15

Der erste Tannenbaum, den ich gesehn,
Das war ein Weihnachtsbaum im Kerzenschimmer;
Noch seh ich heiter strahlend vor mir stehn
Das grüne Wunder im erhellten Zimmer.
[111]
Da war ich täglich mit dem frühsten wach,
Den Zweigen gläubig ihren Schmuck zu rauben;
Doch als die letzte süße Frucht ich brach,
Ging es zugleich an meinen Wunderglauben.
Dann aber, als im Lenz zum ersten Mal
Ich mich in einen Nadelwald verirrte,
Mich durch die hohen, stillen Maste stahl,
Bis sich der Hain zu jungem Schlag entwirrte:
O Freudigkeit! wie ich da, ungesehn,
In einem Wald von Weihnachtsbäumchen steckte,
Dicht um mein Haar ihr zartes Wipfelwehn,
Das überragend kaum die Stirn mir deckte.
Ein kleiner Riese in dem kleinen Tann,
Sah ich vergnügt die Weihnachtsbäume sprießen;
Ich faßte keck ein junges Tännlein an
Und bog es kindlich ringend mir zu Füßen.
Und über mir war nichts als blauer Raum;
Doch als ich mich dicht an die Erde schmiegte,
Sah unten ich durch dünner Stämmchen Saum,
Wie Land und See im Silberduft sich wiegte.
Wie ich so lag, da rauscht' und stob's herbei,
Daß mir der Luftdruck durch die Locken sauste,
Aus tiefer Luft schoß senkrecht her ein Weih,
Daß seiner Flügel Schlag im Ohr mir brauste.
Als schwebend er dicht ob dem Haupt mir stand,
Funkelt' sein Aug gleich dunklen Edelsteinen,
Und ringsum an der Schwingen dünnem Rand
Sah ich die Sonne durch die Kiele scheinen.
[112]
Auf meinem Angesicht sein Schatten ruht'
Und ließ die glühen Wangen mir erkalten;
Ob welchem Inderfürst von heißem Blut
Ward solch ein Sonnenschirm emporgehalten?
Wie ich so lag, erschaut ich plötzlich, nah,
Wie eine Eidechs mit neugier'gem Blicke
Vom nächsten Zweig ins Aug mir niedersah,
Wie in die Flut ein Kind von schwanker Brücke.
Nie hab ich mehr solch klugen Blick gesehn
Und so lebendig-ruhig, fein und glühend;
Hellgrün war sie, ich sah den Odem gehn
In zarter Brust, blaß, wie ein Röslein, blühend.
Ob sie mein blaues Aug wohl niederzog?
Sie ließ vom Zweig sich auf die Stirn mir nieder,
Schritt abwärts, bis sie um den Hals mir bog,
Ein bunt Geschmeide, ruhend, ihre Glieder.
Ich hielt mich still und fühlt mit lindem Druck
Den feinsten Puls auf meinem Halse schlagen;
Das war der schönste und der reichste Schmuck,
Den ich in meinem Leben je getragen.
Damals war ich ein kleiner Pantheist
Und ruhte selig in den jungen Bäumen:
Doch nimmer ahnte mir zu jener Frist,
Daß in denselben – solche Bretter keimen.

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. 15. [Der erste Tannenbaum, den ich gesehn]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9EBE-7