Aus ihrem Leben:
Dichtung und Wahrheit

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Den Dichter seht, der immerdar erzählt von Lerchensang,
Wie er nun bald ein Dutzend schon gebratner Lerchen schlang!
Bei Sonnenaufgang, als der Tag in Blau und Gold erglüht',
Da war es, daß sein Morgenlied vom Lob der Lerchen klang;
Und nun bei Sonnenuntergang mit seinem Gabelspieß
Er sehnend in die Liederbrust gebratner Lerchen drang!
Das heiß ich die Natur verstehn, allseitig, tief und kühn,
Wenn also auf und nieder sich sein Tag mit Lerchen schwang!

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Kennt ihr den Kleinkinderhimmel,
Wo als Gott der Zuckerbäcker
Waltet süß und hoch und herrlich
In den Augen kleiner Schlecker?
Und zur Weihnachtszeit, wie flimmert,
Duftet es an allen Wänden!
Welchen Schatz von Seligkeiten
Schüttet er aus mächt'gen Händen!
Läßt erblühen Wunderblumen,
Weise streut er die Gewürze;
Schön stehn ihm die hohe, weiße
Zipfelmütze, Wams und Schürze.
Doch wonach die guten Kinder
Schmachtend vor dem Laden stehen,
Muß dem Reichen, Allgewalt'gen
Reizlos durch die Hände gehen.
Einmal kaum im Jahr genießt er
Aus Zerstreuung in dem Handel
Flüchtig ein gefehltes Törtchen
Und verächtlich eine Mandel.
Zipfelmütze, weiße Schürze,
O wie nüchtern glänzet ihr,
Und wie mahnt ihr mich an weißes,
Reinliches Konzeptpapier!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Aus ihrem Leben: Dichtung und Wahrheit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9B7F-7