Der Seherin Erscheinen

Dort droben im Gebirge, wo rauh der Nordwind weht,
Von reinem Schnee bedecket, ihr stiller Hügel steht.
In üpp'ger Kräuterfülle, bei warmem Sonnenschein,
Da legten sie die Hülle, die leichte, leicht hinein.
Da sang ich ihrem Sterben ein Lied aus tiefer Brust,
Da gab ich, ach! ihr Leben – weh! in des Marktes Wust!
Die Nachtigallen schweigen, die Lerche schläft im Tal,
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Die Blumen sind erstorben, kalt blickt der Sonne Strahl.
Und jetzt auf ihrem Hügel stellt mancher Rab' sich ein,
Erhebt aus frost'ger Kehle auf ihm ein heiser Schrei'n.
Doch sieh! was schwebt dort nieder licht durch die düstre Nacht?
Du bist's! hat dich das Krächzen der Raben hergebracht?
»O Freund! der Menschen Wähnen, das störet nicht mein Licht;
Dein Zürnen und dein Grämen, das läßt mich ruhen nicht.
Ist nicht in dich gedrungen, was ich halb sterbend sprach
An die, die mir im Leben zufügten Kreuz und Schmach?
'Wie soll ich euch denn nennen, ihr, die ihr mich betrübt,
Ich nenn' auch euch nur Freunde; ihr habt mich nur geübt.'
Betrübt mußt du auch werden, damit du wirst geübt;
Wer hier nicht hat geduldet, der wird dort nicht geliebt.
Oft sagt' ich's ja hienieden, dein Glaube ist noch klein,
Lies oft im Buch der Bücher und laß die Menschen sein!«

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Der Seherin Erscheinen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A6B7-0