[158] Demokritos und die Abderiten

Wie hasse ich die Meinung des Gemeinen,
Wie muß er mir doch klein und dumm erscheinen,
Er, dessen Denken stets am Staube klebt
Und dennoch sich so gerne überhebt,
Der stets aus engstem Winkel alle Dinge sieht
Und das Erhabne ins Gemeine niederzieht.
Das mußte auch der Lehrer Epikurs erkennen,
Denn seinem Volk gefiel es, ihn verrückt zu nennen;
Vor allem hat er dieses bald erkannt:
Propheten gelten nichts im eignen Vaterland.
In Wirklichkeit war wohl das Volk nicht bei Verstand
Und Demokrit der Weiseste in seiner Mitte.
Das Volk der Abderiten nämlich bat
– Und äußerst dringend machten sie die Bitte –
Den kundigsten der Ärzte, Hippokrat,
Er möge doch zu Hilfe eilen,
Des Kranken irren Geist zu heilen.
Abderas Bote sagte etwa so,
Und seine Tränen rannen bei dem Wort:
»Des Demokrit Verstand ist gänzlich fort,
Das viele Lesen hat ihn dumm gemacht;
Was wären doch wir Abderiten froh,
Wenn zur Vernunft er wiederum erwacht.
Er sagt, man könne nicht die Welt in Zahlen fassen,
Und will noch Tolleres uns glauben lassen.
Und nicht genug an dem, er spricht auch von Atomen,
So wie ein andrer wohl von seinen Kindern spricht;
Und ohne daß er sich vom Platz bewegt,
Erhebt er sich zu allen Himmelsdomen,
An die er kühn den Maßstab legt.
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Er kennt das Weltall, doch sich selber nicht.
Wie mitteilsam ist er doch einst gewesen,
Der jetzt nur mit sich selber spricht;
O kommt und laßt den armen Mann genesen!«
Hippokrates kam solche Kunde seltsam vor,
Doch ging er hin, und das Geschick erkor
Für die Begegnung den gerechten Augenblick.
Denn Hippokrat traf ihn, von dem es hieß,
Daß die Vernunft ihn längst verließ,
Dabei, wie er mit ernstem Forscherblick
Zu finden strebte, wo bei Mensch und Tier
Der Sitz für den Verstand zu suchen sei:
Ob Herz, ob Hirn wohl wäre sein Revier.
So saß er da im Schatten kühler Bäume
Und spähte in die Windungen und Räume
Von eines Menschenhirnes Labyrinth,
Und weise Bücher lagen ihm zu Füßen.
Für die Natur rundum ist unser Forscher blind,
Der auch des Freundes Nahen erst gewahrt,
Als schon vertraute Worte ihn begrüßen.
Und weil der Weise gerne Worte spart
Und ihm leichtfertiges Geplauder fremd
Und hier den Geistesflug kein Lauscher hemmt,
So sprechen sie von Mensch und Menschenseelen,
Und auch die Nutzanwendung lassen sie nicht fehlen.
Es ist nicht nötig, daß ich lang und breit
Euch hier berichte jede Einzelheit.
Das Vorgesagte mag als Weisung euch genügen,
Daß man des Volkes Urteil, eh man's glaubt, ermißt,
Und straft zugleich den Ausspruch Lügen,
Daß Volkes Stimme Gottes Stimme ist.

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TextGrid Repository (2012). La Fontaine, Jean de. Versfabeln. Fabeln. Demokritos und die Abderiten. Demokritos und die Abderiten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-D9D8-9