[160] An Lenau

Welk lag meines Herzens Garten,
Und sein Springquell war versiegt,
Und das Liedervolk in Zweigen
Saß in dumpfen Schlaf gewiegt.
Starr und klanglos schien mir alles
Und der frische Duft entflohn!
Selbst die fremden Lieblingsweisen
Hatten für mich keinen Ton.
Wie es oftmals geht im Leben,
Das so seltsam webt und flicht:
Längst schon kannt ich deinen Namen,
Aber deine Lieder nicht.
Und nun las ich sie; auf einmal
In so öder Winterzeit
Ging mir auf ein neuer, reicher
Lenz in seiner Herrlichkeit!
Und in deinen Geistesblüten
Warst du wie ein Nekromant,
Der für meinen eignen Zauber
Wieder mir das Schlagwort fand.
Rasch entfesselt sprang der Bronnen!
Alle Lauben voller Sang!
Und in den geheimsten Gängen
War es wieder Duft und Klang.
Damals wünscht ich, daß ich möchte
Ein begabter Sänger sein,
Um dir recht ein weich und lindernd,
Ein vergeltend Lied zu weihn!

Notes
Entstanden 1845. Erstdruck 1846.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. An Lenau. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9CFB-9