da aufrichtete, damit sie gut für die kleine Leinwandbleiche sorgen könnte, welche sie angelegt hatte. Mann und Weib sassen auf einem Block vor der Thüre, freundlich und genügsam ihr Abendbrod essend, während ihre zwey Kinder die Hälfte des ihrigen den Schwanengänsen zuwarfen, die im Schilfe herumplätscherten. Dreyßig Schritte von seinem Wagen aufwärts stund ein artiges Haus, von dessen zweyten Stock eine Altane gegen das Wasser zu auf Bogen ruhte, zwischen denen man unten einen Vorplatz des Hauses sah: der Strom floß an der Länge der einen Brustmauer vorbey, von der andern Seite gieng man in den [15] Garten, und die dritte hatte einige Stufen gegen die Strasse zu; blühende Agacius Bäume wölbten sich über den Bogen, und dem Geländer der Altane. Die Lage und das einfache Zierliche des Hauses gefiel unserm Sir Weldone, aber die Familie, welche er in dem Vorsaal erblickte, reizte seine Neugierde auch – zwey Frauenzimmer, ein Mann, und zwey schöne junge Leute stunden in dem Vorsaal vor einer Wand, einer von den Knaben las Stücke aus einem Brief, als der andere auf einmal auf den nächsten Stuhl stieg, und mit einer Hand verschiedene Stellen der Mauer andeutete, welche von allen mit der größten Aufmerksamkeit betrachtet wurden, und ehe der muntere Junge von seinem Stuhl heruntersprang, hatte er noch eine Hand geküßt, und sie auf eine Stelle der Landkarte aufgedrückt, und eines der Frauenzimmer umarmte ihn dafür. Diese Scene hatte Sir Weldone sehr wohl gefallen, und er vermuthete gutes von der Familie, die einem abwesenden Freund so viel Liebe zeigte. Die Frauenzimmer setzten sich nach einem ruhigen Blick auf seine Gutsche wieder an ihre Näharbeit, ein Knabe gieng in das Haus, der andere aber hüpfte an das Ende des Saals, und beschaute die vier Postpferde, der Mann sah nach dem Fluß und der Fähre, kam dann mit dem Gang und Bezeugen, wel che das [16] Leben in der großen Welt zurückläßt, zu Sir Weldons Wagen, da er ihn mit einem offenen Gesicht anredete:


Die Fähre, mein Herr! wird wegen dem großen Wasser mehr als eine Stunde nöthig haben, bis sie wieder zurückkommt, es ist noch sehr heiß, Sie stehen in der Sonne, wollen Sie nicht in meinen Vorsaal kommen, und dort etwas frische Luft genießen?

Sir Weldone sah starr auf Herrn Felsen, (denn so hieß der Rechtschaffene) und sagte ganz trocken:


Sie sind sehr höflich, mein Herr! aber was bringt Sie dazu?

Lächelnd antwortete jener:


Es ist mir leid, wenn Sie nicht sehen, daß ich keine andere Ursache haben kann, als den Gedanken ihrer beschwerlichen Lage hier in der Sonne, und den von der Erleichterung, die Sie in meinem Hause fänden.

Dabey machte er eine kleine Verbeugung, und drehte sich zur Rückkehr in sein Haus. Diese Art von sanftem Troz gefiel unserm Weldone, und er rief:


Warten Sie, mein Herr! ich nehme Ihren Vorschlag mit Vergnügen an.

Herr Felsen kam gleich zurück, und führte ihn mit sich. Sein jüngerer Sohn aber gieng, dem Postknecht[17] zu sagen, daß er nun auch die Pferde in den Schatten führen sollte. – Beyde Frauenzimmer grüßten unsern Sir Weldone mit vielem Anstand. Er sah aber gleich nach dem Stück Mauer zwischen den zwey Thüren des Hauses, wo er den Auftritt der ganzen Familie bemerkt hatte. – Europa und Amerika waren mit allen den dazwischen liegenden Inseln mit der äußersten Genauigkeit auf die Wand gemalt, aber so groß, als man nie eine Karte finden kann. – Sir Weldone trat näher, und fragte dann nach den grünen Strichen, die nicht zu der Zeichnung gehörten. Da erklärte ihm Felsen, daß er einen Sohn bey der französischen Armee in Amerika habe, deswegen hätten die Jüngern diese Karte gezeichnet, um bey den Zeitungen und Nachrichten von ihrem Bruder sogleich mit den grünen Strichen jeden Marsch und jeden Aufenthalt anzuzeigen. Sir Weldone lobte den Einfall der brüderlichen Liebe, und die Geschicklichkeit der jungen Leute, aber so kurz und kalt, daß Herr Felsen diese Unterredung ganz abbrach, indem er merkte, daß Weldone ein Engelländer, und ihm nicht angenehm sey, mit einer amerikanisch gesinnten Familie zu sprechen. – Er fragte, ob Sir Weldone ein Glaß Limonade, oder eine Schale Milch nehmen wollte – Weldone nahm die Milch an. Sie giengen indessen [18] einige Zeit in dem Garten still und langsam nebeneinander. Sir Weldone sah überall um sich, und schien mit dem, was er sah, vergnügt; aber sie waren am Obst und Gemüßgelände vorbey, sehr bald an das Ende des Gartens gekommen, von wo man die Felder der Bauern sehen konnte, und giengen zwischen Bäumen zurück einer Mooßbank zu, von welcher man die Aussicht auf den Fluß und die Landschaft umher hatte, und wo Sir Weldone seine Schale Milch, weises Brod, Zucker, und ein Körbchen mit Blumen fand. Er blikte zufrieden hin, lehnte sich aber schweigend an einen Baum, um den Nachtigallen zuzuhören, welche auf der kleinen gegenüber liegenden Insel ihr Abendlied ertönen liessen. Als sie aufhörten, sagte er Herrn Felsen: –


Ihr Wohnsitz ist schön, aber Sie haben doch nicht immer hier gelebt? –


Nein, es sind nur wenige Jahre, aber woher vermuthen Sie das?


Aus allem, auch aus Ihrem Gang und Zügen – Sie sind noch nicht alt – Sagen Sie mir, was führte Sie her? Da Ihre Güter nicht groß sind, wie ich sehe, so können diese die Ursache nicht seyn. –


Sie sind es auch nicht – denn es war Sturm, der mich herbrachte. –

[19] Sir Weldone setzte seine Schale weg, sah mit Ernst und Theilnehmung auf Herrn Felsen, und sagte:


Ich verstehe Sie – aber ist es denn schon so lange vorbey, daß Sie so ruhig von einem Sturm sprechen können? –


Nicht so sehr lang, aber da dieser erlittene Sturm Ursach ist, daß der Abend meines Lebens eben so heiter und ruhig vorübergehen wird, als wir jetzo diesen schönen Strom unter dem klaren Himmel zwischen den niedern Sträuchen hinfließen sehen, warum sollte ich noch über die Ursache zürnen, die mir dieses Glück verschafte? –

Der Engelländer ergriff schnell, und mit sichtbarer Bewegung seiner Seele Felsens Hand –


O gewiß war Menschen Boßheit und Menschen Betrug der Anlaß dazu. – Nicht Bliz vom Himmel, der Ihre Wohnung und Vermögen verzehrte – keine Ueberschwemmung, die alles wegspülte, was Sie besassen – kein allgemeines Weh des Kriegs, keine eigentliche Räuberbande, die Ihnen Gold und Silber nahm, – denn in dieser liegt noch mehr gutes, als in dem heimlichen Verläumder und Neider, der Jahre lang jeden Schritt des [20] Redlichen, den er haßt, beschleicht, jede seiner Minen beobachtet, einzele Sylben, die er verkehren kann, aufzeichnet, und im verborgenen lauter Werkzeuge daraus macht, womit er den Bau eines truglosen Menschen untergräbt, und ohnversehens einstürzen macht.

Herr Felsen wurde durch dieß so lebhafte Bild seines Schicksals etwas erschüttert, weil es ihm so ganz ohnverhoft dargestellt ward. Aber dieser Fremde erlangte dadurch auch mehr Aufmerksamkeit und Vertrauen von ihm. – Er antwortete so ruhig, als er konnte:


Ja, mein Herr! es waren unverdiente Feinde, die meinen Wohlstand zerstörten, aber der edelste Freund, und das Zeugnis meines Herzens stärkten mich, den ersten Anfall zu ertragen, und nun segne ich mein Schicksal für das vergangene und gegenwärtige.

Weldone fiel lebhaft ein:


Herr! Sie sind ein Mann, wie ich einen zu sehen wünschte. Sie sind sicher, einen geprüften Freund zu haben, und können mit Heiterkeit von Unglück reden. – O! Sie müssen mir erzälen, wie Sie dieses Glück und diese [21] Kunst fanden. – Ich bleibe hier – es wird wohl eine Schenke in dem Dorfe seyn?


Ja, mein Herr! und dazu recht gute Leute. So führen Sie mich hin, denn ich will den übrigen Abend in völliger Ruhe zubringen, und morgen dann wieder herkommen auf diesen Plaz, wo man, wie Sie sagen, das Bild Ihrer jetzigen Tage vor sich hat. –

Er wieß da auf den Fluß, der würklich in kleinen, von den Sonnenstralen flimmernden Wellen, mit dem Graß und Blumen des Ufers spielend, einen Kahn vorbeyführte. – Felsen verließ ihn an der Schwelle des Wirthshanses, und nachdem er ihn zu guter Pflege empfolen, kam er zu seiner Familie zurück, welcher er seine Unterredung mittheilte. Sir Weldone war auf seiner Seite über den Carakter des Herrn Felsen erstaunt und erfreut: – dann wunderte ihn auch die große Reinlichkeit, und der gute einfache Geschmack, den er im Haus, und in den zwey Zimmern fand, die man ihm angewiesen hatte. Er wollte schon vorher den Wirth nach der Felsischen Familie fragen, und fieng nun sein Gespräch mit dem Wirth mit dem Lob der Ordnung an, die er in seinem Gasthof bemerke, und fragte, ob er gereißt seye? –


Nein, er wäre nie von dem Ort gekommen, [22] und die gute Einrichtung, welche Ihre Gnaden zu loben geruheten, habe er Herrn Felsen zu danken, welcher mit Frau und Kindern weit hergekommen, und sich also auf gute Bewirthung verstünde, dieser hätte ihm und seiner Frau alles so angegeben, damit die Fremde gern bey ihm einkehren möchten.

Nun fragte Sir Weldone weiter nach diesen Leuten, nach der Zeit ihres Aufenthalts, und ihrem Betragen. – Der Wirth konnte nicht aufhören, gutes von den Felsen zu sagen – wie liebreich sie mit den Bauern umgiengen, sie manches lehrten, die Kranke besuchten, oder Sonn- und Feyertage bey der großen Linde etwas erzälten, was so für Dorfleute eine Freude seyn könnte. – Sie gäben den Armen oft eine Suppe aus ihrem Topf, und ein Glas Wein, auch wohl Geld, ob er schon wisse, daß sie nicht reich seyen. – Seine Nahrung, fuhr er fort, hätte sich durch die Felsische verdoppelt, indem viele Vorbeyreisende sich ihnen zu lieb aufhielten, und denn bey ihm logierten. – Frau Felsen habe seine Frau etliche gute Speisen kochen lehren, und die Betten und Weißzeug geordnet, dadurch habe er viele Kundschaft bekommen, indem immer ein Fremder es dem andern gesagt, und angerühmt habe, so wie er hoffe, daß es Ihro Gnaden thun würden, [23] wenn Sie nun die gute Bedienung erfahren hätten. – Diese Unterredung gab ein neues Stück in Sir Weldons Tagbuch, an welchem er den ganzen Abend und folgenden Morgen fortschrieb, und dem Zufall dankte, der ihn aufgehalten hätte. Er fühlte seine angebohrne Menschenfreundlichkeit wieder aufwachen, und es war ihm wohl dabey, wie es immer bey den Empfindungen der Tugend uns wohl ist. Er gieng früh zu den Felsen, und trank Thee mit ihnen in ihrem Saal, an dem offenen Bogen gegen den Garten, der von Rosen und Geißblatstauden umgeben ist, und deren artige Schatten durch die Morgensonne auf den Theetisch geworfen wurden, und wo die Luft, neben der angenehmen Bewegung, welche sie den Blättern gab, zugleich den süssen Geruch der Blumen mit in den Saal brachte. – Alles dieß scheint klein, aber wie wenig glükliche Gefühle hätten die Menschen, wenn nicht die väterliche Vorsicht des Schöpfers Millionen kleiner Freuden um uns her entstehen liesse? – wie arm ist der, welcher sie nicht bemerkt, und wie elend das Herz deßjenigen, der sie verspottet!

Die zwey schöne, den Jünglingsjahren entgegen blühende Söhne des Herrn Felsen waren auch da, als Bild des heitern Morgen unsers Lebens. Ihre Mutter, welche mit Zärtlichkeit auf sie blickte, [24] und, wie Sir Weldone sagt, bey Darreichung ihrer Tasse Thee, den mütterlichen Segen dazu in ihrem Aug ausdrükte, und ihn an seine glükliche Jugend zurückdenken machte, wo auch oft ein solches Mutteraug auf ihm geruht hatte, nur daß Frau Weldone diese Seligkeit ungetrübt genoß, indem sie wegen ihres großen Vermögens, nicht nöthig hatte, wie Frau Felsen es that, bey dem Weggehen ihrer Söhne einen bekümmerten Blick in die Zukunft zu werfen. – Die junge Leute giengen in ihre Lernstunden, und Frau Felsen zu ihren Hausgeschäften, ihr Mann und Weldone in den Garten, wo sie die Moosbank aufsuchten. – Aber ehe sie sich niedersetzten, faßte der Engelländer Herrn Felsen, und sagte:


Warum fragen Sie dann mich nicht, wer ich bin?

Felsen erwiederte lächelnd –

Weil ich es gleich errathen habe, und weil ein jeder Moment meine Vermuthung bestättigt.

Sir Weldone stuzte in etwas zurück, trat aber gleich wieder vorwärts, sah Herrn Felsen stark an, und sagte lebhaft –


Wie dann! wer bin ich?

Sanft und freundlich antwortete Felsen:


Sie sind ein edler junger Mann, der bey seinem [25] Eintritt in die Welt lauter herrliche Sachen zu finden hofte, und auch lauter Entwürfe zu schönen Thaten machte, sein Herz und sein Vertrauen hingab, weil er alle Menschen für eben so gut und redlich achtete, als er selbst war, sich betrogen fand, und wie bey dem frühen Erwachen aus einem schönen Traum mit der Natur zürnet, daß sie ihn wekte.

Sir Weldone rief –


Bey Gott! das ist meine Geschichte – O! wiegen Sie mich in keinen neuen Schlaf!
Nein, junger Mann! sagte Felsen ganz ernsthaft:

Sie sollen die Wahrheit und die Menschen mit offenen Augen bey uns sehen –
Sir Weldone fragte dann etwas düstern:

Aber warum behandeln Sie den Schmerz, den Böse Menschen mir gaben, als Traum?


Weil eine jede Art von Täuschung Traum ist, mein theurer Fremdling! und weil ich überzeugt bin, daß wir alle in einem Theil unsers Lebens träumen, wenn wir uns die Vergnügen der Ehrenstellen, des Reichthums, die von der Liebe, und dem vollkommnen Verdienst voraus bezeichnen, einen Plan zu ihrem Genuß entwerfen, und [26] da ganz natürlich auf allen Seiten dieses Ideal nach unserm Sinn bilden: – Solang es noch in uns liegt, können wir es wohl thun, denn der Bug unserer Gedanken ist ja unser, wie dem Maler die Lazurfarben gehören, die er auf seine Gemälde tragen will. Wenn nun aber die Zeit kommt, wo wir in Verbindung mit andern Menschen leben und handeln sollen, die nicht denken wie wir, da wachen wir auf, und fühlen den großen Unterschied zwischen Idee und Sache, zwischen dem Vorbild der Tugend, und dem, was von ihr in das tägliche Thun und Lassen verwebt wird. –

Weldone faßte diese Wahrheiten auf, und sie erzälten sich den Gang ihrer Schicksale und ihrer Denkart. Am Ende ergözten sie sich an der verschiedenen Würkung, welche die Kenntniß und die Erfahrung in der wahren Welt gegen die Idee der möglich guten auf sie beyde machte. – Herr Felsen bekannte dabey, daß, wenn er nicht einen großen Vorrath Kenntnisse in seine Einsamkeit gebracht hätte, so würde sie ihm zu einer eisernen Last geworden seyn, so wie er gewiß dem Anfall des plözlichen Kummers unterlegen wäre, wenn nicht der Genius der großmüthigsten Freundschaft ihn gestärkt und [27] aufrecht gehalten hätte – Er sezte mit vieler Bewegung hinzu: –


O Bild des Chr-st-ph v. H-h-nf-ld! Möchte ich dich in Erz und Marmor der Nachwelt in deiner edlen Gestalt aufbewahren können – Möchte man dich sehen, wie du mit deiner Rechten mich unterstüzt, und meine zwey jüngere Söhne von deiner linken umfaßt, den heiligen Eid des Beschützers und Vertheidigers schworest – oder in dem Augenblick, als du, mit der Freude des Menschenfreunds, die, welche du aus dem Schiffbruch rettetest, in dein Haus einführtest, und unsern Dank und Seegen mit eben so viel Bescheidenheit anhörtest, als Grösse in dir ist. O wie sehr verdienst du das Zeugniß des ehrwürdigen Greisen Bodmers, der von dir sagt, daß du ein Beyspiel von Adel der Seele gegeben, dessen er unser Jahrhundert nicht mehr fähig hielt. –

Es wunderte hier unsern Sir Weldone, den Mann, der lauter Ruhe und Kälte zu seyn schien, mit so viel lebendiger Wärme sprechen zu hören. Herr Felsen sagte ihm noch, als einen auszeichnenden Zug seines Geschiks, daß seine junge Jahre von dem Gr-f Fr..d.r.ch v-n St-d..n, [28] einem der würdigsten Männer, die Teutschland jemals gehabt, gepflegt, gebildet und besorgt wurden, wie jetzo seine alte Jahre an der Seite eines der edelsten hinflössen. –


Von dem Zwischenraum dieser Zeiten meines Lebens, fuhr er fort, sind mir tausend Erinnerungen geblieben von genossener Freude und Achtung, von erworbener Wissenschaft und ausgeübtem Guten – die Bekanntschaft einer Menge verdienstvoller Personen von allen Völkern in Europa: besonders aber würde er bis in den lezten Augenblick an jede schöne, wohlwollende Seelen denken, die an der Veränderung seines Glüks so vielen Antheil nahmen, deren Charakter und Gesinnungen er vielleicht nie so vollkommen hätte kennen lernen, wenn es nicht in dem Ungewitter seines Lebens geschehen wäre. – Seine Bibliothek unterhalte seine Kenntnisse, und durch artige Einrichtung einer Lesegesellschaft, die er in der Gegend angetroffen, geniesse er noch seinen Antheil Freude an dem Fortgang der Aufklärung für die Nachkommen, und die Lage seines Wohnhauses habe ihm nicht nur das Vergnügen gegeben, viele schäzbare Menschen kennen zu lernen, und in ihnen [29] das Bild der Geschäfte der Welt, und ihrer Aenderung in einem beweglichen Gemälde zu sehen, sondern er habe auch Gelegenheit gehabt, einigen zu dienen. Er lebe nun mit der Natur und guten einfachen Menschen, deren Jubel bey der aufkeimenden Saat, bey der Blüthe ihrer Obstbäume und Weinberge, der Erndte und dem Herbst ganz ein anders Gefühl sey, als das von den Städten, wenn er im May einen Spaziergang macht, auf das neue Grün umher schaut, im Sommer Mähen, Garbenbinden, oder auch die Weinlese sieht. – Für mich

setzte er hinzu –


ist kein Sonnenstral, kein Thautropfen, und kein Graßhälmgen gleichgültig, und die ganze wohlthätige Muttererde, ihre Tage und Nächte haben einen doppelten Werth erhalten, und so oft mein edler würdiger Freund von einer Reise zurückkommt, so oft wird jede Freude neu belebt.

Sir Weldone erquikte sich an dem heitern Ton, in welchem Herr Felsen von den Widerwärtigkeiten seines Lebens sprach. Doch bat er ihn um eine Beschreibung des Gefühls, welches seine Seele im ersten Anfall durchdrang. – Felsen sagte:


[30] Es war das Staunen über einen Donnerschlag, der aus heitern Wolken kam, und der bittere Schmerz, den Bau des Glücks meiner Kinder einstürzen zu sehen, da ich mir doch keines Mangels meiner Pflichten, keines Unrechts in Gesinnung und Vermögen bewußt war. Meine Feinde dachten wohl, daß es mich schmerzen würde, sonst hätten sie die Sache nicht so angelegt: aber es wäre noch viel schlimmer, als Feinde es wollen, wenn in solchen Fällen das Zeugniß unsers Gewissens, Kenntniß der Welt und des wahren Werths alles dessen, was die Welt geben kann, wenn Wissenschaft und männlicher Sinn uns nicht unterstüzten, wenn der mächtige Gedanke es ist ein Gott – uns nicht empor hielt? – Ich habe nie mit Vorsatz beleidigt, aber ich bin Mensch, und kann unversehens jemand gestossen haben. Und das weiß ich auch, daß der, welcher Jahre lang auf Rache denkt, und mit Ergötzen an dem Gedanken des Kummers sich weidet, den er nun über eine ganze Familie hinströmen sieht, dieser Mensch ist nicht fähig, Beleidigungen zu vergeben, sie mögen noch so klein, noch so unvorsezlich seyn. – Aber, [31] das alles mag meine Kinder lehren, auf den guten Schein des Glücks nie zu viel zu bauen, und daß die gröste Redlichkeit des Wandels uns nicht vor Feinden schüzt. – Einen Freund zu verdienen, mit mäßigem Ansehen und Auskommen sich zu begnügen, und einen Vorrath von Tugend und Weisheit zu sammeln, die ihnen in Zeit der Noth zu Mantel und Obdach dienen können, – geschieht dieß, o! so ist Gewinn in meinem Verlust, und meine unschuldige Söhne leiden nicht so viel von dem Weh, das man über meine erlebte Tage goß.

Herr Felsen wurde nun unserm Sir Weldone eben so ehrwürdig, als ihm sein Vater gewesen. Ein kleiner Regen nöthigte sie in das Haus, wo in Felsens Zimmer auf einer einfachen Papiertapete eine Reihe von Wollet gestochenen Englischen Gärten aufgehängt ware. Diese unvermuthete Erinnerung an sein Vaterland rührte unsern Engelländer ungemein, und nun öfnete er sich ganz durch die Erzählung von seiner Jugend und Erziehung. – Herr Felsen konnte an dem Plan und Grundsätzen nichts anders tadeln, als daß er sagte, sie wären nicht für Menschen dieser Welt, sondern für die seelige Schatten in den Elyseischen [32] Feldern gewesen, wo man ohne Leidenschaft allein nach edlen Gefühlen lebte. – Er bat den liebenswürdigen Schwärmer, aus den Lehrstücken seiner Eltern und aus seinen Erfahrungen zusammen einen neuen Entwurf für das Glück seiner künftigen Tage zu machen, worinn er dem Hang seines Herzens folgen könnte, das ihn immer zu guten Menschen hingezogen habe; er versicherte ihn dabey, daß es ihrer viel mehr gebe, als der bösen, ob sie schon nicht so oft gezählt und bemerkt würden: – das Heiligthum seines Herzens sollte er in Zukunft nicht mehr jedem schönschwäzenden Buben öfnen, und auch vor der süssen Schmeicheley einer gewissen Gattung Weiber verschlossen halten, bis ihm der Himmel eine edle und sanfte Gefärtin des Lebens zuführte, die übereinstimmend mit dem Geschmack seines Geists den Weg der schönen Kenntnisse an seiner Seite fortgehen, und mit kluger Güte das Elend lindern helfe, welches er immer in jedem Zirkel seines Wohnsitzes antreffen würde. – Herr Felsen widerrieth unserm Weldone, sich in ein öffentlich Amt zu begeben, weil er bey dem tiefen Gefühl, das er von Recht und Unrecht habe, immer zu viel leiden würde, und weil man ohne vollkommene Obergewalt selten was gutes stiften könne. – Nun wurde auch sein Tagbuch in der Felsischen [33] Familie gelesen, und darinn deutlich erkannt, wie nöthig es sey, jungen Leuten neben der Idee des möglich vollkommenen Guten auch das Gegenbild zu zeigen, welches böse Neigung des Herzens, irrige Begriffe des Verstands, oder eine versäumte Erziehung hervorbringen, damit sie Menschen im thätigen Leben nicht nach denen beurtheilen, die ihnen in Büchern und Lehre als ganz untadelhaft vorkommen: Dadurch würde einem doppelten Schaden vorgebogen – edle gute Jünglinge, wie Sir Weldone, würden vor blindem Vertrauen auf guten Schein, und vor Trübsinn bewahrt, und andere vor der Zügellosigkeit, mit welcher sie sich auch jeder Abweichung von dem bezeichneten Weg oder dem lauten Tadel alles dessen überlassen, was nicht nach dem ihnen zuerst gegebenen Modell geformt ist, welches ihnen mit Unrecht übel genommen wird, Mißtrauen in sie giebt, und auch oft ihrem Glück schädlich ist. Felsen nahm sich vor, dem irrgegangenen Weldone die Welt und die Menschen in einem gefälligen Licht zu zeigen, und nachdem er ihm die zwey Regentage über den Zirkel der Beschäftigungen in seinem Haus gewiesen hatte, führte er ihn auch auf das Feld und bey den Bauren umher, damit ihm die Vergleichung mit dem glücklichen Leben der englischen Pächter auch diesen [34] Theil seines Vaterlands wieder vorzüglich angenehm mache. Herr Felsen, der einen reichen Bauren mit seinem Sohn und Knecht auf dem Acker eines Armen arbeiten sah, vermuthete, er habe den Acker gekauft, und bereite ihn so fleißig zu seinem Nutzen. Er fragte ihn darüber, und hörte mit Vergnügen die Antwort –


O nein, ich baue ihn für meinen guten Nachbar, der krank liegt, und noch dabey sein Ackerpferd verlohren hat. –


Ehrlicher Mann! sagte Felsen, Gott segne euch für eure Nächstenliebe! –


Er hat es schon gethan – erwiederte der Bauer – meine Erndte ist sehr reich gewesen.

Nun giengen sie weiter, und Felsen nahm Sir Weldons Hand – Lieber Jüngling! Sie glauben doch an dieses gute Herz?


Ja! sagte er mit Bewegung. – Nehmen Sie auch hier zu einem neuen Pferd, und zur Hülfe für den Kranken –

wobey er Herrn Felsen eine schöne Summe gab. – Ein paar Tage nachher fanden sie eine Bäurin mit zwey Säuglingen auf ihrem Schooß, vor der Thüre ihres Hauses. –


Gute Frau! sagte Felsen, habt ihr die gesunde Zwillinge so weit gezogen?

[35] Das Weib blikte mit Vergnügen auf beyde Kinder, und auf ihre Brust, an welcher das eine lag:


Es sind keine Zwillinge, Herr Felsen! dieses Mädchen – sagte sie, das säugende Kind an sich drückend, gehört einer armen Frau, die noch im Feld arbeitet: der gute Wurm weinte, und ich stille es, bis seine Mutter wiederkommt.

Indem kam eine Frau, mit einem hohen Bund Gras auf ihrem Kopf, den sie gleich bey einer Hütte gegenüber niederwarf, und zu der Säugerin hinlief.


Gott vergelte dir es, liebe Nachbarin!

sagte sie, und wollte das Kind nehmen, aber die Bäurin litte es nicht.


Laß es doch satt trinken, du hast zu viel gearbeitet, du kannst nicht viel Milch haben. – Geh, und sorge noch für deine Kuh. –

Einfacher ländlicher Auftritt! wenn deine Erzählung jemand mißfiel – o wie würde ich den Menschen bedauern, der sein Gesicht von dir abwenden könnte! – Weldone gieng der Frau in die Hütte nach, beschenkte sie, und gab auch der freundlichen Pflegerin etwas zum Andenken, ob sie es schon nicht nehmen wollte – und gerührt gieng er an Felsens Arm zurück, der ihm sagte:


Sir Weldone! in der ganzen Welt sind gute Seelen.

[36] Nachdem führte er ihn in die ohnweit liegende Wohnstadt eines großen Fürsten, wo jede schöne Kunst, und jeder verdienstvolle Mann, der sich mit ihr beschäftigt, so wie auch die beynah namenlose Zahl der Unterarbeiter und Handwerker, welche durch die Bau- Garten- und Bildhauerkunst, durch die Gemäld-Naturalien- und Büchersammlung, auf so vielfache Weise ernährt und glüklich gemacht werden, von Herrn Felsen seinem scheuen Fremdling, als Vorbild der seligen Tage, gezeigt wurden, welche er in Engelland geniessen könne: – da Sir Weldone und sein Vermögen in allem unabhängig sey, so könne er einen Theil des Jahrs auf seinem Landsitz jede reine Freude der Natur um sich haben, und sich dann in kleinen Reisen das Vergnügen schaffen, Arbeiten des Geists, und geschikter Hände seines Vaterlands zu sehen. – Er sagte dabey:


»Der Gedanke der Vollkommenheit hat sich Ihrer bemächtigt, mein Lieber! zeigen Sie ihn in sich durch einen vollkommenen Geist der Duldung! sehen Sie fehlerhafte Menschen als so viele Kranke an, welchen Sie, da Sie kein Arzt sind, nicht helfen können! Suchen Sie überall das Gute, und vereinigen in sich das Beste!«

Als Herr Felsen bemerkte, wie sehr alles dieß in [37] Sir Weldon's Seele gedrungen war, so führte er ihn noch zu dem vortreflichen jungen Mann, der seiner Augen beraubt, auf alle die tausendfache Freuden und Kenntnisse des Sehens versagen mußte, aber diesen Verlust durch den Reichthum des Wissens und Denkens zu ersetzen suchte. Das gefühlvolle Herz unsers Weldone wurde äusserst bewegt und erschüttert, als er einen artigen Mann von seinem Alter sah, für den der herrliche Genuß jeder Schönheit der Natur und Kunst, von welchem er würklich herkam, völlig verlohren war. Er hörte ihn sprechen, sah ihn auf seiner bereiteten Karte die Grafschaft anzeigen, in welcher Sir Weldons Güter lagen, und alle Städte und Flüsse weisen, die er auf seinen Reisen angetroffen haben müßte. Weldone umarmte den werthen Blinden, der mit so viel Gelassenheit und Treue, mit dem Ueberrest der Fähigkeiten wucherte, die ihm sein grausames Schicksal gelassen hatte. Als sie nach Haus giengen, sagte Felsen:


Sir Weldone! vergleichen Sie sich mit diesem jungen Mann, und denken Sie an das Uebermaß von Glück, so Ihnen bleibt!

Weldone bat jetzo Herrn Felsen, ihm zu sagen, ob er nicht von der Gesellschaft sey, die, wie man ihn versichert hätte, in Teutschland mit der edlen großen Verbindung verbreitet sey –


[38] Wahrheit und Güte in ihre alte Rechte einzusetzen, und das Wohl der Menschen zu bevestigen – O sagen Sie mir es, ich bitte Sie, und nehmen Sie meinen Dank und Verehrung für sich und Ihre edle Verbündete an! gönnen Sie mir die Freude, zu denken, daß ich von der Hand eines dieser wohlthätigen Weisen auf den Weg der Zufriedenheit geleitet, und von ihm geliebt wurde! –

Felsen verweigerte dieses Geständniß, und sagte, daß er in keinem andern Bund stünde,


als dem, die Pflichten eines guten Menschen in allen Fällen auszuüben.

Sir Weldone reißte einige Zeit nachher mit ermuntertem Glauben an thätige Tugend nach Engelland zurück, wo er seinen Aufenthalt in Deutschland segnet, und nach Felsens Grundsätzen lebt, die ihm täglich beweisen, daß


wahres und dauerhaftes Glück in der Seele des guten und rechtschaffnen Mannes wohne.

[39]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). La Roche, Sophie von. Erzählungen. Moralische Erzählungen. Zweyte Sammlung. Das wahre Glück ist in der Seele des Rechtschaffenen. Das wahre Glück ist in der Seele des Rechtschaffenen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DAED-6