[84] Die Lerche mit ihren Jungen und der Herr des Feldes

Verlaß dich nur auf dich!
Das ist ein Wort voll Wahrheitskraft.
Hört, wie Äsop ihm Glauben schafft.
Die Lerche baut ihr Nestchen sich
Im Acker, wenn noch grün das Feld,
Das heißt, zur Zeit da alles in der Welt
In Liebe sich vereint, daß sich die Art erhält:
Die Ungeheuer tief im Meer,
Die Tiger in den Wäldern,
Die Lerchen in den Feldern.
Von diesen letzten säumte eine sehr
Und ließ den halben Lenz verfließen,
Ohne die Frühlingsfreuden zu genießen;
Nun aber gab ihr die Natur voll Kraft
Den heißen Wunsch nach Mutterschaft.
Sie baute, legte, brütete im Neste
Die Eier aus, und alles ging aufs beste.
Rings das Getreide aber trug
Schon weiße Körner, eh' die Jungen stark genug
Zum Fliegen waren.
Die Lerche sah: hier drohten bald Gefahren!
Voll banger Sorgen flog sie auf den Beutezug,
Nachdem sie ihre Kinder so belehrt:
»Seid auf der Hut
Und achtet gut:
Wenn der, dem dieses Feld gehört,
Mit seinem Sohne kommt (es wird geschehen!),
Belauschet ihn; denn je nach seinem Wort
Gilt's noch zu bleiben oder – schleunigst fort!«
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Kaum hat die Mutter sie verlassen, sehen
Den Herrn mit seinem Sohn sie nahn. Er spricht:
»Das Korn ist reif. Nun säume nicht,
Zu unsern Freunden hinzugehen,
Und bitte sie, sobald der nächste Tag anbricht,
Mit ihren Sensen zu erscheinen,
Um unsern Acker abzumähen.«
Die Lerche findet, als sie wiederkehrt,
In großer Angst die armen Kleinen.
Sie sagen ihr, was sie gehört:
»Er hat für morgen früh die Freunde all bestellt,
Um abzumähen dieses Feld.«
Da sprach die Lerche: »Hat er dieses nur gesagt,
So drängt uns nichts, so haben wir noch Ruh!
Doch höret morgen wieder zu.
Jetzt eßt und labt euch, wie es euch behagt.«
Sie essen, schlafen dann,
Die Mutter wie die Kleinen.
Der neue Tag bricht an,
Von all den Freunden aber sieht man keinen.
Die Lerche fliegt, um sich nach Futter umzusehen,
Und wie gewöhnlich kommt der Mann.
Er spricht: »Das Korn hier sollte nicht mehr stehen.
Die Freunde taten unrecht dran,
Und unrecht tut,
Wer sich verläßt
Auf solche arbeitsscheue Brut.
Mein Sohn, für morgen bitte die Verwandtenschar.«
Schlimmer als gestern war die Angst im Nest.
»Mutter, jetzt hat er die Verwandtschaft herbeschieden.«
»So ist für unser Heim nicht viel Gefahr.
Seid ruhig, Kinder, schlaft in Frieden!«
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Die Mutter hatte recht, denn niemand kam.
Voll Unmut wurde dies der Herr gewahr.
Er sprach: »Wie falsch ich mich benahm,
Mich mehr auf andre Leute zu verlassen
Als auf uns selbst! Ja, dies ist klar:
Wer auf die andern hofft, der liegt bald arm und lahm.
Drum höre, Sohn! Damit wir nicht die Zeit verpassen,
Nimmt morgen jeder eine Sense in die Hand,
Wir und die Unsern, und wir mähen unsre Gassen.
Das wird die beste Hilfe sein!
Wir bringen unsre Ernte wohl allein zustand.«
Kaum weihte man in dies Gespräch die Lerche ein,
Da rief sie: »Liebe Kinderlein,
Nach solchem Wort
Da heißt es: fort!«
Und flatternd und taumelnd mit Flügeln und Beinen
Entflohen mit ihrer Mutter die Kleinen.

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TextGrid Repository (2012). La Fontaine, Jean de. Versfabeln. Fabeln. Die Lerche mit ihren Jungen und der Herr des Feldes. Die Lerche mit ihren Jungen und der Herr des Feldes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DA59-1