Erwiderung auf Justinus Kerners Lied
»Unter dem Himmel«

Siehe Morgenblatt 1845

Laßt mich in Gras und Blumen liegen
Und schaun dem blauen Himmel zu,
Wie goldne Wolken ihn durchfliegen,
In ihm ein Falke kreist in Ruh.
Die blaue Stille stört dort oben
Kein Dampfer und kein Segelschiff,
Nicht Menschentritt, nicht Pferdetoben,
Nicht des Dampfwagens wilder Pfiff.
Laßt satt mich schaun in diese Klarheit,
In diesen stillen, sel'gen Raum:
Denn bald könnt werden ja zur Wahrheit
Das Fliegen, der unsel'ge Traum.
Dann flieht der Vogel aus den Lüften,
Wie aus dem Rhein der Salmen schon,
Und wo einst singend Lerchen schifften,
Schifft grämlich stumm Britannias Sohn.
Schau ich zum Himmel, zu gewahren,
Warum's so plötzlich dunkel sei,
Erblick ich einen Zug von Waren,
Der an der Sonne schifft vorbei.
[158]
Fühl Regen ich beim Sonnenscheine,
Such nach dem Regenbogen keck,
Ist es nicht Wasser, wie ich meine,
Wurd in der Luft ein Ölfaß leck.
Satt laßt mich schaun vom Erdgetümmel
Zum Himmel, eh es ist zu spät,
Wann, wie vom Erdball, so vom Himmel
Die Poesie still trauernd geht.
Verzeiht dies Lied des Dichters Grolle,
Träumt er von solchem Himmelsgraus,
Er, den die Zeit, die dampfestolle,
Schließt von der Erde lieblos aus.

Justinus Kerner

[Dein Lied ist rührend, stiller Sänger!]

Dein Lied ist rührend, stiller Sänger!
Doch zürne dem Genossen nicht,
Wird ihm darob das Herz nicht bänger,
Das, dir erwidernd, also spricht:
Die Poesie ist angeboren,
Und sie erkennt kein Dort und Hier;
Ja, ging' die Seele mir verloren,
Sie führ zur Hölle selbst mit mir.
Inzwischen sieht's auf dieser Erde
Noch lange nicht so graulich aus;
Und manchmal ist mir, Gottes: Werde!
Ertön' erst recht dem »Dichterhaus«.
Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen
Und spannt Eliaswagen an –
[159]
Willst träumend du im Grase singen,
Wer hindert dich, Poet, daran?
Ich grüße dich im Schäferkleide
Und lächle – doch mein Feuerdrach'
Trägt mich vorbei, die dunkle Heide
Und deine Geister schaun uns nach!
Was deine alten Pergamente
Von tollem Zauber kund dir tun,
Das seh ich durch die Elemente
In Geistes Dienst verwirklicht nun.
Ich seh sie keuchend sprühn und glühen,
Stahlschimmernd bauen Land und Stadt,
Indes das Menschenkind zu blühen
Und singen wieder Muße hat!
Und wenn vielleicht, nach fünfzig Jahren,
Ein Luftschiff voller Griechenwein
Durchs Morgenrot käm hergefahren –
Wer möchte da nicht Fährmann sein?
Dann bög ich mich, ein sel'ger Zecher,
Wohl über Bord, von Kränzen schwer,
Und gösse langsam meinen Becher
Hinab ins still verlaßne Meer!
Ein bißchen Hunger wohl noch nähret
Vorher die üpp'ge Phantasie;
Doch hat man uns nicht längst gelehret,
Der Hunger auch sei Poesie?

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Erwiderung auf Justinus Kerners Lied »Unter dem Himmel«. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9BD0-F