An das Herz

Willst du nicht dich schließen,
Herz! du offnes Haus,
Worin Freund' und Feinde
Stürmen ein und aus?
[154]
Schau, wie sie verletzen
Dir das Hausrecht stets!
Fühllos auf und nieder,
Polternd, lärmend geht's!
Keiner putzt die Schuhe,
Keiner sieht sich um!
Staubig brechen alle
Dir ins Heiligtum;
Trinken aus den goldnen
Kelchen des Altars,
Stehlen Müh und Segen
Dir des ganzen Jahrs;
Werfen die Penaten
Wild vom Herde dir,
Pflanzen drauf mit Toben
Ihr zerfetzt Panier;
Und wenn zu verwüsten
Sie nichts finden mehr,
Lassen sie im Scheiden
Dich, mein Herz, so leer!
Nein! und wenn nun alles
Still und tot in dir:
Oh, noch halt dich offen,
Offen für und für!
Laß die Sonne scheinen
Heiß in dich herein,
Stürme dich durchfahren
Und den Wetterschein!
[155]
Wenn durch deine Hallen
So die Windsbraut zieht,
Laß aus deinen Glocken
Schallen Lied um Lied!
Denn noch kann's geschehen,
Daß auf irrer Flucht
Eine treue Seele
Bei dir Obdach sucht.
Dann ist's Zeit, zu schließen
Endlich Tür und Tor,
Dann blüh dir im Innern
Neu der Lenz hervor!

Notes
Entstanden und Erstdruck 1846.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. An das Herz. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-987D-5