[80] Der Wolf, die Ziege und das Zicklein

Die Ziege wollte weidend ihren Hunger stillen,
Um sich die leeren Euter wieder anzufüllen.
Als sie beim Fortgehn fest die Tür verschloß,
Verwarnte sie das Zicklein, ihren Sproß:
»Um deines Lebens willen hüte dich
Und öffne nicht, es sei, du hörtest mich.
Mein Losungswort ist – merk dir's recht –:
Zum Henker mit dem Wolfsgeschlecht!«
Als sie so sprach zu ihrem kleinen Jungen,
Kam zufällig der Wolf vorbeigesprungen;
Sie sah ihn nicht, er aber hörte fein
Und prägte gut das Losungswort sich ein,
Versteckte sich, und als die Alte fort,
Lief er zur Türe hin, verstellte dort
Der Stimme Klang und sprach das Losungswort:
»Zum Henker mit dem Wolfsgeschlecht« –
Erwartend, daß darauf die Tür sich öffnen möcht.
Argwöhnisch aber rief das Geißenkind
Heraus durch eine Spalte: »Zeige mir
Die weiße Pfote, und ich öffne dir.«
Da weiße Pfoten bei den Wölfen nun
Bekanntlich Seltenheiten sind,
So wußte unser Räuber nichts zu tun;
Er sah um seine Hoffnung sich betrogen
Und ist ganz sachte wieder heimgezogen.
Was hätte mit dem Zicklein sich begeben,
Wenn es allein dem Losungswort vertraut?
Besser auf mehr denn eine Sicherheit gebaut!
In manchen Fällen kann es ein Zuviel nicht geben.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). La Fontaine, Jean de. Versfabeln. Fabeln. Der Wolf, die Ziege und das Zicklein. Der Wolf, die Ziege und das Zicklein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DA3D-1