[52] Des Arztes Traum

Was mir ein Arzt erzählte
Von einem Traume bang,
Ich euch zum Lied erwählte,
Hört freundlich den Gesang!
Er sprach: »Ich denk' mit Schauern
Stets an den tollen Traum: –
In eines Kirchhofs Mauern
Saß ich an einem Baum.
Kein goldner Vollmond schiffte
Durchs stille Rebental,
Es zuckte durch die Lüfte
Entfernter Blitze Strahl.
Ich aber saß bekommen,
Als drohte noch was mehr,
Sprach: ›Wie bin ich gekommen
Um Mitternacht hieher?‹
Ich seufzte und ich grollte,
Da hör' ich dumpfen Schall,
Als ob die Erd' entrollte
Den Grabeshügeln all.
Der Mond aus Wolkenbergen
Auf einmal strahlend bricht,
Da seh' ich, wie aus Särgen
Steigt Leich' an Leiche dicht.
Die lenken ihre Schritte
Gerade auf mich zu,
Ich aber rief: ›Ich bitte,
Ihr Toten! kehrt zur Ruh'!‹
Schnell will ich mich erheben,
Gebannt blieb ich am Baum,
Die Leichen zu mir schweben. –
O nie vergeßner Traum!
Die erste wie im Grimme
Hebt auf die schwarze Hand
Und spricht mit heller Stimme:
›Mein Tod war heißer Brand.
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Du aber hast gestecket
Moschus in mich hinein,
Die Glut noch mehr gewecket,
Der Tod half mir allein.‹
Drauf mit den Knochenhänden
Die zweite weist aufs Herz
Und spricht: ›So mußt' ich enden,
Hier innen saß mein Schmerz.
Du aber gabst mir Pillen
Und Tränke für die Brust,
Mein Leiden hat zu stillen
Allein der Tod gewußt.‹
Die dritte kommt geschritten
Und streckt mir hin ihr Bein:
›Hättst du dies abgeschnitten,
Würd' ich noch lebend sein.
Doch du auf meine Klagen
Sprachst: Jod und Lebertran
Heilt dich in wenig Tagen, –
Der Tod nur hat's getan.‹
Die vierte mit dem Kopfe
Stets nickte hin und her:
›Wie war mir armen Tropfe
Im Leben der so schwer!
Hättst Wasser mir gegeben
Statt China immerdar,
So wär' ich noch am Leben, –
Der Tod mein Helfer war.‹
Jetzt kommt die fünfte Leiche
An Krücken zu auf mich.
Ich kenne sie, rief: ›Weiche!
Die Erde decke dich!
Fort! fort! sie deck' euch alle,
Ihr Toten! fort vom Licht!‹
Da ruft's mit grellem Schalle:
›Arzt! mit dir ins Gericht!‹
Nun kommt der Tod gegangen!
Die Leichen singen: ›Tod!
Mit Kränzen sei umfangen,
Du Retter aus der Not!
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Du Arzt, der aufgefunden
Den Balsam Grabesruh';
Du bandest unsre Wunden
Sanft mit dem Sargtuch zu.‹
Und jetzt an mir vorüber
Schwebt Tod und Leichenchor;
Schnell wird der Himmel trüber,
Das Mondlicht sich verlor.
Zum Baum, wo meine Stätte,
Ein Blitzstrahl niederkracht,
Davon bin ich im Bette
Vom tollen Traum erwacht.«

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. Des Arztes Traum. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A4F4-5