[238] Die Vergeltung

Endlich kam auch Carrier an. Die Seelen der Todten
Hielten im Fluge vor Graun.
Einer der hohen Geister sprach zu dem andern, (Sie wolten
Bilden der Seele den schwebenden Leib.)
Also sprach er: Leite mir Pestluft her; mit ihr hundert
Funken des Abgrunds. Sondere nun
Einen Atom des Urlichts ab. »Ach Einen nur?« Einen!
Und der Todte schwebte; doch stets
Zittert' er, musste das! Nah war eines Felsengewölbes
Öfnung, in die sich ein reissender Strom
Stürzete, dann in den langen unendlichen Wölbungen fortfloss,
Oft von steigenden Inseln gesäumt.
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Über dem Strome bebt der Todte. Plötzlich befällt ihn
Immer wiederkehrender Wahn:
Jünglinge tanzten, und Mädchen nach Flötenspiel' am Gestade;
Er entbrante mit Wuth, in dem Strom
Sie zu tödten. Bindet sie, brüllet' er, Henker, zusammen!
Und dem Grasslichen kam
Hofnung, er würde morden! nach dem zweyten Gebrülle,
Wurd' er gewiss!
Dieser war der Augenblick, da ein Riesengeyer
Über ihm kreist', und sich senkend den Tod
Ihm ankündete. Er entfloh in die Wogen, und lange
Starb er in ihrem Donnergeräusch.
Aber itzt fasste der Geyer den wiederlebenden, stieg dann
Fern in die Höhe mit ihm,
Liess von dort ihn fallen in eilende Strudel. Nun starb er
Wieder den langsamen Tod,
Hörend das Flötenspiel, den leise wandelnden Nachhall,
Und der freudigen Tänzer Gesang.
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Jedesmal wenn er starb, dann standen Getödtete, Schatten
Seiner Opfer, vor ihm.
Standen auch Schatten derer, die unter ihm würgten. Sie zuckten
Blinkende Dolche nach ihm,
Oder füllten ihm bis zu dem triefenden Rande geraume
Becher mir Gift.
Von dem Geyer noch Einmal gefasst, entstürzt' er der Wölbung;
Aber itzt kam er nicht um,
Klomm zu einer empor der Inseln, die rings aus der Ferne
Wurde vom wimmelnden Volke gesehn.
Hier will er güllotienen ein ganzes Heer, so mit Hohn ihm
Zuruft, dass er sich Quaal
Träume! Phantom sey alles, der Geyer, der Sturz in die Fluten,
Und der Tanzenden Lied.
Aber kein Kunstgebäu mit schnellabmähender Sichel,
Keine Güllotine war da.
Grimmvoll entschloss er sich eine zu baun. Mit Mühsal haut' er
Bäum' um, zimmerte draus in dem Schweiss
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Seines Angesichts. Doch eine gerostete Sichel
Lag vor ihm; er fasste sie, schliff
Sie mit Ächzen. Nun ruft' er den Henkern, hofte des Mordens
Freuden, wurde gewiss!
Dieser war der Augenblick, da ein Rabe geflogen
Mit dumpftönenden Fittigen kam,
Schrie, und ihn güllotiente! Auch diesesmal eilte der Tod nicht,
Denn die Sichel war stumpf
Unter des Schleifenden Faust geblieben; und eh er gestreckt lag,
Hielt der Rabe schon Schmaus.
Als ihm auch dieser Wahn verschwunden war, und er wieder
Lebte; betrat er von neuem den Weg
Seiner Schrecken, und wandelt' ihn ganz! Er ruhet in Schlamme
Immer aus, eh er wieder begint,
Eines Winks Zeit aus, und host, ihm werde, wie Marat,
Lohn einst Ehre des Pantheons seyn!

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TextGrid Repository (2012). Klopstock, Friedrich Gottlieb. Gedichte. Oden. Zweiter Band. Die Vergeltung. Die Vergeltung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B4DA-2