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Ermattet von des Tages roher Pein,
Die nur auf Wiedersehen von mir schied,
Saß ich und schrieb bei meiner Lampe Schein,
Und schrieb ein wildes, gotteslästernd Lied!
Doch draußen lag die klare Sommernacht,
Mild grüßt' mein armes Licht der Mondenstrahl,
Und aller Sterne vollste Silberpracht
Sah auf mich nieder hoch vom blauen Saal.
Am offnen Fenster blühten dunkle Nelken,
Vielleicht die letzte Nacht vor ihrem Welken.
Und wie ich schrieb an meinem Höllenpsalter,
Die süße Nacht im Zorne von mir weisend,
Da schwebt' zu mir herein ein grauer Falter,
Mit blinder Hast um meine Lampe kreisend.
Wohl wie ein Schicksal flackerte das Licht
Mit spitzer Flamme still und hell empor
Und lockt' mit schwer magnetischem Gewicht
Den leichten Vogel in sein Todestor!
Ich schaute lange mit beklommner Ruh
Mit wunderlich neugierigen Gedanken
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Des Falters unglücksel'gem Treiben zu.
Doch als, zu nahe an der Flamme, sanken
Beinah die Flügel, faßt' ihn meine Hand,
Zu retten ihn gar sonderbar gezwungen,
Und scheucht' ihn fort. Hinaus ins dunkle Land
Hat er mit leichtem Fittich sich geschwungen.
Ich aber hemmte meines Liedes Lauf
Und hob den Anfang bis auf weitres auf.

Notes
Entstanden 1844. Erstdruck 1845.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. 2. [Ermattet von des Tages roher Pein]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9B78-6