2. In der Trauer

1

Klagt mich nicht an, daß ich vor Leid
Mein eigen Bild nur könne sehen!
Ich seh durch meinen grauen Flor
Fern euere Gestalten gehen.
Und durch den starken Wellenschlag
Der See, die gegen mich verschworen,
Geht mir von euerem Gesang,
Wenn auch gedämpft, kein Ton verloren.
Und wie die müde Danaide wohl,
Das Sieb gesenkt, neugierig um sich blicket,
So schau ich euch verwundert nach,
Besorgt, wie ihr euch fügt und schicket!

2

Ich kenne dich, o Unglück, ganz und gar
Und sehe jedes Glied an deiner Kette!
Du bist vernünftig, zum Bewundern klar,
Als ob ein Denker dich geordnet hätte!
[380]
Nicht mehr noch weniger hat mir gebührt,
Mir ist gerecht die Schale zugemessen;
Und dennoch hab ich bittrer sie verspürt,
Als niemals ich getrunken noch gegessen.
Jetzt aber bring ich leichter sie zum Mund,
Als einst die müde Seele noch wird wissen;
Der quellenklare Perltrank ist gesund,
Ich lieb ihn drum mit dürstendem Gewissen!

3

Ein Meister bin ich worden,
Zu weben Gram und Leid;
Ich webe Tag und Nächte
Am schweren Trauerkleid.
Ich schlepp es auf der Straße
Mühselig und bestaubt;
Ich trag von spitzen Dornen
Ein Kränzlein auf dem Haupt
Die Sonne steht am Himmel,
Sie sieht es und sie lacht:
Was geht da für ein Zwerglein
In einer Königstracht?
Ich lege Kron und Mantel
Beschämt am Wege hin
Und muß nun ohne Trauer
Und ohne Freuden ziehn!

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. 2. In der Trauer. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-98C3-3