Nacht

1

Nun bin ich untreu worden
Der Sonne und ihrem Schein;
Die Nacht, die Nacht soll die Dame
Nun meines Herzens sein!
Sie hat eine düstere Schönheit,
Ein bleiches Nornengesicht,
Und eine Sternenkrone
Ihr dunkles Haupt umflicht.
[15]
Heut ist sie so beklommen,
Unruhig, voller Pein;
Sie denkt wohl an ihre Jugend –
Das muß ein Gedächtnis sein!
Es streicht durch alle Täler
Ein Stöhnen, klagend und bang;
Wie Tränenbäche rieseln
Die Quellen vom Bergeshang.
Die schwarzen Fichten sausen
Und wiegen sich her und hin,
Und über die feuchte Heide
Verlorene Lichter fliehn.
Den Sternen bringt ein Ständchen
Das dumpf erbrausende Meer,
Und über mir zieht ein Gewitter
Mit klingendem Spiele daher.
Es will vielleicht betäuben
Die Nacht den ewigen Schmerz?
Vielleicht an alte Sünden
Denkt sie mit reuigem Herz?
Ich möchte gern mit ihr plaudern,
Wie man mit dem Liebchen spricht –
Umsonst, in ihrem Grame
Sie sieht und höret mich nicht.
Ich möchte sie gerne fragen
Und werde doch immer gestört:
Ob sie vor meiner Geburt schon
Wo meinen Namen gehört?
[16]
Sie ist eine alte Sibylle
Und kennt sich selber kaum;
Sie, ich und der Tod und wir alle
Sind Träume von einem Traum!
Ich will mich schlafen legen,
Ein Morgenwind schon zieht;
Ihr weißen Rosen im Kirchhof,
Singt mir ein Wiegenlied!

2

Ermattet von des Tages roher Pein,
Die nur auf Wiedersehen von mir schied,
Saß ich und schrieb bei meiner Lampe Schein,
Und schrieb ein wildes, gotteslästernd Lied!
Doch draußen lag die klare Sommernacht,
Mild grüßt' mein armes Licht der Mondenstrahl,
Und aller Sterne vollste Silberpracht
Sah auf mich nieder hoch vom blauen Saal.
Am offnen Fenster blühten dunkle Nelken,
Vielleicht die letzte Nacht vor ihrem Welken.
Und wie ich schrieb an meinem Höllenpsalter,
Die süße Nacht im Zorne von mir weisend,
Da schwebt' zu mir herein ein grauer Falter,
Mit blinder Hast um meine Lampe kreisend.
Wohl wie ein Schicksal flackerte das Licht
Mit spitzer Flamme still und hell empor
Und lockt' mit schwer magnetischem Gewicht
Den leichten Vogel in sein Todestor!
Ich schaute lange mit beklommner Ruh
Mit wunderlich neugierigen Gedanken
[17]
Des Falters unglücksel'gem Treiben zu.
Doch als, zu nahe an der Flamme, sanken
Beinah die Flügel, faßt' ihn meine Hand,
Zu retten ihn gar sonderbar gezwungen,
Und scheucht' ihn fort. Hinaus ins dunkle Land
Hat er mit leichtem Fittich sich geschwungen.
Ich aber hemmte meines Liedes Lauf
Und hob den Anfang bis auf weitres auf.

3

Die Nacht wiegt sich mit sternbesäten Schwingen
Auf stillen Weltmeers blauen Wassergärten;
Daraus zurück, wie Silberglöcklein, klingen
Die Sterne, die in feuchter Flut verklärten.
Wie ein entschlummert Kind an Mutterbrüsten
Ruht eine Insel selig in den Wogen:
So weich und weiß ist um die grünen Küsten,
Der Mutterarm, die Brandung rings gezogen.
Die Insel schläft, doch Träume auf ihr gaukeln.
Wie blüht, wie leuchtet, flüstert es so minnig!
Wie lustig die Lianenkränze schaukeln!
Wie duftet der Orangenhain so innig!
Ich wollt, mein Herze wär so dicht umflossen
Von einem Meer der Ruhe und der Klarheit
Und drüberhin ein Himmel ausgegossen,
Des einz'ge Sonne nur das Licht der Wahrheit!
Was mag denn wohl der alte Urwald träumen?
Er ist ja selbst ein üpp'ger Traum der Zeiten,
[18]
Wenn, grüßend nach des Meeres Silberschäumen,
Hoch auf ihm hin sich Blumengärten breiten.
Das ist das Paradies im Mondenschimmer,
Ein Geisterabglanz des so schnöd verlornen,
Vom Erdenglück ein abgesprungner Flimmer,
Ein Blütenblatt vom Sarg des totgebornen!
Und schöne Menschen schlafen in den Büschen,
Wie Bildwerk in ein Blumentuch gewoben,
Wie Engel in der Waldkapelle Nischen,
Wie Götterspielzeug sorglich aufgehoben.
Und über allem wallt ein frohes Ahnen,
Sich unbewußt, und doch so alldurchdrungen,
Der Blutlauf, der in unsichtbaren Bahnen
Dies reine Leben in den Gang geschwungen.
– Ein Blitz, ein Schlag! – die Meeresfläche zittert;
Braun wälzt der Rauch sich auf dem krausen Spiegel:
Als hätt ein Drache seinen Raub gewittert,
Naht es sich pfeilschnell mit gespreiztem Flügel.
Die Anker rasseln und die Segel sinken
– Wohl fallen auch des Himmels schöne Sterne –
Und hundert Bleigesichter lüstern blinken
Im fahlen Schein der trüben Schiffslaterne.
Zuvorderst, auf des Schiffes schwarzen Wänden,
Ragt schwärzlich aus der giererfüllten Rotte
Der Christenpfaffe, schwingend in den Händen
Das blut'ge Kreuz mit dem gequälten Gotte!

[19] 4

Rauh geht der Nord, es dunkelt allerenden;
Jetzt eben hinter jenen Wolkenwänden,
Dort muß die Sonne untergehn;
Dort ist's nun abendklar und goldenhelle,
Dort sind nun Lilie, Rosenhag und Quelle
Im einen seligroten Glanz zu sehn!
Hier aber ist ein kaltes Wehn und Brausen,
In dunkler Luft die scheuen Wälder sausen,
Die Bäche toben durchs Gestein.
Dicht auf der Heide kühle Winde streichen,
Asketisch beugen sich die ernsten Eichen,
Die Nacht wankt finster in das Land herein.
Ich kenne kaum den Grund zu meinen Füßen,
Doch hör ich schon die Regenströme gießen,
Es weint das tiefverhüllte Land.
In meinem Herzen tönt die Klage wider,
Und es ergreift mich, wirft zum Staub mich nieder,
Und meine Tränen rinnen in den Sand.
O reiner Schmerz, der in den Höhn gewittert,
Du heil'ges Weh, das durch die Tiefen zittert,
Ihr schloßt auch mir die Augen auf!
Ihr habt zu mir das Zauberwort gesprochen
Und meinen Hochmut wie ein Rohr gebrochen,
Und ungehemmt strömt meiner Tränen Lauf.
Du süßes Leid, hast ganz mich überwunden!
Welch dunkle Lust, die ich noch nie empfunden,
Ist glühend in mir angefacht!
Wie reich bist, Muttererde! du zu nennen:
[20]
Ich glaubte deine Herrlichkeit zu kennen,
Nun erst schau ich in deinen tiefsten Schacht.
Da leuchtet es in düsterm Strahlenkranze,
Da funkelt es von mildem Tränenglanze,
Und tief der Wehmut Gold erglüht.
Wie flimmern da der Sehnsucht blaue Kerzen!
Und die Entsagung glänzt in harten Erzen,
Ergebung sanft in feinen Adern blüht.
Gebrochner Stolz klagt wie in Grabesklängen,
Doch Demut wacht in den geheimsten Gängen,
Als mildes Grubenlicht entbrannt.
Die oben nicht zum Leben Raum gefunden,
O was für Liebe schläft und träumt da unten,
Friert endlich ein zu hartem Diamant!
Und leise schallen hör ich ferne Tritte,
Es naht sich mir mit leichtbeschwingtem Schritte
Durch die geheim erhellte Nacht;
Weiß, wie entstiegen einem frischen Grabe,
So wandelt her ein schöner schlanker Knabe,
Einsamer Bergmann in dem stillen Schacht.
Willkommen, Tod! dir will ich mich vertrauen,
Laß mich in deine treuen Augen schauen
Zum ersten Male fest und klar!
Wie wenn man einen neuen Freund gefunden,
Kaum noch von der Verlassenheit umwunden,
So wird mein Herz der Qual und Sorge bar.
Tief schau ich dir ins Aug, das sternenklare.
Wie stehn dir gut die feuchten, schwarzen Haare,
Wie weiß ist deine kühle Hand!
[21]
O lege sie in meine warmen Hände,
Dein heil'ges Antlitz zu mir nieder wende –
Wohl mir! ich habe endlich dich erkannt!
Ob mir auch noch beglückte Stunden schlagen,
Ich will dich heimlich tief im Herzen tragen;
Und wo mich einst dein Gruß ereilt:
Im Blütenfeld, im schimmervollen Saale,
Auf stillem Bett, im schlachterfüllten Tale,
Ich folge dir getrost und unverweilt!
So wachet auf, ihr hellen Morgenlieder!
Ich aber leg mir um die Stirne wieder
Des Stolzes unfruchtbaren Kranz.
Der Welt mit Weltsinn nun entgegen gehen
Will ich; doch innen blüht mir ungesehen
Der Todesdemut still verborgner Glanz!

5

Willkommen, klare Sommernacht,
Die auf tautrunknen Fluren liegt!
Gegrüßt mir, hehre Sternenpracht,
Die spielend sich im Weltraum wiegt!
Das Urgebirge um mich her
Ist schweigend, wie ein Nachtgebet!
Weit hinter ihm hör ich das Meer
Im Geist, und wie die Brandung geht!
Ich höre einen Flötenton,
Den mir der Wind von Westen bringt,
Indes herauf im Osten schon
Die Ahnung leis vom Tage dringt.
[22]
Ich sinne, wo in weiter Welt
Jetzt sterben mag ein Menschenkind?
Und ob vielleicht den Einzug hält
Ganz still ein lächelnd Heldenkind?
Doch wie nun auf dem Erdental
Ein absolutes Schweigen ruht:
Ich fühle mich so leicht zumal
Und wie die Welt so still und gut.
Der letzte leise Schmerz und Spott
Verschwindet aus des Herzens Grund;
Mir ist, als tät der alte Gott
Mir endlich seinen Namen kund!

6

Wende dich, du kleiner Stern,
Erde! wo ich lebe,
Daß mein Aug, der Sonne fern,
Sternenwärts sich hebe!
Heilig ist die Sternenzeit,
Öffnet alle Grüfte!
Strahlende Unsterblichkeit
Wandelt durch die Lüfte.
Mag die Sonne nun bislang
Andern Zonen scheinen:
Hier fühl ich Zusammenhang
Mit dem All und Einen!
Hohe Lust! im dunkeln Tal,
Selber ungesehen,
[23]
Durch den majestät'schen Saal
Atmend mitzugehen!
Schwinge dich, o grünes Rund,
In die Morgenröte!
Scheidend rückwärts singt mein Mund
Jubelnde Gebete!
Lieblich diese Sonne lacht,
Und der Tag wird heiter!
Doch wer nächtlich einsam wacht,
Kennt noch etwas weiter!

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TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Nacht. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9AF4-7