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Ein lustiger Mediziner
War dazumal mein Freund;
Wir saßen bei vollem Glase
Um Mitternacht vereint.
Ich sprach ihm von meiner Liebe,
Indessen er zecht' und sang,
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Und meine Worte verhallten
Im wilden Gläserklang.
Doch sprach ich immer und stärker
Mit höherer Liebesglut;
Ich wollte damit dämmen
Mein bange wallendes Blut.
Da wurde er ungeduldig
Und sagte mit barschem Ton:
»Ich kenne deine Geliebte
Und rate dir ab davon!
Ich rate dir ab, sonst bist du
Ein Witwer im nächsten Mai,
Denn dann liegt sie im Sarge,
'ne Leiche frank und frei.
Die Rosen sind eitel Hektik
Auf ihrem schmalen Gesicht;
Ich hörte sie heute husten,
Und das gefällt mir nicht!
Wohl ist sie ein feines Wesen,
Doch eben nur allzufein!
Laß fahren den sterblichen Engel,
Sonst trifft dich Kummer und Pein!«
Die rohen Worte schnitten
Mir tief in die Seele ein,
Und darum weil leicht was Wahres
An ihnen konnte sein.
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Jedoch mein armes Liebchen
Gewann einen Zauber mehr; –
Nein, nein, sie kann nicht sterben,
Wir lieben uns allzusehr!
Am Morgen ward ich ruhig,
Als die Sonne ins Zimmer fiel;
Ich sah durchs Fenster fröhlich
Der jagenden Wolken Spiel.
Ich rief: »Er sprach's im Rausche,
Und ich war gestern ein Tor!
Es lebe das rosige Leben
Und meine Liebe zuvor!«

Notes
Entstanden und Erstdruck 1845.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. 17. [Ein lustiger Mediziner]. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-985F-9