[45] Die Glieder und der Magen

Man kann den Magen wohl als Bild
Des Königtums erblicken:
Ist er von einer Not erfüllt,
Wird sie den ganzen Körper drücken.
Einmal geschah es, daß die Glieder grollten,
Sie müßten alles schaffen für den Magen,
Und sie beschlossen, daß sie feiern wollten:
Das Nichtstun würde ihnen auch behagen.
»Er möge«, sagten sie, »sich selber doch ernähren.
Was sollen wir uns ewig für ihn plagen?
Wir mühn uns ab – für wen? für ihn allein!
Und er will keinen Tag der Ruhe uns gewähren,
Will immerfort von uns gefüttert sein.
Wir feiern jetzt – nach seinen eigenen Lehren!«
Gesagt, getan. Die Hände faßten nichts mehr an,
Es schlief der Arm, es ruhten Fuß und Bein.
Dem Magen rieten sie, sein eigner Koch zu sein.
Doch schlimmer, als der tolle Streich begann,
War bald die Folge, die man schwer bereute:
Des Magens Darben schuf kein neues Blut,
Von Kräften kamen die betörten Leute,
Jeder verlor, kein einziger gewann.
Und so erkannten die Rebellen gut,
Daß er, den sie voll Frevelmut
Den schlimmsten Müßiggänger schalten,
Mehr tat als sie, um alles gut in Gang zu halten.
Genau so, dünkt mir, sieht es aus
Mit uns und unserm Königshaus.
Wir alle liefern Arbeit für die Majestät,
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Die ihrerseits besorgt vom Thron herniederspäht,
Handwerk und Ackerbau und Handel hebt,
Die Amtspersonen überall bestellt,
Das Heer besoldet, Künstler unterhält
Und stets nach Glanz und Ruhm des Landes strebt.
Wir alle dienen einer Obrigkeit,
Und sie allein belebt den ganzen Staat.
So schlichtete Menenius einst den Streit,
Da sich vom stolzen römischen Senat
Empört getrennt das Proletariat.
Es grollte, er allein besitze alle Macht,
Verfüge über Gut und Geld und Ehr und Würde,
Indessen ihm, dem Volk, nichts sei von aller Pracht,
Nur Not und Steuern und des Krieges harte Bürde.
Sie fühlten vom Senat sich jämmerlich betrogen
Und waren schon vereint zum Tor hinausgezogen,
Um auszuwandern in ein beßres Land,
Als klug Menenius jene Fabel fand,
Der die Geschichte dann Unsterblichkeit bescherte.
Das Gleichnis von den Gliedern war's, das sie bekehrte
Und fest wie je zuvor mit ihrem Staat verband.

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TextGrid Repository (2012). La Fontaine, Jean de. Versfabeln. Fabeln. Die Glieder und der Magen. Die Glieder und der Magen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-D9DF-C